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German Pages 304 [292] Year 2019
„... ich hatte mich gefragt, auf welche Weise ein Buch unendlich sein könnte. Ich fand kein anderes Verfahren als das eines zyklischen, zirkulären Bands. Ein Band, dessen letzte Seite mit der ersten identisch wäre, mit der Möglichkeit, unendlich fortzufahren. [...]“ „... yo me había preguntado de qué manera un libro puede ser infinito. No conjeturé otro procedimiento que el de un volumen cíclico, circular. Un volumen cuya última página fuera idéntica a la primera, con posibilidad de continuar indefinidamente [...]“ [Jorge Luis Borges, El jardín de senderos que se bifurcan, 1941]
„Es verwickelt, verwickelt Wie in der Mauer der Efeu Und es keimt, keimt Wie das Moos im Stein“ „Se va enredando, enredando Como en el muro la hiedra Y va brotando, brotando Como el musguito en la piedra“ [Violeta Parra, Volver a los 17, 1966]
„Spaltung ist nicht produktiv. Produktion bedeutet Überschneidung oder Kreuzung. Die Wirkungen des Wissens entfalten sich nicht innerhalb der Begrenzungen, in denen das Universitätssystem seine Klassiker einschließt. Dafür muss man aus diesen Begrenzungen ausbrechen, sich auf ein offenes Feld pflanzen, an die Grenzen, an die Endpunkte oder an die Kreuzungen.“ „La división no es productiva: producción es intersección o cruce, los efectos de saber no se producen en las casillas en las que el orden académico encierra a sus sabios, para eso tiene uno que salirse de sus casillas, plantarse a campo abierto, en las fronteras, en los límites o en las encrucijadas.” [Jesús Ibáñez, Del algoritmo al sujeto, 1985]
Amalia Barboza
Brasilien am Main Gekreuzte Wege encruzilhadas Performative Forschungsreisen auf den Spuren der anderen
Vorwort 09
I Brasilien am Main Alexander Carlos Clara Elis Helena Ivan Marcia Martha Nívea Vládmir Zadiquiel
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II Gekreuzte Wege/encruzilhadas 111
III Meine wahrhaftige Historia Für Alexander Für Carlos Für Clara Für Elis Für Helena Für Ivan Für Marcia Für Martha Für Nívea Für Vládmir Für Zadiquiel
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IV Nachwort 261
Vorwort
Große Städte sind Orte der Kreuzung von Biografien und insbesondere von Migrationsbiografien, Orte, an denen Neuankommende schnell Anbindung finden. Auch Frankfurt am Main ist stark durch Migrationsbewegungen geprägt. Obwohl keine Millionenstadt, zählt Frankfurt zu den internationalsten Städten Deutschlands. Über vierzig Prozent der Frankfurter BewohnerInnen haben entweder eigene Migrationserfahrungen oder familiären Einwanderungshintergrund. In der Stadt leben Menschen von den verschiedensten Orten der Welt, aus 170 Nationen. Manche landen in Frankfurt und bleiben nur ein Jahr oder wenige Monate, andere haben mittlerweile mehr als die Hälfte ihres Lebens in der Stadt verbracht und werden wahrscheinlich nie in ihre Ursprungsländer zurückkehren. Die Stadt lebt von dieser Internationalität, von einer Vielfalt an Herkunftsorten, die oft nicht unmittelbar wahrnehmbar sind, weil sie sich hinter den Türen und Fassaden ausbreiten. In den privaten Räumen finden sich dann Teppiche, gerahmte Erinnerungsfotos oder andere mitgebrachte Einrichtungsgegenstände. Manche Wände sehen aus wie kleine Museen der verlassenen Heimat. In anderen Räumen findet man kaum sichtbare Spuren, die das Herkunftsland verraten könn-
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ten. Nur wenn die Musik lauter wird oder in der Küche etwas dünstet, tritt die verlassene Heimat hervor. Und manchmal breitet sie sich dann in den Straßen aus, als könnte die gesamte Welt durch Musik, Dünste und Gerüche an einem Ort versammelt werden. Man müsste nur an die Türen klopfen, um eine Fernreise zu unternehmen. Im Jahr 2013 nahm ich mir vor, Brasilien zu bereisen, ohne Frankfurt zu verlassen. Ich beantragte mit diesem Ziel ein Reisestipendium bei der Hessischen Kulturstiftung. Sehr oft entstehen meine Projekte mit dem Gefühl, sie könnten leicht scheitern. Ich wusste, dass die Kulturstiftung Reisestipendien vergibt, damit KünstlerInnen außerhalb Deutschlands reisen können. Ich versuchte meinen Wunsch, während meiner Reise in Frankfurt zu bleiben, gut zu begründen. Zu meiner Überraschung und Freude wurde das Reisestipendium bewilligt. Meine Reise begann im Sommer 2013. Ich verbrachte den Vormittag im Museum der Weltkulturen in Frankfurt, wo in einer alten Bibliothek und in einer großen Sammlung von Objekten der europäisch-ethnologische Blick auf Brasilien aufbewahrt ist. Nachmittags verließ ich das Museum und traf mich mit BrasilianerInnen in der Stadt, in einem Café oder in einer Wohnung. Alle lernte ich zufällig oder auch dank Weiterempfehlung kennen. Ich ließ den Zufall entscheiden, als würde ich durch Brasilien reisen, ohne den Weg geplant zu haben. So eine Reise verlangt nur, dass man offen für neue Begegnungen bleibt, um zum nächsten Reiseziel zu gelangen. Ich verbrachte auf diese Art zwei Monate und fühlte mich wie auf einem anderen Kontinent. Als ich mit vielen Erzählungen und einer Sammlung verschiedenster Dinge ausgestattet war, nahm ich mir vor, doch in ein Flugzeug zu steigen, um einige brasilianische Spuren aus Frankfurt in Brasilien weiterzuverfolgen. In diesem Buch sind diese verschiedenen Reisen nach Brasilien gesammelt. Zur Gliederung: Der erste Teil des Buches besteht aus kurzen Geschichten über die Menschen, die ich in Frankfurt kennengelernt habe. Sie sind die ProtagonistInnen des Buches. Alle waren bereit, ihre Türen zu öffnen und mir ihr Brasilien zu zeigen. Es sind Migrationsgeschichten, die von Strategien erzählen, die eigene Kultur in verschiedenen Medien „aufzubewahren“ und dieser immer wieder
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neue Formen zu geben: eine Art nationaler Identität aus Büchern, Bikinis, Musik, Meer, Märchenfiguren, Früchten und Tänzen, um nur einige ihrer medialen Zutaten zu nennen. Es sind aber auch Geschichten, die vom alltäglichen Austausch mit dem neuen Lebensort erzählen. Geschichten von Anverwandlungen, in denen nicht nur Ortsverschiebungen, sondern auch Identitätsverschiebungen stattfinden. Die Biografien sind immer noch in Bewegung. In dieser Hinsicht handelt es sich eher um kurze biografische Bestandsaufnahmen eines Brasiliens, das in Frankfurt lebendig ist. Im zweiten Teil des Buches befasse ich mich mit Büchern aus der Bibliothek des Museums der Weltkulturen, vor allem Reiseberichten, welche die Imaginationen von Brasilien geprägt haben und die in den gegenwärtigen Identitätsdiskursen immer noch präsent sind – als wäre ein Land ein Konstrukt, das nicht nur von innen, sondern auch von außen geformt wird. Und oft sind es diese Blicke von außen, die am längsten überleben. Andere Berichte über Brasilien, die nicht niedergeschrieben und gedruckt wurden, gerieten und geraten immer noch in Vergessenheit. Die Kolonialmächte wussten ganz genau, dass Bücher und deren Verbreitung die Realität prägen können. Deshalb war während der Kolonialzeit in Brasilien das Drucken von Büchern und anderen Texten verboten. So konnten die Bücher und Reiseberichte aus Europa lange Zeit die Wahrnehmung von Brasilien dominieren. Der dritte Teil des Buches ist mein eigener Reisebericht, der die Zeit umfasst, als ich durch Brasilien reiste, um Spuren meiner ProtagonistInnen aus Frankfurt zu verfolgen. Es handelt sich um meine eigene „wahrhaftige Historia“. Dieser Untertitel ist sicherlich heute im Deutschen schwer verständlich. Er lehnt sich an den ersten deutschen Reisebericht über Brasilien an, verfasst von Hans Staden im Jahr 1557, mit dem Titel: Die wahrhaftige Historia und Beschreibung eines Landes der wilden, nackten, grimmigen Menschenfresser. Das Adjektiv „wahrhaftig“ erweckt den Eindruck, als sei es Hans Staden sehr wichtig gewesen, die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte zu betonen. Im Prinzip ist es aber unwichtig, ob seine Geschichte wahrhaftig oder fiktiv ist. Am Ende zählt vor allem, wie sehr sich seine Erzählung ausgebreitet hat. Es gibt unzählige wahrhaftige Geschichten über Brasilien. Um ein Land kennenzulernen, muss man es aus allen möglichen Per-
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spektiven betrachten. Die Intention meiner Reise bestand darin, die Perspektiven, die ich in Frankfurt kennenlernen konnte, weiterzuverfolgen. Vielleicht mit der Idee, dass man aus diesen verschiedenen Blickwinkeln zwar nicht alles, aber doch eine erste Annäherung an ein Gesamtbild bekommen könnte, so als ließen sich durch eine Reise alle Geschichten, die auf dem Weg gesammelt wurden, vereinen. Je länger meine Reise andauerte, desto klarer wurde mir, dass meine wahrhaftige Historia eigentlich unendlich weiterverfolgt werden müsste. Seitdem befinde ich mich in einem fortlaufenden, unabgeschlossenen Brasilien-Projekt. Im letzten Teil des Buchs werden einige methodologische und theoretische Überlegungen angesprochen. Das Buch verbindet verschiedene Gattungen der Forschungsliteratur: Es kann als ein Beitrag zur Stadtsoziologie oder zur Migrationsforschung betrachtet werden. Es verfolgt Ansätze der Biografieforschung, aber auch der Ethnologie und der performativen Sozialwissenschaften, vor allem aber kann es im Bereich der künstlerischen Forschung verortet werden. Ich experimentiere mit einem relationalen und performativen Ansatz auf der Suche nach Migrationsgeschichten, die auf der Reise in Relation zueinander gebracht werden. Diese relationale Vernetzung könnte unendlich weiterwachsen – wie eine Art Kletterpflanze, deren Zweige sich mit anderen Elementen kreuzen, daran haften, sich weiter ausdehnen und wieder zueinanderfinden. Ein Netzwerk des Lebens. Oder wie Violetta Parra in ihrem Lied Volver a los 17 beschreibt: „Es verwickelt, verwickelt Wie in der Mauer der Efeu Und es keimt, keimt Wie das Moos im Stein“
„Se va enredando, enredando Como en el muro la hiedra Y va brotando, brotando Como el musguito en la piedra“
[Violeta Parra, Volver a los 17]
Wenn das Leben aus vielen Begegnungen, Verwicklungen, aus Keimen und Weiterwachsen besteht, wie ist eine Forschung möglich, die sich diesem lebendigen Puls annähert? Wie kann man sich mit dem Erforschten so beschäftigen, dass es in seiner Dynamik und weiteren möglichen Vernetzung erfasst wird? Eine relationale Forschung verlangt, dass man sich nicht nur an Geschichten und Per-
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sonen anhaftet, sondern auch an verschiedene Materialien und Phänomene, die einem zufällig auf der Reise begegnen. Was heute im neuen Materialismus und Posthumanismus verteidigt wird, ist in dem Lied von Violeta Parra gut aufgehoben: Der Mensch ist wie eine Pflanze, wie der Efeu und das Moos, die bei vielem, was ihren Weg kreuzt, verweilt. Ein anderes Wort, das ich in dieser Studie benutze, um diesen relationalen Ansatz zu beschreiben, ist das Wort Encruzilhada. Encruzilhada bezeichnet entscheidende Momente im Leben, an denen sich Wege kreuzen und man die Entscheidung für einen Weg fällen muss, ein „Scheideweg“. Es sind nicht nur Begegnungen mit anderen Personen, sondern auch mit Objekten, Materialien oder Phänomenen, die das Leben entscheidend bestimmen können. In der Religion Umbanda wird das Wort Encruzilhada benutzt, um Orte zu bezeichnen, wo Opfergaben an die Götter (die Orishas) und an Exú, vollzogen werden. Exú ist der Herr der Straßenkreuzungen und Türen. Man kann verschiedenste Dinge an diesen Orten platzieren. Wichtig ist nur der Anspruch, durch die Zusammenstellung in eine Art Kommunikation mit Exú treten zu wollen, als würde sich hinter all diesen irdischen Dingen eine Tür zu etwas anderem, zu einem tieferen Sinn auftun. Unabhängig von der religiösen Bedeutung des Worts lässt sich mit diesen Encruzilhadas eine Suche nach Transzendenz extrahieren, die nicht unbedingt religiös sein muss. 1 Eine Suche nach einem Sehnsuchtsort, die in Zusammenhang mit dem deutschen Wort Heimat, das so schwer in andere Sprachen zu übersetzen ist, in Verbindung gebracht werden kann. Heimat wird in der Umgangssprache zeitlich mit der Vergangenheit und örtlich mit einem Herkunftsort verbunden. Aber oft übersteigt die Existenzweise dieses Heimatphänomens eine real existierende Einheit und es lässt sich mehr in der Imagination und in einem Sich-so-erträumt-Haben verorten. Deswegen betonte der Philosoph Ernst Bloch, dass Heimat als eine Art Geborgenheit verstanden werden sollte, die man in der Kindheit verortet. Ein Ort, an dem eigentlich niemand je war und der immer wieder weiter mit unterschiedlichen Medien imaginiert 1 Amalia Barboza, „Die Überhöhung des Alltags. Transzendenzerfahrungen in der Gegenwartskunst am Beispiel von Thomas Bayrle und Ulrike Grossarth“, in: Barboza, Neddens u. a. (Hrsg.), Spektakel der Transzendenz?. Kunst und Religion in der Gegenwart, Würzburg 2017, S. 127–146.
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und aktualisiert wird. Ich bevorzuge es, von einer „bewegten Heimat“ zu reden, um diese transformative und imaginierte Daseinsweise zu betonen.2 Die Heimat, die in diesen Migrationsgeschichten gesucht wird, ist vor allem Brasilien, aber ein erlebtes und imaginiertes Brasilien. Das Buch Brasilien am Main umkreist diese Nation, die in der Ferne gelassen wurde und täglich auf unterschiedliche Weisen in Frankfurt neu gelebt wird. Benedict Anderson schlägt in Die Erfindung der Nation vor, den Begriff Nation ganz allgemein als eine „vorgestellte politische Gemeinschaft“3 zu erfassen, die so groß ist, dass nicht alle Mitglieder sich persönlich kennen, aber doch alle eine Vorstellung davon haben, dass sie vieles gemeinsam haben. Wer könnte besser als MigrantInnen diese „vorgestellte“ Nation verkörpern? Die Nation ist nicht nur, wie Benedict Anderson beschreibt, eine kollektive Imagination, sondern auch eine, die besonders aus der Ferne imaginiert wird. Als würde man erst in der Migration das Verlorene vermissen und sich deshalb darauf konzentrieren, dem Vermissten eine Form zu geben. Die „wahrhaftigen“ Geschichten dieses Buches verdeutlichen vor allem, dass die Nation kein harmonisches, geschlossenes Konstrukt ist – auch wenn die gemeinsame Sprache, die Essensgewohnheiten, die Musik oder andere Medien diese Gesamtheit zu verkörpern scheinen. In dieser Totalität gibt es immer viele „feine Unterschiede“ und sie werden immer wieder neu verhandelt. Der Philosoph François Jullien schlägt vor, statt von „Unterschieden“ zwischen den kulturellen Identitäten von „Abständen“ („écarts“) zu sprechen,4 weil die Bezeichnung „Unterschiede“ den Eindruck erweckt, man suche die Differenz, obwohl es sich eigentlich eher um Abstände handelt, die immer in Bewegung und in Spannung zueinander stehen und die das Gemeinsame trotzdem zum Vorschein bringen. Die Frage ist, wie dieses Gemeinsame erreicht wird. In dem berühmten Buch von Thomas Hobbes, betitelt nach dem biblisch-mythologischen Seeungeheuer 2 Amalia Barboza, „Bewegte Heimat. Topografien des Provisorischen und des Traumhaften in der Migration“, in: Jürgen Hasse (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Heimat in Zeiten der Mobilität. Buchreihe „Neue Phänomenologie“, Freiburg/München 2018, S. 156–179. Zum Konzept „Heimat“ und dessen verschiedenen medialen, räumlichen und zeitlichen Verwirklichungen siehe Amalia Barboza, Barbara Krug-Richter, Heimat verhandeln?, Wien/Köln 2019. 3 Benedict Anderson, Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt am Main 1996, S. 15. 4 François Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität: Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, Berlin 2017.
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Leviathan, wird der Staat als ein geordneter und statischer Organismus beschrieben, als ein Leviathan, der aus vielen einzelnen Individuen besteht, die sich dem Souverän unterordnen (ABB. 01). Auch eine Nation wie Brasilien ist ein Organismus, der aus vielen Teilen und Geschichten besteht – aber kein geordneter Organismus wie bei Hobbes abgebildet, sondern ein unbeständiger Organismus in einer permanenten Dynamik. *** Als ich dieses Buch Ende Oktober 2018 fertigstellte, rückte der Präsidentschaftswahl-Termin in Brasilien näher. Ich konnte selbst erleben, wie sich die BrasilianerInnen in Frankfurt am Main polarisierten, besonders AnhängerInnen und GegnerInnen des früheren Präsidenten Lula, der wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis sitzt und nicht bei den Wahlen kandidieren durfte. Ich erlebte, wie diese politische Figur einige BrasilianerInnen vereinte (ABB. 03), andere aber spaltete. Es gab trotzdem auch Momente, in denen alle wieder vereint waren, beim Singen, beim Tanzen, beim Essen: „Schau mal, wie mein Fischeintopf geworden ist!“, schrieb Julie. Und alle schickten Smileys und Gratulationen (ABB. 02), als könnten sie trotz aller Meinungsverschiedenheiten durch den Duft eines heimischen Gerichts wieder vereint werden. Auch in der Zeit des gemeinsamen Singens und Musizierens werden die Unterschiede für kurze Zeit ausgeklammert. Ein Lied des Musikers Chico Buarque ist der vereinenden und heilenden Kraft der Musik gewidmet: La Banda komponierte Buarque 1966 und es wurde dann in der Instrumentalversion des Musikers Herb Alpert international bekannt. In dem Lied geht es um eine Band, die durch die Straße einer Stadt zieht und mit ihren Liedern über die Liebe Krankheiten heilt und Unterschiede zwischen den Menschen aufhebt. Solange die Musik läuft, verwandelt sich alles ins Positive. Wenn die Band vorbeigelaufen ist, kehren die Unterschiede und Krankheiten wieder zurück. Deswegen singt Chico Buarque über die Enttäuschung, die ihn überkam, als er sah, dass alles, was durch die Musik so süß geworden war, bald wieder aufhörte, süß zu sein:
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„Doch zu meiner Enttäuschung Hatte die Fröhlichkeit ein Ende Alles kehrte an seinen Platz zurück Als die Musikkapelle fort war
„Mas para meu desencanto O que era doce acabou Tudo tomou seu lugar Depois que a banda passou
Und jeder saß in seiner Ecke In jeder Ecke gab es Leid Nachdem die Musikkapelle fort war Und etwas über die Liebe gespielt hatte“
E cada qual no seu canto Em cada canto uma dor Depois da banda passar Cantando coisas de amor“
Trotz aller Momente des Zusammenkommens, die sich durch Musik oder Essen ereignen, lassen sich die Abstände, die entstehen, wenn religiöse oder politische Themen behandelt werden, nicht einfach ignorieren. Vielleicht kommt ein ganz anderes Leviathan-Bild der Wirklichkeit näher, um eine Gemeinschaft oder Nation abzubilden: das Bild der jüdisch-christlichen Mythologie, das ein Seeungeheuer darstellt mit Namen Leviatan ( לִוי ָתָ ןliwjatan „der sich Windende“). Dieser Leviathan ist ein Ungeheuer, das von Gott geschaffen wurde, damit er mit diesem im stürmischen Streit spielen kann (ABB. 04). Alle Menschen sitzen im selben Boot, nur der Leviathan lässt dieses Boot nicht ruhen. Erst die Zukunft wird zeigen, wie die politische Situation in Brasilien sich entwickelt. Brasilien wurde aus der Perspektive Europas oft als ein Land betrachtet, das sich durch die harmonische Vereinigung unterschiedlichster Gruppen kennzeichnet. Es galt deswegen als ein Vorbild für die Humanität. In seinem Buch Brasilien. Ein Land der Zukunft (1941) hat Stefan Zweig über dieses „Brasilien der Hoffnung“ geschrieben. Er befand sich damals in Brasilien im Exil, weil er wegen seiner jüdischen Herkunft Europa hatte verlassen müssen. Er konnte aus der Ferne beobachten, wie sich in Europa und insbesondere in Deutschland ein rassistischer Diskurs immer mehr ausbreitete. Unter anderem waren JüdInnen, KommunistInnen, Homosexuelle und andersdenkende Deutsche auf der Liste der Exkludierten. Stefan Zweig war überzeugt, dass alles, was der Humanismus in Europa aufgebaut hatte, durch den Nationalsozialismus zerstört wurde. Brasilien schien ihm das neue Versprechen des Humanismus zu verkörpern. Schon in der Einleitung seines Brasilien-Buches wird den LeserInnen dieses Land der Zukunft und der Hoffnung vorgestellt – ein Land, in dem es „unter
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allen Nationen der Erde“ am besten gelungen sei, „ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen“ zu erreichen.5 Brasilien war für Zweig ein reales Vorbild für das, was in Europa „nur auf Papier und Pergament theoretisch festgelegt“ worden war: die „absolute staatsbürgerliche Gleichheit“.6 Zweigs Brasilien-Buch ist deshalb nicht nur ein Buch über Brasilien, sondern vor allem ein Buch über die Verwirklichung des Projekts des Humanismus in einem imaginären Land. Er übersah daher die vielen Ungerechtigkeiten und Abstände zwischen den brasilianischen BewohnerInnen, weil er dieses Bild eines friedlichen Zusammenlebens abbilden wollte. Dieses Brasilien der Hoffnung ist auch mir auf meinen Reisen begegnet. Und obwohl ich die vielen real existierenden Probleme nicht ausblenden wollte, wurde mir bald deutlich, wie sehr auch ich hoffe, dass in diesem Land die Vielfalt produktiv und in ständiger gegenseitiger Befruchtung in Gerechtigkeit leben kann. Auch die bekannte Bewegung des „Tropicalismus“ feierte in den 1970er Jahren das Land Brasilien als eine Vereinigung der Vielfalt aller kulturellen und musikalischen Richtungen der Welt. Das Projekt des Tropicalismus bestand darin, kulturelle Einflüsse, die innerhalb und außerhalb des Lands zu spüren waren, produktiv in Kunst und Musik zu vereinen. Als könnte man durch die Kunst die sozialen Unterschiede aufheben. Die TropicalistInnen haben aber die soziale Wirklichkeit mit dem Projekt noch nicht vereinbaren können. Trotz dieser scheinbaren Unerreichbarkeit bin ich der Meinung, dass man zwar nicht allzu optimistisch sein sollte, aber auch nicht nur pessimistisch. Die LeserInnen, die eine Art utopische Nostalgie in meinen Brasilien-Reisen bemerken, werden wohl nicht ganz unrecht haben.
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Stefan Zweig, Brasilien, Gesammelte Werke, Null Papier Verlag, S. 4058–4059. Ebd., S. 4061.
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ABB. 01: Titelblatt von Thomas Hobbes’ Leviathan (1651). Der Körper des Souveräns besteht aus einer geordneten Menschenmasse. Durch einen Gesellschaftsvertrag haben die Menschen in die Macht des Souveräns eingewilligt. Überschrieben ist die Abbildung durch ein Zitat aus dem Buch Hiob: „Keine Macht auf Erden ist mit der seinen vergleichbar“.
ABB. 02: Filmstill aus einer WhatsApp-Botschaft von Julie, die mit folgendem Kommentar versehen war: „Schau mal, wie meine Moqueca* geworden ist! Man spürt den Duft!“ – „Olha minha moqueca como ficou! Da até pra sentir o chirinho!“. *Moqueca ist ein Nationalgericht in Brasilien, eine Art Fischeintopf.
ABB. 03: Foto aus einer Filmaufnahme, die bei YouTube zu sehen war: Der brasilianische Politiker Luiz Inácio Lula da Silva von einer Masse Menschen auf Händen getragen. Er war von 2003 bis 2011 Präsident Brasiliens, wurde kurz vor den Wahlen 2018 wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet und durfte nicht als Präsident kandidieren.
ABB. 04: Leviathan (in Hebräisch ‚der sich Windende‘) ist ein Fabeltier der jüdisch-christlichen Mythologie. Im Buch der Psalmen steht, dass Gott den Leviathan schuf, um mit ihm zu spielen. Ein Bild, das sich vielleicht besser als das Hobbes-Bild eignet, um eine Gemeinschaft oder Nation abzubilden.
Vorwort 09
I Brasilien am Main Alexander Carlos Clara Elis Helena Ivan Marcia Martha Nívea Vládmir Zadiquiel
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II Gekreuzte Wege/encruzilhadas 111
III Meine wahrhaftige Historia Für Alexander Für Carlos Für Clara Für Elis Für Helena Für Ivan Für Marcia Für Martha Für Nívea Für Vládmir Für Zadiquiel
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IV Nachwort 261
Martha São Paulo/ Frankfurt-Bockenheim
Marcia Piripiri/ Frankfurt-Bockenheim
Helena São Paulo/ Frankfurt-Bockenheim
Carlos Rio de Janeiro/ Frankfurt-Westend
Zadiquiel Recife/FrankfurtBergen-Enkheim
Vládmir Recife/ Frankfurt-Bornheim
Ivan Paraíba/ Frankfurt-Nordend
Nívea Rio de Janeiro/ Frankfurt-Altstadt Clara São Paulo/ Frankfurt-Altstadt
Elis São Paulo Frankfurt-Bornheim
Alexander São Paulo/ Frankfurt-Ostend
ABB. 01
Alexander São Paulo/ Frankfurt-Ostend
Alexander wohnt seit einem Jahr in Frankfurt am Main und hat jetzt vor, noch länger in Deutschland zu bleiben. Er ist sich sicher, dass er bei einer Rückkehr nach Brasilien nicht mehr der Alte sein wird. Er sagt, er wird bestimmt eingedeutscht zurückkehren („eu vou voltar alemanizado“). Ein „Brasilien in Frankfurt“ ist für ihn immer da zu finden, wo BrasilianerInnen zusammenkommen. Einerseits ist er der Meinung, dass heute alles sehr globalisiert ist und es in vielem kaum Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Er gibt zum Beispiel zu, dass er nichts Materielles aus Brasilien besitzt, was ihn verraten könnte. Alles, was er kauft, kauft er im Internet, bei Amazon, oder in Kaufhäusern, die es überall in der Welt gibt. Andererseits: Trifft er in Frankfurt jemanden aus Brasilien, spürt er sofort das Brasilianische, die brasilianidade. Als ich ihn bat, das zu konkretisieren, verwies er auf diesen Drang zu musizieren, den viele BrasilianerInnen gemeinsam haben. Er erzählte folgende Anekdote: In Frankfurt wohnt er in einer WG, in der normalerweise BrasilianerInnen leben, da die Besitzerin des Hauses Brasilien mag. Aber einmal wohnte auch eine Frau aus Schweden mit dort und sie beschwerte sich, weil ein Bra-
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silianer den ganzen Tag sang – im Flur, in seinem Zimmer, in der Küche, unter der Dusche. Alexander störte das überhaupt nicht, da er das aus Brasilien nicht anders kennt. Der andere Mitbewohner stammt aus Pernambuco im Norden Brasiliens und dort gehört das Musizieren noch mehr zum Alltag. Alexander erklärte mir:
„Mein Mitbewohner braucht dieses Singen, weil ihm sonst in Deutschland alles bedrückend leise vorkommt.“ Er sang deswegen trotz der Beschwerden seiner Mitbewohnerin weiter. Am Ende musste die Schwedin ausziehen. Alexander kommt aus São Paulo, aus einer Metropole, die sehr laut ist. Deswegen ist er sehr glücklich, in der ruhigen Stadt Frankfurt leben zu können. Er kann diese Ruhe, die sein Mitbewohner beklagt, genießen. Aber auf das Singen und Musizieren will auch er nicht verzichten. Obwohl Alexander zu Anfang unseres Treffens meinte, nichts Materielles aus Brasilien zu besitzen, stellte er später doch fest, dass Bücher das einzige Materielle, Tragbare sind, das er aus Brasilien hat. Und ich merkte, dass in diesen Büchern sein Brasilien kondensiert war – ein komplexes Brasilien, aus entgegengesetzten Tendenzen und Bestrebungen gestaltet. Kein Wunder, dass er nach Deutschland gekommen ist, um sich in seiner Dissertation mit dem Werk Georg Simmels auseinanderzusetzen. Simmel, der deutsche Philosoph und Soziologe, der am Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin lebte und in dieser Stadt die Kultur der Moderne analysierte, indem er versuchte, die Tendenzen des urbanen Lebens zu erfassen. Berlin war für Simmel die Bühne, auf der sich eine Moderne widerspiegelte, die aus vielfältigen und entgegengesetzten Tendenzen ihren täglichen Rhythmus schöpfte – eine Stadt wie São Paulo, aber auch wie das ganze Land Brasilien. Die Bücher auf dem Regal in Alexanders Zimmer verkörpern ein Brasilien, das sich um kontroverse Diskussionen entfaltet, ein Widerstreit zwischen Tendenzen. Viele der Bücher sind im Dialog mit anderen Büchern entstanden. Zuerst erzählte Alexander von dem Buch des marxistischen brasilianischen Philosophen Roberto
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Schwarz. Es ist gerade erschienen und er hat es sofort gekauft.1 In einem Kapitel beschäftigt sich der Autor kritisch mit einem 1997 erschienenen Buch des Musikers Caetano Veloso –Verdade Tropical. Es geht in diesem Buch um Caetanos Lebensgeschichte und gleichzeitig auch um die Geschichte der Tropicalismus-Bewegung. Eine Bewegung von MusikerInnen und KünstlerInnen aus den bildenden und anderen Künsten, die geprägt von verschiedenen kulturellen Einflüssen versuchten, kreativ etwas Neues entstehen zu lassen. Für Schwarz wie auch für andere MarxistInnen repräsentieren Caetano Veloso und mit ihm die Bewegung des Tropicalismo eine falsche Reaktion auf die brasilianische Diktatur der 1970er Jahre. Dem Prinzip der Tropicalismo-Bewegung entsprach, alles, was Brasilien beinhaltet, aufzunehmen und sich gegenüber allen Kulturen und allen Musikrichtungen zu öffnen. Die MarxistInnen sahen in dieser offenen Haltung zu wenig Widerstand gegen die Diktatur und außerdem eine unkritische Position gegenüber dem Kapitalismus und dessen Kulturindustrie, da der Tropicalismus auch alles aufnahm, was aus den USA kam. Berühmt wurde ein Umzug, der am 17. Juli 1967 in São Paulo gegen die elektrische Gitarre als Agent der USA organisiert worden war: Passeata Contra A Guitarra Elétrica (ABB.01). Offensichtlich richtete sich die Kundgebung gegen den Tropicalismo, der die elektrische Gitarre integriert hatte. Nicht nur MarxistInnen nahmen an dem Umzug teil, sondern auch viele MusikerInnen, die die populäre Musik aus Brasilien (Musica Popular Brasileira) gegen amerikanische Einflüsse verteidigen wollten. Interessant findet Alexander, dass Roberto Schwarz in seinem neuen Buch den Tropicalismo weniger kritisch sieht. Es gebe inzwischen bei den MarxistInnen eine Revision dieser harten Fronten. Und genau das interessiert Alexander: wenn sich die Fronten in seinem Land aufeinander zuzubewegen scheinen und trotzdem in Spannung verbleiben. In der Zeit, als wir uns trafen, war er sehr besorgt und schaute täglich die Nachrichten aus Brasilien.
„Gerade mache ich mir Sorgen um mein Land. Es hat in 1
Roberto Schwarz, Martinha versus Lucrécia: ensaios e entrevistas, São Paulo 2012.
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der letzten Zeit bei Demonstrationen zu viel Gewalt gegeben und es ist ungewiss, zu welchen Ergebnissen diese Spannungen führen werden.“ Per Internet verfolgte er die Demonstrationen und Kundgebungen, die in São Paulo stattfinden und stand mit vielen AktivistInnen in Kontakt. Die Menschen in der Stadt protestierten zuerst vor allem gegen die Repression der Polizei bei einer Demonstration gegen die Privatisierung öffentlicher Räume und die Preiserhöhungen des öffentlichen Verkehrs in São Paulo. Auf diese Demonstration folgten weitere, und die Meinungen der DemonstrantInnen spalteten sich. Einen Monat vor unseren Treffen nahm Alexander selbst an einer Demonstration teil, welche die in Europa lebenden BrasilianerInnen in Frankfurt am Main organisiert hatten. Spaltungen und Meinungsunterschiede ließen sich auch in Frankfurt spüren. Man konnte dieser Demonstration gleich ansehen, dass viele BrasilianerInnen aus anderen Beweggründen zu der Versammlung erschienen waren. Es tauchten zum Beispiel viele brasilianische Fahnen und Fußballtrikots auf und einige DemonstrantInnen protestierten gegen die Politik der Regierung unter Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei. Alexander merkte gerade in diesem Moment, dass er nicht zu dieser Demonstration gehören wollte. Nicht nur er, viele andere kommentierten Ähnliches in Facebook. Die DemonstrantInnen waren nicht mehr nur gegen die Polizeigewalt in São Paulo, in ihren Anliegen vermischten sich vielmehr diverse politische Strömungen, aus ihnen sprach die Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen brasilianischen Politik. Alexander konnte in Frankfurt erleben, wie gespalten Brasilien ist. Wenn er seine Dissertation über Simmel beendet hat, möchte er noch für die Postdoc-Phase in Deutschland bleiben. Irgendwann will er dann nach Brasilien zurückkehren – bestimmt, wie er sagt, „eingedeutscht“ (alemanizado).
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ABB. 02: Den Drang zu musizieren hält Alexander für typisch brasilianisch. Als sein Freund und Mitbewohner aus Pernambuco nach Brasilien zurückkehrte, ließ er seine Gitarre in Frankfurt und Alexander begann wieder, Gitarre zu spielen.
ABB. ABB.XX: 03
Carlos Rio de Janeiro/ Frankfurt-Westend
Carlos fing an, Deutsch zu lernen, um die Klassiker der Rechtstheorie im Original lesen zu können – Werke, auf die in Brasilien alle Professoren verweisen, weil sie zur Grundlage des Studiums gehören. Er hatte in Rio das große Glück, einen guten Deutschlehrer zu finden, der ihm nicht nur die deutsche Sprache beibrachte, sondern auch eine Tür zur deutschen Kultur öffnete. Antonio, sein Deutschlehrer, erschloss ihm einen weiten Horizont, den er damals, als er nur die Sprache lernen wollte, nicht erwartet hatte. Und dieser Horizont wurde immer weiter. Heute ist Antonio einer seiner besten Freunde. Wenn er in Rio ist, dann ist es für Carlos wichtig, ihn zu treffen. Sie spazieren lange durch die Parks des Stadtteils Gloria, sitzen auf einer Bank und unterhalten sich über neue Filme, Philosophie und Literatur. Antonio ist für ihn eine deutsche Insel in Rio. Carlos kam das erste Mal nach Deutschland, um in Frankfurt seinen Master in Jura zu machen. Dank Antonio beherrschte er schon die Sprache und fiel den Dozenten als sehr guter Student auf. Als er fertig wurde, bekam er die Möglichkeit, mit einem Stipendium seine Doktorarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt zu schreiben. So verbrachte er mehr Jahre in Deutschland als geplant. Nach
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Abschluss der Promotion kehrte er aber zurück nach Rio. Es folgte dann eine sehr schwierige Zeit, weil ihm klar wurde, wie sehr sein Aufenthalt in Deutschland ihn verändert hatte. Eigentlich war er sich immer sicher gewesen, nach dem Studium heimzukehren. Zurück in Rio wusste er aber plötzlich nicht, was er aus seinem Leben machen sollte. Sein Freund Antonio begleitete ihn in dieser schwierigen Zeit. Sie unterhielten sich viel, was ihm half, eine Lebensentscheidung zu treffen. Carlos kehrte schließlich nach Deutschland zurück und nahm eine Stelle an der Goethe-Universität an. Seitdem lebt er wieder in Frankfurt, mittlerweile schon acht Jahre. Eine Sache hat er jetzt für sich entschieden:
„Ich will jetzt nicht mehr sagen, dass ich irgendwann nach Brasilien zurückkehren werde. Lieber lasse ich das Leben selbst entscheiden.“ Wir unterhalten uns nicht auf Portugiesisch oder Deutsch, sondern auf Spanisch. Das hat damit zu tun, dass Carlos seit vielen Jahren mit zwei Spanierinnen in einer WG lebt und immer, wenn er ausgeht, entweder mit SpanierInnen oder Deutschen unterwegs ist. Er hatte früher einige Freunde aus Brasilien, mit denen er Portugiesisch reden konnte, aber jetzt sind fast alle schon zurückgekehrt. Für ihn sei die spanische Sprache zur zweiten Muttersprache geworden, sagt er. Er ist der Meinung, dass er, wenn er Spanisch spricht, ein bisschen anders sei: lauter, offener und kommunikativer. Wenn er mit mir Portugiesisch sprechen würde, würde er bestimmt nicht so viel reden. Und tatsächlich, manchmal wenn ich mit ihm Portugiesisch spreche, ist er leiser und viel karger in seinen Worten und Redewendungen, als könnte er sich nicht so lebendig ausdrücken wie im Spanischen. Ich frage Carlos, ob er Sachen aus Brasilien in seiner Frankfurter Wohnung habe. Er erwähnt zwei Schätze: Bücher und Heilige. In seinem Zimmer ist ein großes Bücherregal. Ein Teil der Bücher ist aus Brasilien und begleitet ihn schon seit Langem. Alle Bücher haben eine wichtige Funktion in seinem Leben und sind gut geordnet:
„Ich trenne zwischen zwei Arten von Büchern. Bücher,
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die ich aus emotionalen Gründen besitze, und Bücher, die ich für die Arbeit brauche, die ich auf Deutsch ‚Zweckbücher‘ nenne.“ Diese Zweckbücher benutzt Carlos als Referenz für guten Stil, wenn er auf Portugiesisch einen Text schreiben muss. Es sind Bücher, die sehr gut geschrieben sind, zum Beispiel die Bücher eines konservativen Autors, des Literaturkritikers Wilson Martins, dessen einfache und klare Sätze Carlos sich zum Vorbild nimmt, obwohl er Martins’ politische Ansichten nicht teilt. Er erwähnt auch ein Buch eines Schriftstellers, der sehr kompliziert schreibt, Os Sertões von Euclides da Cunha. Das Buch besteht aus drei Teilen – „Die Erde“, „Der Mensch“ und „Der Streit“ – und zeigt die tiefe Verbindung zwischen den Menschen und der Landschaft, in die sie hineingeboren wurden. Carlos sagt, dass es in diesem Buch „erstaunliche Sätze“ gibt, die wie Kunstwerke sind, besonders die geografischen Beschreibungen. Deswegen ist es ein Buch, das Carlos sehr gern und immer wieder liest. Es ist für ihn sowohl ein Zweckbuch als auch ein emotionales Buch. Es gibt auch Bücher, zu denen er eine rein emotionale Beziehung hat, wie zum Beispiel die Bücher von Mário de Andrade oder von Clarice Lispector. Manchmal kauft er einige dieser Bücher als Geschenk für Freunde mit der Idee, dass diese auch etwas von ihm selbst kommunizieren. Ein Buch des Dichters und Übersetzers Haroldo de Campos hat er vor Kurzem in Brasilien erneut gekauft. Es handelt sich um eine Neuedition von Galáxias (ABB. 04), ein Buch, das Carlos seit Langem besitzt und oft verschenkt hat. Es lässt sich als Reisebuch lesen, als Reise nicht durch Länder und Orte, sondern vor allem durch literarische und sprachliche Galaxien. Das Cover der neuen Edition zeigt einen Spiralnebel aus Buchstaben (ABB. 06) – als könne man durch die Lektüre von Texten überallhin transportiert werden. Man braucht nicht zu reisen, um die Welt der Sprachen zu erkunden. Als Carlos 15 Jahre alt war, sah er im Fernsehen, wie Haroldo de Campos aus diesem Buch vorlas. Er ist bis heute fasziniert von dessen Sprache und Musikalität. Seitdem verfolgt er alle Bücher, die de Campos geschrieben und übersetzt hat. Eine Reise durch Bücher, die auch den deutschen Raum durchkreuzt: Übersetzungen
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ABB. 04: Bücher sind für Carlos sehr wichtig. Er zeigt mir das Buch Galáxias von Haroldo de Campos, ein Reisebuch, das nicht nur durch Orte führt, sondern auch durch Sprachen, Farben, Früchte ...
ABB. 05: In seiner Wohnung sind viele Heilige zu sehen. Einige hat er von seiner Mutter oder seiner Tante geschenkt bekommen, andere hat er selbst gekauft. Heilige kann man überall kaufen.
ABB. 06
von Rilke, Goethe und Brecht. Dank de Campos lernte Carlos die deutschen Klassiker schon kennen, bevor er Deutsch konnte. Carlos erzählt mir auch von seinen Heiligenfiguren. Viele sind Geschenke, die er von seiner Mutter und von seiner Tante bekommen hat. Andere hat er selbst gekauft. In seinem Bücherregal stehen kleine Heilige (ABB. 05). Er zeigt mir weitere Heilige auf kleinen Kärtchen, die sich einfach und überall, im Portemonnaie oder zwischen den Büchern, aufbewahren lassen (ABB. 03). Ich staune über die vielen Orte wo Heilige versteckt sein können. Carlos lacht ein bisschen über sich selbst, wenn er von seinen Heiligen spricht. Er versucht, mir seine Zuneigung so zu erklären:
„Ich empfinde mich nicht als religiös, aber betrachte meine Beziehung zu diesen ‚religiösen Dingen‘ als eine typisch brasilianische Irrationalität, die im privaten Leben der Brasilianer immer vorhanden ist.“ Im öffentlichen Leben oder in seiner Profession will Carlos diese Neigung nicht zeigen. Seine Freunde wissen aber davon. Mir zeigt er sich auch sehr offen. Versteckt unter dem Hemd trägt er eine Halskette mit dem Bild einer Virgem del Carmen (Jungfrau Carmen). Manchmal betet er auch ein Vaterunser oder ein Ave Maria. Das habe aber für ihn nicht richtig mit beten zu tun, sondern es sei eine Art Gesang, wie eine Meditation, eine „traditionelle Art des Seins“ (um modo tradicional de ser). Obwohl diese Gebete und diese Heiligen aus der katholischen Religion kommen, sind sie in Brasilien auch mit anderen Religionen der afrobrasilianischen Kulturen vermischt. Deswegen sagt Carlos, habe es mehr mit Aberglauben als mit Religion zu tun. Wenn er darüber nachdenkt, kann er das nicht rational erklären, will aber nicht darauf verzichten. Vor einem Jahr war Carlos sehr überrascht. Ein berühmter deutscher Professor für Rechtstheorie starb, und er wurde zu einer religiösen Zeremonie eingeladen. Er hatte gehört, dass der Professor sehr religiös gewesen war. Trotzdem verwunderte es ihn, wie die Mitglieder der Universität sich in dieser Liturgie öffentlich präsentierten. Für ihn gehört seine Religiosität zu einer sehr privaten Sphä-
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re, die von seinem professionellen Auftreten komplett getrennt ist, und er hatte gedacht, dass auch deutsche Akademiker solch eine Einstellung haben. Diese Erfahrung zeigte Carlos wieder, wie sehr sein Bild von der deutschen Akademie und von Deutschland noch von Erwartungen geprägt ist, die er aus Brasilien mitgebracht hat. Heute ist er der Meinung, dass die deutsche Wissenschaft in der brasilianischen Universität eine Art Mythos ist, den er in Deutschland zu relativieren gelernt hat. Auch Brasilien ist von Mythen geprägt. Der Karneval ist für ihn einer dieser Mythen. Als er in Rio lebte, versuchte er während der Karnevalszeit immer, die Stadt zu verlassen. Die Insel Ilha Grande südlich von Rio bietet genau das Gegenprogramm: viel Ruhe und Sauberkeit. Er empfiehlt mir, diese Insel zu besuchen. Auf einem Zettel notiert er mir die Adresse eines Hotels, dessen Besitzer aus Frankreich kommt: Gerard von der Pousada Manacá. Carlos ist der Meinung, ich müsse ihn unbedingt kennenlernen: Gerad habe viel erlebt, man könne sich mit ihm stundenlang unterhalten und alles Mögliche über die Welt und vor allem über Brasilien lernen. Auf der Ilha Grande merke man gar nichts vom Karneval und man könne mit Freunden ruhig im Wald oder am Strand spazieren gehen. Auf meine Frage, ob Carlos etwas aus Brasilien stark vermisse, sagt er: nicht nur seine Freunde, sondern auch die Landschaft von Rio und das Meer. Er ergänzt, er sei „vorsichtig“ mit dem Meer, weil immer so „viel hineininterpretiert“ werde. Aber er merkt, dass das Meer eine Landschaft ist, die ihm sehr fehlt. Eine Landschaft, die tief in ihm eingeprägt ist, so wie die Sprachen. Diese Verbindung lässt sich für ihn nur emotional beschreiben – am besten mit einem Gesang von Haroldo de Campos aus dem Buch Galáxias. Ein Gesang, in dem das Meer nur mit dem Klang der Wörter spürbar wird. An einem Tag schenkt mir Carlos das Buch von Haroldo de Campos Galáxias, wo das Gedicht über das Meer zu finden ist. Der ganze Text ist durchgehend klein geschrieben, ohne Punkt und Komma, ohne Unterteilung in Kapitel, ohne Seitenzahlen. Im Internet kann man hören wie Haroldo de Campus aus dem Buch vorliest. 2 Er betont mit Absicht die Wellen und das Schäumen der Sprache, 2
Siehe https://www.youtube.com/watch?v=YuSyr5LCp0Q.
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damit man beim Zuhören das Meer spüren kann. Es ist eine BuchReise, ein Meer-Buch, ein Buch der Farben, ein Buch wo alles sich vereint, was zum Meer gelangt: „multitudinous seas incarnadin das saugende und sausende meer der bug reisst eine furche und hinterläßt eine furche der bug ein pflug im acker aus blau eine dauernde wunde in purpurner see die sich öffnet mit pubischem munde die purpurne pulsierende pubis der see óinopa pónton die farbe des weines die farbe des scheines nach der sonne gefälle aufs schäumen der welle das mannigfaltige meer in bröckelnden bröseln ein salziges mehl im bruche der brandung vom sturm zermalmt iris nuntia junonis und wechselt sein gefieder aber die see aber das schäumen aber das bäumen aber das schäumenbäumen der see und die abgeschaffte zeit wiedergeschaffen und wiederschaffend im gegliederten grün im geglasten gewässer das grüne gegrase wie ein baum in grün und man sieht er ist blau er ist rot er ist purpur er ist jod er ist erneut grün glasgrün angehaucht von bläue von schwefel und perlen und purpur …“
„multitudinous seas incarnadine o oceano oco e regougo a proa abrindo um sulco a popa deixando um sulco como uma lavra de lazúli uma cicatriz contínua na polpa violeta do oceano se abrindo como uma vulva violeta a turva vulva violeta do oceano óinopa pónton cor de vinho ou cor de ferrugem conforme o sol batendo no refluxo de espumas o mar multitudinário miúdas migalhas farinha de água salina na ponta das maretas esfarelando ao vento iris nuntia junonis cambiando suas plumas mas o mar mas a escuma mas a espuma mas a espumaescuma do mar recomeçado e recomeçando o tempo abolido no verde vário no aquário equóreo o verde flore como uma árvore de verde e se vê é azul é roxo é púrpura é iodo é de novo verde glauco verde infestado de azuis e súlfur e pérola ...“
[Haroldo de Campos, Galáxias (1984), São Paulo 2004. Übersetzung: Vilém Flusser, in: Haroldo de Campos, Versuchsbuch Galaxien, Stuttgart, 1966.]
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ABB. 07
Clara São Paulo/FrankfurtAltstadt
Clara reiste zum ersten Mal nach Europa, als sie zwanzig Jahre alt war. Die Europareise war nur für drei Monate geplant. Am Ende blieb sie ein ganzes Jahr. In dieser Zeit lernte sie viele Menschen kennen und ließ sich von ihnen spontan an unbekannte Orte locken. Frankfurt am Main war auf ihrer Route ebenso wenig geplant. Sie hatte in Madrid eine junge Frau kennengelernt, die in Frankfurt lebte, und entschied sich, sie zu besuchen. Nach einem Jahr in Europa kehrte sie wieder zurück nach São Paulo. Sie hatte sich aber in Frankfurt in einen Mann verliebt, und da sie in Brasilien Arbeit hatte und er in Frankfurt studierte, führten sie über vier Jahre eine Fernbeziehung. Sie besuchte ihn in Frankfurt oder sie trafen sich an anderen Orten, bis sie sich entschieden, zusammen in Frankfurt zu leben und ein Kind zu bekommen. Jetzt lebt sie mittlerweile seit insgesamt 23 Jahren in dieser Stadt. Von ihrem Mann trennte sie sich als ihr Sohn noch klein war. Heute ist ihr Sohn schon ein Mann und hat gerade mit Freunden seine erste große Reise nach Brasilien gemacht – eine Brasilienreise – fast in demselben Alter, in dem sie zum ersten Mal Brasilien verließ.
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Clara ist selbst immer noch viel auf Reisen und betrachtet sich als Weltbürgerin. Aber immer wenn sie von einer Brasilienreise nach Frankfurt zurückkehrt, fühlt sie sich gespalten. Sie weiß, dass sie sich mittlerweile sehr geändert hat, dass sie vieles, was in Brasilien läuft, nicht mehr ertragen kann. Wenn sie in Brasilien ankommt, braucht sie immer Zeit, bis sie sich an das Chaos von São Paulo gewöhnt. Dann, wenn sie wieder zurückkehren muss, kann sie sich nur schwer von dem Land und seinen Menschen trennen. Am meisten vermisst sie die Offenheit der Menschen in Brasilien, die Kommunikation und die Freude am Leben „trotz aller Widrigkeiten“. In Deutschland es ist für sie nicht so einfach, diese Lebensfreude und Offenheit aufrechtzuerhalten. Sie denkt:
„Man muss sich anpassen, um nicht als ‚exotischer Vogel‘ wahrgenommen zu werden. Ohne es zu merken, verwandelt man sich, um nicht aufzufallen.“ Ein Freund von ihr, ein Deutscher, der in Jamaika lebt, sagt: „Wenn man längere Zeit in Deutschland war, braucht man immer eine Weile, um sich wieder offen bewegen zu können.“ Und das merkt sie auch bei sich selbst. Aber sie will sich auch nicht unter Druck setzen. Sie weiß, dass das Leben so ist und dass man sich ändert, wenn man an einem anderen Ort lebt. Wichtig für sie ist, nicht nur an einem Ort zu bleiben, sondern in Bewegung, auf Reisen zu sein. Sie ist der Überzeugung, in Frankfurt lasse sich vieles gestalten und ändern. Man kann sich „sein Brasilien in Frankfurt“ aufbauen. Vor fünfzehn Jahren eröffnete Clara eine Bar, die sie Favela-Bar nannte. Die Favela-Bar wurde zum Treffpunkt vieler BrasilianerInnen und Brasilien-FreundInnen. Es gab nicht nur Konzerte, sondern auch brasilianische Filme wurden gezeigt. Wer von einer Brasilienreise zurückkam, konnte sich hier austauschen und das Mitgebrachte zeigen. Die Favela-Bar hatte sie selbst gestaltet, mit vielen Objekten aus Brasilien und selbst gemalten Motiven an den Wänden. Sie merkte damals, dass sie die Fähigkeit habe, Räume in „kleine Oasen“ zu verwandeln. Auch andere wurden darauf aufmerksam. In dieser Zeit bekam sie den Auftrag, eine Ausstellung mit Produkten aus Brasilien für das Museum für Angewandte Kunst zu realisieren. Nach der Ausstellung waren viele der ausstellenden Firmen mit ihr
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so zufrieden, dass sie sie weiterhin beauftragten, ihre Produkte auf internationalen Messen zu inszenieren. Dies wurde schließlich ihr Beruf. Sie machte sich selbstständig und gründete eine Firma für Kommunikation und temporäre Architektur. Seitdem arbeitet sie hauptsächlich für Kunden aus Brasilien, die weltweit Produkte anbieten. Die Räume ihrer Firma liegen neben ihrer Wohnung im selben Haus. Manchmal geht sie deswegen tagelang nicht auf die Straße. Da sie den ganzen Tag nur mit BrasilianerInnen kommuniziert, hat sie im Winter oft den Eindruck, dass draußen Sommer sei. Sie sagt, dass sie heute wieder in einer „brasilianischen Blase“ lebe – wie damals in der Favela-Bar. Alle Zimmer ihrer Wohnung sind so dekoriert, dass sie sich „zu Hause“ fühlen kann. Und dieses Zuhause sind für sie die Tropen mit allen ihren bekannten Motiven: Palmen, Vögel, Kakao, Ingwer … Für ihr Wohnzimmer hat sie sich eine Palmen-Tapete aus den USA mitbringen lassen (ABB. 07). Das Modell heißt Martinique und kostet etwa 300 Euro. Das ist teuer, aber sie hat die Tapete im Internet gesehen und wollte sie unbedingt haben. In ihrer Wohnung befinden sich viele Objekte aus Brasilien. Viele hat sie bei ihren Reisen gekauft oder von ihren Kunden geschenkt bekommen. Sie ist der Meinung, dass viele dieser Dinge zufällig ihren Lebensweg gekreuzt haben:
„Ich liebe schöne Objekte und kann mich nur schwer von ihnen trennen. Vieles habe ich aber bei meinen zahlreichen Umzügen verloren.“ Ein Bild, das heute in ihrer Küche hängt, hatte sie in der Favela-Bar gelassen. Sie wollte es unbedingt wiederhaben und ließ nicht locker, bis sie es wiederfand. Auf dem Bild sieht man eine Frau, die von vielen Früchten umgeben ist (ABB. 08). Die Frau hält in der Hand eine geöffnete Pitaia und schaut nach vorne. Ich hatte den Eindruck, dass diese Frau auf dem Bild für Clara eine Art Vorbild ist, besonders als sie von ihrer letzten Reise nach Amazonien erzählte. Ihr sei dort eine Geschäftsidee gekommen als sie die vielen verschiedenen Früchte sah, die man in Deutschland kaum kennt. Ihre Idee war, aus den Früchten Getränke zu produzieren, damit viele Familien in Ama-
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zonien davon leben könnten. Wenn Clara die Zeit dafür hätte, würde sie diese Geschäftsidee verfolgen – als könnte sie sich in die Frau auf dem Bild verwandeln, umgeben von tropischen Früchten. Außer den Gegenständen aus Brasilien besitzt Clara auch viele Bücher. Diese muss sie nicht unbedingt behalten. Sie sagt:
„Das Leben ist zu kurz, um Bücher zweimal zu lesen.“ Zu Hause hat sie eine Sammlung von Filmen aus Brasilien. Besonders wichtig für sie ist ein Dokumentarfilm über das Leben des berühmten brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer Das Leben ist ein Hauch (A vida é um sopro). Sie kann sich mit diesem Film und besonders mit diesem Satz, der am Ende des Filmes von Oscar Niemeyer wiederholt wird – „Das Leben ist ein Hauch“ – sehr identifizieren. Sie liebt das Leben, hat aber gleichzeitig Angst, dass alles kurz ist und schnell vergeht.
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ABB. 08: Ein Bild mit einer Frau, umgeben von tropischen Früchten, hängt in der Küche. Als Clara über ihr Früchte-Projekt erzählt, habe ich den Eindruck, Clara würde sich gern in diese Frau verwandeln.
ABB. 09
Elis São Paulo/FrankfurtBornheim
Obwohl Elis täglich mit vielen BrasilianerInnen zu tun hat, ist sie der Meinung, in Frankfurt nicht viele Freunde aus Brasilien zu haben. Sie führt ein eher ruhiges Leben und geht wenig aus. Sie arbeitet den ganzen Tag in einem kleinen Laden mit brasilianischen Lebensmitteln und isst daher immer Gerichte aus Brasilien. Zu Hause kocht sie nicht. Auch ihr Mann, der Koch ist und viel arbeitet, hat keine Lust, auch noch zu Hause zu kochen. Sie mag es, wenn die Küche sauber bleibt (ABB. 10). Elis kam zum ersten Mal vor zehn Jahren nach Deutschland. Sie hatte in Brasilien einen Mann aus der Schweiz kennengelernt und bald danach geheiratet. Die Beziehung hielt nicht lange. Danach heiratete sie ihren zweiten Mann, mit dem sie heute zusammenlebt. Er ist im Unterschied zum ersten nicht so sehr an Brasilien interessiert – aber das stört sie nicht. Dank Internet hat sie ihr Brasilien zu Hause. Täglich schaut sie auf ihrem Laptop eine brasilianische Serie: Geschichten über Liebe und schwierige Familienverhältnisse (ABB. 09). Und jeden Tag spricht sie mit ihrer Mutter oder mit ihrer Schwester via Skype.
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Sie würde gern viel Geld verdienen, um mindestens zweimal im Jahr nach Brasilien fliegen zu können. Sie will Geld haben, aber aufpassen, nicht arrogant zu werden, wie sie das bei vielen „Neureichen“ aus Brasilien, die in Europa leben, beobachten kann. Sie meint, die MigrantInnen würden die großen sozialen Unterschiede Brasiliens weiter pflegen, auch wenn sie ursprünglich aus armen Verhältnissen kommen und erst in Europa einen besseren Status erreicht haben. Hätte sie Geld, würde sie viel reisen, dabei aber auch versuchen, die „Füße auf dem Boden“ zu behalten und nicht viel zu konsumieren.
„Mir ist wichtig, den Kontakt mit der Familie aufrechtzuerhalten, in der Realität zu leben und nicht viele materielle Dinge zu besitzen.“ Zu Hause hat sie kaum Sachen aus Brasilen. Auf einem Regal stehen einige Souvenirs, kleine Objekte mit brasilianischen Fahnen. Sie liebt die Farbe der Fahne und ganz besonders den Sternenhimmel. Sie besitzt auch einige Bücher aus Brasilien. Besonders gern liest sie Literatur über Selbsthilfe und über neurolinguistisches Programmieren. Es geht um mentale Übungen, um das eigene Verhalten zu ändern. Und sie mag auch die Literatur von Paulo Coelho. Gerade liest sie die Geschichte einer Frau, die ihren Traum verwirklichen wollte. Sie liebt diese Lebensgeschichten von Personen, die in ihrem Leben hart kämpfen müssen, bis sie ihr Ziel erreichen. Sie nennt sie Überwindungsgeschichten (histórias de superação). Sie geben ihr die Kraft, ihre eigenen Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Sie braucht immer einen Antrieb, weil sie sich sonst häufig ablenken lässt:
„Oft verliert man die Ziele im Leben aus den Augen und geht nur arbeiten, um Geld zu verdienen.“ Sie will etwas erreichen, zum Beispiel Deutsch lernen, um sich besser unterhalten zu können. Und sie würde gerne studieren. Sie denkt, wäre sie heute in Brasilien mit der Schule fertig, könnte sie studieren, da die linke Regierung der ärmeren Bevölkerung ökonomische Unterstützungen gewährt. Aber leider gab es zu ihrer Schulzeit diese Möglichkeit nicht. Wenn sie könnte, würde sie Psychologie
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ABB. 10: In ihrer Wohnung hat Elis kaum Objekte aus Brasilien. Sie kocht auch nicht. Für sie ist es wichtig, dass die Küche sauber bleibt. Sie ist der Meinung, dass die Menschen nur außerhalb Brasiliens versuchen, nach original brasilianischen Rezepten zu kochen. In Brasilien wird eher improvisiert.
oder Journalismus studieren. Als steckte in diesen beiden Disziplinen, was sie im Leben sucht: tief im Unterbewusstsein verankerte Geschichten. In letzter Zeit denkt sie viel über die Geschichte ihrer Familie nach. Erst in Deutschland fing sie an, sich für Geschichte zu interessieren. Die Deutschen, die sie kennt, wollen immer wissen, woher sie kommt und wer ihre Vorfahren waren. Auch die Familie ihres Mannes fragt oft nach ihrer Herkunft. Am Anfang konnte sie nicht antworten. Jetzt will sie dieser Geschichte nachgehen:
„Meine Urgroßmutter mütterlicherseits war Indianerin. Die Vorfahren meines Vaters waren Sklaven. Meine Großmutter ist in Rio de Janeiro geboren, mein Großvater in Paraná, ich in der Umgebung von São Paulo. Bekomme ich ein Kind, wird es in Deutschland geboren.“ In letzter Zeit träumt sie ganz viel von Brasilien. Viele afrikanische Frauen tauchen in ihren Träumen auf. Sie tanzen und tragen verschiedene Objekte bei sich. Sie kann diese Objekte aber nicht deutlich erkennen. Im Internet gibt es Webseiten, die Träume deuten. Sie schlägt dort oft nach und glaubt, in Träumen seien Botschaften verborgen. Vor Kurzem sprach sie auch mit einem Kunden im Laden über diese Träume und die Vielfalt der Ethnien in Brasilien. Der Kunde ist Brasilianer und lebt seit 15 Jahren in Frankfurt. Er sagte, sie solle unbedingt das Weltkulturen-Museum am Museumsufer besuchen. Er habe da viele Exponate aus Brasilien gesehen, von den Indianern und der afrobrasilianischen Kultur. Sicher könne sie im Museum Informationen finden, die ihr weiterhelfen, die Objekte in ihren Träumen zu entschlüsseln. Mir gefällt die Vorstellung, dass viele BrasilianerInnen, die in Frankfurt leben, vielleicht ohne es zu merken, mit einem unsichtbaren Faden und durch Träume mit den Exponaten des Museums tief verbunden sind. Ich frage Elis, ob sie mit mir ins Museum gehen möchte, da ich die Kustodin der Abteilung Amerika kenne und sie uns bestimmt das Archiv zeigen würde. Sie will sich die Zeit dafür nehmen. Für Elis sind Träume Fenster zu unbekannten Mächten. Sie erklärt
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mir, dass es auch im Alltag, in der Wachwelt, Methoden gibt, diese Mächte zu beeinflussen. In Brasilien machte sie früher viele simpatias. Simpatias sind einfache Zauberei-Rezepte. Sie lernte, dass man diese Mächte nicht unterschätzen soll. Einmal war sie in einen Jungen verliebt. Sie machte eine Simpatia, damit er auf sie aufmerksam wurde. Die Simpatia funktionierte nicht wie erwartet, aber das war nicht schlimm, da sie sich bald in einen anderen Jungen glücklich verliebte. Nach langer Zeit, als sie sich nicht mehr an die Simpatia und an den Jungen erinnerte, kam er plötzlich wie aus dem Nichts und war verrückt nach ihr. Seitdem überlegt sie es sich gut, ob sie eine Simpatia macht.
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ABB. 11
Helena São Paulo/FrankfurtBockenheim
Helena läuft oft an der Nidda entlang. Ihr Weg beginnt auf der Leipziger Straße: Sie läuft zum Kirchplatz und dann über die Wiese in Richtung Niddapark. Sie rennt nicht, aber läuft schnell, um sich in Form zu halten. Auf keinen Fall will sie auf Essen verzichten. Sie isst viel und am liebsten brasilianisch. Wenn ihr Sohn nicht bei ihr wäre, würde sie täglich brasilianisch kochen.
„Am liebsten esse ich feijoada, ein Essen aus Brasilien, das alles hat, was der Körper braucht (ABB. 11). Aber mein Sohn hat sich mittlerweile in Deutschland gut eingelebt und will auf keinen Fall jeden Tag brasilianisch essen.“ Helena kam vor zehn Jahren nach Frankfurt. Der Vater ihres Sohns ist Deutscher. Sie lernte ihn in Brasilien kennen, als er Urlaub in Brasilien machte. Als die Beziehung auseinanderging und er nach Deutschland zurückkehrte, fand sie es wichtig, dass ihr Sohn in der Nähe des Vaters lebt. So entschied sie sich, ebenfalls nach Deutschland zu kommen. Zu Beginn war sie an der Goethe-Universität
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Frankfurt eingeschrieben und hatte vor, eine Doktorarbeit über Jugendkultur zu schreiben. Aber diese Pläne gehören mittlerweile der Vergangenheit an. Sie hat sich in Frankfurt eingelebt, hat viele FreundInnen in der Stadt und wohnt in einer schönen, hellen Wohnung im Dachgeschoss. Für sie gibt es Brasilien überall dort wo sich BrasilianerInnen treffen und zusammenkommen. Sie ist sich sicher: Wenn sie keine BrasilianerInnen in der Stadt kennen würde, gäbe es für sie kein Brasilien in Frankfurt. Helena liest gern und besucht oft eine auf portugiesische Literatur spezialisierte Buchhandlung in der Großen Seestraße in Bockenheim. Eines Tages lernte sie dort einen Deutschen kennen, der ein Fan Brasiliens ist und gern die Sprache und die Kultur kennenlernen wollte. Er hatte in der Buchhandlung gefragt, ob ihm jemand Portugiesisch beibringen und Brasilien näherbringen könne. Der Buchhändler fragte Helena. Sie hatte so etwas vorher noch nie gemacht, sagte aber zu. Seitdem unterrichtet sie Menschen in Frankfurt, die aus verschiedenen Gründen die Sprache und die Kultur Brasiliens erlernen wollen. Auf meine Frage, ob sie Objekte aus Brasilien habe, erwähnt sie nur zwei Dinge, die sie in Brasilien extra für ihren Unterricht gekauft hat: zum einen ein Musikinstrument, ein agogô – eine Art doppelte Glocke, die in den Sambaschulen benutzt wird. Das Instrument kam ursprünglich aus Afrika. Es wurde von den Yoruba nach Brasilien gebracht, einem Volk, das vor allem in Süd-Nigeria lebt. Der zweite Gegenstand ist ein Behälter, gemacht aus einem großen Samen, der halbiert und bemalt ist (ABB. 13). Die Dekoration erinnert an die Symbole einer Kultur, die schon verloren gegangen ist. Ihre Wurzeln sind auf einer der größten Inseln Brasiliens im Mündungsbereich des Amazonas zu finden. Die heutigen Inselbewohner pflegen noch die Keramikkunst dieser alten Marajoara-Kultur. Wie Keramikfunde belegen, existierte diese Kultur schon vor 3000 Jahren. Außer diesen Objekten besitzt Helena viele brasilianische Bücher, die sie oft im Unterricht verwendet (ABB. 12), für Kinder und Jugendliche zum Beispiel pädagogische Bücher über Legenden und Mythologien aus Brasilien. Die Legende von Iara, der „Mutter des Wassers“, einer Sirene, die bei Mondschein unwiderstehliche Lieder singt; oder die Geschichte von Curupira, einem kleinen Mann, bei dem die Füße nach hinten zeigen und von dem man deswegen
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ABB. 12: In ihrer Wohnung hat Helena viele Bücher über brasilianische Kultur – alles Bücher, die sie für den Unterricht benötigt. Für den Unterricht mit Kindern hat sie eine Sammlung von alten Legenden: Iara, Curupira, Saci-Pererê, Mãe-de-ouro ...
ABB. 13: An den Wänden ihrer Wohnung hängen zwei Objekte aus Brasilien, unter anderem eine bunte bemalte Cuia, ein 30 Zentimeter großer Samen mit Zeichnungen, die von der MarajoaraKultur inspiriert sind – eine Kultur, die schon ausgestorben ist, aber im Kunsthandwerk noch fortlebt.
denkt, dass er rückwärts läuft. Er besitzt viele Kräfte und Fähigkeiten und wenn die Menschen mit den Bäumen und der Natur nicht gut umgehen, kann er sich schnell rächen. Sie findet alle diese Legenden faszinierend, weil sie noch so aktuell sind und viele Weisheiten vermitteln. Helena scheint alles, was sie aus Brasilien hat, sorgfältig für ihren Unterricht auszusuchen und zu pflegen – als wolle sie in ihrer Wohnung nur für ihre SchülerInnen ein komplexes Brasilien aufbewahren. Sie selbst erzählt, dass es für sie von großer Bedeutung ist, ein Erlebnis der brasilianischen Kultur zu vermitteln:
„Ich glaube, es ist sehr wichtig, die Kultur zu kennen, um eine Sprache zu lernen. Und außerdem ist es viel interessanter, als die Sprache nur mit simulierten Situationen und grammatischen Übungen zu lernen.“ Mit ihrem ersten Schüler, der ihr bis jetzt treu geblieben ist, liest sie auch schon komplexere Bücher. Er kennt sich mittlerweile sehr gut aus mit Brasilien und beherrscht Portugiesisch. Ich frage Helena, ob sie vielleicht auch etwas von ihm über Brasilien gelernt hätte. Sie erzählt mir eine Geschichte. Eine Zeit lang lasen sie gemeinsam viele Gedichte von Paulo Leminski (ABB. 14). Sie liebt Leminskis Gedichte und benutzt diese oft in ihrem Unterricht. Am liebsten mag sie seine Haikais, kurze Gedichte, die den Leser mit ironischen Wendungen überraschen. Sie erklärt mir, dass die Haikais wie eine Art Spiel funktionieren. Die Technik kommt aus Japan. Die Gedichte bestehen nur aus drei Zeilen. Die erste Zeile hat einen bestimmten Inhalt und die zweite einen anderen, der mit dem vorhergehenden auf den ersten Blick nichts zu tun hat. Die letzte Zeile ist die Synthese – und plötzlich wird alles verständlich. Mit ihrem Schüler las sie eines Tages ein Haikai und konnte den Sinn nicht verstehen, die erwartete Bedeutung blieb ihr verschlossen. Ihr Schüler verstand aber die vom Autor erdachte Wendung und konnte sie ihr auf Portugiesisch erklären. Der Haikai lautet: „Liebe ist ein Bindeglied / zwischen dem Blau / und dem Gelb“
„amar é um elo / entre o azul /e o amarelo“
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ABB. 14: Helena liebt die Gedichte von Paulo Leminski, besonders seine Haikais – eine kurze Gedichtform aus Japan. Sie liest gemeinsam mit ihren SchülerInnen oft Haikais von Leminski.
Helena ist bis heute noch überrascht, wie viel er aus diesem Haikai entnehmen konnte. Er erklärte ihr das Spiel mit den Grün und Blau der brasilianischen Fahne; das Prinzip der Liebe als eine Suche nach einen Bindeglied mit dem anderen; die Bereicherung durch das Leben, wenn man als Blau das komplementäre Gelb findet... Als würde er in dieser Ausbreitung von Interpretationen sich bei ihr für alles bedanken, was sie ihm gegeben hat.
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ABB. 15
Ivan Paraíba/FrankfurtNordend
Als ich Ivan fragte, ob er nach Brasilien zurückkehren will, erwiderte er, das Problem sei, dass er schon wisse, was ihn in Brasilien erwarte, während alles für ihn Neuland gewesen sei, als er vor zwanzig Jahren nach Deutschland kam. Eine Gruppe von Musikern aus Karlsruhe hatte ihn damals eingeladen, für ihre Band zu arbeiten. Er war neugierig auf ein neues Land und wollte was Neues ausprobieren. So entschied er sich auszuwandern. Die ersten zwei Jahre spielte er in dieser Band brasilianische Musik. Es war eine Zeit als in Europa die Musik aus Brasilien Mode war. Alle Musiker der Gruppe kamen aus Deutschland, nur die Tänzerinnen aus Brasilien. So lernte Ivan viele brasilianische Frauen kennen, die er wahrscheinlich in Brasilien nie kennengelernt hätte. Die Frauen tanzten in den Shows und animierten das Publikum. Er kann sich heute gut daran erinnern:
„Sie konnten Leichen vom Stuhl reißen!“ (tiraban los difutos de las cadeiras) oder wie man auf Deutsch sagt: ‚Tote aufwecken‘.“
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In Brasilien waren sie keine professionellen Tänzerinnen gewesen, aber tanzen konnten sie schon, und das reichte für den Zweck. Da er Monate während der Tourneen mit ihnen verbrachte, kannte er alle ihre Sehnsüchte und Probleme und lernte ihre Geschichten kennen. Es waren immer Liebesgeschichten. Sie hatten einen „europäischen Prinzen“ in Brasilien kennengelernt und diese „Prinzen“ hatten auch ihre „Fantasien über echte Brasilianerinnen“. Ivan verbrachte zwei Jahre mit der Band und spielte viel Samba und Bossa Nova – alles Stile, die er früher in Brasilien nur privat, aber nie in Konzerten gespielt hatte. Er lernte viel, aber irgendwann kam das Bedürfnis, sich aus der Band zurückzuziehen, um wieder die eigene Musik zu produzieren. Er zog nach Frankfurt am Main und gründete eine eigene Band. Seine Musik hat einen starken Bezug zum brasilianischen Nordosten und dem Bundestaat Paraíba, aus dem er stammt, aber es mischen sich auch andere Einflüsse hinzu – vieles, das er auf seinem Lebensweg mitgenommen hat. Er benutzt deswegen das Wort „World-Pop“, um seinen Stil zu beschreiben. Manchmal sorgt er sich, irgendwann mit seinen Liedern das brasilianische Publikum nicht mehr ansprechen zu können. Er hat schon beobachtet, dass viele Musiker, die nach Nordamerika gegangen sind, anschließend in Brasilien nicht mehr als brasilianische Musiker gehört wurden. Wenn man so lange wegbleibt, kann es passieren, dass die Geschichten, die man singt, die Menschen in Brasilien nicht mehr interessieren, sagt Ivan. Deswegen verbringt er häufig längere Zeit dort, um den Kontakt mit dem brasilianischen Publikum nicht zu verlieren. Am meisten genießt er die Zeit, in der er mit anderen Musikern komponieren und spielen kann. Das vermisst er in Deutschland: dieses gemeinsame Musizieren, Komponieren und den Austausch. Es gibt ein portugiesisches Wort, das er immer wieder benutzt: parceria. Es bedeutet so etwas wie ‚Partnerschaft‘ oder ‚Kooperation‘. Eine Partnerschaft zwischen MusikerInnen, bei der zum Beispiel einer komponiert und der andere den Text schreibt. Er hat an vielen Parcerias teilgenommen und Texte für Musiker aus Brasilien geschrieben. Eines seiner Lieder ist in Brasilien sehr bekannt: Ninguém faz idéia, das er mit dem Musiker Lenine komponierte. Das Lied gewann im Jahr 2005 den Latin Grammy in der Kategorie „Bester brasilianischer Song“. Damals wurde das Lied im Radio
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ABB. 16: In seiner Wohnung hat Ivan viele Instrumente und Schallplatten aus Brasilien. Viel Musik von Paraíba, aber auch aus anderen Gegenden der Welt. Er nennt seine Musik „World-Pop“.
täglich gespielt und war zugleich der Titelsong für eine brasilianische Fernsehserie. Er findet es faszinierend, wenn er in Brasilien spielt und alle das Lied mitsingen können. Er singt den Anfang und das Publikum den Rest. Als würde es sich um eine Parceria zwischen Musiker und Publikum handeln: eine spontane Parceria (ABB. 15). Ivan war nicht immer Musiker. Er hatte in Paraíba Architektur studiert und arbeitete eine Zeit lang als Zeichner für ein Architekturbüro. Eigentlich wollte er immer Musik machen. Damals gab es aber in Brasilien keine Kunst- und Musikhochschulen, sodass die meisten, die Interesse an den Künsten hatten, Architektur studierten. Es war ein Studium mit intensivem Austausch, mit vielen Diskussionsrunden, und nebenbei wurde viel musiziert. Auch Chico Buarque, der große Musiker und Komponist aus Brasilien, studierte Architektur. Ivan erzählt mir, dass Chico Buarque ein Hobby aus seiner Architektur-Zeit beibehalten hat: Großstädte entwerfen. Diese Verbindung zwischen Musik und Architektur interessiert mich sehr; wir sprechen oft und lange darüber. In seinem Lied A Banda erzählt Chico Buarque, dass eine Stadt sich schnell verwandeln kann, wenn eine Musikkapelle durch die Straßen zieht. Die Musik verwandelt die Bewohner in eine tanzende Masse. Man müsste eine Geschichte der Musik in der Architektur schreiben. Oder auch andersherum: eine Geschichte der Architektur in der Musik. Nicht nur Chico Buarque wäre für diese Geschichte wichtig, sondern auch Italo Calvino und sein Buch über die Imaginären Städte. Als Ivan das erste Mal Brasilien verließ, schenkte ihm ein Freund dieses Buch zum Abschied. Er fand es so gut, dass er sich danach alles, was er von Calvino finden konnte, kaufte. Calvino beanspruchte für seine Texte, dass diese „klar“, „schnell“ und „leicht“ wirken. Dasselbe möchte Ivan mit seinen Liedern erreichen. Schreibt er einen Text, legt er es darauf an, dass die Idee dahinter schnell verstanden wird. Auf meine Frage, wie er das mit dem deutschen Publikum macht, das kein Portugiesisch versteht, antwortete er, die Musik reiche oft alleine, um das Lied zu verstehen:
„Als kleines Kind liebte ich die Beatles und verstand nicht, was sie sagten.“
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„Malucos e donas de casa / Vocês aí na porta do bar / Os cães sem dono, os boiadeiros / As putas Babalorixás... Os Gênios, os caminhoneiros / Os sem terra e sem teto / Atôres, Maestros, Djs Os Undergrounds, os Megastars / Os Rolling Stones e o Rei… / Ninguém faz idéia / De quem vem lá! / Ciganas e neo-nazistas / O bruxo, o mago pajé / Os escritores de science fiction / Quem diz e quem nega o que é... / Os que fazem greve de fome / Bandidos, cientistas do espaço / Os prêmios nobel da paz O Dalai Lama, o Mister Bean / Burros, Intelectuais... / Eu pensei! / Ninguém faz idéia / De quem vem lá!“
„Verrückte und Hausfrauen / Ihr dort an der Tür der Bar / Hunde ohne Herrchen, Viehtreiber, / Die Huren, Babalorixás(1)/ Die Genies, die LKW-Fahrer / Die Landund Obdachlosen / Schauspieler, Dirigenten, DJ’s / Die Undergrounds, die Megastars / Die Rolling Stones und der König / Keiner kann ahnen, wer noch kommt… / Zigeunerinnen und Neo-Nazis / Der Hexer, der Magier, der Pajé (2) / Die Science-Fiction Schriftsteller / Derjenige, der mitteilt und doch verneint, was er ist / Diejenigen, die hungerstreiken / Banditen, Wissenschaftler des Alls / Die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten / Der Dalai Lama, Mr. Bean, die Doofen, Intellektuelle... Ich dachte: / Keiner kann ahnen, wer noch kommt...“
[Ivan Santos/ Lenine, Ninguém Faz Idéia: Keiner kann es ahnen. Übersetzung: Tânia Gabrielli-Pohlmann (mit kleinen Modifikationen von A.B.). – Das Lied Ninnguém faz idéa war eine Parceria mit dem Musiker Lenige. Im Jahr 2005 gewann das Lied den Latin Grammy in der Kategorie „Bester brasilianischer Song“. Wenn Ivan das Lied vor dem brasilianischen Publikum singt, können alle mitsingen.] – (1) Babalorixá: Spiritueller Chef eines Candomblé (2) Pajé: Der Chef eines IndianerStamms, der die Fähigkeit hat, mit Geistern zu kommunizieren.
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ABB. 17
Márcia Piripiri/FrankfurtBockenheim
Márcias Geburtsort Piripiri ist eine Kleinstadt im Nordosten Brasiliens. Sie wurde im Jahr 1850 von deutschen Franziskanern gegründet. Nach der Gründung siedelten sich viele MigrantInnen aus unterschiedlichen Weltgegenden dort an. Wenn man sich die Stadt in Google Earth von oben anschaut, werden die Namen einiger Stadteile angezeigt, wie zum Beispiel Germano, Barcelona, Russinha (kleines Russland) (ABB. 17). Ich fragte Márcia, ob diese Namen mit den Ursprungsorten der ersten Siedler zu tun haben. Sie wusste aber wenig über die Geschichte der Stadt und konnte sich auch nicht daran erinnern, ob die Stadtteile tatsächlich von Migrationsgruppen geprägt worden sind. Sie selbst wohnte mit ihrer Familie im Stadtteil Germano. Im Alter von 17 Jahren verließ Márcia Piripiri, um in der Großstadt Fortaleza zu studieren. Sie begann ein Pharmaziestudium, wechselte aber nach zwei Jahren zur Literaturwissenschaft in deutscher und portugiesischer Sprache. Heute erzählt sie, dass sie die Sprachen interessanter fand als die Krankheiten. Sie liebte vor allem die deutsche Sprache und die deutsche Literatur. Sie las viel, hatte aber keine Möglichkeit, deutsch zu reden.
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Deswegen bewarb sie sich für ein Stipendium, um in Deutschland zu studieren. Sie verbrachte ein ganzes Jahr in Heidelberg – eine Stadt in der sie lernte, wie einfach das Leben ist, wenn man sich überall frei bewegen kann. Dieses eine Jahr machte ihr deutlich, dass sie nicht mehr in Brasilien leben wollte. Deswegen bewarb sie sich nochmals für ein Stipendium und kehrte zurück nach Deutschland. Sie verliebte sich in einen Mann und blieb in Deutschland. Seitdem sind nun schon zwanzig Jahre vergangen. Sie lebt heute noch mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Frankfurt. Bald wird sich aber vieles ändern. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und ihr Sohn will demnächst ausziehen, um in einer anderen Stadt zu studieren. Auch Márcia will Frankfurt verlassen. Ihr Plan ist, nach Finnland auszuwandern. Ganz alleine. Márcia lernt seit einigen Jahren intensiv Finnisch. Zuerst wollte sie unbedingt nach Finnland, um die Polarlichter im Winter zu sehen. Und dann wurde die Liebe zur finnischen Sprache immer stärker. Sie ist sich sicher, dass Finnland ein guter Lebensort für sie sein kann. Auf keinen Fall will sie nach Brasilien zurück, hauptsächlich wegen der Gewalt und der Unruhe dort. In Finnland hofft sie, die Ruhe wiederzufinden, die sie damals in ihrer Jungen so geliebt hat. Márcia sagt immer wieder von sich selbst, dass sie es mag, alleine zu sein. Sie mag diese Ruhe und das Sich-zurückziehen-Können. Sie war immer so:
„Auch in Brasilien war ich kein ‚Party-Samba-Mädchen‘. Statt den Partys liebte ich lange Spaziergänge am Strand, um das Meer und den Himmel zu genießen. Ich war immer an ruhigen Orten.“ Das bedeutet für sie nicht, dass sie traurig ist. Sie braucht diese Ruhe und ist glücklich alleine. Jetzt herrscht in Brasilien zu viel Unsicherheit auf den Straßen, um entspannt alleine draußen sein zu können. Immer wenn sie in den Ferien in Brasilien ist, fühlt sie sich wegen dieser Unsicherheit unwohl. Dann geht sie zu einem Ort, an dem früher ihre Oma lebte. Das Haus existiert noch, es ist aber nicht mehr bewohnbar, ohne Strom und Wasser. Sie mag es, weil sie dort die Ruhe spüren kann, die sie aus früheren Zeiten kennt.
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Auf meine Frage, ob sie einige Sachen aus Brasilien in ihrer Wohnung hat, antwortet sie, man könne an ihrer Wohnung nicht erkennen, dass eine Brasilianerin darin lebe. Einzig vielleicht die Musik könnte es verraten. Sie hat schon oft überlegt, beim Wegziehen nur ganz wenige Sachen mitzunehmen: nur ihre eigenen Bilder und vielleicht ein paar CDs. Sie vermutet, dass ihre Bilder auch verraten könnten, dass sie aus Brasilien stammt – zumindest die Bilder ihrer ersten Schaffensphase: Sie sind sehr bunt, mit kräftigen Farben gemalt, mit Gelb, Rot und Blau. Márcia begann zu malen, als sie wegen einer Fußverletzung beim Capoeira eine Zeit lang nicht laufen konnte. Sie blieb lange zu Hause und fing an zu zeichnen. Sie hatte damals einen Katalog von einer Fotoausstellung des französischen Fotografen Pierre Verger über die Götter der afrobrasilianischen Religionen gekauft. Das Buch war auf Deutsch und hatte den Titel Schwarze Götter im Exil. Sie fand es faszinierend und fing an, Zeichnungen von den Fotografien anzufertigen. Sie zeichnete, ohne eine bestimmte Technik zu verwenden. Als sie wieder laufen konnte, zeichnete sie weiter. Sie begann, Dinge, die sie zu Hause fand, auf die Leinwand zu kleben, sodass ihre Malereien fast wie Reliefs aussehen. Sie spricht deswegen von einer Art „installativen Malerei“. Wir unterhalten uns viel über Kunst. Seitdem sie malt, informiert sie sich über KünstlerInnen aus Brasilien. Sie entdeckte einen Künstler, der sie sehr fasziniert: Arthur Bispo do Rosário. Er lebte 50 Jahre in einer psychiatrischen Klinik. In seiner Zelle malte er mit allen Materialien, die er fand. Ähnlich wie Bispo do Rosário malt Márcia mit allem, was ihr Alltag hergibt. Die Kunst ist in ihrem Leben sehr wichtig geworden. Heute kombiniert sie das Schreiben mit dem Zeichnen und Malen. Nie hat sie einen Künstler kopiert, aber sie hat klare Vorbilder. Nicht nur Bispo do Rosário, auch andere brasilianische KünstlerInnen, wie zum Beispiel Hélio Oiticica und Oscar Niemeyer. Sie denkt auch, dass ganz unabsichtlich manche ihrer Bilder Ähnlichkeiten mit denen der brasilianischen Künstlerin Tarsila do Amaral haben. Sie sind ebenso bunt. Ihr Sohn sagt aber, ihre Bilder ähneln nicht denen anderer KünstlerInnen, da sie keinen bestimmten Stil haben, sondern gleichzeitig viele Stilrichtungen. Sie malt mit Absicht unterschiedlich und alles, was sie interessant findet:
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„Die Kunst ist für mich wie ein Tagebuch, das ich täglich führen muss.“ Außer ihren Bildern möchte sie bei ihrem Umzug ein Buch mitnehmen: ein sehr altes, vergilbtes. Es ist kein brasilianisches Buch. Eigentlich braucht sie die Bücher nicht. Hat sie sie gelesen, hat sie die Geschichten im Kopf und muss die Bücher nicht mehr bei sich haben. Aber dieses alte Buch will sie doch behalten. Es ist für sie eine Art Reliquie. Der Autor ist der Däne Jens Peter Jacobsen. Er war Botaniker und Anhänger von Charles Darwin. Um die Evolutionstheorie in seinem Heimatland bekannt zu machen, übersetzte er Darwins Buch Entstehung der Arten ins Dänische. Er schrieb auch viele Romane. Einer dieser Romane ist das Buch Frau Marie Grubbe (1876), das Márcia schätzt. Sie hat das Buch zufällig in einem Antiquariat gefunden. Das Buch wurde ins Deutsche übersetzt und in schwer lesbarer Frakturschrift gedruckt. Es handelt von Marie Grubbe, einer Adeligen, die in ihrem Leben viele Stationen durchlief. Márcia mag es sehr, wie das Buch geschrieben ist, und findet erstaunlich, dass der Autor ein Mann ist. Man spüre, dass Jacobson die Frauen respektierte. Vielleicht wegen dieses Respekts ist das Buch für sie so wichtig. Was sie sicher immer aus Brasilien mitnehmen wird, ist die brasilianische Musik. Seit ihrem Unfall kann sie nicht mehr Capoeira tanzen. Aber sie hört jeden Tag diese Musik. Capoeira verkörpert für sie die brasilianische Kultur. Wenn sie einen Berimbau hört, bewegt sich etwas in ihrem Herzen. Es ist etwas sehr Starkes, das auch mit Religiosität, mit den afrobrasilianischen Religionen zu tun hat. In Brasilien kam sie damit nicht in Berührung. Ihre Familie ist portugiesischer Abstammung und katholisch ohne Kontakt mit der afrobrasilianischen Kultur. Sie dachte immer, bei Capoeira handele es sich um einen „Gauner-Tanz“. Seitdem sie in Europa ist, hat sie gelernt, wie wichtig diese afrobrasilianische Kultur ist:
„Jetzt verstehe ich Edu Lobo, den berühmten brasilianischen Musiker, wenn er sagt: ‚Man muss rausgehen, um das eigene Land kennenlernen zu können.‘“ Márcia ist der Meinung, dass nicht so sehr die Wohnorte, sondern
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ABB. 18: Márcia trägt eine Halskette mit zwei Anhängern: die Doppelaxt des Gotts Shango und ein Hammer, die Insignie des Gotts Thor der indogermanischen Völker, der auch ein Gott des Blitzes ist. Sie ist der Meinung, dass Götter transnational sind.
eher andere Kräfte im Leben eines Menschen wichtig sind – Kräfte, denen die Menschen immer wieder den Namen von Göttern gegeben haben. Seit einigen Monaten trägt sie eine Halskette mit zwei dieser Göttersymbole: die Doppelaxt von Shango (Xangô), eines Gottes aus der afrobrasilianischen Kultur, und einen Hammer als Symbol des Gotts Thor der indogermanischen Völker (ABB. 18). Beide Gottheiten verweisen auf dasselbe, auf die Kraft des Blitzes und des Feuers. Als wären die germanischen, skandinavischen und afrikanischen Götter ähnlich und überall zu finden. Götter sind immer im Exil, wie der Titel des Fotobands von Pierre Verger schon andeutet. Und Márcia ist sich sicher, dass sie in diesen transnationalen Gottheiten ihre Heimat hat. Ihre nächste Station in Richtung dieser Heimat wird Finnland sein – ein neuer Wohnort, an dem sie wieder wie früher das Meer in Ruhe zu genießen hofft (ABB. 20). *** Als Marcia meinen Text über sie las, erklärte sich mir, dass sie kein ‚Party-Samba-Mädchen’ sei, aber sie liebt Samba, besonders die traurigen Samba-Lieder auf der Gitarre gespielt. Um das zu erklären schickte sie mir ein Lied vom Vinicius de Moraes, Samba da bênção. „Es ist besser froh zu sein als traurig / denn Frohsinn ist das Schönste auf der Welt / es ist wie das Licht im Herzen. /
„É melhor ser alegre que ser triste Alegria é a melhor coisa que existe É assim como a luz no coração Mas pra fazer um samba com beleza É preciso um bocado de tristeza (bis) Senão, não se faz um samba não
Um aber einen wirklich schönen Samba zu machen / braucht man schon ein bisschen Traurigkeit – (bis) / sonst kann man keinen Samba machen – nein.
Fazer samba não é contar piada E quem faz samba assim não é de nada O bom samba é uma forma de oração Porque o samba é a tristeza que balança E a tristeza tem sempre uma esperança A tristeza tem sempre uma esperança De um dia não ser mais triste não
Samba machen ist nicht so wie einen Witz erzählen / Wer so einen Samba macht, das zählt als Nichts / Ein guter Samba ist eine Art Gebet / Denn Samba ist die balancierende Traurigkeit / und Traurigkeit hat immer eine Hoffnung / eines Tages nicht mehr traurig zu sein – nein. /
Ponha um pouco de amor numa cadência E vai ver que ninguém no mundo vence A beleza que tem um samba, não Porque o samba nasceu lá na Bahia E se hoje ele é branco na poesia
Lass ein wenig Liebe in einen Rhythmus / du wirst sehen, niemand kann besiegen / die Schönheit eines Sambas –
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nein. / Denn der Samba stammt dort aus Bahia / und wenn auch seine Worte heute weiß sind / so ist er tief im Herzen doch noch schwarz.“
Se hoje ele é branco na poesia Ele é negro demais no coração“
[Vinicius de Moraes, Samba des Segens (Samba da bênção). Übersetzung: Kay-Michael Schreiner. In: Vinicius de Moraes, Saravá. Gedichte und Lieder, München/Zürich 1989. (mit kleinen Modifikationen von A.B.)]
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ABB. 19: Márcia entdeckte die Capoeria erst in Frankfurt. Sie kann heute wegen einem Umfall nicht mehr tanzen, aber sie hört die Musik. Wenn sie einen Berimbau hört, bewegt sich etwas in ihrem Herzen, etwas sehr Starkes, das mit einer Art tiefen Religiosität zu tun hat.
ABB. 20: An der Wand ihres Schlafzimmers hängt ein Meeresfoto, das sie selbst in Helsinki gemacht hat. An dem Rahmen hängt eine finnische Fahne und ein Traumfänger. Márcia will nach Finnland auswandern. Sie liebt die finnische Sprache, das Meer und die Ruhe in diesem Land
ABB. 21
Martha São Paulo/FrankfurtBockenheim
Martha warnte mich von Anfang an: Sie könne mir wenig über Brasilien erzählen, weil sie eigentlich den Kontakt zu ihrem Geburtsort fast ganz verloren habe. Seit ihr Vater gestorben ist, war sie nicht mehr in Brasilien. Ihre Hauptverbindung war immer die Familie und hauptsächlich ihr Vater, weil Schwester und Mutter schon lange nicht mehr in Brasilien leben. Einige Verwandte hat sie noch in São Paulo und in Rio, aber zu ihnen pflegt sie wenig Kontakt. Wenn sie in Brasilien ist, stören sie am meisten die starken sozialen Unterschiede. Sie kann es nicht mehr ertragen, wenn ihre Tante in Rio die ganze Zeit die Bedienung mit einer Glocke herumkommandiert. Ihr ist peinlich, sich stundenlang auf einer solchen Bühne aufhalten zu müssen. Sie kann es auch nicht mitansehen, dass die Dienstmädchen den ganzen Tag in Uniformen herumlaufen und in kleinen Nebenzimmern der großen Wohnungen leben. Sie berichtete mir lange von der ungerechten Behandlung der Dienstmädchen. Martha gehört zu einer reichen Familie in Brasilien. Ihr Vater hatte viel Land, eine große fazenda (Landgut) in der Nähe von Rio de Janeiro. Als sie ein Kind war, gingen ihre Eltern nach São Paulo.
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Der Vater nahm eine Familie mit, die in Rio de Janeiro auf der Fazenda gearbeitet hatte und die er seit seiner Kindheit kannte. Er betonte die sozialen Unterschiede nicht und man hatte den Eindruck, dass er die Hausbediensteten als Teil der eigenen Familie sah. Bis heute hat Martha einen sehr guten Kontakt zu diesen Leuten, die am Ende im Haus des Vaters wohnen blieben, weil er es ihnen geschenkt hatte. Sie pflegten ihren Vater, als er sehr krank wurde, bevor er starb. Als Martha noch Kind war, verlor der Vater seinen Reichtum innerhalb kurzer Zeit. Er war alkoholabhängig und verschuldete sich immer mehr. Die Eltern trennten sich. Die Mutter verließ Brasilien und ging mit einem neuen Mann nach Deutschland. Martha blieb zuerst mit ihrer Schwester beim Vater in São Paulo. Nach dem Abitur, als sie 17 Jahre alt war, entschied sie sich, ihrer Mutter zu folgen, um Deutsch zu lernen. Über ihren ersten Eindruck erzählt sie:
„Erst in Deutschland erkannte ich, wie einfach das Leben ohne große soziale Unterschiede sein kann.“ Als der Deutschkurs zu Ende war, wollte sie in Deutschland bleiben. Sie studierte Medizin und wurde Ärztin. Am meisten gefällt ihr an Deutschland, dass man sich in vielen sozialen Kreisen frei bewegen kann. Sie mag den Stadtteil Bockenheim in Frankfurt, weil es hier eine sehr gemischte Bevölkerung gibt. Sie kennt viele Menschen aus der Nachbarschaft, und als wir einmal auf einer Terrasse saßen, konnte ich erleben, wie oft PassantInnen sie grüßten. Erst in Europa hat sie auch viele BrasilianerInnen kennengelernt, die ihr in der Oberschicht in Brasilien nie begegnet wären. Bei unseren Gesprächen betont sie immer wieder, wie weit sie sich schon von Brasilien entfernt habe. Unsere Treffen helfen ihr, sich zurückzubesinnen. Meine Frage, ob sie Dinge aus Brasilien aufbewahrt, verneint sie anfangs deutlich. Erst später erinnert sie sich an ein Souvenir, das sie mit ihrem Vater in einer Stadt des Handwerks und der Künste in der Nähe von São Paulo gekauft hatte. Die Stadt heißt „Embu das Artes“ und wurde 1554 von Jesuiten gegründet. Im Jahr 1937 entwickelte sich die Stadt zum Begegnungs- und Lebensort vieler Künstlern und Handwerker, nachdem
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ABB. 22: Martha zeigte mir eine Carranca: die Skulptur eines Kopfs, wie sie früher als Galionsfigur für die Schiffe geschnitzt wurde. Sie ist ein Geschenk ihres Vaters und eines der wenigen Objekte aus Brasilien, das sie besitzt.
ABB. 23: Auf ihrem Tisch steht eine kleine Skulptur des Heiligen Franziskus. Sie hat sie selbst in Brasilien gekauft.
der Bildhauer Cássio M‘Boy sich dort angesiedelt hatte. Diese Tradition hat sich etabliert und besonders am Wochenende wird der Ort zu einem Treffpunkt für KünstlerInnen und alle an Kunstgewerbe Interessierten. Marthas Vater liebte die Kunst und die Stimmung in dieser Stadt und besuchte sie regelmäßig an Wochenenden. Er blieb lange in einer Kneipe, sprach mit den KünstlerInnen und den HandwerkerInnen und am Ende wurde immer zusammen musiziert. Bei einem dieser Besuche war auch Martha dabei. Der Vater kaufte für sie zur Erinnerung eine Skulptur, eine carranca (ABB. 21, 22). Die Carranca-Holzskulpturen sind in Brasilien sehr beliebt. Es handelt sich um unheimliche Tier- oder Menschenköpfe, meistens die Zähne zeigend. Früher wurden diese als Galionsfiguren für den Schiffsbug gebaut. Die Carranca hatte die Funktion, das Schiff vor bösen Geistern zu schützen. Heute werden Carrancas immer noch als Schutzobjekte verkauft. In ihrer Wohnung entdeckt Martha auch eine weitere Figur aus „Embu das Artes“: eine Statuette des Heiligen Franziskus. Auf seinen Händen und Schultern sitzen weiße Vögel (ABB. 23). Dieser Heilige hatte seine reiche Familie verlassen, um Armen und Kranken zu helfen. Er trennte sich von jeglichem Besitz und war als Wanderprediger unterwegs. Ich habe den Eindruck, dass diese Skulptur den Lebensweg von Martha symbolisiert. Martha lebt seit zehn Jahren in Frankfurt und, obwohl sie sich hier gut fühlt, hat sie jetzt vor, Frankfurt zu verlassen. Sie möchte mit den „Ärzten ohne Grenzen“ in anderen Ländern arbeiten. Das ist ihr Traumberuf. Sie war schon vor einem Jahr in Mosambik und zeigte mir Fotos von dieser Zeit. Sie mag es, Menschen helfen zu können, besonders wenn sie große Not leiden. In Frankfurt arbeitet sie gerade auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Als sie Medizin studierte, hatte sie lange Zeit einen Job bei Heroin-Abhängigen und lernte dort auch einen Brasilianer kennen. Sie kennt noch andere BrasilianerInnen in Frankfurt, hat mit ihnen aber wenig Kontakt. In der Tat, so wiederholt sie, hänge sie nicht mehr an Brasilien. Nur die Carranca, die sie schon fast aus ihrem Gedächtnis gelöscht hat, wird in ihrer neuen Wohnung einen zentralen Platz einnehmen – als einziges Objekt, das sie von ihrem Vater noch hat. Und sie wird sie auf jeden Fall auf neue Reisen mitnehmen. Als würde die Skulptur noch immer vorne am Bug des Schiffs die bösen Geister vertreiben.
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ABB. 24
Nívea Rio de Janeiro/ Frankfurt-Altstadt
Das Leben als Kind in einer Stadt am Meer wie Rio de Janeiro ist sehr schön und einfach. Man braucht nicht viel. Der Sand bietet Reichtum an einfachen Spielen und ist immer bereit, sich in einen Spielplatz zu verwandeln. Nívea erzählt mir, dass sie hauptsächlich solchen Bildern von ihrem Leben am Strand nachtrauert. Und sie muss oft weinen, wenn sie sich daran erinnert. Heute lebt sie schon seit mehr als 30 Jahren in Frankfurt am Main. Sie ist mit einem deutschen Mann verheiratet und hat ein Kind, das bald nicht mehr im Elternhaus wohnen wird. Dann will Nívea mit ihrem Mann auf Reisen gehen. Sie freut sich schon auf diese neue Lebensphase. Nívea kam mit 28 Jahren nach Deutschland, und obwohl sie den Kontakt mit vielen Menschen von früher aufgegeben hat, ist es ihr jetzt sehr wichtig, alte Freunde wiederzufinden. Sie fliegt in den Ferien einmal im Jahr nach Rio und kehrt in ihren alten Stadtteil Botafogo zurück und stets zu demselben Friseur, demselben Schönheitssalon und derselben Maniküre. Sie will sich in Rio so bewegen, als sei sie niemals ausgewandert. Ganz wichtig ist ihr auch, während des Karnevals in Rio zu sein, damit sie auf dem Sambodromo mit ihrer Tanzschule, der berühmten Mocidade Independente, auf-
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treten kann. Sie verfolgt das ganze Jahr im Internet die Vorbereitungen der Schule und freut sich sehr, wenn sie in Rio eintrifft und gleich ihr Karnevalskostüm abholen kann. In Frankfurt bereitet sie sich gut auf ihre Brasilienreise vor. Im Handgepäck hält sie schon ihre Flip-Flops (chinelas) bereit, um sie gleich nach Ausstieg aus dem Flugzeug überzustreifen. Schwester und Bruder warten am Flughafen auf sie, und da beide aus derselben Sambaschule kommen, wird gleich im Auto das Karnevalslied von Mocidade Independente gespielt. Man muss das Lied perfekt beherrschen, um für die Sambaschule zu werben und richtig dabei zu sein. Für Nívea besteht das Leben aus Erinnerungen, aber auch aus neuen Etappen, die sie klar für sich differenzieren kann: Nach der Etappe ihrer Kindheit kam die Adoleszenz, ihre ersten Liebesbeziehungen und viele Nächte am Strand mit Musik und Freunden. Die Bilder der 1980er Jahre erinnern sie immer noch an diese Jugendzeit. Als sie begann, alleine zu leben und zu arbeiten, eröffnete sich die dritte Phase ihres Lebens. Sie war zunächst in einem Büro angestellt. Nach zwei Jahren machte sie sich selbstständig. Ihr Slogan ist:
„Wenn eine Sache nicht funktioniert, mache ich etwas anderes. Und wenn ich etwas nicht weiß, lerne ich es.“ Sie bringt viele neue Ideen und viel Begeisterung mit, was wichtig sei, wenn man als Freiberuflerin Erfolg haben will, betont sie. Sie gründete eine Fabrik für Bikinis, weil sie beobachtet hatte, dass die Frauen in Rio sehr viele Bikinis benutzen, mehrere in einem Monat. Zuerst stellte sie eine Person ein, um Designs zu entwickeln, dann eine andere, um die Entwürfe zu schneidern, und am Ende zwei Näherinnen. Sie kämpfte täglich für ihre Fabrik und entwarf auch selbst. Sagten ihre Mitarbeiterinnen ihr etwa, dass ihre Ideen nicht funktionierten, nahm sie sich die Zeit, um die Form, die sie haben wollte, irgendwie hinzubekommen. Sie entwarf dann den neuen Bikini ein bisschen ungenau, zeigte aber, dass es möglich war. Bis heute kann sie nicht nähen, aber sie weiß, wie man einen Bikini herstellt. Mit 28 kam dann die vierte Phase ihres Lebens. Bei einem Urlaub lernte sie ihren Mann kennen und ging mit ihm nach Deutschland. Sie nahm das ganze Material für die Bikiniproduktion mit nach
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Deutschland, merkte aber schnell, dass das Geschäft hier nicht funktionieren würde:
„Die deutsche Frau geht nicht zum Strand, um sich zu zeigen.“ Sie belegte einen Kurs in Tourismus und arbeitete danach neun Jahre lang in einem Reisebüro. Als ihr Kind zur Welt kam, nahm sie drei Jahre Elternzeit, spürte aber stets das Verlangen, rauszugehen und zu arbeiten. Sie wollte wieder tätig sein und überredete ihren Mann, nach Brasilien auszuwandern. So begann wieder eine neue Lebensphase. In Brasilien lebte sie mit ihrer Familie in der Stadt Nova Friburgo in der Nähe von Rio de Janeiro, die einst von Deutschen und Schweizern gegründet worden war und diese deutsche Prägung beibehalten hat. Sie gründeten ein Hotel und ein Restaurant. So kam sie zur Gastronomie, dem Bereich in dem sie heute in Frankfurt immer noch arbeitet. In ihrem Restaurant in Nova Friburgo bereitete sie deutsches Essen zu: Bratwürste, Sauerkraut, Knödel und Spätzle. Es war sehr viel Arbeit, besonders weil sie der Meinung ist, dass in Brasilien viel Frisches gegessen wird und sie deswegen täglich frisches Gemüse kaufen musste. Als ihr Sohn acht Jahre alt war, fühlte sie, dass sie wieder einen Wechsel brauchte, und kehrte nach Frankfurt zurück. Nur kocht sie jetzt nicht mehr deutsches, sondern brasilianisches Essen für einen kleinen Laden im Zentrum der Stadt, den sie selbst eingerichtet hat. Der Laden funktioniert heute als Treffpunkt der BrasilianerInnen der Stadt. Es gibt pão de queijo (Käseteigbällchen), coxinha (Hähnchenschenkel), pastel (Teigtasche mit Füllung), quibe (Kibe) und jeden Sonntag eine große feijoada. Nívea ist immer da, um mit allen KundInnen zu reden. Durch diesen Laden wurde sie zu einer zentralen Figur der brasilianischen Kultur in Frankfurt. Immer wenn es in der Stadt ein Fest gibt, verkauft sie dort Essen aus einem Wagen. Manchmal lädt sie auch MusikerInnen und TänzerInnen ein, um das Essen mit einer Show zu untermalen. Zu Hause hat Nívea vieles aus Brasilien: Ihre Kostüme aus der Sambaschule (ABB. 26, 27) und viele brasilianische Ketten, die sie alle bei ihren Reisen nach Rio mitgenommen hat. Sie hat auch eine Lei-
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ABB. 25: Nívea hat in ihrer Wohnung viele alte Bücher. Viele hat sie in Antiquariaten gekauft. Sie liest diese Bücher oft nicht. Sie sind für sie vielmehr kleine Denkmäler anderer Zeiten.
denschaft für alte Bücher. In Rio geht sie gern auf den Flohmarkt oder in Antiquitätenläden. Sie liest die Bücher oft nicht richtig, aber sie mag die Geschichte, die sie ausstrahlen – als wären die Bücher kleine Denkmäler (ABB. 25). Sie liebt Geschichte und gerade liest sie viel über die Geschichte Deutschlands, besonders über Kriege. Sie sagt von sich:
„Ich habe diese Angewohnheit, die Zeit zurückdrehen zu wollen.“ *** „Verrückt vor Leidenschaft, ich werde dich immer lieben / Licht der Gefühle in meinem Gesang / Unabhängig in der Identität / Mit großem Stolz, „Ich bin Mocedade“ / Wie sehr ich Dich vermisse!
„Louco de paixão / sempre vou te amar Luz da emoção no meu cantar / Independente na identidade / Com muito orgulho, “eu sou Mocidade” / Eita saudade danada Vim das estrelas com meu ziriguidum / “Parece que estou sonhando” / Meus olhos reencontrando / Minha gente, meu lugar
Ich kam von den Sternen mit meinem Rhythmus /„Es fühlt sich als würde ich träumen“ / Meine Augen sehen alles wieder / Mein Volk, meinen Platz
É Vitalino ao som do baião / Tem batucada no meu São João / “Vixe Maria” me dê proteção / Rodei ciranda com os pés na areia / Toquei viola sob a lua cheia“
Es ist lebendig am Klang des Bahianers Es gibt Trommeln in meinem São João „Salve Maria“ Gib mir Schutz! / Ich umkreiste eine Ciranda* mit den Füßen auf dem Sand / Ich spielte Gitarre bei vollem Mond“
[Mocidade Independente de Padre Miguel, Samba-Enredo 2014, Pernambucópolis. Autoren: Dudu Nobre, Jefinho Rodrigues, Marquinho Índio, Jorginho Medeiros, Gabriel Teixeira und Diego Nicolau. * Ciranda: ein Rundtanz der brasilianischen Musik. Die Tänzer fassen sich dabei an den Händen und tanzen im Kreis.]
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ABB. 26 – 27: Immer wenn Nívea aus Rio de Janeiro nach Frankfurt am Main zurückkehrt, nimmt sie ihre Karnevalskostüme mit.
In ihrer Wohnung kann man eine Sammlung von Kostümen bewundern.
ABB. 28
Vládmir Recife/FrankfurtBornheim
Den Namen Vládmir adoptierten die Eltern aus einer Fernsehserie mit dem Titel Vládmir, der Zigeuner. Man könnte meinen, es handelte sich um einen russischen Namen, aber Vládmirs Familie hatte keinen Bezug zu Russland. Nur sein Onkel, der Bruder seiner Mutter, war Kommunist und las russische Autoren. Da er auch sein Patenonkel war, hat er vielleicht Einfluss auf die Namensgebung ausüben können. Vládmir glaubt aber, dass er seinen Namen der Fernsehserie zu verdanken hat – und lacht darüber, weil er selbst nie Serien anschaut, keinen Fernseher besitzt und eigentlich ein Gegner des Fernsehens ist, besonders wenn das Fernsehen so viel Macht hat wie in Brasilien. Vládmir wurde in Recife geboren und hatte das Glück, eine Schule zu besuchen, in der es möglich war, zwischen Deutsch und Englisch als Fremdsprache zu wählen. Es war die Zeit der Diktatur und durch seinen Onkel beeinflusst war er der Meinung, dass man die Sprache der Amerikaner nicht unbedingt lernen muss. Es war bekannt: Viele Diktatoren in Lateinamerika gelangten mit Unterstützung der US-Regierung an die Macht. Er entschied sich deswegen für Deutsch.
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Die Schule in Recife ermöglichte ihm nicht nur, Deutsch zu lernen, sondern machte ihn auch mit der Welt des Theaters vertraut. Es war eine progressive Schule und Theaterspielen gehörte zum wöchentlichen Schulprogramm. Nach der Schule studierte Vládmir Kunsterziehung und besuchte weiter Deutschkurse. Er begann in einem kleinen Kulturzentrum, das mit dem Goethe-Institut in Salvador da Bahia verbunden war, als Assistent in der Kulturabteilung zu arbeiten. Er entdeckte das deutsche Theater, besonders Bertolt Brecht und Karl Valentin. In den Büchern Karl Valentins lernte er eine Unterhaltungskultur kennen, die in Brasilien nicht existierte:
„Die Menschen in Brasilien sind gewohnt, Witze zu machen, um über die anderen zu lachen. Bei Karl Valentin fand ich eine Form der Unterhaltung, bei der man nicht über die anderen, sondern über sich selbst Witze macht.“ Vládmir gründete eine Theatergruppe in Recife und führte verschiedene Stücke von Karl Valentin auf. Es gibt einen Artikel in der lokalen Zeitung, in dem man ihn verkleidet sehen kann (ABB. 28): ein brasilianischer Karl Valentin mit Smoking und Zylinder. Als Vládmir 30 Jahre alt war, besuchte er mit einem Stipendium des Goethe-Instituts ein Jahr lang einen Deutsch-Sprachkurs – zufällig in München, der Stadt Karl Valentins. In diesem Jahr sammelte er alles, was er über Valentin finden konnte. Danach kehrte er nach Recife zurück, ausgerüstet mit neuen Projekten und der Idee, weitere Valentin-Inszenierungen zu entwickeln. Dieses Mal mit einer Theatergruppe, der er den Titel Valentinada gab, was etwa so klingt wie vale nada – „es ist nichts wert“. Er inszenierte auf Portugiesisch und die Originaltexte übersetzte eine Lektorin aus Bayern, die in Recife wohnte. Er organsierte auch mehrere kulturelle Wochen fürs deutsche Kulturzentrum. Dank guter Verbindung zum damaligen Leiter des Goethe-Instituts in Salvador da Bahia fiel es ihm leicht, seine Projekte zu finanzieren. In kurzer Zeit wurde er eine Art Botschafter Deutschlands in Recife und Leiter der Kulturabteilung des deutschen Kulturzentrums. Eines Tages lernte Vládmir einen Deutschen kennen, der gerade in Brasilien Urlaub machte. Sie verliebten sich, und nach einem Jahr
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Fernbeziehung entschied sich Vládmir, zu ihm nach Frankfurt zu ziehen. Seitdem wohnen sie zusammen und leiten gemeinsam eine Galerie und ein Architektur- und Designbüro. In dieser Zeit sind viele gemeinsame Projekte entstanden: Ausstellungen, Publikationen, Reisen und viele Partys. In Frankfurt hat Vládmir kaum Kontakt mit BrasilianerInnen, die in der Stadt leben. Oft lädt er aber KünstlerInnen aus Brasilien ein, um ihre Werke in Frankfurt auszustellen. Das brasilianische Konsulat hat noch nie eine Veranstaltung mitfinanziert. Es gibt andere Möglichkeiten, Fördermittel für kulturelle Projekte zu gewinnen. Und Vládmir kennt sich sehr gut aus. Via Internet und Facebook ist Vládmir täglich mit seinen Freunden in Brasilien in Kontakt. Er ist über Ereignisse in Brasilien gut informiert und nimmt am politischen und kulturellen Leben in Recife teil, obwohl er schon seit Jahren nicht mehr dort wohnt. Das funktioniert so gut, dass er sogar manchmal aus der Ferne mehr bewegen kann als vor Ort. Zu Hause hat Vládmir wenige Dinge aus Brasilien, hauptsächlich Geschenke von seinen Verwandten. Selbst gekauft hat er zwei indianische Federhauben, die er manchmal aufsetzt (ABB. 29), um sich für Partys zu verkleiden. Er besitzt viele Bücher, auch Lyrik von Carlos Drummond de Andrade oder von João Cabral de Melo Neto. Zur Eröffnung der Ausstellungen in Frankfurt liest er immer aus diesen Büchern vor. Zuerst liest er die Gedichte auf Portugiesisch und übersetzt sie danach ins Deutsche. Der Originalklang der Wörter muss zuerst zu hören sein. Ich frage ihn, ob er irgendetwas aus Brasilien vermisst: Zuerst erzählt er von der Vielfalt der Früchte in Brasilien. Immer wenn er in Recife ist, holt er sich alle Früchte, die er kaufen kann. Er liebt es, morgens ein buntes Frühstück vorzubereiten. Er genießt es, ganz langsam zu frühstücken und sich Zeit für alle Früchte zu nehmen. Dann erzählt er auch von Meer und wie sehr er diesen Geruch vermisst:
„Den Geruch des Meers. So einen starken Meeresduft wie den von Recife kenne ich nicht von europäischen Stränden. Ein typischer Geruch, der mich immer an meine Kindheit erinnert.“
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Er vermisst diesen Geruch, will aber nur deswegen keineswegs zurück nach Brasilien. Er fühlt sich gut in Frankfurt und will bleiben. Auch ist der damalige Leiter des Goethe-Instituts in Salvador da Bahia, Roland Schaffner, in Brasilien geblieben. Vládmir hat seit langem den Kontakt zu ihm verloren, sähe ihn aber ganz gern einmal wieder. Im Prinzip ging Roland Schaffner den gleichen Weg wie Vládmir, nur umgekehrt: von Deutschland nach Brasilien. Heute ist er pensioniert, hat eine Basilianerin geheiratet und ist in Salvador geblieben. Vor zehn Jahren schrieb Schaffner ein Buch mit dem Titel Denkwürdige transkulturelle Fremdgänge: Euroafroamerindia. Projekte in Brasilien, Indien und Deutschland. Das Buch besteht aus vielen Zitaten, die Schaffner in seinem Leben als Leiter mehrerer Goethe-Institute gesammelt hat. Das erste Zitat stammt von Goethe und lautet: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen“. Was würde Vládmir heute schreiben aus der anderen Perspektive?
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ABB. 29: Vládmir besitzt viele Dinge aus Brasilien. Diese indianische Federhaube hat er selbst gekauft. Er trägt sie in Frankfurt oft auf Partys.
ABB. 30: Der Geruch des Meers ist Vládmir sehr wichtig. Er sagt, er sei sehr geruchsempfindlich: „In Europa riecht es nicht nach Meer“, und fügt hinzu: „Mein Mann trägt kein Parfüm.“
*** Als ich Vládmir zu der Ausstellung Verdade Brasil einlud, brachte er eine Videoarbeit mit, in der er vor der Kamera ein altes brasilianisches Nachtlied singt: „Wenn diese Straße wenn diese Straße meine wäre Ich würde diese Ich würde diese pflastern lassen Mit Steinchen Mit Steinchen aus Diamanten Damit meine Damit meine Liebe darauf laufen kann
„Se essa rua Se essa rua fosse minha Eu mandava Eu mandava ladrilhar Com pedrinhas Com pedrinhas de brilhantes Para o meu Para o meu amor passar
Auf dieser Straße Auf dieser Straße Ist ein Wald Der heißt Der heißt Einsamkeit In ihm In ihm lebt ein Engel Der mein Herz gestohlen hat
Nessa rua Nessa rua tem um bosque Que se chama Que se chama solidão Dentro dele Dentro dele mora um anjo Que roubou Que roubou meu coração
Wenn ich es gestohlen habe Wenn ich dein Herz gestohlen habe Es ist weil Es ist weil ich Dich sehr liebe. Wenn ich es gestohlen habe Wenn ich dein Herz gestohlen habe Es ist weil Du auch meins gestohlen hast.“
Se eu roubei Se eu roubei teu coração É porque É porque te quero bem Se eu roubei Se eu roubei teu coração É porque Tu robaste o meu também“
[Volkslied/cantiga popular, komponiert von Luís Augusto Braga, Mário Lago und Roberto Martins, Se essa rua fosse minha, 1930er.]
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ABB. 31
Zadiquiel Recife/FrankfurtBergen-Enkheim
Zadiquiel dos Santos wird „Mestre Fofo“ genannt. Er ist Capoeira-Lehrer und Gründer des brasilianischen Sport- und Kulturvereins ABRAÇAÊ (ABB. 31). Der Verein existiert schon seit fünf Jahren als zentraler Ort für Menschen, die in Frankfurt nicht nur Capoeira, sondern auch traditionelle brasilianische Tänze lernen wollen. Und er ist für Zadiquiel ein Raum der Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Von draußen erkennt man den Verein dank einer großen brasilianischen Fahne. Im Inneren sind die Räume mit verschiedenen Bildern und Einrichtungselementen dekoriert. Eine kleine Bühne mit einer großen Strohwand (ABB. 32) befindet sich im zentralen Saal von ABRAÇAÊ. Zadiquiel erzählt, dass diese Strohwand aus Strohröcken besteht, die man zum Tanzen von der Wand nehmen und anziehen kann. Wenn der Unterricht beginnt, verwandelt sich diese statische Wand ganz schnell in Körper, die Maculelê tanzen. Die Röcke hat er selbst genäht. Insgesamt 40 von ihnen bilden zusammen aufgehängt eine Wand von zwei mal vier Metern. In deren Mitte hängt auch ein großer Vorhang aus verschiedenen bunten Stoffen mit kindlichen Motiven: Teddybären, Autos, Blumen, Sterne ...
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Als ich nach den Motiven frage, sagt Zadiquiel, dass diese typisch für die Menschen aus Nordost-Brasilien sind und erklärt:
„Die Menschen aus meinem Land haben diese Träume von Blumen, Sternen, Autos und andere Fantasien.“ Zadiquiel kommt aus Recife im Nordosten Brasiliens. Er lebt seit sechs Jahren in Deutschland. Ursprünglich wollte er nicht lange bleiben. Er war neugierig, Deutschland kennenzulernen. Er kannte in Brasilien viele deutsche MigrantInnen und sie hatten ihm viel Gutes über dieses Land erzählt: von der deutschen Organisation, vom Bildungssystem und von der Sicherheit auf den Straßen. Als ein Freund ihm anbot, eine Zeitlang Capoeira in einer Schule in Stuttgart zu unterrichten, sagte er zu. Eines Tages gab er einen Workshop in Frankfurt am Main und lernte hier seine spätere Frau kennen. Seitdem lebt Zadiquiel in Frankfurt. Wenn Zadiquiel seinen SchülerInnen Capoeira beibringt, betont er, dass Capoeira nicht nur ein Kampfsport aus körperlichen Übungen ist. Viel wichtiger sei es, Capoeira als eine Lebensform zu verstehen:
„Mit Capoeira lernt man Umgangsregeln und eine Kunst des Zusammenseins.“ Auch die traditionellen Tänze, die in dem Verein gelehrt werden, verkörpern für ihn Formen des Begegnens, zum Beispiel der forró, ein traditionellen Paartanz aus dem Nordosten Brasiliens. Die Körper der Tanzpartner sind sehr eng in Berührung und folgen synchron dem Rhythmus der Musik. Zadiquiel liebt nicht nur den Tanz, sondern auch die Musik und die Texte der Forró-Lieder. Sie erzählen von der Natur, vom alltäglichen Leben und besonders viel von Liebe. Einmal, als ich ihn im Verein traf, hörte ich Zadiquiel leise singen. Ich erkannte das Lied und sang mit ihm gemeinsam: „Sie will doch nur, denkt nur an Liebelei. Am frühen Morgen ist sie schon bemalt.“
„Ela só quer, só pensa em namorar. De manhã cedo já tá pintada.“
Es ist das Lied O xote das meninas des berühmten Forró-Musikers
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ABB. 32: Die Wand hinter der Bühne hat Zadiquiel selbst gebaut. Sie besteht aus 40 Strohröcken, die abgenommen werden können, um sie für den Maculelê-Tanz anzuziehen. In der Mitte der Wand hängen die typischen Stoffe der Forró Feste.
Luis Gonzaga. Das Wort Xote kommt ursprünglich aus dem Deutschen und bedeutet „Schotte“ – so wurde damals die „schottische Polka“ genannt. Im 19. Jahrhundert kam der „Schotte“ nach Brasilien und entwickelte sich zu einem beliebten Tanz, je nach Ort verschieden transformiert. Das Lied O xote das meninas (Der Xote der Mädchen) handelt von einem Mädchen, das nur Liebe im Kopf hat. Sie sehnt sich nach dem Abend, isst nichts, lernt nicht, schläft nicht. Der Vater bringt das kranke Mädchen zum Arzt und der Arzt erwidert, dass es gegen diese Krankheit keine Medizin gibt. Als kleiner Junge gehörte Zadiquiel zu einer Forró-Gruppe (cuadrilla). Er war acht Jahre alt als die Mädchen aus der Nachbarschaft ihn fragten, ob er nicht in der Gruppe mittanzen könnte. Männliche Teilnehmer wurden immer gesucht. Er konnte damals nicht nein sagen. So nahm er schon als kleines Kind an den ForróFesten der Nachbarschaft teil, bei denen oft die ganze Nacht durchgetanzt wurde. Dabei lernte er nebenbei auch nähen, da die Tanzgruppe ihre Kostüme und Bühnenvorhänge aus gemischten bunten Stoffen selbst fertigte. Im gleichen Alter lernte Zadiquiel die Welt des Capoeira kennen. Er lebte damals mit seiner Familie in einer kleinen Gemeinschaft (comunidade) zwischen dem Zentrum und dem Stadtteil Olinda. In Rio werden diese Orte Favelas genannt. In Recife sind sie aber viel kleiner als in Rio und heißen deshalb anders. Die Comunidade hat nach innen eine eigene Organisation und nach außen eine klare Abgrenzung. Das Haus von Zadiquiel befand sich neben einer Mauer, welche die Comunidade und die Universität voneinander trennt. Als Kind pflegte er diese Mauer mit seinen Freunden täglich zu überklettern. Sie verbrachten viel Zeit auf der anderen Seite und freundeten sich mit einigen Studierenden an. Einmal erfuhr er von einem Professor, der begonnen hatte, Capoeira an der Universität zu lehren. Zadiquiel sah eine Capoeira-Roda: eine Capoeira-Runde, die in einem Kreis stattfindet. Er war so fasziniert von den Bewegungen und der Stimmung, dass er den Professor fragte, ob er nicht mitmachen dürfe. Am nächsten Tag hatte der Professor schon mit der Verwaltung gesprochen und eine Lösung gefunden: Er durfte mittrainieren und sollte als Gegenleistung helfen, die Berimbaus zu pflegen. Die Berimbaus sind Musikinstrumente, die den Rhythmus
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der Capoeira vorgeben. Die Saiten des Berimbau sind aus einem Draht gemacht, den man in Autowerkstätten bekommt. Seine Aufgabe war es, diese Drähte zu besorgen. Gleich am Tag vor seinem ersten Unterricht ging Zadiquiel zu einer Autowerkstatt und sammelte so viele Drähte, dass er Instrumente für ein ganzes Jahr bespannen konnte. Nach einem Jahr Unterricht war er sehr gut in Capoeira geworden und ganz besonders gut im Berimbauspiel. Das Instrument ist nicht einfach zu spielen und verlangt Talent, aber auch tägliche Übung. Sein Lehrer schickte seine Studierenden zu ihm, damit sie Berimbau spielen lernten. Zadiquiel war damals neun Jahre alt und Capoeira wurde sein Leben. An einer Wand des Vereinshauses hängen Fotos seiner Capoeira-Lehrer (ABB. 33): sein erster Lehrer, Mestre Lenguado aus Recife, und sein zweiter Lehrer, Mestre Camisa aus Rio de Janeiro. Zadiquiel ist der Meinung, dass er seinen Lehrern alles zu verdanken hat: „Capoeira hat mich gerettet“, sagt er. Heute will er seinen SchülerInnen in Frankfurt ebenso alles weitergeben. Neben dem Unterricht und dem täglichen Berimbau-Üben schreibt Zadiquiel Gedichte. Ein Lied für seine Capoeira-Gruppe hat er vor kurzem komponiert: „Umarmen tut gut Der Seele und dem Herzen Umarm deinen Kameraden Drück ihm die Hand“
„Abraçar face bem Para a alma e o coração Abrace sua camarada Dê-lhe uma aperto de mão“
Capoeira ist für Zadiquiel dieses Zusammenkommen, bei dem zuerst die Hand gereicht wird. Da ich von Capoeira nur Kampfschritte kenne, die den Streit in Szene setzen, frage ich ihn, ob es auch Schritte gibt, die dieses Umarmen inszenieren. Ein Capoeira-Tanz fängt immer mit dem Handschlag an, sagt er, als Auftakt des Kampfs – eine kleine Umarmung der Hände. Dieser Umarmung widmete Zadiquiel sein Lied.
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ABB. 33: An einer anderen Wand des Vereinssaals sind die Bilder von Zadiquiels Capoeira-Lehrern zu sehen. Er ist der Meinung, dass er seinen Lehrern alles zu verdanken hat.
*** „Wenn in der Trockenzeit der Kaktus blüht / Heißt, das, der Regen kommt in den Sertão / Jedes Mädchen, das genug von seinen Puppen hat / Zeigt, dass in ihr Herz bereits die Liebe kam / Die Strümpfe lang, will keine flachen Schuhe mehr / Das Kleid schön eng und keine kurzen Röckchen / Sie will doch nur / denkt nur an Liebelei / Am frühen Morgen ist sie schon bemalt / Und seufzt den ganzen Tag, und träumt obwohl sie wach ist / Der Vater bringt zum Doktor / Das krank geglaubte Kind /Sie isst nicht mehr, will nicht zur Schule, schläft nicht und macht gar nichts mehr. / Sie will doch nur / denkt nur an Liebelei / Aber der Doktor schaut sie nicht mal an / Nimmt den Vater kurz zur Seite / Und sagt ihm im Geheimen: Das Übel ist ihr Alter / Die Krankheit dieses Mädchen Heilt in der Medizin nicht die beste Arzenei / Sie will doch nur / denkt nur an Liebelei“
„Mandacaru quando fulôra na seca / É o sinal que a chuva chega no sertão / Toda menina que enjoa da boneca / É sinal que o amor já chegou no coração / Meia comprida, não quer mais sapato baixo / Vestido bem cintado não quer mais vestir timão / Ela só quer só pensa em namorar / De manhã cedo, já tá pintada / Só vive suspirando, sonhando acordada / O pai leva ao doutô / A filha adoentada / Não come, não estuda, não dorme, não quer nada / Ela só quer só pensa em namorar / Mas o doutô nem examina / Chamando o pai de lado /Lhe diz logo em surdina: O mal é da idade / E que pra tal menina / Não há um só remédio em toda a medicina / Ela só quer só pensa em namorar“
[Luiz Gonzaga, Der Xote * der Mädchen (O Xote Das Meninas). Übersetzung: Michael Kegler. * „Der Xote (port., gesprochen: Schoti) ist ein brasilianischer Musikstil und Tanz im 2/4-Takt und gehört zur música nordestina, der Musik des brasilianischen Nordostens. Er ist eine Variante der Schottischen Polka, die im ländlichen Raum weit verbreitet ist. Heute wird er zu den Stilarten des Forró gezählt. Ein wichtiges Instrument des Xote ist das Akkordeon (Sanfona).“ (Aus Wikipedia)]
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Vorwort 09
I Brasilien am Main Alexander Carlos Clara Elis Helena Ivan Marcia Martha Nívea Vládmir Zadiquiel
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II Gekreuzte Wege/encruzilhadas 111
III Meine wahrhaftige Historia Für Alexander Für Carlos Für Clara Für Elis Für Helena Für Ivan Für Marcia Für Martha Für Nívea Für Vládmir Für Zadiquiel
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IV Nachwort 261
II Gekreuzte Wege / Encruzilhadas
Im Museum der Weltkulturen in Frankfurt am Main sind 67 000 Objekte aus allen Teilen der Welt aufbewahrt. 5979 davon stammen aus Brasilien.1 Einige der Objekte werden in den Ausstellungsräumen des Museums gezeigt, die meisten bleiben aber im Archiv. Als ich das Museum kontaktierte, plante ich, mich direkt mit den Sammlungsobjekten zu beschäftigen – in der vagen Hoffnung, in eine direkte Kommunikation mit den aufbewahrten Dingen treten zu können. Vielleicht auch mit der Idee, in den Objekten könnte eine Botschaft verborgen sein: eine Botschaft nicht nur über das frühere Leben in Brasilien, sondern auch über die Existenz als ethnologische Objekte und als Exponate eines Archivs. Es handelt sich um Objekte, die auf irgendeinem Weg – durch Kauf, Raub oder Tausch – nach Frankfurt gelangt sind. Die meisten sind Gebrauchs- oder Ritualgegenstände aus indigenen Gesellschaften, aber es gibt auch viele Objekte der populären Künste und von zeitgenössischen KünstlerInnen. Die Website des Museums verschaffte mir schon einen Überblick: 1 In: Achim Sibeth (Hrsg.), Being Objekt, Being Art. Frankfurter Museum der Weltkulturen, Frankfurt 2010.
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„Der besondere Schwerpunkt der Sammlung Amerikas liegt auf den Kulturen des Tieflandes von Südamerika und dessen angrenzenden Gebieten. Fast die Hälfte des Gesamtbestandes kommt aus diesem Bereich. Die Mehrzahl dieser Stücke wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf Sammel- und Forschungsreisen z.T. von Museumsmitarbeitern und -mitarbeiterinnen, z.T. von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Frankfurter Frobenius-Instituts erworben. […] In Brasilien sammelten und forschten Otto Zer ries und Meinhard Schuster bei den Yanomami (1954/55), Mark Münzel bei den Kamayurá (1967/68 und 1988/89) und Mona Suhrbier bei den Guarani (1999/ 2000).“2 Ich wollte dieses archivierte Brasilien kennenlernen. Die Kustodin der Brasilien-Sammlung, Dr. Mona Suhrbier, war aber zu dieser Zeit im Urlaub. Ohne sie hatte ich keinen Zugang zum Archiv. Ich entschied mich, auf sie zu warten und meine Forschung über das Museum in der Bibliothek zu beginnen. Ich wusste auch: Bücher sind ebenfalls Sammelobjekte. Und sie können ebenso einen starken Einfluss auf uns Menschen ausüben. So wie bei Don Quijote, der sich nach der Lektüre von Ritterromanen entschied, Ritter zu werden, haben sicher auch Reiseberichte die Sehnsucht nach Reisen geweckt. Den Vormittag verbrachte ich in der Bibliothek und las so viel, wie ich konnte. Für den Nachmittag hatte ich schon Verabredungen mit BrasilianerInnen in der Stadt geplant und hoffte auch dank meiner Lektüren mich immer weiter über die Geschichte des Landes und seine Vielfalt an Kulturen und Traditionen zu informieren. Interessant ist, dass ich in den privaten Wohnungen viele aufbewahrte Dinge aus Brasilien fand, die auch im Museum archiviert sein könnten: die Indianer-Federhauben von Vládmir, die bemalte Cuia von Helena, die Carranca von Martha … Das kulturelle Gedächtnis, das 2
Siehe https://www.weltkulturenmuseum.de/de/sammlungen/amerikas.
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in diesen Dingen gespeichert ist, wird an den privaten Wänden wie in einem Museum ausgestellt, nur dass wenig Publikum Zugang zu diesen Sammlungen hat. Auf jeden Fall gibt es zwischen den privaten und den institutionellen Räumen interessante Verbindungen. Als Elis mir erzählte, dass sie das Weltkulturen-Museum besuchen möchte, um Dinge, die in ihren Träumen auftauchen, verstehen zu können, dachte ich daran, dass vielleicht in den Träumen eine nächtliche Verbindung zwischen diesen Räumen existiert, die uns leider entgeht. Die Bibliothek des Museums der Weltkulturen befindet sich im ersten Stock des Gebäudes am Frankfurter Museumsufer. Man hat einen schönen Blick auf den Main und viel Platz zum Arbeiten. Am ersten Tag war ich ganz allein im Lesesaal und fand mithilfe der Bibliothekarin schnell die betreffende Literatur: Reisebücher, Untersuchungen von Anthropologen, Studien über Religion, Traditionen und Mythen. Brasilien ist kein Schwerpunkt des Museums, aber dank Mona Suhrbier, der heutigen Kustodin, und Mark Münzel, der von 1973 bis 1989 als Kustos der Abteilung Amerika tätig war, ist eine sehr umfangreiche Brasilien-Sammlung entstanden. Beide EthnologInnen wählten Brasilien als Forschungsschwerpunkt. Ich nahm mir vor, sie später zu befragen, wie Brasilien zu ihrem Forschungsgegenstand geworden war. In der Bibliothek war ich erst einmal mit ihren Schriften beschäftigt. Ich fand nicht nur Texte, sondern auch viele Bilder und erfuhr, dass die Frau von Mark Münzel, Christine Münzel, an den Expeditionen ihres Manns teilgenommen und dabei immer fotografiert hatte. 3000 ihrer Bilder enthält die Mediathek des Museums. Ob der Mann von Mona Suhrbier auch an ihren Reisen nach Brasilien teilgenommen hat? Ob er auch fotografierte? Mir war klar, dass diese Fragen nach den PartnerInnen oder BegleiterInnen der Forschungsreisenden eigentlich irrelevant sind. Aber damals beschäftigten mich diese Fragen schon ganz pragmatisch: Ich plante ebenso, mit meiner Familie nach Brasilien zu reisen.
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ABB. 01: Dieses Bild einer Botokuden-Familie in dem Reisebericht von Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied lies mich nicht los. Im Prinzip sind wir alle unterwegs, die EthnologInnen, mit oder ohne Familie, die KünstlerInnen und die sogenannten UreinwohnerInnen. Und irgendwann kreuzen sich die Wege.
Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied (1782–1867)
Eine Reise nach Brasilien (1815–1817)
In einem Buch, das mir schon am ersten Tag in der Bibliothek des Museums in die Hände fiel, entdeckte ich eine Illustration, die mich nicht losließ: Das Bild einer Familie vom Stamm der Botokuden (ABB. 01). So wurden damals die UreinwohnerInnen genannt, die in den Wäldern des südöstlichen Brasiliens lebten - heute das Gebiet des Bundesstaats Minas Gerais. Die Illustration fand ich in einem Buch des Natur- und Volkskundeforschers Maximilian zu Wied-Neuwied, der von 1815 bis 1817 eine Expedition unternahm, um vor allem die Flora und Fauna Brasiliens zu erforschen. Inspiriert von den Forschungsexpeditionen Alexander von Humboldts wollte er die noch nicht erkundeten Erdteile bereisen. Während er sorgfältige Sammlungen von Pflanzen und Tieren, vor allem Vögel, anlegte, nutzte er die Gelegenheit, auch einige Stämme zu besuchen, unter anderem die Botokuden.3 Unter dem Bild steht die Anmerkung: „‚Botokuden-Chef Kerengnatnuk mit Familie‘, gestochen von M. Eislinger in Zürich.“ 3 Maximilian zu Wied-Neuwied, Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817. 2 Bände, Frankfurt 1820–1821. Neuausgabe: Maximilian zu Wied-Neuwied, Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817, Berlin 2015.
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ABB. 02: Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied mit Hut und Federn. Im Hintergrund des Bildes ist auch Joachim Quäck abgebildet. Er war 17 Jahre alt, als sein Weg den des Prinzen Maximilian kreuzte. Als die Expedition zu Ende war, folgte er dem Prinzen nach Europa.
ABB. 03: Joachim Quäck, verkleidet als Europäer, gemalt zu der Zeit, als er in Neuwied lebte.
Abgebildet sind ein Mann, eine Frau und zwei Kinder. Ich schaute das Bild an und musste an meine Familie denken, unterwegs in Brasilien: mein Mann, ich und meine zwei Kinder. Ob noch Botokuden-Familien existieren?4 Könnten sich unsere Wege kreuzen? Reiste Prinz zu Wied-Neuwied auch mit seiner Familie? Scheinbar unwichtige Fragen, aber sie ließen mich nicht los. Im Prinzip sind wir alle unterwegs, die EthnologInnen, mit oder ohne Familie, die KünstlerInnen und die sogenannten UreinwohnerInnen. Und irgendwann kreuzen sich die Wege. Als ich dem Anthropologen Fernando Brumana von meiner Absicht erzählte, mein Brasilien-Buch „Gekreuzte Wege“ zu nennen, ergänzte er, es wäre besser, das Wort encruzilhada zu benutzen. Zu dem Begriff ‚Encruzilhada‘ gibt es aber keine exakte Entsprechung im Deutschen. 5 Das Wort wird in der Religion Umbanda benutzt, um Orte für Gaben an die Götter zu markieren, die immer an den Kreuzungen von Straßen zu finden sind. Encruzilhada wird außerdem in der Umgangssprache verwendet, um einen Moment im Leben zu bezeichnen, in dem sich zwei oder mehrere Wege kreuzen. Es sind Momente im Leben, in denen unklar ist, wie es weitergeht. Wenn man sagt, man befindet sich in einer Encruzilhada, wird deutlich, dass es sich um einem entscheidenden Moment handelt, in dem eine Kreuzung von Situationen oder Begegnungen das Leben entscheidend prägen wird. Hat man einen Weg an dieser Kreuzung gewählt, gibt es normalerweise kein Zurück mehr. Es geht weiter in eine bestimmte Richtung, bis man zur nächsten Encruzilhada kommt. Ob der Prinz zu Wied-Neuwied auch solche Encruzilhadas erlebt hat? In einem Buch über sein Leben und Wirken fand ich ein Bild, auf dem der Prinz zu sehen ist (ABB. 02): Er steht aufrecht, mit leicht angewinkelten Beinen, in der einen Hand eine Waffe und in der anderen einen toten Papagei. Er jagte und sammelte Tiere, besonders Vögel, die dann für die Sammlung präpariert wurden. Auf dem
4 Der Künstler Jimmie Durham schreibt, dass heute noch 600 Botokuden existieren. Ihre Sprache und Kultur ist aber fast ausgestorben. In: Jimmie Durham, „Essay über das indigene Volk der Krenak. Quacks Rückkehr“, in: taz.de, 22. April 2011. 5 Auf Deutsch könnte man den Begriff ‚Scheideweg‘ verwenden.
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ABB. 04: Der Kunsthistoriker Aby Warburg mit einer Maske bei den Hopi in Arizona. Ob Reisende mit ihren gesammelten Federn, Masken oder ähnlichen Objekten für immer verbunden bleiben?
Bild trägt er einen Zylinder mit zwei großen und langen Federn eines erjagten Vogels. Ich musste lachen als ich dachte:
„Auf meiner Brasilien-Reise will ich auf keinen Fall Vögel jagen, auch keine anderen Tiere, aber ich würde mir gerne einen Hut mit Federn aufsetzen.“ Sicher ist das Aufsetzen eines Huts mit Federn kein Grund für eine Reise, aber solche Bilder von Reisenden, die sich verkleiden, haben immer eine gewisse Anziehungskraft. Ich musste an das Bild von Aby Warburg bei den Hopi in Arizona denken (ABB. 04). Es ist ein Bild, das mich immer beeindruckt hat. Auch weil ich weiß, dass der Kunsthistoriker Aby Warburg in seinem Institut in Hamburg manchmal seine Gäste mit solcher Maskierung überraschte. Als er in einer psychiatrischen Klinik interniert wurde, waren die Erinnerungen an seine Mexikoreise ganz wichtig für seine spätere Heilung, als bewahre sich in diesen Erinnerungen eine heilende Kraft. Ob Reisende mit ihren gesammelten Federn, Masken oder ähnlichen Objekten für immer verbunden bleiben? Auf jeden Fall haben diese Porträts verkleideter oder maskierter Reisender große Anziehungskraft, weil man merkt: Dieses Verkleiden ist kein harmloses Spiel. „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen“, hat Goethe einst geschrieben. Das Bild des reisenden Prinzen mit Hut und Federn ist lebensgroß und wurde von Johann Heinrich Richter aus Koblenz gemalt. Der Maler bildete nicht nur den Prinzen ab, sondern auch dessen brasilianischen Begleiter Joachim Quäck. Er war 17 Jahre alt, als sein Weg den des Prinzen Maximilian kreuzte. Der Maler scheint genau diese Kreuzung festhalten zu wollen. Während der Prinz frontal vor dem Zuschauer steht, ist Joachim Quäck im Hintergrund und in Bewegung, als würde er in seiner Jagd-Tätigkeit den Bildausschnitt zufällig durchqueren. Auf jeden Fall ist der Prinz der Protagonist im Bild und er ist auch derjenige, der die Geschichte dieser Encruzilhada erzählen wird. Der Prinz hatte den Jungen auf seiner Expedition kennengelernt und engagierte ihn als Helfer bei der Jagd wie auch als Übersetzer und Informanten. Joachim Quäck stammte aus einer botokudischen Familie, war aber in einer katholischen Gemeinde aufgewachsen und sprach perfekt portugiesisch. Er lebte schon seit Langem nicht mehr
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bei den Botokuden. Als die Expedition zu Ende war, folgte er Prinz Maximilian nach Europa und blieb bis zu seinem Tod in Neuwied. In einem anderen Buch über das Leben des Prinzen Maximilian zu Wied fand ich ein Porträt von Joachim Quäck, gemalt zu der Zeit, als er in Neuwied lebte (ABB. 03).6 Er steht ebenso aufrecht, aber ganz anders angezogen, mit roter Jacke, weißer Bluse und gelbem Tuch, ohne Hut und Federn: verkleidet als Europäer. Ob er auch einen Reisebericht über Europa geschrieben hat oder schreiben wollte? Er hat einen offenen Blick, als würde er sein Gegenüber ganz genau ins Visier nehmen. Joachim Quäck starb in Neuwied am 1. Juni 1834 im Alter von 34 Jahren. Es wird berichtet, dass er in den letzten Jahren seines Lebens große Sehnsucht nach seinem Land hatte. Er zog sich zurück und trank große Mengen Alkohol. Während Prinz Maximilian auf einer Forschungsreise in Nordamerika weilte, starb Quäck an den Folgen des Alkoholkonsums. Prinz Maximilian berichtet in seinem zweiten Buch über die Botokuden:
„Alle jene Wilde, welche man aus ihren mütterlichen Urwäldern entfernt, und in die Gesellschaft der Europäer gezogen hat, hielten wohl eine Zeit lang diesen Zwang aus, sehnten sich indessen immer nach ihrem Geburtsorte zurück und entflohen oft, wenn man ihren Wünschen nicht Gehör gab.“7 Hat Prinz Maximilian Joachim Quäck nach Europa bringen lassen, um ihn zu beobachten? Um zu schauen, wie er sich in Europa transformiert? Einer der Gründe, weshalb er Quäck nach Deutschland brachte, war vermutlich, dass er ihn als Informanten benötigte, um weiter über die Botokuden zu schreiben. Im zweiten Buch der Reise gibt es einige Stellen, an denen Prinz Maximilian auch Quäck erwähnt. Au6 Brustbild des Botokuden Quäck, um 1830. Maler: Prinz Carl zu Wied, Öl auf Leinwand, Brasilien-Bibliothek der Robert Bosch GmbH, Stuttgart. In: Prinz Maximilian zu Wied. Ein rheinischer Naturforscher in der Alten und Neuen Welt, Herausgegeben von Bernd Willscheid, 2017. 7 Maximilian zu Wied-Neuwied: Reise nach Brasilien in den Jahren 1815 bis 1817, Band 2, S. 17–18, Verlag Heinrich Ludwig Brönner, Frankfurt 1820–1821.
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ßerdem nutzte er ihn auch aus, um Werbung für seine Bücher zu machen. Damals waren alle fasziniert vom „exotischen“ Ureinwohner aus Brasilien und wollten ihn sehen. Das Buch ließ sich mit solch lebendigem Beweis besser verkaufen. Joachim Quäck war offenbar sehr freundlich und empfing gern Besuch. Nur am Ende seines Lebens wollte er niemanden mehr sehen. Einmal wurde ihm berichtet, dass andere Botokuden in Europa angekommen seien. Man dachte, er würde sich freuen. Stattdessen versteckte er sich voller Panik. Es wird erzählt, er sei überzeugt gewesen, die Botokuden seien Menschenfresser – daher die Angst. Ich musste an den berühmten Text von Gayatri Chakravorty Spivak denken, einem Klassiker der postkolonialen Literatur mit dem Titel: Can the Subaltern Speak? (1988).8 Joachim Quäck hatte nicht nur die Sprache der Kolonialmächte übernommen, sondern auch ihre Erzählungen. Im zweiten Buch des Prinzen Maximilian gibt es eine lange Liste von Subskriptionen, die zeigt, wie viele Menschen das Buch vorbestellt hatten. Die meisten Subskriptionen stammen aus Frankfurt. Alle diese FrankfurterInnen hatten das Buch über Brasilien vorbestellt. Ob einige nach der Lektüre auch nach Brasilien reisen wollten? Wer hat Joachim Quäck in Neuwied besucht? Ihn sprechen gehört? Man müsste die Liste durchgehen und recherchieren. Ich ließ aber diese Frage auf sich beruhen und öffnete andere Bücher.
8 Auf Deutsch: Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien/Berlin 2007.
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Hans Staden (1525–1576)
Zwei Reisen nach Brasilien (1548, 1550)
In der Bibliothek befinden sich mehrere Ausgaben von Hans Stadens Brasilienbuch. Hans Staden aus Hessen, geboren 1525 in Homberg (Efze), verfasste im Jahr 1557 einen Reisebericht unter folgendem Titel: Die warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden/Nacketen/Grimmigen Menschfresser. Das Buch erschien in einem Verlag in Marburg mit vielen Illustrationen. Darin ist ein Bild von Hans Staden zu sehen (ABB. 05).9 Stadens Augen sind weit geöffnet und man hat den Eindruck, dass er ins Nirgendwo starrt. Vielleicht konzentriert er den Blick auf sein Reiseziel. Vielleicht hebt er aber seinen Blick auf eine andere unsichtbare Ebene, die sich hinter all den irdischen Erscheinungen verbirgt, eine transzendente Ebene. Das Buch beginnt mit folgenden Worten:
„Ich, Hans Staden aus Homberg in Hessen, nahm mir vor, wenn es Gott gefällig sei, Indien kennen zu lernen […].“ 9
In: Hans Staden, Zwei Reisen nach Brasilien 1548–1555, Marburg an der Lahn 1970, S. 167.
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„Wenn es Gott gefällig sei“? Was meint er damit? Dass er es Gott zu verdanken hat, wenn er gesund und lebendig in Indien ankommt und in seine Heimat zurückkehren kann? Vielleicht ist aber etwas anderes gemeint. Vielleicht reist er nach „Indien“, nur um zu sehen, was Gott ihm in seiner Gefälligkeit zeigen möchte. Als wäre seine Reise eine Art Pilgerfahrt: keine Fernreise, um ein anderes Land kennenzulernen oder zu erforschen, sondern eine Reise, um Gott die Möglichkeit zu geben, sich ihm gegenüber in der Fremde auf eine bestimmte Art und Weise zu äußern. Am Ende des Buchs wird Staden auch nicht viel klarer in seinen Reise-Intentionen. An einer Stelle wendet er sich an die LeserInnen – ganz konkret an diejenigen jungen LeserInnen, die das, was er geschrieben hat, bezweifeln könnten. Die letzten Sätze des Buchs lauten:
„So nun etwas ein junger Gesell irgendwo wäre, dem meine Beschreibung und meine Zeugen nicht genügen, so fange er die Reise selbst mit Gottes Hilfe an, dann wird er nicht weiter im Zweifel leben. Ich habe ihm in diesem Buche genug berichtet, daß er meiner Spur nachfolgen kann. Wenn Gott hilft, dem ist die Welt nicht verschlossen. Dem allmächtigen Gott, der alles in allem ist, sei Lob, Ehr und Preis von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ An dieser Stelle hat man den Eindruck, dass Staden sein Buch für diesen speziellen Leser geschrieben hat, für diesen jungen Gesellen. Interessant fand ich die Stelle, an der er schreibt, dass diese Gesellen „nicht weiter im Zweifel leben“ sollen. Im Zweifel über die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung? Oder meint er den Zweifel an der Existenz Gottes? Befand er sich selbst im Zweifel, als er die Reise nach Brasilien unternahm? Hat er die Reise unternommen, um sich von diesem Zweifel zu befreien? Auf jeden Fall suchte er nicht nur ein neues Land. Dies wird zumindest nirgendwo erwähnt. Er suchte also Gott oder vielleicht tatsächlich etwas anderes: Er suchte eine Welt, die Gott ihm auf der Reise und durch die Reise eröffnen würde. Wir können aber nur spekulieren. Nirgendwo, nicht im Bericht und auch nicht im Vorwort, geschrieben von dem Arzt und Mathe-
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matiker Johannes Eichmann, wird den LeserInnen erklärt, welche konkreten Gründe Hans Staden veranlassten, seine Heimat zu verlassen. Das Buch berichtet, dass er Söldner war und abreisen wollte. Er war 23 Jahre jung. Als Reiseziel gab er Indien an. Mit diesem Ziel fuhr er im Mai 1547 nach Lissabon und von dort, im Auftrag der Portugiesen, nach Brasilien, um die aufständischen Indianer in Pernambuco (heute Recife) zu bekämpfen. Er suchte vielleicht nur einen Job und ließ sich auf ein Unternehmen ein, das eigentlich wenig mit ihm zu tun hatte: die Beherrschung Amerikas durch die Kolonialmacht Portugal. Auf der Reise geriet die Expedition in Gefangenschaft der Tupinambá-Indianer, die als KanniballInnen bekannt waren. Während seine portugiesischen Kameraden verspeist wurden, konnte er diesem Schicksal entfliehen und wurde von einem französischen Schiff aufgenommen. Das Leben unter MenschenfresserInnen ist ein Leben mit der täglichen Gefahr, verspeist zu werden. Staden blieb dieses Schicksal erspart. Er konnte heimkehren und beschreiben, was ihm zugestoßen war. Der erste Teil des Buchs erzählt vom Verlauf der beiden Reisen, insbesondere von der Zeit seiner Gefangenschaft. Der zweite Teil ist ein Bericht über Sitten und Gebräuche der Tupinambá mit dem Titel „Wahrhaftiger kurzer Bericht“. Hier erfahren die LeserInnen, wie die Tupinambá ihre Wohnungen bauen, wie sie Feuer machen, wie sie jagen und fischen, wie sie aussehen, sich schmücken und sich in der Gruppe verhalten. Wir erfahren auch über die Herstellung ihrer Werkzeuge und Güter, wie sie kochen und wie sie ihre Feinde essen. Alles wird sehr knapp, aber präzise beschrieben. Die Ungewissheiten, die ihn während seiner Gefangenschaft plagten und von denen Teil 1 seiner Reise berichtet, sind hier nicht mehr zu finden. Wir haben es mit neutraler und beschreibender Perspektive zu tun – als wäre es nicht sein Leib, der zur Verhandlung stand. Stadens Erzählung von Brasilien als Ort von MenschenfresserInnen hat nicht nur in Europa Karriere gemacht, sondern sich auch in Brasilien als wichtiger Diskurs etabliert, um die eigene Identität zu reflektieren. Besonders in der brasilianischen Kunst und im Diskurs vieler brasilianischen Intellektuellen finden wir die Beschreibungen von Staden wieder. In dem berühmten „Anthropophagischen Manifest“ des Schriftstellers Oswald de Andrade wird der Kannibalismus (die Anthropophagie) der Tupinambá als die Lebens-
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form erklärt, die alle BrasilianerInnen vereint:
„Nur die Anthropophagie vereint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch. […] Tupi, or not tupi: that is the question.“10 Die Kreuzung zwischen Einheimischen und Fremden findet in der Anthropophagie durch die Verdauung statt. Das Manifest von Oswald de Andrade wird oft als das brasilianische Modell einer produktiven Vereinigung der Kulturen erklärt. Dieses Modell wurde von der Bewegung des Tropicalismus in den 1970er Jahren wiederbelebt. Die Tropicalisten, unter anderem der Musiker Caetano Veloso, betonen die Möglichkeit, durch wilde Mischung der Stile und Kulturen eine Erneuerung in der Pluralität zu schaffen.11 Anthoropophagie wird durch den Tropicalismus zu einer Art Cocktail, „coquetel“12, den man in Ruhe trinken kann. So wie ich den Text von Oswald de Andrade verstehe, ist mit der Idee der Anthropophagie mehr gemeint als nur eine produktive Aneignung des Fremden durch dessen Verdauung. Ich sehe auch eine gewisse Rache, eine Kampfansage an die kolonialen Mächte. Deswegen schreibt Andrade:
„Doch es waren nicht Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Flüchtlinge einer Zivilisation die wir jetzt aufessen, denn wir sind stark und rachsüchtig wie der Jabuti.“13 Rache durch Tötung und Verdauung und nicht Cocktail ist hier gemeint. Ob es sich bei der Historia von Hans Staden um eine wahre Geschichte handelt, ist an sich unbedeutend, wenn man weiss, welche Karriere seine Erzählung gemacht hat. Der Titel des Buchs Warhaftige Historia scheint LeserInnen von der Wahrhaftigkeit überzeugen zu wollen. Warhaftig ist auf dem Titel sehr groß ge10 Oswald de Andrade, „Anthropophagisches Manifest“ (1928). Auf Deutsch übersetzt in: Isabel Exner/ Gundrun Rath (Hrsg.), Lateinamerikanische Kulturtheorien, Konstanz 2015, S. 45–50. 11 Vgl. Caetano Veloso, Verdade tropical, São Paulo 1997, S. 242: „Die Idee des kulturellen Kannibalismus brauchten wir, die Tropicalisten, wie ein Handschuh. Wir ‚fraßen’ die Beatles und Jimi Hendrix.“ (Übersetzung von A.B.) 12 Caetano, S. 244. 13 Oswald de Andrade, S. 48.
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druckt und mit Verzierungen versehen (ABB. 06), als wäre das Wort eine Kletterpflanze, die sich ausbreitet. Eine Wahrhaftigkeit in Bewegung, mit Verzweigungen, Umkehrungen und Verzierungen. Unter dem Titel ist ein Bild abgedruckt: Ein Mann, wahrscheinlich Hans Staden selbst, liegt in einer Hängematte. Unten verbreitet sich der Rauch eines Feuers, das nebenan brennt. Auf dem Feuer werden Körperteile von Menschen gegrillt: Beine, Arme. Man hat nicht den Eindruck, dass der Mann in der Hängematte wegen der Nähe des Feuers in Panik gerät. Er scheint ruhig zu sein, als würde er Gottes Zeichen abwarten. Es kann aber auch sein, dass der abgebildete Mann nicht Hans Staden ist, sondern der Totschläger. Im Bericht Stadens wird erzählt, dass die Person, die ausgewählt ist, um die Gefangenen zu töten, sich nach der Tötung einen ganzen Tag in einer Hängematte ausruhen muss. Er hat den Gefangen mit einer Keule totgeschlagen und vor dem Schlag gesagt:
„Ja, hier bin ich, ich will dich töten, denn deine Leute haben auch viele meiner Freunde getötet und gegessen.“14 Der Gefangene antwortet ihm:
„Wenn ich tot bin, so habe ich noch viele Freunde, die mich tüchtig rächen werden.“15 Danach wird der Gefangene mit einem Schlag auf den Kopf getötet. Das Ausruhen in der Hängematte hatte laut Staden eine klare Funktion:
„Das geschieht, damit ihm (dem Schläger) die Arme vom Schreck des Totschlagens nicht unsicher werden.“ Als wüsste der Totschläger, dass seine Tat nicht nur Kraft erfordert, sondern vor allem eine sichere Verfassung. Staden hat alles beobachtet. Einmal hätte er aus der Gefangenschaft fliehen können, aber er tat es nicht. Er wollte die anderen gefangenen Christen, seine Freunde, nicht alleine lassen. Er wollte 14 Staden 1970, S. 143 15 Ebd.
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ABB. 05: Ein Bild von Hans Staden aus Hessen, abgebildet in seinem Reisebericht. Seine Augen sind weit geöffnet und man hat den Eindruck, dass er ins Nirgendwo blickt.
ABB. 06: Der Titel des Buches Warhaftige Historia von Hans Standen. Warhaftig ist mit Verzierungen versehen, als wäre das Wort eine Kletterpflanze, die sich ausbreitet. Eine Wahrhaftigkeit in Bewegung, mit Verzweigungen und Umkehrungen.
sie trösten. Als sie ihn fragten, ob er wisse, ob sie bald gegessen würden, gab Staden eine interessante Antwort:
„[…] ich sagte, das müssten sie dem Willen des himmlischen Vaters anheimstellen und seines lieben Sohnes Jesu Christi, der um unserer Sünden willen gekreuzigt worden und in dessen Namen wir mit ihm in seinen Tod getauft seien.“16 Das ganze Leben dreht sich um Tod und der Tod Christi steht symbolisch dafür. Er stirbt „für uns alle“, lautet die Aussage des christlichen Glaubens. Ein symbolisches Sterben für die Ungerechtigkeiten, die wir Menschen in der Welt eingerichtet haben? Wie man stirbt, ist im Prinzip unwichtig. Staden hoffte wahrscheinlich, dass diese Botschaft trösten könnte.
16 Ebd., Seite 94
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Maria Sibylla Merian (1647–1717)
Eine Reise nach Surinam (1699–1701)
Die Künstlerin und Naturwissenschaftlerin Maria Sibylla Merian, geboren am 2. April 1647 in Frankfurt am Main, unternahm keine Reise in das Land, das wir heute als Brasilien kennen, aber sie reiste nach Surinam, ein kleines Land des nördlichen Südamerikas an der Grenze zu Brasilien. Über Surinam erstreckt sich ein Teil des Amazonas-Regenwalds. Wie Brasilien wurde die Küste des heutigen Surinams zuerst von Columbus „entdeckt“ und von Vicente Yáñez Pinzón bereist. 1667 erhoben die Niederlande Anspruch auf die Kolonie und blieben bis zu deren Unabhängigkeit im Jahr 1975 die Kolonialmacht. Als Maria Sibylla Merian für ihre naturwissenschaftlichen Studien Surinam bereiste, trat sie in Kontakt mit einigen niederländischen Einsiedlern, die der religiösen Bewegung der Labadisten angehörten. Sie selbst hing dieser Bewegung an und hatte sechs Jahre in der Labadistengemeinde auf Schloss Waltha in Wieuwerd gelebt. Bei Maria Sibylla Merian mischen sich die Reiseintentionen, die wir beim Prinzen zu Wied-Neuwied und bei Staden finden. Sie folgte einerseits ihrem Interesse am Fortschritt der Wissenschaft und bereitete die Expedition zur Erforschung
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der Insekten- und Pflanzenwelt sorgfältig vor. Andererseits war diese Expedition für sie untrennbar mit ihrem religiösen Antrieb verbunden, die Schöpfungen Gottes und am liebsten die kleinsten darunter zu erkunden. Schon als junges Mädchen begann sie, Seidenraupen zu studieren. Sie erkundete die Verwandlung der Raupe in einen Schmetterling: wie das Tier den dünnen Seidenfaden spinnt, bis es komplett von einem festen Seidenkokon umgeben ist, wie aus diesem Kokon dann der Schmetterling schlüpft. Alle diese Momente des Seins der Raupe wurden von Merian auf Papier gezeichnet. Sie beobachtete auch andere Formen von Verwandlungen, zum Beispiel wie aus Müll kleine Tiere entstehen: eine Vielfalt kleiner Lebenswesen, alle für sich göttliche Botschaften. Maria Sibylla lernte zeichnen, als sie ganz jung war, weil ihr Vater und ihr Stiefvater Grafiker waren, die für den Verlag arbeiteten, den ihr Großvater gegründet hatte – derselbe Verlag, in dem das Buch Amerika mit dem Reisebericht Hans Stadens erschienen war. Sie kannte alle diese illustrierten Bücher und Reiseberichte. Als ich in der Bibliothek des Museums der Weltkulturen die Bücher von Maria Sibylla Merian durchblätterte, wusste ich noch nicht, dass ihre Zeichnungen von Früchten für meine Expedition wichtig werden würden. In dem Buch Metamorphosis insectorum Surinamensium präsentierte sie die Ergebnisse ihrer Surinam-Reise. Es handelt sich dabei nicht nur um ein wissenschaftliches Buch, sondern auch um einen Grafikband mit vielen Bildtafeln tropischer Pflanzen und Früchte, bewohnt von den Insekten, die sich von ihnen ernähren. Bilder von Pampelmusen, Ananas, Papayafrüchten, Wassermelonen oder Granatäpfeln in einem Buch mit dem großen Format 50 mal 35 Zentimeter, in einer lateinischen und einer holländischen Ausgabe im Selbstverlag, mit 60 Tafeln.17 Als Erklärung für die Publikation gibt sie an, dass sie ihre Beobachtungen den LeserInnen widmet, die sehen wollen, „was Gott der Herr in America vor wunderliche gewerkt So und gethiere geschaffen hat […].“18 Fast alle Bildtafeln illustrieren ein harmonisches Miteinander 17 Die erste Übersetzung ins Deutsche nach dem Original von 1705 erschien im Insel Verlag 1975 unter dem Titel Das Insektenbuch. 18 Zitiert in Barbara Beuys, Maria Sibylla Merian, Berlin 2016, S. 230.
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zwischen Pflanzen- und Insektenwelt. Nur wenige Bilder zeigen, dass diese Tiere sich auch in einem Überlebenskampf beim Fressen und Gefressenwerden gegenüberstehen. Am lebendigsten ist das Tafelbild 18 (ABB. 08): An einem Guajavezweig breiten sich zwei große Spinnennetze aus. Wir sehen einige Spinnen. Eine sitzt auf einem toten Vogel (einem Topasrubin-Kolibri) und scheint sich von ihm zu ernähren. Außer den Spinnen sind überall viele Ameisen zu sehen. Eine Ameise kämpft mit einer Spinne, zwei andere fressen ein Insekt. Ich musste an die Bilder in Hans Stadens Buch denken, mit den MenschenfresserInnen und ihren organisierten Schritten, um ihre Feinde zu verspeisen. In einer Biografie von Maria Sybilla Merian fand ich ein Bild von ihr nach ihrer Rückkehr von ihrer Surinam-Expedition (ABB. 07). Sie sieht müde, aber fest entschlossen aus. Sie trägt große Tücher am Körper drapiert, wahrscheinlich aus Seidenstoff. Hinter ihr hängt eine Landkarte an der Wand. Vor ihr auf einem Tisch liegen einige der Exponate ihrer Sammlung: Schmetterlinge und Schnecken. Man merkt, dass die Expedition nicht mit der Reise aufgehört hat. Alles aus Surinam Mitgebrachte wird wie Reisetrophäen der Wissenschaft in Schatullen und Schränken aufbewahrt, geordnet und sorgfältig mit Namen katalogisiert – anders als die Zeichnungen, die wie eine Art Blumenstrauß aus Pflanzen und Insekten die Schönheit der tropischen Umwelt in einem Bild eingefroren halten. Viele dieser Bilder und Exponate sind heute in Europa in Museen und privaten Sammlungen aufbewahrt. *** Maria Sibylla Merian, Hans Staden und Prinz zu Wied-Neuwied. Drei Reisende mit verschiedenen Motiven. Geblieben sind nicht nur Abbildungen, gesammelte Objekte und konservierte Natur, sondern auch verschiedene Erzählungen, die immer noch gegenwärtig sind. Nur eine Auswahl aus vielen anderen Reiseberichten im Museum der Weltkulturen.
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ABB. 07: Maria Sybilla Merian nach ihrer Surinam-Expedition. Auf einem Tisch liegen einige der Exponate ihrer Sammlung: Schmetterlinge und Schnecken. Man merkt, dass die Expedition nicht mit dem Ende der Reise aufgehört hat.
ABB. 08: In ihrem Buch Metamorphosis insectorum Surinamensium präsentierte Maria Sybilla Merian die Ergebnisse ihrer Surinam-Reise mit vielen illustrierten Tafeln. An einem Guajavezweig breiten sich zwei große Spinnennetze aus. Wir sehen einige Spinnen. Eine sitzt auf einem Topasrubin-Kolibri und scheint sich von ihm zu ernähren.
Vorwort 09
I Brasilien am Main Alexander Carlos Clara Elis Helena Ivan Marcia Martha Nívea Vládmir Zadiquiel
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II Gekreuzte Wege/encruzilhadas 111
III Meine wahrhaftige Historia Für Alexander Für Carlos Für Clara Für Elis Für Helena Für Ivan Für Marcia Für Martha Für Nívea Für Vládmir Für Zadiquiel
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IV Nachwort 261
Helena São Paulo/ Frankfurt-Bockenheim Martha São Paulo/ Frankfurt-Bockenheim
Marcia Piripiri/ Frankfurt-Bockenheim
Zadiquiel Recife/FrankfurtBergen-Enkheim
Ivan Paraíba/ Frankfurt-Nordend
Vládmir Recife/ Frankfurt-Bornheim
Elis São Paulo Frankfurt-Bornheim Clara São Paulo/ Frankfurt-Altstadt
Alexander São Paulo/ Frankfurt-Ostend
Nívea Rio de Janeiro/ Frankfurt-Altstadt
Carlos Rio de Janeiro/ Frankfurt-Westend
III Meine wahrhaftige Historia
Eine Forschungsexpedition erfordert die Bereitschaft, sich auf ungeplante Situationen und neues Material einzulassen. Es ist gut, dass man nicht weiß, was einen erwartet, und auch nicht was man von der Reise mitnehmen wird. Man kehrt in jedem Fall nicht unberührt zurück. Ich reiste durch Brasilien an verschiedene Orte, an die mich die ProtagonistInnen dieses Buchs führten. Ich verbrachte jeden Tag, als würde ich eine Liste von Aufträgen abarbeiten. Ich war wie eine Detektivin auf der Suche nach möglichen Spuren. Nur manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich mein Ziel aus den Augen verlieren könnte. Ich musste an die Methode von Siegfried Kracauer in seinem Buch Straßen in Berlin und anderswo denken:
„Auf diesen Routen trieb ich mich umher und mußte in jedem Passanten den Eindruck eines ziellosen Schlenderers erwecken. Und doch war ich, streng genommen, nicht ziellos.“1 1
Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo (1925–1933), Frankfurt 1964, S. 10.
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Es gibt einen klaren Plan in diesem unsystematischen Vorgehen. Eine Forschungsexpedition ist vergleichbar mit einer Encruzilhada, einer Kreuzung von Wegen. Ist man einen Weg gegangen, gibt es kein Zurück mehr. Man kann nur die Reise noch einmal unternehmen. So wie bei einer Kletterpflanze hat man den Eindruck, die Expedition könnte sich unendlich und in alle Richtungen entwickeln. Aus der Wissenschaft kennen wir andere Begriffe, um dieses Phänomen zu beschreiben: Bricolage von Claude Lévi-Strauss oder Rhizom von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Wissen entsteht nicht linear, in einer Richtung, sondern in Verzweigungen, Verwanderungen, Umkehrungen und Anverwandlungen. 26. Februar
Drei Tage vor dem Beginn des Karnevals. Ich packe meinen Koffer in Frankfurt am Main und nehme einen direkten Flug nach Rio de Janeiro. Hier fängt meine Reise an: eine Expedition auf der Suche nach dem Brasilien, das ich in Frankfurt kennengelernt habe. Zu diesem Brasilien gehört Nívea. Sie kommt aus Rio de Janeiro, wohnt seit fünfzehn Jahren in Oberursel (bei Frankfurt) und betreibt im Zentrum von Frankfurt ein Café mit brasilianischen Spezialitäten. Jedes Jahr fährt sie nach Rio, um am Karneval teilzunehmen. Gleich nach der Ankunft in Rio muss ich mich bei ihrer Sambaschule anmelden. Aber ich fliege nicht nach Brasilien, um nur die Spuren von Nívea zu verfolgen. In den vergangenen Monaten habe ich in Frankfurt viele BrasilianerInnen kennengelernt und von jedem und jeder habe ich mehrere Aufgaben auf meiner Liste. Nach dieser Liste ist meine Expedition organisiert: ❒ Für Nívea (Rio de Janeiro): während des Karnevals bei der Sambaschule Mocedade Independente teilnehmen; Bikinifabrik in Ipanema aufsuchen; Maniküre in Botafogo; alte Bücher in Antiquariaten besorgen. ❒ Für Carlos (Rio de Janeiro): den Karneval verlassen, da Carlos diesen immer gemieden hat, und einen Ausflug auf die Insel Ilha Grande unternehmen; sich auf der Insel mit Gerard von der Pousada Manaca unterhalten und Ausflüge in den Wald machen. In Rio: mit seinem Deutschlehrer Antonio spazieren gehen; Heilige sammeln.
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❒ Für Martha (neben São Paulo): in der Stadt Embu das Artes nach carrancas suchen (Carrancas sind Skulpturen von Tierköpfen, die an Schiffe montiert sind); über Bekleidung (Uniformen) von Putz- und Bedienpersonal recherchieren. ❒ Für Elis (neben São Paulo): lernen, wie man simpatias macht (Simpatias sind einfache Zauberei-Rezepte); Souvenirs mit brasilianischen Fahnen suchen; über Träume in der Migration recherchieren. ❒ Für Helena (São Paulo): Musikinstrumente aus Brasilien kaufen; Figuren aus den brasilianischen Legenden sammeln (Saci-Pererè, Curupira …); ein Gedicht, das alles umfasst und aufhebt, verfassen: wie ein Haikai. ❒ Für Clara (São Paulo): tropische Früchte sammeln; Früchtemotive finden; Etiketten für neue Fruchtsaft-Getränkeflaschen entwerfen; den Film „Oscar Niemeyer – A vida é um sopro“ ansehen und wenn möglich in einem seiner Wohnhäuser leben. ❒ Für Alexander (São Paulo): VertreterInnen des Tropicalismus und VertreterInnen des Marxismus finden und ihre Bücher lesen; an den Demonstrationen oder Bürgerbewegungen der Stadt São Paulo teilnehmen. ❒ Für Ivan (Escada): nach Architektur in brasilianischen Liedern suchen; zusammen mit anderen musizieren. (Aber wie? Eine Musikschule besuchen? Jemanden finden, der mir das Musizieren oder mindestens ein bisschen Trommeln beibringt?) Eine oder mehrere parcerias (Kooperationen) realisieren. ❒ Für Vládmir (Recife): ein Frühstück mit tropischen Früchten organisieren; das Meer genießen – nur das pure Meer – (alles intensiv riechen); den damaligen Leiter des Goethe-Instituts in Salvador de Bahia aufsuchen: Roland Schaffner. ❒ Für Zadiquiel (Recife): über die Mauer zwischen der Universität und der Comunidade, wo Zadiquiel geboren wurde, klettern; über Tanz in der Migration recherchieren: besonders über Forró und Capoeira. Forró-Stoffe sammeln. ❒ Für Márcia (Piripiri): Seitdem ihre Großeltern gestorben sind und deren Haus verkauft wurde, existiert für Márcia im heutigen Brasilien ihre Heimat nicht mehr. Nach einigen Jahren lernt sie intensiv finnisch. Ich muss nach Finnland fahren, wo sie sich bald ansiedeln möchte, und wo sie zu finden hofft, was sie in Brasilien verloren hat.
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RIO DE JANEIRO Donnerstag, 27. Februar
ABB. 01
Der Flug landet wie geplant um 8:30 Uhr. Für Nívea trage ich Flip-Flops (chinelas) in meiner Handtasche. Bevor ich aus dem Flugzeug steige, ziehe ich diese schnell an, um für meine Expedition richtig vorbereitet zu sein. Auch andere Fluggäste haben ihre Flip-Flops dabei. Vielleicht werden sie wie Nívea am Flughafen von ihrer Familie erwartet und fahren singend im Auto nach Hause. Auf mich wartet niemand. Am Flughafen nehme ich ein Taxi zum Stadtteil Santa Teresa, wo ich die nächsten Tage leben werde. Auf der Fahrt erzählt João, der Taxifahrer, vom Chaos auf den Straßen. Es gibt viele Baustellen, weil die Stadt sich auf die Fußball-Weltmeisterschaft vorbereitet. Außerdem hat der Karneval gerade angefangen, sodass viele Straßen gesperrt sind. Ein Alptraum für das Taxifahren. Ich frage ihn, ob er die CD mit den Samba-Liedern für dieses Jahr spielen kann. Die CD hatte mir Nívea geschenkt. Wir singen laut zusammen. João erzählt, dass er Anhänger der Sambaschule Acadêmicos do Grande Rio ist. Ich verrate ihm, dass ich für Nívea mit der Sambaschule Mocedade Independente tanzen werde. Trotzdem verspreche ich ihm, auch das Lied von Acadêmicos do Grande Rio zu lernen und im Sambódromo laut mitzusingen. Um 10 Uhr sind wir schon bei meiner Unterkunft, im Haus von Denise. Es ist Frühstückszeit und Denise, als gute Hausherrin, stellt mir die anderen Gäste vor. In ihrem Haus wohnen immer viele KünstlerInnen. Alle haben ein eigenes Zimmer und es gibt eine gemeinsame Küche und gemeinsame Räume zum Arbeiten. Zurzeit sind auch vier ArchitektInnen aus Deutschland da, die über informelle Architektur in Brasilien recherchieren. Alle reden englisch miteinander. Ich richte mich in meinem Zimmer ein, hänge das Papier mit meiner Auftragsliste an die Wand und versuche schon am ersten Tag, mein Kostüm bei Mocedade Independente zu bestellen. Vormittag
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Für Nívea: Maniküre im Stadtteil Botafogo. Ich muss lange warten,
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bis ich dran bin. Vor mir warten vier Frauen. Alle kommen aus dem Stadtteil Botagofo. Ich bewundere, mit welcher Sicherheit sie sich für bestimmte Farben entscheiden. Es reicht nicht, nur „Rot“ zu sagen, weil es mindestens zehn Möglichkeiten für rote Fingernägel gibt. Sie alle können sich ganz schnell für ein bestimmtes Rot entscheiden. Eine Frau trifft keine Auswahl, weil sie selbst einen Lack dabei hat. Sie erzählt, sie habe diesen Lack aus Amerika mitgebracht. Die Farbe glänzt intensiver und ist nachhaltiger. Sie ist eine sehr elegante Dame und besitzt bestimmt vieles aus Amerika. Als ich dran bin, lasse ich mir alle Farben und Muster zeigen. Ich frage dann die Angestellte, ob sie mir einen Lack empfehlen könne:
„Fingernägel mit Extra-Lack – französischer Stil (eine weiße Linie wird auf die Spitze der Nägel gezeichnet).“ Mir wird die französische Maniküre empfohlen, mit dem Argument, dass sie sehr natürlich aussieht. Es dauert ungefähr zwanzig Minuten. Ich nehme mir vor, an einem anderen Tag weitere Maniküren in Botafogo auszuprobieren. Wichtig wäre eine repräsentative Vielfalt und dabei auf soziale Unterschiede, Generationen und wenn möglich Genderunterschiede zu achten. Nachmittag
Auf dem Weg zurück zu meiner Unterkunft nehme ich mir vor, zu Fuß auf den Hügel des Stadtteiles Santa Teresa zu steigen. Früher fuhr eine Straßenbahn nach oben. Heute muss man den Bus oder eines der Moped-Taxis nehmen, die unten am Ausgang der U-BahnStation Gloria auf Kunden warten. Auf der Suche nach der Straße, die nach oben verläuft, komme ich an einer Kirche vorbei, die gerade saniert wird. Schon die vielen Inschriften an den Wänden machen deutlich, dass dies keine gewöhnliche Kirche ist. Auf dem Baustellen-Schild steht: Igreja Positivista do Brasil. Die Positivistische Kirche wurde im Jahr 1881 von AnhängerInnen des französischen Philosophen Auguste Comte gegründet. Comte, der Begründer der Soziologie, die Wissenschaft, die ich selbst in Spanien studiert habe, hatte in Brasilien viele AnhängerInnen, vor allem PhilosophInnen und PolitikerInnen, die Comte in
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ABB. 03 – ABB. 04
Frankreich kennengelernt und sich von seiner Idee hatten überzeugen lassen, den Positivismus in eine Religion der Menschheit umzuwandeln. Es war die Zeit der Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika. Als Brasilien seine Unabhängigkeit erklärte, waren die Comte-AnhängerInnen so mächtig, dass sie einen Satz von Comte in die brasilianische Fahne integrierten:
„Ordnung und Fortschritt“ „Ordem e progresso“ Auch die Grundfarbe der brasilianischen Fahne resultiert aus einer Idee von Comte, der in der grünen Farbe einen Ausdruck von Hoffnung auf eine harmonische Zukunft sah, im Unterschied zur Farbe Rot, der Revolution. Grün sollte die Farbe der Positivismus-Religion werden. Ich wusste nicht, dass noch eine Positivistische Kirche existiert, und bin überrascht, am ersten Tag meiner Reise eine solche in Rio gefunden zu haben. Hat das eine Bedeutung? Es ist eine seltsame Kirche. An vielen Stellen sind Begriffe oder Sätze zu lesen. Nichts über Gott oder den Sohn Gottes. Andere Götter sind hier die Protagonisten: Die Wissenschaften. Sie sind hierarchisch organisiert. Auf der zentralen Treppe werden sie geordnet: Auf der ersten Stufe steht die Mathematik, es folgen Astronomie, dann Physik und Chemie. Eine Stufe höher ist die Biologie, auf der vorletzten Stufe die Soziologie und ganz am Ende die Moral. Alle Begriffe sind großgeschrieben. Wenn man die sieben Stufen nach oben gestiegen ist, gelangt man zur Eingangstür, die wegen der Baustelle zurzeit geschlossen ist. Ganz oben auf der Tür steht geschrieben:
„Viver para outrem“ „Leben für andere“ Was hat das zu bedeuten? Vielleicht ist gemeint, dass derjenige, der zur Positivistischen Kirche gehört, nicht allein für sich lebt, sondern für die anderen und für ein höheres Ziel, begleitet von allen Wissenschaften, die zu diesem Ziel führen. Ich werde weiter über die Positivistische Kirche recherchieren, vor allem auch über die brasilianische Fahne (für Elis).
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Auf dem Eisentor der Kirche lese ich:
„Die Lebenden richten sich immer und unvermeidlich immer mehr nach den Toten.“ „Os vivos são sempre e cada vez mais governados necessariamente pelos mortos.“ Ich muss wieder an Elis denken. Sie glaubt, dass ihre Vorfahren in Träumen zu ihr sprechen, und erhofft sich von diesen Träumen Anweisungen für ihr zukünftiges Leben. Ob Träume auch eine Rolle in der positivistischen Religion gespielt haben? Abend
Zu Hause recherchiere ich im Internet: über französische Maniküre (für Nívea) und über die Positivistische Kirche (für Elis). Französische Maniküre: Die weiße Gestaltung der Nagelspitze scheint eine Mode im 18. Jahrhundert gewesen zu sein. Man wollte damit den dunklen Rand, der im Alltag unter den Nägeln entsteht, unsichtbar machen. Mit dieser Maniküre sieht man aus, als hätte man natürliche und perfekt gepflegte Fingernägel, ohne eine Spur von Arbeit. In den 1990ern wurde diese Mode wieder aufgegriffen. Positivistische Kirche: Auf der Website der Kirche gibt es folgende Erklärung: „Die Positivistische Kirche Brasiliens praktiziert die Religion der Menschheit, eine Lehre des französischen Philosophen Auguste Comte (1798–1857). Es ist eine agnostische Religion, nicht transzendent, sondern auf den Menschen basierend. Männer und Frauen, deren Talent und Denken die Menschheit geprägt haben, werden verehrt.“ Auch wird erwähnt, dass der Satz über die Macht der Toten über die Lebenden, der über dem Tor vor der Kirche platziert ist, von Comte stammt. So wie Elis glaubte Comte, dass die Toten uns Lebende begleiten und auch in eine bessere Zukunft führen können. Ob diese Begleitung durch unsere Träume geschieht? In dieser ersten Nacht meiner Brasilien-Expedition achte ich auf meine Träume, aber am nächsten Tag kann ich von dem Geträumten nichts Klares erinnern. Die Toten nehmen mich vielleicht nicht ernst.
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Freitag, 28. Februar Vormittag
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Für Nívea: Bikinifabrik in Ipanema aufsuchen. Ich finde drei Fabriken in den oberen Etagen der Straße Prudente de Morais. Ich probiere einige Bikinis an und kaufe zwei mit unterschiedlichen Schnitten für den eigenen Gebrauch. Es wird mir versichert, dass der Stoff der Bikinis eine ganz neue Entwicklung ist und sehr schnell trocknet. Ich frage nach der Produktion. Die Verkäuferin erzählt, die Chefin habe früher die Bikinis selbst entworfen, so wie Nívea damals. Heute hat sie viele Läden in Rio und bestellt verschiedene Modelle aus São Paulo. Sie hat keine Zeit mehr, selbst Bikinis zu entwerfen. Nachmittag
Für Carlos: Antonio, seinen ehemaligen Deutschlehrer, kennenlernen. Wir verabreden uns, spazieren durch den Glória-Park und unterhalten uns über Filme und Bertolt Brecht. Er erzählt mir, dass gerade in einem Kino sehr interessante brasilianische Filme laufen. Ich merke, er ist an Karneval nicht interessiert, so wie Carlos. Ich habe mit dem Karneval und den anderen Aufträgen so viel zu tun, dass ich das Kino weglassen muss. Wir verabreden uns aber für einen anderen Tag zum Spazierengehen. Ich will ihm die Positivistische Kirche zeigen, nicht weit von seiner Wohnung. Samstag, 1. März
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Für Nívea: Bücher in Antiquariaten besorgen. Ich kaufe vier Bücher über Geschichte und verbringe zwei Stunden mit alten Büchern in einer Bibliothek im Zentrum von Rio. Ich denke, diese Bibliothek würde Nívea sehr gut gefallen. Alle Bücher sehen wie Relikte vergangener Zeiten aus. In einem der Antiquariate finde ich auch ein Buch über tropische Früchte und ein anderes über Früchte in der Hausmedizin (für Clara). Die Bücher sind überall gut nach Themen sortiert. Interessant finde ich, dass es in allen Antiquariaten eine Abteilung für Neurolinguistisches Programmieren gibt. Elis würde hier verweilen, während Nívea in der Abteilung Geschichte zu finden wäre.
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Ich stelle mir vor, dass alle meine ProtagonistInnen zusammen in einem Antiquariat sind. Ivan in der Abteilung Musik: Er könnte auch alte Platten kaufen. Márcia würde sich bestimmt in der Abteilung Kunst bewegen und vielleicht ein Buch über den Künstler Bispo do Rosário kaufen. Carlos wäre mit dem Regal Rechtswissenschaft beschäftigt, aber vielleicht würde er sich doch lieber seinen emotionalen Büchern widmen und einige für seine FreundInnen kaufen. Clara könnte mit mir die Fruchtbücher bewundern. Alexander würde sicher im das Psychologie-Regal herumstöbern, da er gerade vorhat, eine Forschung über Depression in Brasilien durchzuführen. Helena würde eifrig Bücher für ihre SchülerInnen suchen. Und Martha würde bestimmt kein Buch kaufen. Sie will nicht so viel mit sich herumschleppen. Ob Vládmir ein Regal über das Meer finden würde? Carlos würde ihm empfehlen, nach dem Buch Galáxias von Haroldo de Campos zu suchen. Ein Buch über Meer, Bücher, Früchte und alles, was auf Reisen gehört, gerochen, gesehen und gelesen werden kann. In dem Buch von Haroldo de Campos findet man fast alles. Es würde also reichen, wenn alle dasselbe Buch kaufen. Dann wären alle meine ProtagonistInnen durch ein einziges Buch vereint. Sonntag, 2. März
Ich bin erkältet und fühle mich sehr schwach. Das einzige Kostüm, das in Mocidade Independente noch zu haben ist, wiegt 20 Kilo. Zu viel für mich in meinem fiebrigen Zustand. Ich entscheide mich deswegen, nur als Zuschauerin teilzunehmen, um mich zu schonen. Ich kaufe also nur Tickets für das Sambódromo und lasse das Kostüm hängen. Gegen die Erkältung nehme ich Schmerztabletten und Tropfen des Schutzharzes von Bienen – gotas de extrato de própolis, was mir im Haus von Denis empfohlen wurde. Als Kostüm trage ich nur eine Maske und ein leichtes Stirnband in Form eines Schmetterlings mit vielen kleinen gelben Federn. Diese sehen ganz anders aus als die zwei großen und langen Federn auf dem Hut des Prinzen zu Wied-Neuwied. Meine sind so klein, wellig und leicht, dass man sie kaum wahrnimmt. Als ich ankomme, ist das Sambódromo noch nicht voll. Ich kann die Anlage gut überblicken. Das Sambódromo wurde im Jahr 1984 von Oscar Niemeyer
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entworfen, in einer Zeit, als die Karnevalschulen in Rio so zahlreich geworden waren, dass die große Straße im Zentrum der Stadt, die Avenida Rio Branco, nicht mehr für die Menschenmenge ausreichte. Der Sambódromo ist eine breite Straße mit vielen Zuschauerrängen auf den Seiten. Für das Volk gemacht, wie das römische Kolosseum, nur nicht rund. Die Arena ist etwa 700 Meter lang und hat Plätze für 88 500 Zuschauer. Die Vorstellung dauert eine ganze Nacht. An einem Tag nehmen sechs Sambaschulen an dem Wettbewerb teil und zeigen alles, was sie das ganze Jahr für den Auftritt vorbereitet haben. Jede Schule hat 80 Minuten für ihren Auftritt. Es wird gesagt, dass die BrasilianerInnen im Sambódromo noch pünktlicher als die Deutschen sind. Die beste Schule bekommt einen Preis. Die Kriterien der Jury für die Bewertung sind vielfältig: Gestaltung, Performance, Musik, Lied, die Reaktion des Publikums … Pünktlichkeit wird auch bewertet. Deswegen fangen alle Schulen pünktlich an und enden auf die Sekunde genau zur vereinbarten Zeit. Während eines Auftritts kann das Publikum mitsingen und seine Begeisterung für die Schule artikulieren. Ich sitze auf der Seite, wo sich die Jury befindet, nur ganz oben. Dabei habe ich viel Wasser, die Bienen-Tropfen und alle Liedtexte zum Mitsingen. Die Erkältung und das Ibuprofen versetzen mich in einen sehr beschwingten Zustand. Die kleinen gelben Federn und das Schmetterlings-Stirnband betonen diese Leichtigkeit. Ich singe bei allen Sambaschulen mit. Durch die Wiederholung eines Lieds kommt man schon nach zwanzig Minuten in einen Trance-ähnlichen Zustand, als würde man nun automatisch mit dem Rhythmus der Musik und der Trommeln mitsummen. Achtzig Minuten pro Lied: Davon sind 20 Minuten zum Aufwärmen und der Rest läuft von allein. Nur in den Pausen ist es schwierig, sich mit dem Publikum nicht mehr als summende Masse zu verständigen. Dann wartet man auf den nächsten Auftritt. Ich muss in Elias Canettis Buch Masse und Macht nachlesen.2 An einer Stelle differenziert er zwischen einer offenen und einer geschlossenen Masse. Ein Gebäude wie das Sambódromo wäre typisch für eine geschlossene Masse, weil
2 Der Physiker und Schrifsteller Elias Canetti (1905-1994) schrieb in den 1920er Jahren eine philosophische und anthropologische Studie über das Phänomen der Masse, motiviert von einer Erfahrung, die er in Frankfurt am Main hatte, als er in einer Demonstration den “Massentrieb“ erlebte. Siehe: Elias Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960.
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die Menge der Menschen klar beschränkt ist. Im Innenbereich halten sich alle an den geregelten Zeitablauf: eine kontrollierte Masse. Wichtig ist der gemeinsame Rhythmus, den die Auftritte bestimmen. In dieser Zeit scheinen die Unterschiede zwischen den Menschen aufgehoben. Alle, unabhängig von Geschlecht, Generation oder sozialem Rang, nehmen am Rhythmus teil. Wir sind im Singen vereint. Die Verbindung im Gesang mit der singenden Masse erreiche ich am besten beim Auftritt von Acadêmicos do Grande Rio. João, der Taxifahrer vom Flughafen, würde sich freuen. Der Refrain des Lieds von Acadêmicos gefällt mir so gut, dass ich den Text wiederhole, als hätte ich ihn selbst gedichtet. „Ich gehe hierhin, ich gehe dorthin, / Ich gehe tanzend mit dir / Ein großer Fluss wird fließen … Der Chor wird essen! / Ich bin glücklich in Maricá, ich bin ganz Emotion. / Singt mein Volk, schlägt stark das Herz!“
„Vou daqui, vou pra lá, vou sambando com você / Grande Rio vai passar, o couro vai comer! / Eu sou feliz em Maricá, sou emoção / Canta meu povo, bate forte coração!“
Die Übersetzung ins Deutsche ist nicht so einfach. Aber das Lied auf Portugiesisch ist auch nicht unbedingt eindeutig. Es wird mir erklärt, dass es nicht so wichtig sei, den Text zu verstehen. Wichtiger ist es, einige Wörter, ihre Betonung und den Rhythmus stark zu fühlen. Und in der Tat, ohne den Text komplett zu verstehen, übt das Lied von Acadêmicos auf mich eine besondere Anziehungskraft aus. Es tut mir leid für Nívea: Ich stimme nicht für ihre Schule. Obwohl das Lied von Mocedade Independente auch eine prägende Stelle hat, die ich gut mitsingen kann: „Verrückt vor Leidenschaft, ich werde dich immer lieben / Licht der Gefühle in meinem Gesang / Unabhängig in der Identität / Mit großem Stolz bin ich Mocedade“
„Louco de paixão, sempre vou te amar Luz da emoção no meu cantar / Independente na identidade / Com muito orgulho, eu sou Mocedade“
Mocedade verlangt an dieser Stelle ganz klar, dass man sich mit der Sambaschule identifiziert. So wie es bei Nívea und ihrer Familie der Fall ist. Man muss „verrückt vor Leidenschaft“ sein und Mocedade immer lieben. Interessant ist, dass die Schule Independente heißt:
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unabhängig. Was auch im Lied verwendet wird: Independente na identidade (unabhängig in der Identität). Zuerst denke ich, dass hier hervorgehoben wird, dass man unabhängig bleibt, auch wenn man sich mit der Sambaschule stark identifiziert. Jetzt denke ich aber eher, dass der Text auf eine totale Identifikation verweist, die keine Unabhängigkeit zulässt. Die Schule Independente verlangt eine unausweichliche Identität. Mit dem Lied von Acadêmicos stimme ich inhaltlich viel besser überein. Ist es ein Zufall, dass die Schule Acadêmicos (Akademiker) heißt? Ich musste an das Konzept der freischwebenden Intelligenz denken, ein Konzept, das von einigen deutschen Intellektuellen und Akademikern anfangs des 20. Jahrhunderts benutzt wurde, um die Standortlosigkeit der Intelligenz zu betonen. Gesellschaftliche Unabhängigkeit und Neutralität wurde zur Voraussetzung der Wissenschaft gemacht. Weshalb heißt die Sambaschule eigentlich Acadêmicos? Das hat mir der Taxifahrer João nicht verraten. Das Sambalied von Acadêmicos handelt von der Sängerin Maysa, die am Ende ihres Lebens isoliert in einem Haus am Meer in der Stadt Maricá lebte, die auch bekannt ist, weil Charles Darwin am 8. April 1832 hier landete. Deswegen gibt es eine Passage in dem Lied, die Darwin gewidmet ist. Der reisende Darwin sieht in Maricá die Vielfalt der Natur mit neuen Augen:
„Im Naturforscher entwickelt sich ein neuer Blick. Die Helligkeit, die Nacht, der Blick auf die Fauna und Flora.“ „Do naturalista surge um novo olhar. A claridade, a noite, a visão da fauna e flora.“
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So wie Darwin kommt auch die Sängerin Maysa als Fremde zu diesem Ort und beobachtet die Schönheit der Natur. Im Lied wird vom Grün ihrer Augen gesungen, in denen sich das glitzernde Meer spiegelt. Das Lied handelt auch von der Isolation der Sängerin und wie sie einsam in Maricá für das gesamte Volk komponierte. In der Isolation für das gesamte Volk komponieren? So wie die AkademikerInnen, die in der Isolation glauben, für die Wissenschaft und die Menschheit zu schreiben? Dieses „gehe hierhin, gehen dorthin“ im Lied von Acadêmicos
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passt gut zu meiner Situation als Forschungsreisende: freischwebend in alle Richtungen meiner ProtagonistInnen tastend vorgehen. Mittwoch, 5. März
Nach drei Tagen Karneval: Meine Erkältung ist immer noch nicht weg. Ich hatte wenig Zeit zum Ausruhen. Ich nahm tagsüber auch an den blocos teil. Blocos sind kleine Sambagruppen, die durch die Stadt ziehen und zu einer offenen Masse werden können. Manchmal muss man sehr früh aufstehen, um an einem Bloco teilzunehmen. Zu einigen Blocos ging ich absichtlich, zu anderen wurde ich ungeplant hingezogen. An einem Abend war ich zum Essen verabredet. Beim Verlassen meiner Unterkunft hörte ich aber das Trommeln eines Bloco ganz in der Nähe und musste der Musik folgen. Ich fand den Bloco auf einem Platz, nicht weit entfernt von meiner Unterkunft. Es handelte sich um eine kleine Gruppe von ArgentinierInnen, die in Rio leben und entschieden hatten, gemeinsam einen Bloco zu gründen. Sie sangen auf Spanisch. Ich kannte viele Lieder und sang mit. Bald kam ich ins Gespräch und erzählte, dass auch ich eine Argentinierin bin, in Buenos Aires geboren. Ich blieb bis zum Ende bei dem Bloco und vergaß meine Verabredung. Als der Bloco zu Ende ging, tauschten wir unsere Adressen. Maria, eine Frau aus Buenos Aires, die seit fünf Jahren in Rio lebt, versprach, mir das Trommeln beizubringen (für Ivan). Wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Beobachtungen zu einigen Szenen in den Blocos: Im Bloco der ArgentinierInnen gab es einen großen gelben Luftballon, den die vielen Hände der mitlaufenden Menschen immer in der Luft hielten. Mir gefiel das Bild einer Gruppe, die ein Luftballon eint. Auch die Musikinstrumente der Band spielen eine wichtige Rolle, um die Gruppe zu binden, aber der gelbe Luftballon könnte ganz allein Gemeinschaft stiften. Solange der Luftballon in der Luft bleibt, bleiben alle zusammen; solange die Gruppe eins ist, schwebt der Luftballon. Eine ludische Form, eine Gemeinschaft zu stiften, ganz anders als das Leviathan-Bild in Hobbes‘ Buch uns zeigt (S.18). In einem anderen, viel größeren Bloco, der schon um sechs Uhr früh anfing, der berühmte Bloco von Santa Teresa, zerstreuten sich
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die versammelten Menschen auf dem Platz Largo dos Guimaraes. Der Bloco verließ den Platz und setzte sich durch die engen Straßen fort, sodass es manchmal sehr eng wurde. Die Band, ganz vorne, führte die Menschen mit der Musik an. Hinten konnte man aber die Musik kaum hören, dafür gab es mehr Platz, sich zu bewegen. In diesem Bereich konnte man sehen, dass sich die verkleideten Menschen je nach Kostüm eine eigene Performativität antrainiert hatten. Eine Gruppe von fünf jungen Männern, verkleidet als Indianer aus Amazonien, hatte einen Thron gebaut und spielten Diener. Ab und zu luden die Männer Passanten ein, sich auf den Thron zu setzen, und trugen sie dann eine Strecke weit. Eine andere Gruppe transportierte eine Art Kanu aus Plastik und inszenierte eine Fahrt durch einen wilden Fluss. Alle in dieser Gruppe spielten eine eingeübte Geschichte einer gefährlichen Fahrt. Sie versuchten immer wieder, Unbekannte zum Mitspielen zu animieren. Manchmal kreuzten sich die Gruppen und damit auch die Spiele. Ein Mann war alleine unterwegs, als Filmregisseur verkleidet. Er trug eine Kamera aus Pappe und eine Filmklappe. Er kreuzte zufällig den Weg der Kanu-Gruppe und eine Weile spielten sie zusammen, als drehe er einen Abenteuerfilm und die Männer mit dem Kanu seien die Schauspieler. Dann kam eine Frau, sehr bunt verkleidet und mit blonder Perücke. Sie näherte sich dem Regisseur, als sei sie Schauspielerin und hätte gerne eine Rolle in seinem Film. Sie umarmte ihn und sagte:
„Lass mich doch die Protagonistin deines Films werden.“ Das Spiel ging lange so. In diesem großen Bloco gab es viele Gruppen, die durch improvisierte Spiele die Außenstehenden in Relation zueinander brachten. Wichtig als Bindeglieder dieser Konfigurationen sind die Kostüme und die Requisiten: Ballon, Thron, Kanu, Filmklappe, Perücke … Kreativität und das Sich-Einlassen auf das angebotene Spiel sind die Voraussetzungen. Es gibt einige Aspekte in Michail Bachtins Karnevalisierungskonzept, die sich hier bestätigten3: In der Tat, wie Bachtin beobach3 Der Literatur- und Kunsttheoretiker Michail Bachtin (1895–1975) entwickelte sein „Konzept der Karnvalisierung“ in dem Buch Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1940). Siehe auch: Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969.
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tet, transformiert der Karneval alle TeilnehmerInnen zu AkteurInnen. Die Trennung zwischen SchauspielerInnen und ZuschauerInnen existiert in den Blocos nicht. Innerhalb der Spiele mit den Rollen konnte ich aber weniger einen Tabubruch mit Verhaltensmustern beobachten, so wie Bachtin analysiert, als eher ein Spiel mit bekannten Rollen und typischen Verhaltensmustern – ein Antrainieren von Möglichkeiten des Seins und des Zusammenkommens mit den anderen. Das Kostüm beschränkt aber die Möglichkeit des Ichs, sich unendlich in andere zu verwandeln. Deswegen werden normalerweise verschiedene Verkleidungen getragen. Wichtig fand ich das Verlangen, sich zu versammeln, das Bestreben, spielerisch und mit neuer Identität Gruppen zu bilden. Eine spielerische, offene Masse? Welche Rolle spiele ich beim Karneval von Rio? Die eines freischwebenden Schmetterlings? Leicht verkleidet und mit einem passenden Schmetterlingsband. Eine Forscherin, die sich ihren ProtagonistInnen annähert und mit ihnen in Dialog tritt? Ist es mein Ziel, mit ihnen in diesem Karneval spielerisch eine Gemeinschaft zu bilden? „Leben für den anderen“, wie Comte sagt? Donnerstag, 6. März
Vier Tage Karneval und gleichzeitig Trommelunterricht. Ich habe schon einige Rhythmen gelernt. Ich probiere auch, mit anderen mitzuspielen, und merke, dass ich mich nicht richtig gut dabei fühle. Mein Rhythmus scheint nie zu passen. Alle spielen so spontan, und ich muss mir Mühe geben, überhaupt im Takt zu bleiben. Ich muss es vielleicht mit einem anderen Instrument versuchen. Die Erkältung ist immer noch da. Ich höre die Stimme von Carlos:
„In der Karnevalszeit verlasse ich Rio.“ Ich muss bald zur Ilha Grande, um für Carlos wandern zu gehen. Bevor ich Rio verlasse, will ich aber einige Aufträge auf meiner Liste abarbeiten.
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Freitag, 7. März Vormittag:
Für Nívea und Clara nehme ich mir vor, in Ipanema nach Bikinis zu suchen, die Früchte abbilden. Meine Idee ist, die Aufgaben für Nívea und für Clara zu verbinden, als würde ich eine Art Parceria (Kooperation) zwischen beiden herstellen. In einer Bikinifabrik finde ich zwei Modelle. Im Internet recherchiere ich weiter über Bikinis mit Früchten. Abend:
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Für Elis: Simpatias (einfache Zauberei-Rezepte) ausprobieren. Ich erkundige mich über Simpatias und kaufe ein Buch in einem kleinen Laden im Zentrum der Stadt. Ich versuche, Simpatias in der Küche meiner Unterkunft zu machen, aber ich werde immer von den Gästen des Hauses unterbrochen. Ich muss alleine sein – vielleicht in São Paulo. Ich buche im Internet eine Wohnung mit Küche im Zentrum von São Paulo, in dem Hochhaus Copan, gebaut von Oscar Niemeyer (für Clara). Die einzige Simpatia, die ich in der Küche von Denis’ Haus mache, ist ganz pragmatisch gegen Erkältung: „Um Bronchitis zu heilen: Nimm am Freitag ein Glas. Gieße Milch bis zum Rand und serviere es der kranken Person, damit sie nüchtern das Glas zur Hälfte trinken kann. Fülle das Glas wieder auf und lege dann ein frisches weißes Tuch darüber und grabe alles ein. Wenn die Milch trocknet, trocknet auch die Bronchitis der Person und sie wird geheilt.“ In dem Buch entdeckte ich auch die Simpatia, die wahrscheinlich Elis in ihrer Jugendzeit bereitete, als sie verliebt war: „Um den geliebten Menschen zu erobern: An einem Freitag um Mitternacht geh zum Strand in weißen Kleidern und trage drei weiße Rosen. Geh in das Wasser und wenn das Meer an deine Knie schlägt, zähle drei Wellen und werfe die Rosen nacheinander und sag dabei: ‚Ich biete der Göttin des Meeres Rosen an und bitte (sag den Namen der Person), mich zu lieben.‘ Wiederhole dies dreimal. Nachdem die Blumen geworfen und die Bitten gestellt sind, schrei dreimal den Namen des geliebten Menschen und kehre zum Strand zurück.“
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Ich musste wieder an Comte denken, der auch verliebt war, in eine Frau, die seine Liebe nicht erwiderte: Clotilde de Vaux (1815 – 1846). Sie war Schriftstellerin und Dichterin und traf Comte im Oktober 1844, an einem Abend als sie ihren Bruder besuchte. Comte schrieb ihr unzählige Briefe, aber konnte ihre Liebe nicht gewinnen. Hätte Comte Elis kennengelernt, wäre er vielleicht auf die Idee gekommen, eine Simpatia zu machen. Ich mag es sehr zu überlegen, was aus der Soziologie geworden wäre, wenn die Wege der SoziologInnen sich anders gekreuzt hätten, als es uns die Geschichte erzählt. Clotilde starb sehr jung, im Jahr 1846, mit 29 Jahren. Sie hatte Comte zwei Jahre vorher kennengelernt. Und vielleicht weil sie verheiratet und sehr religiös war, konnte sie Comtes Liebe nicht erwidern. Als sie starb, war Comte so sehr von ihr geprägt und fasziniert, dass er sein wissenschaftliches System überdenken musste. So kam er auf die Idee, den Positivismus und seine Soziologie in eine Religion zu verwandeln.4 Als hätte er erkannt, dass die Wissenschaft allein, ohne religiöses Gerüst, keine Wirkung auf die Menschen hat. Ähnlich wie Antonio Gramsci für den Kommunismus suchte Comte für den Positivismus in den Ritualen und der symbolischen Sprache des Katholizismus den geeigneten Rahmen, um eine Religion der Menschheit zu gründen.5 Clotilde de Vaux sollte die Hauptfigur dieser Religion werden. Er ließ ein Porträt von ihr anfertigen, wie eine Heilige oder die Mutter Gottes. An der Giebelspitze der Positivistischen Kirche in Rio steht das Porträt von Clotilde mit einem Kind auf dem Arm. Der Satz „Leben für den anderen“ bezieht sich vielleicht auf diese liebende Mutter, die auch in den Madonnenbildern zu finden ist. Samstag, 8. März
Für Carlos: Ich treffe mich noch einmal mit Antonio. Wir gehen spazieren und sprechen viel über den Musiker Caetano Veloso, da ich 4 In seinem Werk Système de politique positive (1851–1854) entwickelte Comte seine Idee von einer Religion der Menschheit. In Catéchisme positiviste (1851) sind die Sakramente für die Kirche der Menschheit verfasst. 5 Der Politiker und Philosoph Antonio Gramsci (1891-1937) schrieb wärend seiner Zeit im Gefägnis 32 Hefte, in denen er unter anderen über die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft und über die Macht der Katholischen Kirche über ihre Gläubigen reflektierte. Die Frage, die er sich stellte, ist, mit welchen Mitteln eine Gruppe einen „historischen Block“ bildet. Ob ein Karnaval-Bloco mit der Idee vom „historischen Block“ in Zusammenhang gebracht werden kann?
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gerade sein Buch Verdade Tropical lese (für Alexander).6 Antonio mag Caetano nicht. Er ist der Meinung, dass er ein Narzisst ist und eigentlich immer nur über sich schreibt. Ich gebe Antonio schon recht, aber verteidige auch den Narzissmus von Caetano. Mit Caetanos Buch kann man eine Seite des Tropicalismus verstehen. Und es ist bestimmt keine unwichtige Seite, da er einer der Gründer der Bewegung ist. Interessant finde ich, dass der Tropicalismus, der als Kulturbewegung die Vielfalt und Vermischung aller Kulturen verteidigt, sich in einer narzisstischen Persönlichkeit konzentrieren kann. Ich muss das Buch von Caetano weiterlesen und die marxistische Kritik am Tropicalismus genauer studieren. Die zentrale Kritik des Marxismus ist, dass die Tropicalisten, in ihrem Feiern der Unterschiede, zu unpolitisch und vor allem zu unkritisch gegenüber dem Feind Kapitalismus waren, indem sie alles, was aus den USA und aus der Kulturindustrie kam, in ihrer Bewegung mitintegrierten. Parallel zu Caetanos Buch lese ich auch das Buch des marxistischen Theoretikers Roberto Schwarz Martinha versus Lucrécia, wo er sich mit dem Tropicalismus auseinandersetzt.7 Das Thema Narzissmus ist bestimmt auch wichtig, um den Marxismus zu verstehen. Wie viel Narzissmus gibt es in allen diesen Bewegungen? Die Frage nach dem Narzissmus ist mit der Frage nach dem Protagonismus bestimmter Personen, die diese Bewegungen verkörpern, verknüpft – aber viel komplexer als man denkt. Was wäre Marxismus ohne Marx und Tropicalismus ohne Caetano? Wer von den beiden war narzisstischer? Die Frage nach dem Narzissmus spielt auch in der Wissenschaft eine Rolle (siehe Piere Bourdieus Kritik an einer narzisstischen Reflexion der Forschenden). Am Ende unseres Spaziergangs und unserer Diskussion über den Tropicalismus gehen wir an der Positivistischen Kirche vorbei. Ich erzähle Antonio, dass Comte wahrscheinlich auch narzisstisch war, obwohl er alles, was er tat, angeblich für die anderen machte, wie es in dem Spruch an der Wand heißt. Ich habe in einem Buch über Comte gelesen, dass er nicht nur die Porträts von Clotilde de Vaux, 6 Caetano Veloso, Verdade tropical, São Paulo 1997. 7 Roberto Schwarz, Martinha versus Lucrécia: ensaios e entrevistas, São Paulo 2012.
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sondern auch von sich selbst anfertigen ließ, um für seine Religion zu werben.8 Ob diese Porträts in der Kirche stehen? Beim Abschied von Antonio verspreche ich, mich bei ihm zu melden, wenn ich wieder zurück in Rio bin. Für Carlos: ❒ Ich kaufe in einem Laden im Zentrum der Stadt viele Figuren von Heiligen und zwei Karten. Ich suche auch nach Figuren von Comte in einer Abteilung neben den Heiligen unter kleinen Büsten wichtiger Persönlichkeiten. Aber keine der Figuren ähnelt Comte und der Angestellte kennt sich nicht aus. ❒ Ich melde mich bei Gerard von der Pousada Manaca und reserviere ein Zimmer: Morgen fahre ich zur Ilha Grande. Von der Liste gestrichen habe ich: Während des Karnevals bei der Samba Schule Mocedade Independente teilnehmen (für Nívea). Notiz: wegen Krankheit nur als Zuschauerin teilgenommen. Bikinifabrik in Ipanema aufsuchen (für Nívea) – zusätzlich habe ich Bikinis mit Fruchtmustern gesucht (Parceria zwischen Nívea und Clara). Maniküre in Botafogo (für Nívea). Außerdem habe ich mehrere Maniküren ausprobiert und mir die Unterschiede notiert. Ich werde an den anderen Reiseorten mit den Beobachtungen bei anderen Maniküren fortfahren. Festgehalten habe ich: Je billiger die Maniküre ist, desto länger dauert die Sitzung. Vermutlich weil die Angestellten wenig Erfahrung haben und weil die Produkte nicht gut sind und nicht so schnell trocknen. Nicht nur die Behandlungszeit dauert länger, sondern auch die Fahrzeit der Angestellten zur Arbeit. Zum Beispiel: Die Angestellten zwei billiger Maniküre-Läden brauchen, um zur Arbeit zu kommen, fast zwei Stunden, die Angestellten der teureren Maniküre-Läden hingegen nur zehn bis zwanzig Minuten, weil sie im selben Stadtteil leben. Ich besuchte auch ein Ausbildungszentrum für Maniküre und stellte fest, dass viele Schülerinnen aus den Nachbarländern 8
Siehe Wolf Lepenies, Auguste Comte: Die Macht der Zeichen, München 2010.
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kommen. Eine Frau aus Kolumbien erzählt mir, die Ausbildung in Brasilien sei sehr gut und anerkannt. Sie verbringt in Rio für die Ausbildung drei Monate. Ihre Familie wartet so lange auf sie. Wie ich hat sie zwei Kinder, im gleichen Alter wie meine. Sie befindet sich jetzt in der Mitte ihrer Ausbildungszeit und beherrscht das Metier noch nicht so gut. Für meine Hände braucht sie mehr als eine Stunde und da zwei meiner Finger bluten, muss die Lehrerin an manchen Stellen helfen. VertreterInnen des Tropicalismus und des Marxismus finden und ihre Bücher kaufen (für Alexander). Gekauft habe ich schon das Buch von Caetano Veloso Verdade Tropical (1997/2008) und zwei Bücher von Roberto Schwarz: Martinha versus Lucrecia (2012) und A lata de lixo da história: chanchada política (2009/2014). Mit seinem Deutschlehrer Antonio spazieren gehen (für Carlos) Notiz: Ich werde Antonio auf meiner Rückreise ein zweites Mal besuchen. Man kann sich stundenlang mit ihm unterhalten. Ich muss das Buch von Caetano Veloso zu Ende lesen und ihm von meiner Meinung darüber berichten. Ich werde dann auch mit den marxistischen Lektüren weitergekommen sein. Ilha Grande Sonntag, 9. März
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Fahrt mit einem kleinen Schiff zur Ilha Grande. Während der Reise (für Vládmir): Ich genieße den Geruch des Meers und auch die Farbe. Ich nehme mir vor herauszufinden, ob der Geruch stärker oder schwächer ist, wenn die Farbe des Meers sich ändert. Ich merke dabei, dass ich nicht sehr geruchsempfindlich bin, aber doch farbempfindlich. Wenn Vládmir hier wäre, könnte er mit mir eine Parceria (Kooperation) machen: Er trägt das Riechen bei und ich das Farbensehen. Auf der Ilha Grande angekommen gehe ich direkt zur Pousada Manaca. Gerard gibt mir ein Zimmer, das sonst seine Kinder, die schon erwachsene Männer sind, benutzen, wenn sie ihn besuchen. Ich richte mich ein und hänge meine Auftragsliste auf. An den Wänden gibt es nicht viel Platz, da dort schon viele kleine gerahmte
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Grafiken hängen. Gerard erzählt mir, dass er brasilianische Kunst sammelt und dass die Grafiken in meinem Zimmer zu einer berühmten literarischen Gattung in Brasilien gehören: Literatura de cordel (Fadenliteratur oder Literatur an der Leine). Es handelt sich um kleine Hefte mit kurzen Gedichten und Illustrationen, die mit der Technik des Holzschnitts hergestellt werden. Sie werden zum Verkauf an einen dünnen Faden gehängt, wie Wäsche zum Trocknen, deswegen der Name Fadenliteratur. Gerard mag die Illustrationen sehr und hat schon eine große Sammlung. Die Gedichte sammelt er nicht. Ich frage mich, ob es in der Literatura de cordel auch Haikais gibt. Dann könnte ich für Helena Haikais sammeln. Ich nehme mir vor, Haikais de cordel zu finden und wenn nicht, selbst welche zu verfassen. Dann hätte ich einen weiteren Punkt von meiner Liste abgearbeitet (für Helena). Die Literatura de cordel fasziniert mich. Sie funktioniert wie ein Gesamtkunstwerk. Sie besteht nicht nur aus Text und Zeichnungen, sondern die Strophen werden oft auch gesungen, begleitet von einer Gitarre, um die PassantInnen auf der Straße zum Kaufen zu animieren. Ich könnte das Musizieren und die Haikais vereinen: eine Parceria zwischen Ivan und Helena. Ivan könnte ein Haikai-Lied komponieren. (Ich muss nicht unbedingt ein Instrument spielen, um den Ivan-Auftrag zu erfüllen: Ich könnte singen.) Nachdem ich mich in meinem Zimmer eingerichtet habe, gehe ich wieder zum Strand, um weiter meinen Geruchsinn zu trainieren (für Vládmir). Ich merke, dass mich die Bilder ablenken, und versuche deswegen, mit geschlossenen Augen das Meer zu riechen. Obwohl der Wind kaum zu spüren ist, tragen schon die kleinen Brisen aus dem Meer und vom Strand den Geruch herauf. Ich versuche mich am Strand aufmerksam in verschiedene Richtungen zu bewegen, um festzustellen, an welchen Orten es mehr Geruch gibt, und merke dabei, dass es wieder wichtig wird, auf die Farbe des Meers zu achten. Dort wo es dunkler ist und der Boden lebendiger, mit Pflanzen und Algen belebt, wird der Geruch intensiver. Nachts:
Im Internet erfahre ich, dass die Literatura de cordel aus dem Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts kommt. Am Anfang wurde sie nur
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mündlich weitergegeben. Bänkelsänger trugen sie von Ort zu Ort. Viele der Sänger waren blind, weshalb diese Gattung auch coplas de ciego (Gedicht des Blinden) genannt wurde.9 Es gibt ein schönes Bild eines blinden Musikers: El ciego músico, gemalt von Ramón Bayeu y Subías im Jahr 1786. Man hat den Eindruck, dass der Musiker mit geschlossenen Augen seine Außenwelt viel intensiver wahrnimmt. Diese Art gesungene Literatur ist wahrscheinlich viel offener für andere Wahrnehmungskünste, für Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. Am zweiten Tag auf der Ilha Grande: Erstes Frühstück bei Gerard. Er erzählt mir, dass der Saft, den es in seiner Pousada zum Frühstück gibt, mit zehn unterschiedlichen Früchten gemacht wird. Er will mir aber das Rezept nicht verraten. Es sei ein Geheimrezept. Ich nehme mir vor, das Rezept zu entschlüsseln und, wenn ich in Frankfurt bin, Vládmir zum Frühstück einzuladen. Zu dem Frühstück gehört auch ein guter Obstsalat. Hier lassen sich die Früchte gut erkennen und meine visuelle Wahrnehmung ist auf jeden Fall besser trainiert als mein Geschmackssinn. Der Obstsalat besteht aus Sternfrucht, Banane, Apfel, Orange, Kiwi, Trauben und Mango. Wieder kann auf meiner Liste eine Aufgabe gestrichen werden: mit tropischen Früchten frühstücken (für Vládmir). Ich trinke den Saft sehr langsam und notiere alle Früchte, die ich schmecken kann. Vier Früchte in dem Saft lassen sich erkennen: Orange, Maracuja, Zitrone und Grapefruit. Mir fehlen noch sechs weitere Früchte. Gerard bleibt hart und will mir nichts verraten, nicht einmal kleine Hinweise geben. Ich habe noch zehn Tage, um die anderen Früchte zu identifizieren. Die folgenden Tage auf der Ilha Grande sind so organisiert: Vormittags:
Frühstück mit Früchten (für Vládmir), sich mit Gerad unterhalten (für Carlos) und versuchen, das Rezept des Fruchtsafts zu enträtseln (für Clara). Nach dem Frühstück: das Meer riechen, mit offenen und geschlossenen Augen (für Vládmir).
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Julio Caro Baroja, Ensayo sobre la literatura de cordel, Madrid 1995.
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Nachmittags:
Im Wald spazieren (für Carlos): Es gibt verschiedene Wanderwege. Jeden Tag nehme ich einen anderen Weg. Manchmal sind die Wege länger und ich muss den ganzen Tag für die Wanderung einplanen, dann fällt das Meer-Riechen aus. Ich wandere alleine. Da aber Carlos auf der Ilha Grande immer mit Freunden war und sich viel mit ihnen unterhielt, versuche ich, auf dem Weg Leute kennenzulernen, mit denen ich mich unterhalten kann. Interessant ist, dass ich wieder viele ArgentinierInnen treffe. Ob ich in Brasilien meine argentinische Identität wiederentdecke? Warum gibt es hier so viele? Es hat womöglich damit zu tun, dass viele im Nachbarland Brasilien Urlaub machen. Aber in der Tat finde ich es interessant, dass ich mich trotz meines starken spanischen Akzents mit den ArgentinierInnen sehr gut verstehe und auch anfange, eine Art argentinischen Akzent zu entwickeln. Ich muss daran denken, dass man in Argentinien zwischen zwei Heimaten trennt: die patria chica und die patria grande (die kleine Heimat und die große Heimat). Die kleine Heimat ist Argentinien, die große Heimat Lateinamerika. Klein und groß kann räumlich verstanden werden: Argentinien ist kleiner als Lateinamerika. Man könnte diese Adjektive aber auch emotional verstehen: Ist die emotionale Verbundenheit zu Lateinamerika größer als die zu Argentinien? Meine argentinischen Wander-Bekanntschaften auf der Ilha Grande: Am ersten Tag lerne ich Marcelo kennen. Er kommt aus Santa Teresa, nicht weit entfernt von Buenos Aires. Einmal im Jahr reist er mit einem kleinen Segelschiff zur Ilha Grande. Er ist ca. 60 Jahre alt und redet viel. Er erzählt mir seine Lebensgeschichte: zweimal getrennt, fünf Kinder und zwei Enkelkinder. Er will mich am Abend auf einen Drink einladen, aber ich erkläre ihm, dass ich nur zum Wandern hier bin. An einem anderen Tag lerne ich wieder eine Argentinierin kennen, die mit ihrem 15 Jahre alten Sohn und seinem Schulfreund eine Reise durch Brasilien macht: Cecilia. Sie kommt aus Buenos Aires und hat sich von ihrem Mann getrennt. Wir machen gemeinsam zwei Waldspaziergänge, und sie erzählt mir, wie sie ihre Reise sorg-
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fältig organisiert hat. Auf der Ilha Grande bleibt sie drei Nächte. Wir treffen uns auch abends zum Essen. Auf dem zweiten Spaziergang treffen wir zwei junge Argentinier aus der Provinz von Buenos Aires. Sie trinken Mate. An diesem Tag gibt es viele ArgentinierInnen auf der Insel. Das merkt man daran, dass man überall Menschen sieht, die Mate trinken. Wir erfahren, dass alle von einem Kreuzfahrtschiff kommen, das für einen Tag vor der Insel angelegt hat. Die beiden Männer kommen auch von dem Schiff. Sie begleiten uns durch den Wald und das Gute dabei ist, dass wir zusammen Mate trinken. Ich hatte vergessen, wie schön es ist, in der Gruppe Mate zu trinken. Der immer wieder rundgereichte Kürbis mit dem Getränk hilft, eine lebendige Konversation am Laufen zu halten. Der Mate begleitet das Gespräch mit einer selbstverständlichen Leichtigkeit und gibt der Gruppe das Gefühl, dass wir uns seit Langem kennen. Carlos hatte mir erzählt, dass er in Frankfurt auch Mate trinkt. Ihm wurde das Getränk von seinem Arzt empfohlen, wegen seiner Magenprobleme – und seitdem trinkt er immer Mate. Wenn ich wieder in Frankfurt bin, muss ich Carlos von meinen Mate-Bekanntschaften auf der Ilha Grande erzählen. Ihm habe ich diese Bekanntschaften schließlich zu verdanken. Am Abend verabschieden wir uns von den zwei Männern, die zu ihrem Kreuzfahrtschiff zurückkehren müssen. Wir tauschen Adressen aus. Abendessen mit Cecilia, der Argentinierin. Danach gehen wir zu einem Forró-Fest, auf dem ich jemanden treffen werde, der mir Tamburin (pandero) beibringen soll (für Ivan). In Rio hatte der Trommelunterricht nicht richtig geklappt. Auf dem Forró-Fest lerne ich andere ArgentinierInnen kennen, zwei Männer und eine Frau. Sie kommen auch aus Buenos Aires und leben seit einer Woche auf der Ilha Grande. Sie haben eine Flasche cachaça in der Hand und sind ziemlich betrunken. Die junge Frau hat extrem blond gefärbtes Haar und sieht aus wie Evita Perón, nur ein bisschen fülliger. Alle auf dem Fest wollen mit ihr tanzen. Der Forró-Tanz kommt aus Nordosten Brasiliens. Ursprünglich während Migrationsbewegungen entstanden, verbreitete er sich in verschiedenen Varianten im ganzen Land. Er wird mit osteuropäischen Tänzen in Zusammenhang gebracht, mit Polka und gleichzei-
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tig mit Sinti- und Roma-Musik. Ähnlich wie der Tango besteht der Forró-Tanz aus der Verbindung zwischen zwei Personen, die sich in einer Art Balance bewegen. Beim Forró bleiben die Füße sehr nah am Boden, und die Schritte werden schleifend über den Boden geführt. Da die Forró-Feste zumeist auf dem Land stattfinden, erzeugen die am Boden schleifenden Füße eine Staubwolke, die die Paare zu einer tanzenden Gruppe vereint. Eine interessante Form durch Musik, Tanz und eine Staubwolke eine Gemeinschaft zu stiften. Es wird auch erzählt, dass das Wort Forró aus dem englischen for all kommt. Eine englische Firma baute die Great-Western-Eisenbahn in den USA. Damit die ArbeiterInnen sich abends unterhalten konnten, organisierte die Firma Tanzveranstaltungen „für alle“. Da die ArbeiterInnen alle MigrantInnen waren und nicht gut englisch konnten, nannten sie diese Veranstaltung Forró und meinten „for all“. Auf der Ilha Grande tanzen Einheimische mit TouristInnen zusammen und die Staubwolke vereint alle für einen Moment. Ich habe nicht mitgetanzt, da ich mich erst einmal nur auf das Musizieren konzentriere – und außerdem hat mich niemand zum Tanzen aufgefordert. Ich verlasse das Forró-Fest und verabschiede mich von den ArgentinierInnen. Am Eingang der Pension treffe ich Gerard. Wir trinken noch ein Bier und unterhalten uns lange über seine Kunstsammlung. Er erzählt mir, dass er viele Objekte aus dem Amazonas-Raum besitzt. Ich berichte ihm von der Sammlung im Museum der Weltkulturen in Frankfurt. Viele der Exponate, die er mir zeigt, sehen genau so aus wie die, die ich in Frankfurt gesehen habe. Das Rezept für den Fruchtsaft will er mir immer noch nicht verraten. Sonntag, 16. März
Morgen verlasse ich die Ilha Grande: Das Rezept des Fruchtsafts habe ich nicht enträtseln können. Der Pandero-Unterricht hat nicht gut funktioniert. Von der Liste gestrichen habe ich: Den Karneval verlassen und einen Ausflug auf die Insel Ilha Grande unternehmen. Sich auf der Insel mit Gerard von der
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Pousada Manaca unterhalten und Ausflüge in den Wald machen (für Carlos). Das Meer genießen – nur das pure Meer und intensiv alles riechen (für Vládmir). Notiz: Ich muss weiter üben. Auf jeden Fall war das Experiment Meerriechen und Meeresfarbenänderungssehen sehr erfolgreich. Ich habe mich dabei von dem Gesang über das Meer von Haroldo de Campos in seinem Buch Galaxien inspirieren lassen. Dabei wurde mir deutlich, dass Sehen, Riechen und Schmecken zusammen erfasst werden können: in einem ständigen Fluss. Ein Frühstück mit tropischen Früchten organisieren (für Vládmir). Notiz: Ich muss weiter daran arbeiten, weil ich das Rezept für den Fruchtsaft immer noch nicht ausfindig machen konnte. Ich kenne den Geschmack mancher Früchte noch nicht. Ich nehme mir vor, meinen Geschmackssinn weiter zu trainieren und, soweit es möglich ist, während der Reise hauptsächlich Obst zu frühstücken (für Vládmir). SÃO PAULO Montag, 17. März
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Ich reise mit dem Bus nach São Paulo und treffe Marcelo, meinen neuen Vermieter. Wir treffen uns in einem Café im großen Wohnkomplex Edifício Copan, wo ich ab heute leben werde (für Clara). Es ist das größte Wohngebäude der Welt, entworfen von Oscar Niemeyer und fertig gebaut im Jahr 1966. Das Gebäude ist 140 Meter hoch, hat 32 Stockwerke, über 1160 Wohnungen und ca. 5000 BewohnerInnen. Marcelos Wohnung ist sehr klein, reicht aber für mich komplett aus. Das Beste ist die Aussicht auf die Stadt, aus der 26. Etage, wo die Wohnung sich befindet. Ich hänge meine Auftragsliste an die Wand und an diesem ersten Tag mache ich gar nichts mehr. Nur die Aussicht genießen – und ab und zu gehe ich nach unten, wenn ich Hunger habe, um im Café etwas zu essen. Ich fühle mich wie in einer großen Jugendherberge. Eigentlich braucht man das Gebäude nicht zu verlassen. Hier hat man alles. Copan ist eine kleine vertikale Stadt im Zentrum einer großen Metropole. In der Nacht schaue ich den Film Oscar Niemeyer – A vida é um sopro an (für Clara).
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Notizen zum Film: Fabiano Maciel (Regisseur), 2007. Der Film besteht hauptsächlich aus Interviews mit Oscar Niemeyer und auch mit Niemeyers Freunden, unter anderen Chico Buarque. Niemeyer erzählt von seiner Arbeit: Das Entwerfen von Architektur wirkt wie ein Spiel. Seine architektonischen Ideen sind immer mit wenigen kleinen Strichen entstanden. Nachdem er skizziert hat, muss er über den Entwurf etwas schreiben, und wenn die geschriebene Erklärung nicht funktioniert, muss er wieder zeichnen. Als gäbe ein Wechselspiel und eine gegenseitige Bereicherung zwischen Zeichnen und Schreiben. Auch Musik spielt eine wichtige Rolle in Niemeyers Architektur. Er spricht von seinen Bauten als „architektonische Symphonien“. Chico Buarque, der Musiker und Freund von Niemeyer, betont in dem Film diese Verbindung zwischen Musik und Architektur, wenn er sagt:
„Wenn meine Musik gut klingt, dann klingt das nach Tom Jobims Musik. Toms Musik in meinem Kopf ist Oscars Haus.“ „Quando minha música sai boa, penso que parece música do Tom Jobim. Música do Tom, na minha cabeça, é casa do Oscar.“ Niemeyer raucht während des Interviews. Der Rauch macht kleine Zeichnungen in die Luft. „Das Leben ist ein Hauch“ – dieser Satz, mit dem Clara sich identifiziert, wird von Niemeyer dreimal wiederholt. Auch am Ende des Films sagt er:
„Das Leben ist ein Hauch. […] Ich glaube alles wird verschwinden.“ „A vida é um sopro, um minuto. […] Eu acho que tudo vai desaparecer.“ Er ist der Meinung, dass auch seine Architektur nicht für immer existieren wird. Ich muss an ein Vanitas-Stillleben denken, das aus seinen Gebäuden besteht. So eine Vanitas wurde von einer Samba-
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schule gebaut: Eine kurze Filmaufnahme zeigt einen Karnevalswagen mit einem großen Niemeyer-Kopf und einer Auswahl seiner berühmten Gebäude. Alle Karnevalswagen werden am Ende des Umzugs entsorgt. So behält Niemeyer recht: Alles verschwindet. Eine weitere Aussage im Film finde ich sehr bemerkenswert:
„Ich gestehe, dass ich ein bisschen müde bin, über Architektur zu reden. […] Wichtiger als Architektur ist es, protestieren zu können und auf die Straße zu gehen, das ist wichtig. […] Du musst über Politik nachdenken.“ „Eu confesso a você que eu tô um pouco cansado de falar de arquitetura. […] Mais importante do que a arquitetura é estar pronto pra protestar e ir à rua […] Você tem que pensar en la politica.“ Als glaube er, dass doch nicht alles, was man im Leben macht, ins Nichts verschwinden muss. Dienstag, 18. März
Am frühen Morgen mache ich mir eine Liste von Aufgaben: ❒ An den Bürgerbewegungen und Demonstrationen der Stadt teilnehmen (für Alexander). ❒ Tropische Früchte kaufen (für Vládmirs Frühstück und für Claras Getränke-Etiketten). ❒ Stoffe, die mit Früchten bedruckt sind, suchen (für Clara), auch Forró-Stoffe (für Zadiquiel). Material für den Entwurf von Frucht-Etiketten kaufen (für Clara). ❒ Simpatia-Rezepte in der Copan-Küche ausprobieren (für Elis). Ich kann meine Zeit nicht gut organisieren. Die Stadt erzeugt eine Art Chaos in meinem Gehirn, auch wenn ich mich in dem Copan-Gebäude sehr geschützt fühle. Wenn ich draußen auf der Straße bin, ist alles anders. Ich verstehe jetzt viel besser, wie Siegfried Kracauer die Straßen von Berlin erlebte. Ich lasse mich von Vielem ablenken, aber meine Auftragsliste muss abgearbeitet werden.
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Am ersten Tag bewege ich mich nur im Zentrum der Stadt. Tropische Früchte kann ich in einem Laden gleich neben dem Edifício Copan kaufen. Material, um Frucht-Etiketten zu entwerfen, finde ich auch nicht so weit weg vom Copan in einer faszinierenden Shopping-Mall. Sie heißt Galeria do Rock und hat mehr als 450 Läden. Auf der Website der Galerie steht: „Willkommen auf der offiziellen Website der Rock-Galerie. Der traditionellste Tempel für Rock ’n’ Roll und für die alternative Kultur von São Paulo. Musik, Tattoo, Skate, alternative Mode, Graffiti und mehr an einem Ort. Deine Art, anders zu sein.“ Der Slogan „Deine Art, anders zu sein“ klingt viel versprechend. Ich verbringe in diesem Shopping Center mehr Zeit und mehr Tage als ich sollte. Ich muss an Walter Benjamin und sein Passagen-Werk denken. So wie Kracauer ließ er sich auch von den Einkaufsstraßen Europas zu einer ausufernden Feldforschung verleiten. Sein Forschungsgegenstand waren die Passagen, die ersten Kaufhäuser der Moderne. Die Galeria do Rock ist im Prinzip wie eine Passage konzipiert: aus vielen kleinen Ladengeschäften, die sich in einem Häuserblock zwischen parallel verlaufenden Straßenzügen konzentrieren. Die Galerie hat viele Etagen und ist ein Paradies für alle Subkulturen und urbanen Triebe der Stadt, und auch für BastlerInnen. In der obersten Etage befinden sich die Siebdruckläden. Die Menschen suchen sie auf, um sich Motive auf Stoffe drucken zu lassen. Man kann Motive vor Ort kaufen oder eigene mitbringen. Ich finde keine Fruchtmotive, aber Heilige – und kaufe ein paar (für Carlos). Früchte muss ich irgendwo anders finden. Auch die Tattoo-Läden bieten keine tropischen Fruchtmotive an. In einem Tattoo-Laden finde ich etwas für Helena: fünf Saci-Pereré. Die Verkäuferin sagt, dass diese Figuren sehr beliebt sind, während Früchte als Motiv selten vorkommen. Sie zeigt mir nur die Zeichnung einer Ananas. Ich kaufe auch einige kleine brasilianische Musikinstrumente (für Helena). In allen Musikläden frage ich außerdem nach Musik mit Architekturmotiven (für Ivan). Es wird mir immer „The Wall“ von Pink Floyd angeboten. Ich frage auch nach brasilianischer Musik und nur in einem Laden zeigt man mir eine CD von Chico Buarque: Cidades, Städte. Auf dem CD-Cover ist das Gesicht von Buarque 5 mal abgebildet. Man erkennt ihn kaum, weil er jedes Mal anders geschminkt
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und verkleidet ist: als Weißer und blond, als Schwarzer, als Chinese, als Muslim mit Turban und, auf der Rückseite, als Indianer. Man erkennt ihn nur an seinen blauen Augen und seiner runden Nase. Man könnte sagen: Seine Art anders und vieles gleichzeitig zu sein. Die Galerie wird zu meinem Atelier. Am Hintereingang gibt es einen kleinen Laden mit Fruchtsäften, wo ich täglich frühstücken kann (für Vládmir). Ich bleibe den ganzen Tag in dem Laden und entwerfe Fruchtmotive für die Getränke-Flaschen von Clara. Manchmal lasse ich mich von den Kunden des Shopping Centers ablenken. Sie erzählen mir, wohin sie gehen, was sie kaufen oder woran sie gerade arbeiten. Sind sie mir sympathisch, fotografiere ich sie. Ich frage auch alle, ob sie Motive mit tropischen Früchten auf ihrer Kleidung oder in ihren Tattoos haben, finde aber keine. Mit dem Besitzer des Saft-Ladens habe ich mich schon angefreundet. Er erzählt mir, wo ich ein großes Sortiment an Früchten finden kann: in den Supermärkten des japanischen Viertels. Für einige Tage verlasse ich die Galeria do Rock. Im Stadtteil Liberdade, japanisches Viertel: Ich finde in der Tat viele Läden mit tropischen Früchten, ein sehr großes Fruchtsortiment aus allen Teilen der Welt. Brasilianische und asiatische Früchte mischen sich in den Regalen. Unter den StraßenhändlerInnen lerne ich eine Frau kennen, die selbstgestickte Tücher verkauft. Ich unterhalte mich mit ihr über mein Problem, keine Motive mit tropischen bzw. brasilianischen Früchten zu finden. Und in der Tat: Sie hat zwar viele Motive mit Früchten und Gemüse, aber keine tropischen, sondern vor allem europäische: Trauben, Äpfel, Birnen … Fast alle Früchte-Textilien werden in Europa produziert, deswegen seien kaum brasilianische Früchte abgebildet. Sie gibt mir die Adresse des Ladens, der ihr alle Stoffe liefert. Ich verspreche, falls ich etwas finde, ihr Stoffe mit brasilianischen Früchten vorbei zu bringen, damit sie ihr Sortiment erweitern kann. Im Zentrum: In der Straße, die sie mir empfohlen hat, gibt es viele Stoffläden. Ich besuche alle und finde einige mit Fruchtmotiven, wenn auch keine tropischen. Dafür entdecke ich viele Forró-Motive: Blumen, Autos, Teddybären und karierte Muster. Zu Hause kann ich schon „Forró-Stoffe sammeln“ (für Zadiquiel) von der Liste streichen. Immerhin.
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Freitag, 21. März
Die Früchte haben mich im Griff. Ich trainiere meinen Geschmackssinn, indem ich alles, was ich im japanischen Viertel gekauft habe, langsam esse. Vorher fotografiere ich alles, um das Material vielleicht für die Etiketten für Clara benutzen zu können. Mit meinen eigenen Entwürfen bin ich nicht zufrieden. Ich beauftrage meine Mutter, mir nach den Fotos einige Aquarelle zu malen. Sie ist eine Aquarell-Meisterin. Mein Ziel ist, Motive mit tropischen Früchten zu entwickeln, diese in der Galeria do Rock auf Stoffe drucken zu lassen und mit den Stoffen zum japanischen Viertel zu gehen, um sie der Straßenhändlerin geben zu können. Damit kann sie ihr Sortiment an Stoffen erweitern und wir hätten eine Art Parceria. Mir ist klar, dass ich mir eigentlich vorgenommen hatte, eine Parceria im Musikbereich zu realisieren – für Ivan. Aber das Musizieren hat bis jetzt nicht gut geklappt. Während meine Mutter in Madrid Aquarelle malt, versuche ich es mit einem anderen Auftrag: „An den Demonstrationen oder Bürgerbewegungen der Stadt teilnehmen“ (für Alexander, und auch für Oscar Niemeyer).
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Montag, 24. März
Es gibt in der Stadt gerade viele Bürgerbewegungen. Gleich neben dem Copan versucht eine Nachbarschaftsinitiative, einen privatisierten Park wieder für alle zu öffnen. Die Bewegung heißt: Parque Publico – Parque Augusta. Ich erfahre, dass eine der AktivistInnen im Copan-Gebäude wohnt. Wir verabreden uns am Copan-Eingang und gehen im Stadtteil spazieren. Wir besuchen den Park und sie erzählt mir von ihrem Leben. Sie ist ebenfalls Künstlerin und hat in Deutschland studiert. Wie Alexander ist sie der Meinung, dass sie sehr alemanizada (eingedeutscht) zurückgekehrt ist. Sie vermisst das Leben in Deutschland und überlegt, wieder dorthin zu gehen. Ihr Mann, der aus Deutschland stammt, fühlt sich aber sehr gut in São Paulo. Er arbeitet für eine deutsche Firma und kann dank Internet alles von hier aus erledigen: Home-Office. Claudia ist gerade wegen der Bewegung Parque Augusta sehr aktiv in ihrem Stadtteil. Sie wohnt in Flügel E und ich in Flügel C des
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Copan-Gebäudes. Am Abend stellt sie mir einige der AktivistInnen vor und ich werde zu den Versammlungen eingeladen. Ich merke, ich bin immer noch irgendwie wegen der Früchte abgelenkt. Mir fehlt die Konzentration – und vielleicht auch die Leidenschaft –, mich für Parque Augusta zu engagieren. Der Park ist umschlossen von einer Mauer und ein Polizist, passt auf, dass niemand hineingeht. Man kann den Park nur durch den Zaun und das Tor sehen. Die Parque-Augusta-Bewegung überlegt sich seit ihrer Gründung Strategien, um den Park öffentlich zu machen. Sie haben schon oft demonstriert. An einem Abend diskutieren sie sehr leidenschaftlich die Erfahrungen aus den Demonstrationen. Viele haben sich schlecht gefühlt als es zu Momenten der Gewalt kam. Besonders Menschen mit Familie fanden diese Eskalation nicht gut. Als Mutter von zwei Kindern kann ich dies gut verstehen. Es wird sehr spät (21 Uhr). Man vertagt sich, um weitere Formate des Protests zu planen. Mittwoch, 26. März
Die Gruppe Parque Augusta trifft sich heute wieder, um die aktuelle Situation zu besprechen. Gemeinsam versuchen wir, Klarheit über die Ziele zu gewinnen. Nicht alle sind derselben Meinung. Einige Ziele werden genannt und zur Diskussion gestellt. Ich protokolliere das Gespräch. Ziele: – Der Park soll zu 100 % wieder öffentlich werden. – Wichtig ist zu kontrollieren, dass der Stadtteil sich nicht stark verändert: Gefahr der Gentrifizierung. – Die Trennung zwischen öffentlichen und privaten Räumen analysieren und wenn möglich verändern. Strategien, diese Ziele zu erreichen: – Direkte Strategie: Die Tore des Parks öffnen. – Die Öffentlichkeit für die Ziele der Initiative gewinnen. Menschen, die soziale und politische Macht und Einfluss haben und helfen könnten, kontaktieren. – Eine konkrete Strategie anstelle von Demonstrationen wäre:
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performative Aktionen realisieren. Idee: eine Art Streit zwischen einem Polizisten und einem Demonstranten als öffentliches Schauspiel inszenieren. Diese Inszenierungen sollen sich wiederholen. Jemand benennt aber ein Problem: Es ist verboten, sich als Polizist zu verkleiden. – Eine Person plädiert dafür, weiter Demonstrationen zu organisieren und dabei Strategien zu entwickeln, um Gewalteskalation zu vermeiden. – Andere Stimmen plädieren für weitere performative und spielerische Strategien. Idee: ein Ballspiel wie die Petanca (jogo de bola) neben dem Park organisieren. Ziel: in der Nähe des Parks spielen und die Bälle scheinbar aus Versehen nach innen werfen, sodass man gezwungen ist, in den Park hineinzugehen. Diese Aktion kann man alleine oder in einer Gruppe realisieren. Die Versammlung endet mit einer Diskussion über ludisches Handeln. Das Positive der ludischen Strategien wird besprochen (sie verwenden auch das Wort ‚karnevalesk‘, carnavalesco). Wichtig sei, diese Aktionen nicht nur im Spaß enden zu lassen: Man soll die politische bzw. soziale Funktion der Aktion nicht aus den Augen verlieren. Zu Hause schreibe ich folgenden Kommentar in mein Reisebuch: Die Versammlungen sind sehr interessant, aber wie immer bei solchen demokratischen Gruppen dauert es sehr lange, bis Entscheidungen getroffen werden. Ich merke, dass ich nicht mehr an diese Prozesse gewöhnt bin. Ich werde gleich nervös und denke, jemand müsse Führung und Organisation übernehmen. Hier haben alle das Wort und jede Perspektive wird besprochen. Die aus der Idee resultierende Ballspielaktion fand ich sehr lehrreich. Eine Gruppe hat sie bereits ausprobiert. Die Gruppe war mit Karnevalskostümen verkleidet. Sie hatten insgesamt 25 Bälle dabei und taten so, als würden sie die 25 Bälle versehentlich in den Park werfen. Einige nutzten die Gelegenheit, um schnell hinter den Bällen her in den Park zu gelangen. Die Polizei war vor Ort, zum Glück passierte nichts. Sie erlaubte den Leuten, den Park zu betreten, um die Bälle zu holen. Ein ganz kurzer Moment, der als eine Art Sieg wahrgenommen wurde. Alle hatten das Gefühl, den Park besetzt zu haben. Sie sprachen auch von Invasion. Alle gingen nach
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Hause mit starkem Gruppengefühl. Seitdem gebe es viel mehr Energie in der Gruppe, sagen sie. Welche Funktion könnten diese Invasionen haben? Eigentlich war man nur ein paar Minuten im Park, um die Bälle zu holen. Ich habe den Eindruck, diese Aktionen bringen nur etwas für das Gruppengefühl, aber damit erreicht man nicht, dass der Park öffentlich wird. Ich werde die Bewegung weiterverfolgen. Donnerstag, 27. März
An diesem Tag wache ich sehr früh auf und laufe alleine zum Park. Ich will (für Zadiquiel und für Alexander) über die Mauer klettern. Ich traue mich aber nicht und kehre nach Hause zurück mit dem Gefühl, gescheitert zu sein – obwohl ich weiß, dass niemand von meiner Aktion etwas gehabt hätte. Freitag, 28. März
Ich bleibe heute zu Hause und recherchiere im Internet über die Städte von Chico Buarque (für Ivan).10 Ivan hatte mir erzählt, dass Buarque, so wie er, Architektur studiert hatte und noch als Musiker Zeichnungen imaginärer Städte anfertigte. Auf dem Cover der CD Cidade (Städte) sieht man Buarque verkleidet, als könnte er sich in verschiedene Bewohner einer Stadt verwandeln. In den Interviews sagt er, dass die Städte in seinen Liedern alle fiktiv sind. Auch in dem Lied über Rio geht es nicht um Rio. Von seinen urbanistischen Entwürfen sagt Buarque, diese seien viel komplexer als Architekturzeichnungen. Er hat nicht nur die Räume, sondern auch die Institutionen und ihre BewohnerInnen konzipiert. Die ganze Dynamik der Stadt hat er aufs Papier gebracht: „Es war nicht Urbanismus. Es hatte eher mit Fantasie, mit Geschichte und Realität zu tun.“11 Chico komponierte den Rhythmus einer Stadt, zeichnete Wege und Kreuzungen – eine Mischung aus vergangenen Geschichten und zukünftigen. Ich muss versuchen, seine Zeichnungen zu finden. Interessant finde ich, dass seine imaginären 10 Siehe u. a. Sidney Garambone – 11/11/98: http://www.chicobuarque.com.br/critica/crit_cidade_ overdes.htm. 11 In: Regina Zappa, Chico Buarque Para Todos, Rio de Janeiro 2016, S. 20.
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Städte keine utopischen Orte sind, an denen Harmonie herrscht, sondern Orte, an denen die Menschen in Konflikten leben. Als Kind zeichnete er auch Kriege. Dienstag, 1. April
Ich besuche das Museum für moderne Kunst und suche nach tropischen Früchten in den Kunstwerken des Museums. Ich denke, wenn ich in den Stoffläden nichts finden kann, vielleicht in den Künsten. Die Suche ist erfolgreich. Ich finde folgende Bilder: – Anita Malfatti: Tropical, c. 1916, Öl auf Leinwand. – Agostinho da Motta: Natureza-morta com flores, 1873, Öl auf Leinwand. – Agostinho da Motta: Fruta do conde, drittes Viertel des 19. Jahrhunderts, Öl auf Leinwand. – Pedro Alexandrino: Bananas e metal, c. 1900, Öl auf Leinwand. – Dario Villares Barbosa: Morro das Penha, Santos, 1944, Öl auf Leinwand. – Pedro Alexandrino: Cozinha na roça, 1894, Öl auf Leinwand.
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Es gibt auch ein Bild mit einem Apfel, Adam und Eva im Garten Eden: – Henrique Bernardelli: O Tempo, 1925, Öl auf Leinwand. Eine Kuratorin des Museums, die ich wegen eines anderen Projekts interviewt habe, erzählt mir, dass es sehr wichtige Bilder von tropischen Früchten gibt. Sie sind von Maria Sibylla Merian gezeichnet worden und befinden sich in einem Reisebuch. Ich hatte dieses Buch schon im Museum der Weltkulturen in Frankfurt in meinen Händen. Zu Hause im Internet finde ich die Bilder von Merian und nehme mir vor, mit diesen an den Etiketten für Clara weiter zu arbeiten. Mittwoch, 2. April
Meine Mutter ist mit den Aquarellen fertig und schickt mir Fotos per E-Mail. Ich produziere mit den Motiven zwanzig Siebdrucke und beeile mich, die Straßenhändlerin zu erreichen. Sie ist aber leider an diesem Tag nicht da. Da ich am nächsten Tag São Paulo verlas-
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sen muss, lasse ich die Stoffe bei einer Bekannten von ihr – mit der Anweisung, die Händlerin könnte damit ihr Sortiment erweitern. Abend:
Ich verabschiede mich von Claudia. Wir machen einen letzten Spaziergang und umkreisen den Parque Augusta zweimal. Ich erzähle ihr von der Strategie der Madres de Plaza de Mayo (Mütter des MaiPlatzes) in Buenos Aires, die seit der Militärdiktatur nach ihren ermordeten Söhnen und Töchtern suchen. Sie tragen alle ein weißes Tuch auf dem Kopf. Manche treffen sich noch heute auf der berühmten Plaza de Mayo. Sie umkreisen ohne Pause den Platz. PassantInnen laufen oft solidarisch einige Runden mit. Vielleicht wäre das eine gute Strategie für den Parque Augusta: Anstelle einer Demonstration würde die Gruppe ein kontinuierliches Kreisen um den Park veranstalten. Ein Kreis, der erst enden soll, wenn das Tor geöffnet wird. Bevor ich das Copan verlasse, streiche ich von der Liste: An den Demonstrationen oder Bürgerbewegungen der Stadt teilnehmen (für Carlos). Tropische Früchte sammeln, Früchtemotive finden (für Clara). Kindermärchenfiguren sammeln und Musikinstrumente kaufen (für Helena). Nach Architektur in brasilianischen Liedern suchen (für Ivan). Den Film Oscar Niemeyer – A vida é um sopro sehen und wenn möglich in einem seiner Wohnhäuser leben (für Clara). Etiketten für Clara entwerfen. Ich war mit meinen Entwürfen nicht zufrieden. Ich nehme mir vor, später in meinem Atelier in Frankfurt mit den Bildern von Sybilla Merian zu arbeiten. EMBU DAS ARTES
Für Martha: Während meines Aufenthalts in São Paulo verbringe ich einen Samstag in der Stadt Embu das Artes. Am Wochenende ist die Stadt voll, weil alle KünstlerInnen und HandwerkerInnen aus der Region in die Stadt kommen, um ihre Produkte zu verkaufen. Die Stadt verwandelt sich dank der vielen kleinen Läden und Stände in einen Ort des Flanierens. Viele BesucherInnen kommen aus São
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Paulo und verbringen den ganzen Tag in der Stadt. Wahrscheinlich so wie Martha den Tag mit ihrem Vater verbrachte. Überall kann man essen und trinken. Ich selbst suche erst einmal nur nach Carrancas. Sie sind in allen möglichen Formaten in vielen Läden zu finden. Ich kaufe ein paar Carrancas und Souvenirs mit brasilianischen Fahnen (für Elis). Zwischen den Ständen lerne ich eine Indianerfamilie vom Rio Xingu im brasilianischen Mato Grosso kennen. Sie leben schon seit zwei Jahren in der Nähe von Embu das Artes und verkaufen Objekte, die sie von ihrem Geburtsort mitgebracht haben. Vieles produzieren sie auch selbst. Ähnliche Objekte habe ich im Museum der Weltkulturen in Frankfurt gesehen. Ich kaufe kleine Pfeile und Bögen mit richtigen Federn zum Spielen für meine Kinder. Die Verkäufer haben auch zwei Kinder und ich muss an die Zeichnung von der Botokuden-Familie aus dem Buch des Prinzen Wied-Neuwied denken. Wenn meine Kinder hier wären, würden sie vielleicht mit deren Kindern spielen. Aber so tauschen wir nur ein Paar Sätze aus und ich ziehe mit meinen Geschenken weiter. An einem anderen Stand treffe ich eine blonde Frau, die Früchte aus Wachs verkauft. Sie erzählt mir, dass sie eine kleine Werkstatt in der Nähe von Embu das Artes hat und dieses Wachshandwerk in Italien erlernt hat. Ich kaufe zwei Früchte (für Clara). Bevor ich den Bus nach São Paulo nehme, mache ich gegen 19 Uhr eine Kaffee-Pause. Im Café treffe ich ein junges Paar. Sie sind aus São Paulo und produzieren Kleider. Ich erzähle von meiner Suche nach Stoffen mit Motiven tropischer Früchte. Er verspricht mir, Bescheid zu geben, falls er solche Stoffe sieht. Beide fahren oft nach Europa, um Stoffe für ihre Kollektionen zu kaufen und neue Kollektionen und Schnitte anzusehen. Die Straßenhändlerin hatte schon recht: Fast alle Stoffmotive kommen aus Europa. Wir unterhalten uns über die Modebranche und tauschen Adressen aus. Bevor sie das Café verlassen, fragen sie mich, ob sie mich mit dem Auto zurück nach São Paulo bringen sollen. Ich kann mir das Fahren mit dem Bus sparen, wodurch ich ca. zwei Stunden gewinne. Sie setzen mich genau vor dem Eingang des Copan-Gebäudes ab. Im Auto erzählen sie mir, dass alle mit dem Auto nach Embu das Artes fahren. Mit „alle“ meinen sie
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bestimmt die Mittelschicht. Wenn ich zurück in Frankfurt bin, muss ich Martha fragen, wie ihr Vater und sie immer dorthin gelangt sind. RECIFE
Nach meinem Aufenthalt in São Paulo nehme ich einen Flug direkt nach Recife. Ich verbringe nur einen Tag in der Stadt und fahre direkt zur Comunidade von Zadiquiel. Ich suche die Mauer, welche der Comunidade von der Universität trennt. Mehrere Kinder helfen mir, den Weg dorthin zu finden. Keines kennt Zadiquiel, aber so wie er als Kind klettern auch sie über die Mauer zum Universitätsgelände. Mit Mühe klettere auch ich auf die andere Seite (für Zadiquel). Danach verlasse ich den Campus durch das Tor. Der Wächter nimmt meine Anwesenheit nicht wahr. Ist das die Funktion der freischwebenden Intelligenz? Unbeobachtet Mauern zu überklettern? Die Ironie ist aber, dass ich mit dem Flugzeug und mit dem Taxi an diesen Ort komme und bald wieder verschwinde. RIO DE JANEIRO
Zurück in Rio. Ich ordne mein Material und bereite alles für meine Rückreise vor. Die Dinge müssen sorgfältig verpackt werden. Die letzten Tage in Rio de Janeiro verbringe ich mit einer Recherche über Uniformen für Putz- und Bedienpersonal (für Martha). In Rio erhält man solche Uniformen in vielen Läden. Freitag, 4. April (der Tag vor meiner Abreise)
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Ich stehe früh am Morgen auf und gehe zu einem Uniformladen in Ipanema. Ich habe vor, ein Kleid für mich zu kaufen. Eine der Künstlerinnen, die mit mir bei Denise im Haus leben, begleitet mich, um meine Aktion zu filmen. Ich probiere viele Kleider an. Es gibt verschiedene Arten, je nach Tätigkeit im Haushalt. Ich kaufe ein einfaches hellblaues Baumwollkleid und behalte es gleich an, um meinen letzten Tag in Brasilien darin zu verbringen.
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Neben dem Laden gibt es eine berühmte Buchhandlung mit vielen Etagen. Zuerst frage ich nach Musik mit Architektur und bekomme leider nicht einmal die CD von Chico Buarque. Ich finde aber zwei weitere Bücher von VertreterInnen des Tropicalismus und des Marxismus. In der Buchhandlung werde ich nicht komisch angeschaut. Auch nicht in der Cafeteria der Buchhandlung, in der ich einen Kaffee trinke. Danach besuche eine Kunstausstellung. Die Galeristin grüßt mich nicht einmal. Sie kommt aus ihrem Büro, bemerkt mich und meine Begleiterin, die sich beeilt zu sagen, dass wir nur die Ausstellung sehen wollen. Die Galeristin sagt: „Ja, geht in Ordnung“, und verschwindet gleich wieder in ihrem Büro. Es ist eine Ausstellung großformatiger Bleistiftzeichnungen organischer Gegenstände. Ich glaube, es handelt sich um Essensreste: ein Stück Brot, eine Bananenschale … Wir gehen kurz am Strand spazieren und Menschen zeigen mit dem Finger auf mich:
„Was macht diese empregada hier?!“ Ich will am selben Tag zum Wochenendhaus von Oscar Niemeyer im Stadtteil Barra da Tijuca fahren: zur Casa das Canoas – nicht um in dem Haus zu übernachten, sondern nur um Zeit dort zu verbringen. Seit Niemeyers Tod ist es geschlossen, weil der Nachlass noch nicht geregelt ist. Ich weiß aber, dass man in den äußeren Bereich gelangen kann, weil Denise uns erzählt hat, das Tor sei offen. Wir gehen hinein, durchqueren das Gelände, rauchen einige Zigaretten und unterhalten uns. Ich hatte gelesen, dass Chico Buarque als kleines Kind hier viele Wochenenden verbrachte und dass er dieses Haus liebte. Als ich durch die Gartenanlage laufe, treffe ich unten, wo der Garten schon in Wald übergeht, eine Frau, die mich fragt, was ich hier mache. Dies sei ein Privatgrundstück. Ich erzähle ihr, dass ich mir nur das Haus von Niemeyer anschauen wolle. Ich merke, dass sie wegen meines Kleids irritiert ist. Sie erzählt, sie sei die Bedienstete in Niemeyers Haus, müsse jetzt aber mit dem Bus zum Arzt. Sie trägt ein Kleid mit Blumenmuster. Unsere Wege kreuzen sich nur kurz. Sie geht zum Bus und bittet mich nur, das Tor richtig zu schließen, wenn wir das Anwesen verlassen. Sie lebt in einer kleinen
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Hütte unten am Berg, neben dem Wochenendhaus. Niemeyer hat das Haus für das Personal offenbar nicht mitentworfen. Meine BegleiterInnen und ich bleiben noch eine Weile und wir unterhalten uns über Niemeyer und den Kommunismus. Ich musste an die Haushälterin von Karl Marx denken, mit der er ein Kind hatte. Ob Marx’ Haushälterin auch eine Uniform trug? Sie hieß Helena Demuth, geboren 1820 in St. Wendel, Saarland. In seinem Herrenhaus und Sklavenhütte (Casa-Grande e Senzala) analysiert der Soziologe Gilberto Freyre das Leben in einem großen brasilianischen Landhaus. Seine These lautet, dass sich die sozialen Kreise in Brasilien durch Partnerschaften, Liebesbeziehungen und das Kinderbetreuen durchkreuzen. Obwohl die Hierarchien und sozialen Unterschiede beibehalten werden, findet für Freyre in diesem räumlichen Rahmen eine soziale Dynamisierung statt, die Brasilien charakterisiert. Die körperliche Liebe spielt eine wichtige Rolle bei der Vermischung, aber diese Liebe ist nicht in der Lage, die sozialen Unterschiede aufzuheben. Ich denke daran, dass die körperliche Liebe auch im Haushalt von Karl Marx eine Rolle spielte, und notiere in mein Reisebuch: „In der Literatur nach Forschungen über Marx’ Wohnräume und Wohnalltag recherchieren“. Beim Verlassen des Geländes schließen wir das Tor, wie ich es der Frau, deren Namen ich leider nicht kenne, versprochen habe. Nachmittag:
Wir fahren zurück nach Ipanema. Am Strand ziehe ich das Kleid aus und gehe baden. Hier werde ich wieder von den Menschen am Strand ausgelacht. Als Empregada geht man normalerweise nicht ans Meer, auch nicht zum Baden. Wir bleiben bis Sonnenuntergang. Der Strand wird langsam menschenleer. Es wird kalt. Ich ziehe mein Kleid wieder an. Wir unterhalten uns über ein Buch, das ich vor Kurzem gelesen habe. Es ist die Geschichte eines deutschen Journalisten, Marc Fischer, der fünf Wochen in Rio verbringt, um den Musiker João Gilberto zu finden.12 In dem Buch erfährt man, dass der Musiker schwer depressiv ist und versteckt vor der Öffentlichkeit in einer Wohnung in 12 Marc Fischer, Hobalala: Auf der Suche nach João Gilberto, Berlin 2011.
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Ipanema lebt. Der Journalist ist von Gilbertos Leben fasziniert und fährt nach Rio, um ihn zu treffen – dazu kommt es aber nie. Man hat den Eindruck, dass der Journalist eigentlich sich selbst sucht: in Brasilien einen anderen suchen, um sich selbst zu finden. Das ist die eigentliche Geschichte. Ich muss wieder an das Zitat von Comte denken: VIVER PARA OUTREM, „Leben für den anderen“. Auch der Schriftsteller und Ethnologe Hubert Fichte suchte sich während seiner Brasilienreise selbst, oder die viele Möglichkeiten, sein Selbst zu gestalten. In einem Interview sagte er:
„Das Fremde kann auch die eigene Person sein. Die Fremde, die ich an mir selbst erkenne und die Angst erzeugt, ist eine andere Fremde als die, die ich draußen erfahre.“13 In seinem Buch Xango über die afro-brasilianische Religion ist diese explosive Suche dokumentiert.14 Es wird dunkel. Bevor ich zurück in meine Unterkunft fahre, gehe ich kurz bei Antonio vorbei. Ich will mich verabschieden und ihm ein Buch von mir schenken. Er sieht mich mit dem Empregada-Kleid, lacht und sagt, ich sei verrückt. Ich versuche, ihm alles zu erklären, muss aber dabei selbst lachen. Ich sage, dass Forschungsreisende sich oft verkleiden, um so an der Gesellschaft teilzunehmen, die sie erforschen. Ich zeige ihm das Foto von Aby Warburg mit einer Maske in Mexiko (siehe S. 119). Wir verabschieden uns. Zu Hause ziehe ich das Kleid aus. Wahrscheinlich werde ich es nie wieder anziehen. Samstag, 5. April
Ein Taxi holt mich ab und bringt mich zum Flughafen. Leider ist der Fahrer nicht João. Auf der Fahrt zum Flughafen sehe ich einen Karnevalswagen, mitten auf der Straße stehen gelassen: Der Schmuck ist schon beträchtlich ramponiert, aber einige Federn glänzen noch 13 Hubert Fichte im Gespräch mit Peter Laemmle: https://www.br.de/themen/kultur/hubert-fichte-autor-ethnologe-reisender-102.html. 14 Hubert Fichte, Xango. Die afroamerikanischen Religionen; Bahia, Haiti, Trinidad, Frankfurt 1976.
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in den Farben der brasilianischen Fahne: Gelb und Grün. Ich muss an den Wagen mit Niemeyers Architektur denken und an eine Vanitas, die langsam welkt. Von der Liste gestrichen: Für Martha: Über Bekleidungen (Uniformen) von Putz- und Bedienpersonal recherchieren. Auf der Liste bleibt noch: ❒ Für Márcia: Ich muss nach Finnland fahren, wo sie sich bald ansiedeln möchte, und wo sie hofft, dass sie finden kann, was sie verloren hat. FINNLAND
3 Tage Helsinki: Einige Monate nach meiner Rückkehr nach Frankfurt buche ich einen Flug nach Helsinki. Alles was ich in meiner Brasilienreise gesammelt habe, ist noch eingepackt. Ich weiß, dass die Reise noch nicht vollendet ist. Nach dem das Flugzeug gelandet ist gehe ich zum selben Ort, an dem Márcia das Foto, das über ihrem Bett hängt, gemacht hat. Es ist ein ruhiger Ort, an dem man das Meer genießen kann. Ich bleibe eine Weile, auch mit geschlossenen Augen und genieße das Riechen des Meers … Ich denke, vielleicht hat Marcia recht: Die Götter im Exil verbreiten sich über die ganze Welt – wie das Wasser des Meers. Die Brasilien-Forschungsreise scheint sich in eine unendliche Reise zu verwandeln. Am Abend fahre ich in die Stadt. Diesmal erledige ich für mich diese Aufträge: finnischen Tango erleben. mit der argentinischen Comunidade in Helsinki Mate trinken.
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ABB. 01: Eine Reise endet oft da, wo sie begonnen hat. Als könnten wir gleich wieder anfangen, unendlich oft neu anfangen. Für Nívea: Chinelas (Flip-Flops) in meiner Handtasche. Das Lied von Mocedade Independente kann ich noch nicht auswendig.
ABB. 02: Maniküre in Botafogo. Französische Maniküre: Die weiße Gestaltung der Nagelspitze scheint im 18. Jahrhundert Mode gewesen zu sein. Man wollte damit den dunklen Rand, der im Alltag unter den Nägeln entsteht, unsichtbar machen.
ABB. 03: Die Religion der Menschheit. Das Tympanon der Positivistischen Kirche zeigt ein Bild von Clotilde de Vaux mit einem Kind auf den Armen. Hätte Auguste Comte Elis gekannt, hätte er vielleicht eine Simpatia gemacht, um seine Liebe zu erobern. Wie Elis glaubte er, dass die Toten uns regieren.
ABB. 04: Viver para outrem (Leben für andere)? Ist die Figur der Mutter, die für das Kind lebt, gemeint? Aber vielleicht ist gemeint: Wer zur Positivistischen Kirche gehört, lebt nicht für sich allein, sondern für ein höheres Ziel, begleitet von allen Wissenschaften, die zu diesem Ziel führen.
ABB. 05: Bikinifabrik im Ipanema aufsuchen. Ich probiere einige Bikinis an und kaufe zwei mit unterschiedlichen Schnitten. Es wird mir versichert, dass der Stoff der Bikinis eine ganz neue Entwicklung ist und sehr schnell trocknet.
ABB. 06: Bücher in Antiquariaten besorgen. Die Bücher sind überall gut nach Themen und Disziplinen sortiert. Wie wäre es, wenn alle meine ProtagonistInnen zusammen in einem Antiquariat wären? Bücherregale über Früchte, Träume, Legenden, Musik, Geschichte, Soziologie, Literatur, ... Meerbücher.
ABB. 07: Das Sambodromo wurde im Jahr 1984 von Oscar Niemeyer entworfen, in einer Zeit, als die Karnevalschulen in Rio so zahlreich geworden waren, dass die große Straße im Zentrum der Stadt, die Avenida Rio Branco, nicht mehr für die Menschenmenge ausreichte.
ABB. 08: Gegen die Erkältung nehme ich Schmerztabletten und Tropfen des Schutzharzes von Bienen – gotas de extrato de própolis, Kostüm: eine Maske und ein leichtes Stirnband in Form eines Schmetterlings mit vielen kleinen gelben Federn.
ABB. 09: Durch die Wiederholung eines Lieds kommt man schon nach zwanzig Minuten in einen Trance-ähnlichen Zustand, als würde man nun automatisch mit dem Rhythmus der Musik und der Trommeln mitsummen.
ABB. 10 : Aus dem Lied von Acadêmicos do Grande Rio: „Ich gehe hierhin, ich gehe dorthin, / Ich gehe tanzend mit dir / Ein großer Fluss wird fließen … Der Chor wird essen! / Ich bin glücklich in Maricá, ich bin ganz Emotion. / Singt mein Volk, schlägt stark das Herz!“
„Vou daqui, vou pra lá / vou sambando com você / Grande Rio vai passar / O couro vai comer! / Eu sou feliz em Maricá, sou emoção / Canta meu povo, bate forte coração!“
ABB. 12 – 13: Das Sambalied von Acadêmicos handelt von der Sängerin Maysa, die am Ende ihres Lebens isoliert in einem Haus am Meer in der Stadt Maricá lebte: „Ao som do piano, poesia no papel/ Maysa compondo, estrela no céu“. „Am Klavier, Gedicht auf Papier/ Maysa komponiert, Sterne am Himmel“
Das Acadêmicos-Lied ist auch Charles Darwin gewidmet. Er landete ebenso in Maricá am 8. April 1832: „Do naturalista surge um novo olhar/ A claridade, a negra visão/ A fauna e flora“. „Im Naturforscher entwickelt sich ein neuer Blick/ Die Helligkeit, die Nacht/ die Fauna und Flora“. In der Isolation für das gesamte Volk komponieren?
ABB. 14 – 15: Blocos sind kleine Sambagruppen, die durch die Stadt ziehen und zu einer offenen Masse werden können. Manchmal muss man sehr früh aufstehen, um an einem Bloco teilzunehmen
ABB. 16: Wichtig als Bindeglieder sind die Kostüme und die Requisiten: Ballon, Thron, Kanu, Filmklappe, Perücke … Kreativität und das Sich-Einlassen auf das angebotene Spiel sind Voraussetzungen. „Lass mich doch die Protagonistin deines Films werden.“
ABB. 17: Das Kostüm beschränkt die Möglichkeit des Ichs, sich unendlich oft in andere zu verwandeln. Deswegen werden normalerweise verschiedene Verkleidungen getragen. Wichtig ist das Verlangen, sich zu versammeln, das Bestreben, spielerisch und mit neuer Identität Gruppen zu bilden.
ABB. 18: Die Trennung zwischen DarstellerInnen und ZuschauerInnen existiert in den Blocos nicht. Ob der Karneval-Bloco mit der Idee vom „historischen Block“ (Antonio Gramsci) in Zusammenhang gebracht werden kann?
ABB. 19: Welche Rolle spiele ich? Die eines freischwebenden Schmetterlings? Leicht verkleidet und mit einem passenden Schmetterlingsband. Ist mein Ziel, mit ihnen in diesem Karneval spielerisch eine Gemeinschaft zu bilden?
ABB. 20 – 21: (Für Elis) Lernen wie man Simpatias macht. (Simpatias sind einfache ZaubereiRezepte). Im Buch findet sich auch die Simpatia, die wahrscheinlich Elis in ihrer Jugendzeit bereitete, als sie verliebt war:
„Um den geliebten Menschen zu erobern: An einem Freitag um Mitternacht geh zum Strand in weißen Kleidern und trage drei weiße Rosen...“
ABB. 22 – 23: Für Carlos: Mit seinem Deutschlehrer, Antonio, spazieren gehen. Viele Figuren von Heiligen kaufen. Anders als Carlos mag Antonio keine Heilige. Lange Unterhaltung über den Narzissmus von Caetano Veloso.
ABB. 24: Narzissmus bei Caetano Veloso, bei Marx, bei Comte, bei Bourdieu, bei Franz von Assisi...
ABB. 25: Die Frage des Narzissmus ist verknüpft mit der Frage nach dem Protagonismus bestimmter Personen, die diese Bewegungen verkörpern. Was wäre Marxismus ohne Marx und Tropicalismus ohne Caetano? Was wären die Franziskaner ohne den Heiligen Franz?
ABB. 26 – 27: Suche nach Auguste Comte unter kleinen Büsten wichtiger Persönlichkeiten in einer Abteilung neben den Heiligen. Keine der Figuren ähnelt Comte, und der Angestellte kennt sich nicht aus.
ABB. 28 – 29: Fahrt mit einem kleinen Schiff zur Ilha Grande. Während der Reise (für Vládmir): Ich genieße den Geruch des Meers und auch die Farbe. Ich nehme mir vor herauszufinden, ob der Geruch stärker oder schwächer wird, wenn die Farbe des Meers sich ändert.
ABB. 30 – 31: Ich merke, dass ich nicht sehr geruchsempfindlich bin, aber doch farbempfindlich. Wenn Vládmir hier wäre, könnte er mit mir eine Parceria (Kooperation) machen: Er trägt das Riechen bei und ich das Farbensehen.
ABB. 32 – 33: Literatur de cordel (Literatur an der Leine), früher als Coplas de Ciego (Gedicht des Blinden) bekannt. Man hat den Eindruck, dass der Dichter mit geschlossenen Augen seine Außenwelt viel intensiver wahrnimmt. Diese Art gesungene Literatur ist wahrscheinlich viel offener für andere Wahrnehmungskünste, für Hören, Riechen, Tasten und Schmecken.
ABB. 34 – 35: Frühstück mit Früchten (für Vládmir), sich mit Gerad unterhalten (für Carlos) und versuchen, das Rezept des Fruchtsafts zu enträtseln (für Clara). Nach dem Frühstück: das Meer riechen, mit offenen und geschlossenen Augen (für Vládmir).
ABB. 36: Im Wald spazieren (für Carlos): Es gibt verschiedene Wanderwege. Jeden Tag nehme ich einen anderen Weg. Manchmal sind die Wege länger und ich muss den ganzen Tag für die Wanderung einplanen, dann fällt das Meer-Riechen aus.
ABB. 37: Argentinische Wald-Bekanntschaften. Mate-Trinken, als würden wir uns seit Langem kennen. Tanzen. Trinken.
ABB. 38: Film „Oscar Niemeyer – A vida é um sopro” ansehen und wenn möglich in einem seiner Wohnhäuser leben (für Clara). Copan ist eine kleine vertikale Stadt im Zentrum einer großen Metropole. Niemeyer sagt: „Alles wird verschwinden“.
ABB. 39 – 40: Das Copan-Gebäude ist 140 Meter hoch, hat 32 Stockwerke, über 1160 Wohnungen und ca. 5000 BewohnerInnen. Marcelos Wohnung ist im 26. Stock.
ABB. 41 – 44: Material, um Frucht-Etiketten zu entwerfen, finde ich nicht weit vom Copan in einer Shopping-Mall. Sie heißt Galeria do Rock und hat mehr als 450 Läden.
Auf der Website der Galerie steht: „Der traditionellste Tempel für Rock’n’Roll und für die alternative Kultur von São Paulo. Musik, Tattoo, Skate, alternative Mode, Graffiti und mehr an einem Ort. Deine Art, anders zu sein.“
Die Galerie wird zu meinem Atelier. Manchmal lasse ich mich von den Kunden des Shopping Centers ablenken. Sie erzählen mir, wohin sie gehen, was sie kaufen oder woran sie gerade arbeiten. Sind sie mir sympathisch, fotografiere ich sie. Ich frage auch alle, ob sie Motive mit tropischen Früchten auf ihrer Kleidung oder in ihren Tattoos haben, finde aber keine.
ABB. 45 – 46: Die Früchte haben mich im Griff. Ich trainiere meinen Geschmackssinn, indem ich alles, was ich im japanischen Viertel gekauft habe, langsam esse.
ABB. 47 – 48: Auf Radio 3 läuft Flor de Passion, mit Juan de Pablos: „Azzurro Il pomeriggio è troppo azzurro e lungo per me...“. „Himmelblau, der Nachmittag ist viel zu blau und zu lang für mich...“
ABB. 49 - 50: Eine Frau verkauft selbstgestickte Tücher. Fast alle Fruchtmotiv-Textilien werden in Europa produziert, deswegen sind kaum brasilianische Früchte abgebildet, sagt sie. Ich verspreche, falls ich etwas finde, ihr Stoffe mit brasilianischen Früchten vorbeizubringen, damit sie ihr Sortiment erweitern kann.
ABB. 51 – 52: An den Demonstrationen oder Bürgerbewegungen der Stadt teilnehmen (für Alexander). Der Park ist umschlossen von einer Mauer und ein Polizist passt auf, dass niemand hineingeht. Man kann den Park nur durch den Zaun und das Tor sehen.
Die Parque-Augusta-Bewegung überlegt sich seit ihrer Gründung Strategien, um den Park öffentlich zu machen. Zum Beispiel: Petanca ( jogo de bola) neben dem Park spielen. Ziel: die Bälle scheinbar aus Versehen nach innen werfen, sodass man gezwungen ist, in den Park hineinzugehen.
ABB. 53 – 54: Ich denke, wenn ich in den Stoffläden nichts finden kann, vielleicht in den Künsten: Im Museum für moderne Kunst nach Abbildungen von tropischen Früchten suchen. Details von: Henrique Bernardelli, O Tempo, 1925. Anita Malfatti: Tropical, c. 1916.
ABB. 55 – 56: Details von: Pedro Alexandrino, Bananas e metal, c. 1900. Agostinho da Motta, Natureza-morta com flores, 1873. Agostinho da Motta, Natureza-morta com frutas, 1873. Agostinho da Motta, Fruta do conde, Ende des 19. Jahrhunderts.
ABB. 57: Detail von: Dario Villares Barbosa, Morro das Penha, Santos, 1944, Öl auf Leinwand.
ABB. 58 – 59: In der Stadt Embu das Artes nach Carrancas suchen (für Martha). Die Stadt verwandelt sich am Wochenende in einen Markt. Carrancas kann man überall finden, in allen Formaten.
ABB. 60 – 61: Eine Frau verkauft Früchte aus Wachs. Sie erzählt, dass sie eine kleine Werkstatt in der Nähe von Embu das Artes hat und dieses Wachshandwerk in Italien erlernt hat. Endlich tropische Früchte.
ABB. 62 – 63: Recherche über Uniformen für Putz- und Bedienpersonal (für Martha). Ich kaufe ein einfaches hellblaues Baumwollkleid und behalte es gleich an, um meinen letzten Tag in Brasilien darin zu verbringen.
ABB. 64 – 65: Ich will am selben Tag zum Wochenendhaus von Oscar Niemeyer im Stadtteil Barra da Tijuca fahren: zur Casa das Canoas – nicht um in dem Haus zu übernachten, sondern nur um Zeit dort zu verbringen.
Als ich durch die Gartenanlage laufe, treffe ich unten, wo der Garten schon in den Wald übergeht, eine Frau, die mich fragt, was ich hier mache. Sie sei die Bedienstete in Niemeyers Haus. Unsere Wege kreuzen sich nur kurz.
ABB. 66 – 67: Wir fahren zurück nach Ipanema. Am Strand unterhalten wir uns über ein Buch von einem Journalisten, Marc Fischer, der fünf Wochen in Rio verbringt, um den Musiker João Gilberto zu finden. Man hat den Eindruck, dass der Journalist eigentlich sich selbst sucht. Auch der Ethnologe Hubert Fichte suchte in Brasilien sich selbst, oder die vielen Möglichkeiten, sein Selbst zu gestalten.
ABB. 68: Es wird dunkel. Ich will mich von Antonio verabschieden. Er sieht mich mit dem Empregada-Kleid, lacht und sagt, ich sei verrückt. Ich versuche, ihm alles zu erklären. Morgen werde ich zum Flughafen gebracht.
Vorwort 09
I Brasilien am Main Alexander Carlos Clara Elis Helena Ivan Marcia Martha Nívea Vládmir Zadiquiel
24
II Gekreuzte Wege/encruzilhadas 111
III Meine wahrhaftige Historia Für Alexander Für Carlos Für Clara Für Elis Für Helena Für Ivan Für Marcia Für Martha Für Nívea Für Vládmir Für Zadiquiel
141
IV Nachwort 261
Nachwort
Das Ozeanische Lassen wir die Reisen der letzten Kapitel Revue passieren, ergibt sich folgender Eindruck. Die Welt scheint aus Verknüpfungen unzähliger Dinge zu bestehen: Heilige Bunte Stoffe Meer Menschenmasse Tänze Bäume Musik Steine Bücher Früchte Marxismus Getränke Bikinis Liebe Fingernagellack Häuser Positivismus Rosen Zeichnungen Tattoos Träume Demonstrationen Fahnen Wenn man in diese Welt forschend eindringen will, folgt man anfangs nur einem dünnen Faden, bis man relativ schnell dessen Verwobensein und Verflechtungen mit anderem erkennt. Es ist utopisch zu glauben, man könne all diesen Fäden nachgehen. Aber man macht sich auf den Weg und sieht dann, wie die Fäden sich kreuzen. Auf diese Kreuzungen kann man sich verlassen. Wichtig in so einem Forschungsprozess ist es, in Bewegung und offen für neue Kreuzungen zu bleiben.
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Auch die Biografie eines Menschen besteht aus unzähligen Kreuzungen. Der Klang eines Worts, die Silhouette einer Landschaft, der Inhalt eines Buchs, die Melodie eines Lieds oder der Geschmack einer Frucht können sich so deutlich in die Sinne einprägen, dass wir diesen Eindruck für immer in Erinnerung behalten. Weshalb ist für Marcel Proust in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit1 die Madeleine seiner Kindheit so präsent? Gerade dieses Gebäckstück, in Tee aufgeweichte Mehlmasse? Es muss nicht unbedingt eine Madeleine sein. Auch etwas anderes, zum Beispiel eine Flasche Wein, kann prägende Erinnerungen hinterlassen. Michel Serres hat in Die fünf Sinne 2 ein ganzes Kapitel einem Wein gewidmet, den er mit Freunden trank und der nicht nur alle Freunde, sondern auch alle fünf Sinne vereinen konnte. Als habe der Wein die Kraft, zu einem ursprünglichen, tiefen Erlebnis zu führen. In Das Unbehagen in der Kultur3 spricht Sigmund Freud von einem ursprünglichen Ort, an den sich alle Menschen zurücksehnen, um ihr Glück im Leben zu finden – eine Art Heimat, die, wie Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung schreibt, alle Menschen in der Kindheit verorten und wo man sich ohne „Entfremdung in realer Demokratie“ fühlt.4 In Anlehnung an seinen Freund Romain Rolland brachte Freud diese Suche der Menschen nach einem ursprünglichen und demokratischen Ort mit einem „ozeanischen Gefühl“ in Zusammenhang – als würde der Ozean den Eindruck erwecken, alles Ursprüngliche, das wir erlebt haben und zu erleben hoffen, vereinen zu können: eine ursprüngliche Einheit in der Vielfalt. Aber keine unbewegliche Einheit, sondern eine, die sich ständig in unzähligen Wellen hin und her bewegt. Für Romain Rolland war dieses ozeanische Gefühl die Grundlage der Religion. Für Freud gehörte zu diesem Ozeanischen unser gesamtes Streben nach Kultur und Glück. Dieses ersehnte Glück wird von manchen in der Wissenschaft, von anderen in der Religion, in der Familie oder in der Musik – oder in einer Madeleine – gesucht. 1 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 2004. 2 Michel Serres, Die fünf Sinne: Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1985, S. 205 ff. 3 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt am Main 1994. 4 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Werkausgabe: Band 5, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 1628.
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Alles Konsumierte gelangt letztendlich ins Meer und bleibt in einer gewissen Form im Meer erhalten. Als sei das Meer ein Speicher, in dem alle Lebewesen, auch alles Gegessene, Gedachte und Gefühlte, in viele Partikel zerstückelt, vermengt, verbreitet und verewigt werden – das Meer als die größte Kreuzung des Lebens. Das Brasilien der Kindheit
Als mir Brasilien zuerst begegnete, war ich zehn Jahre alt. Ich befand mich in Spanien, in einem Vorort Madrids namens Colmenarejo. Meine Eltern waren vor der Militärdiktatur aus Argentinien geflohen und wir lebten schon seit fünf Jahren in Spanien. Mein argentinischer Akzent hatte sich mittlerweile in einen kastilischen verwandelt. Meinen Eltern hingegen ist die argentinische Tonalität bis heute erhalten geblieben. An den Wochenenden trafen sich die argentinischen MigrantInnen zum Essen. Wir waren sehr oft bei zwei befreundeten argentinischen Anthropologen eingeladen, die damals Stipendien aus Schweden hatten, um in Brasilien zu forschen. Ich weiß bis heute, wie beeindruckt ich von ihrer Wohnung war: eine Mischung aus schwedischem Wohnstil, mit Schränken und Regalen aus Holz, und vielen Objekten aus Brasilien, die an den Wänden hingen oder die Regale schmückten. Am meisten bewunderte ich eine Ecke, in der sich die Musikanlage und die Schallplatten befanden. Ich liebte die brasilianische Musik und lag damals oft auf dem Boden neben der Musikanlage, mit Notizheft und Stift, um konzentriert zu versuchen, die Texte der Lieder zu Papier zu bringen. Ich konnte kein Portugiesisch, aber es war gar nicht meine Intention, die Texte zu verstehen. Ich wollte nur mitsingen können. Es gab eine Schallplatte, der ich bis heute nachtrauere und die ich leider nicht wieder ausfindig machen konnte. Ich kann noch aus der Erinnerung einige Lieder in meiner kindlichen Sprache singen. Eines ging ungefähr so:
„Socaboca nea pochi, socaboca nea pechi. Soda tribu di surema e conmigo trabuasochi.“ Es sind komplett unverständliche Laute. Da ich die Platte niemals wiedergefunden habe, bleibt das Lied mit diesen Lauten in Erinnerung.
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Ein anderes Lied, das ich auch gern hörte und in meinem Heft notierte, war Michelle von den Beatles. Auch in diesem Fall wusste ich damals nicht, was das Lied bedeutet. Aber irgendeine Faszination schienen diese Wörter auszustrahlen: „These are words that go together well.“ Als ich mit Ivan Santos über sein Leben in Brasilien sprach und er mir erzählte, dass auch er als Kind die Lieder der Beatles hörte, ohne die Texte zu verstehen, wurde mir deutlich, dass alle Biografien sich in bestimmten Momenten kreuzen, auch wenn keine konkrete Begegnung stattfindet. Es sind verschiedene Dinge und Erfahrungen, die uns mit anderen verbinden. Mit Ivan teile ich nicht nur eine Vorliebe für die Beatles, sondern auch für Italo Calvino und für die Architektur. Und ich entdeckte auf meiner Reise vieles, das ich noch nicht von Brasilien und der Welt kannte und das sich mir für immer eingeprägt hat. Das Projekt Brasilien am Main ist vermutlich mein Versuch, das Brasilien, das ich zuerst in meiner Kindheit entdeckt habe, weiter zu erkunden. Es handelt sich dabei um eine Reise und gleichzeitig um eine interkulturelle und relationale Forschung, in der ich performativ versuche, mich mit den anderen, die mir begegnen, auf verschiedenen Wegen zu kreuzen. Das Meer und der Regen
Das Meer ist die größte Kreuzung des Lebens und ein Motiv, das viele DichterInnen und KünstlerInnen inspiriert hat. Als Carlos erzählte, dass es das Meer sei, was er am meisten von Brasilien vermisse, war ihm dies peinlich und er versuchte, es zu relativieren. Er fand, es sei zu sentimental und banal: „Man hat so viel über das Meer gedichtet.“ In dem Buch Galáxias von Haroldo de Campos, das Carlos mir eines Tages schenkte, gibt es einen kurzen Text über das Meer: Multitudinous seas incarnadine. Es sind nur zwei Seiten, ohne Abstände, Punkt und Komma geschrieben. Man hat den Eindruck, dass der Dichter versucht, die gesamte Welt im Rauschen des Ozeans aufzuspüren. Der Text ist vor allem eine Reise durch die Weltliteratur. De Campos ist ein Meister dessen, was in Europa Intertextualität genannt und in Lateinamerika, immer mit einem neugierigen
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Blick nach Europa, seit Langem praktiziert wird: Schreiben, übersetzen und zitieren gehören zusammen. De Campos spielt in seinem Buch mit Zitaten aus vielen Büchern. Das Gedicht beginnt mit einem Zitat aus Shakespeares Macbeth: Multitudinous seas incarnadine.5 Incarnadine ist eine Farbe, die der des Körpers, des Fleischs ähnelt und sich ins Grüne verwandelt. Bei Shakespeare heißt es: „The multitudinous seas incarnadine, Making the green one red.“ Es folgen Referenzen zu Homers Odyssee: die Farbe des Weins und dieses polúphloisbos, das brüllende Geräusch des Meers. Der Dichter knüpft an die Meeresbilder der Weltliteratur an und erweitert dieses Konglomerat mit einer Vielfalt weiterer Eindrücke: die Vielfalt der Farben, der Geschmäcker von Früchten, von Blut und Körpern, von Gemütsbewegungen und Verhandlungen (siehe S. 41). Es gibt ein weiteres brasilianisches Gedicht, das die Vielfalt an Phänomenen und Erfahrungen mit Wasser vermengt. Es ist das Lied Águas de março von Antônio Carlos Jobim. Hier ist es nicht das Wasser des Meers, sondern das Wasser des Regens, das alles zusammenbringt. Das Lied ist dem Regen im Monat März gewidmet, dem Regen des brasilianischen Herbsts, der auf den Boden fällt und alles auf den Straßen Liegende mit sich reißt: nicht nur Dinge und Abfälle, sondern auch Zustände, Gefühle, Leben und Tod. „Es ist ein Stock, es ist ein Stein, es ist das Ende der Straße, es ist ein Holzstück. Es ist ein bisschen allein, es ist ein Glas, es ist das Leben, es ist die Sonne, es ist die Nacht, es ist der Tod, es ist das Lasso, es ist der Haken.“
„É pau, é pedra, é o fim do caminho É um resto de toco, é um pouco sozinho É um caco de vidro, é a vida, é o sol É a noite, é a morte, é o laço, é o anzol“
In diesen Regenflüssen werden auch viele bekannte Elemente aus der Populärkultur Brasiliens mitgerissen, so wie das festa da cumeeira, die garrafa de cana, die peroba do campo oder der matita pereira. Das Lied besteht aus einer langen Aufzählung. Als könnte man unendlich viele weitere Dinge singen, die sich im dahinströ-
5 „Whence is that knocking? / How is’t with me, when every noise appalls me? / What hands are here? Hah! / They pluck out mine eyes. / Will all great Neptune’s ocean wash this blood / Clean from my hand? / No; this my hand will rather / The multitudinous seas incarnadine / Making the green one red.“ William Shakespeare, The Tragedy of Macbeth, Akt 2, Szene 2, Zeilen 55–61.
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menden Regenwasser durchkreuzen. Am Ende des Lieds werden die am Anfang besungenen Dinge erneut, aber mit nur wenigen Silben erwähnt. Man erkennt diese Sachen aber wieder: „ock, ein, de, ße tück, schen, ein as, eben, onne acht, od, asso, ken“
„au, edra, im, minho esto, oco, ouco, inho aco, idro, ida, ol, oite, orte, aço, zol“
Das Lied geht so zu Ende. Aber viele Interpreten nehmen sich die Freiheit, mit einer weiteren Überhöhung dieses Fließens der Wörter zu enden, indem sie einen summenden Gesang improvisieren, in dem keine Wörter mehr erkennbar sind:
„Pa – padaba – pa – asasisa – a –, papada nene – a –, a dadedede – paaaa – anna ne ne ne – pa – a da de de de – aaaaa – a da de de ue – aaaa – adadede de – pa – a dada ue.“6 Es wirkt, als würde der Regenfluss zu einem Murmeln oder zum Gesang eines Kindes werden, das noch nicht sprechen kann. Ob mit diesem Murmeln auf diesen ursprünglichen Ort (Freud), auf diese Heimat der Kindheit (Bloch), auf dieses ozeanische Gefühl (Rolland) verwiesen wird? Das Lied Águas de março ähnelt einem Haikai. Im Prinzip handelt es sich um eine Aneinanderreihung konkreter Dinge, die sich gegenseitig aufheben und so einen tieferen Sinn ergeben. Es ist ein Sammelsurium von Dingen, die Brasilien in einer bestimmten Jahreszeit verkörpern. Der Versuch, eine bestimmte Jahreszeit zu dichten, spielte in dem traditionellen Haikai auch eine wichtige Rolle. Ob Jobim ein brasilianisches Haikai über den Herbst in Brasilien verfassen wollte? Das Motiv des Regens finden wir auch in der Philosophie. Im letzten Buch von Louis Althusser mit dem Titel Materialismus der Begegnung7 arbeitet er an einer Genealogie eines Denkens, das mit 6 So zum Beispiel in der Interpretation von Elis Regina und Tom Jobim: https://www.youtube.com/ watch?v=9rCsgegyfLo. 7 Louis Althusser, Materialismus der Begegnung, Zürich 2010. Zu Althussers „materialism of encounter“ und der Idee einer relationalen Ästhetik siehe Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics, Paris 2009, S. 18–20; Marie-Luise Angerer, Affektökologie: Intensive Milieus und zufällige Begegnungen, Lüneburg 2017, S. 59–64.
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dem Regen des antiken Atomisten Epikur beginnt. Der Ursprung der Welt wird von Epikur mit einem Regen von Atomen verglichen – ein Regen, in dem die Atome sich nicht berühren, aber dann plötzlich finden Kreuzungen statt und aus diesen entsteht die Welt. Die Welt ist seitdem ein permanenter Regen, in dem aleatorisch Begegnungen und Kreuzungen stattfinden. Sowohl in dem Regenlied Águas de março als auch in dem Meeresgesang von Haroldo de Campos wiederholt sich dasselbe Prinzip: Durch das Wasser werden verschiedene Elemente zusammengebracht und aleatorisch vermengt. Auf ähnliche Weise suchte ich auch in Frankfurt nach allem mit Brasilien Verbundenen und versuchte dann, das Gefundene weiter zu entwickeln und fortzuführen.
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Methodologisches Die folgenden methodologischen Überlegungen präsentiere ich mit Absicht erst gegen Ende des Buchs, um den Eindruck zu vermeiden, die Studie nach einer ganz bestimmten Methode durchgeführt zu haben. Ich werde zu methodologisieren versuchen, was sich nicht komplett methodologisieren lässt. Manchmal kann man nur im Kontrast zu dem, was eine Studie nicht ist, einen methodischen Ansatz herauskristallisieren. Meine Intention ist es, die Biografien der Menschen, denen ich in Frankfurt am Main begegnet bin, in den Vordergrund zu stellen. Sie sind die ProtagonistInnen des Buchs. Es handelt sich aber nicht um eine Studie im Sinne der Biografieforschung, die nach Lebenswegen sucht, um diesen so getreu wie möglich nachzugehen. Vieles in den einzelnen biografischen Erzählungen Hervorgehobene gehört zu dem, was in der wissenschaftlichen Forschung meist weggelassen wird, weil es sich um angeblich Nebensächliches handelt. Diese Nebensächlichkeiten sind von mir aber mit Absicht gewählt worden, weil sich gerade in ihnen das Prozessuale und Unvollständige der Biografien verdeutlicht. Es sind meist offene Wünsche und zufällige Momente, die die verflochtenen Wege einer Biografie weben, ganz ähnlich einem Spinnennetz – ein Netz von Erzählungen, an die ich im Kontakt mit den ProtagonistInnen anknüpfe. Und ich hoffe, dass auch die LeserInnen sich durch die Lektüre eingebunden fühlen. Der essayistische Stil, in dem die Biografien verfasst sind, hat genau dieses Ziel: den LeserInnen eine Annäherung an die ProtagonistInnen zu ermöglichen, die der Wissenschaft oft versperrt bleibt, wenn die untersuchten Biografien auf Verallgemeinerungen und Typologien reduziert werden. Die Biografien sind für Brasilien am Main nicht strikt repräsentativ für bestimmte soziale Gruppen oder Generationen ausgewählt worden. In dieser Hinsicht entfernt sich die Studie auch von einer soziologischen Forschung, die anhand der Daten nur das zu extrahieren bestrebt ist, was zu allgemeinen Erkenntnissen über diverse soziale Gruppen führt. In der Migrationsforschung sind in jüngster Zeit interessante Studien über MigrantInnen aus Brasilien entstanden, darunter die von der Anthropologin Maxine L. Margolis seit Anfang der 1990er Jahre
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durchgeführten Forschungen über BrasilianerInnen in New York.8 In ihrem Buch Little Brazil. An Ethnography of Brazilian Immigrants in New York City führt sie die LeserInnen in eine typische MigrantInnenbiografie ein: Migrationsgrund, Entscheidung und Vorbereitung für das Auswandern, Tag der Abreise, Ankommen in den USA, Etablierung in dem neuen Land, manchmal dann auch die Entscheidung für eine Rückkehr. Margolis hat 100 BrasilianerInnen interviewt und aus deren Geschichten typische Lebenswege entnommen. Die einzelnen Biografien bekommen die LeserInnen nicht zu sehen. Nur manchmal, dank einiger Zitate, werden kleine Fenster zu diesen individuellen Biografien geöffnet. Die Untersuchung verfolgt das Ziel, allgemeine Erkenntnisse zu den Handlungen und Lebenswegen der BrasilianerInnen in den USA herauszufiltern, und in der Verallgemeinerung gehen die individuellen Geschichten verloren. In der Methodenlehre und Erkenntnistheorie wurde einst zwischen zwei idealtypischen Verfahren unterschieden: nomologische Ansätze, die nach Gesetzen und Verallgemeinerungen suchen, und idiografische Ansätze, die die Singularität und Individualität einer Lebensgeschichte erforschen.9 Während die Naturwissenschaften sich meist nomologischer Methoden bedienen, verhalten sich andere Wissenschaften, wie zum Beispiel die Geschichtswissenschaft oder die Biografieforschung, idiografisch: Hier geht es darum, den eigenartigen und unverwechselbaren Lebensweg einer Geschichte zu rekonstruieren. Wie lässt sich meine Forschungsreise zwischen diesen beiden idealtypischen Verfahren einordnen? In den biografischen Erzählungen versuchte ich, idiografisch die singulären Lebenswege darzustellen. Mich interessierte, wie unterschiedlich alle ProtagonistInnen ihr Brasilien in Frankfurt aufbewahren und gestalten. Ich wollte wissen, wie unterschiedlich die Lebenswege waren, die nach Deutschland führten. Ich habe deshalb in den kurzen Erzählungen eher die Differenzen als die Gemeinsamkeiten hervorgehoben. In meiner zweiten Forschungsreise wollte ich aber diese Geschichten und das aufbewahrte Brasilien miteinander in Verbindung brin8 Maxine L. Margolis, Goodbye, Brazil. Emigrantes brasileiros no mundo, São Paulo 2013. Maxine L. Margolis, Little Brazil: imigrantes brasileiros em Nova York, Campinas 1994. 9 Diese Unterscheidung wurde vor allem von den Neukantianern gemacht. Siehe Wilhelm Windelbands Vortrag Geschichte und Naturwissenschaft, Straßburg 1894 und Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Freiburg 1899.
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gen. Und ich selbst wollte mit diesen ProtagonistInnen und ihrer Erfahrungswelt in eine Beziehung treten, als bestünde meine Intention darin, in dieser Vielfalt eine Art Gesetzmäßigkeit und Verallgemeinerung im Sinne des nomologischen Verfahrens zu finden; als gäbe es trotz der Differenz der Lebenswege und Vorstellungen von dem, was Brasilien ist, einen gemeinsamen, geteilten Sinn, der in der Vielfalt der Dinge zum Ausdruck kommt und uns alle vereint. Diese Suche nach einer Verbindung zwischen den Lebenswegen und nach einem „gemeinsamen Weg“ kann als eine Reaktion gegen eine bestimmte positivistische Haltung in den Kultur- und Sozialwissenschaften gelesen werden, die Neutralität und Distanz in der Forschung verlangt. Die Frage, die ich mir stellte, lautete: Was wäre, wenn man versuchen würde, statt Distanz Annäherung zu erreichen? Eine Art und Weise, sich an den anderen anzuheften, sich zu involvieren, sich zu vereinen? Es ist eine utopische Vereinigung mit dem anderen, wenn man unter „Utopie“ einen noch nicht existierenden Ort versteht. Utopien sind aber bestrebt, verwirklicht zu werden, sonst bleiben sie Fiktionen.10 Was wäre, wenn man versuchte, sich in alle diese Biografien zu involvieren? Könnte man auf diesem Weg die Vielfalt der Biografien zusammenbringen? Würde man sich dadurch sozusagen dem gesamten Brasilien annähern? Oder wird eher die Nähe zu etwas Allgemeinerem gesucht, das uns alle in unserem Dasein mit unserer Welt verbindet? Die Methode des Perspektivwechsels – ein relationaler Ansatz
In der wissenschaftlichen Forschung wird das zu untersuchende Objekt meist klar abgegrenzt, Erhebungsverfahren werden ausgewählt und bestimmte Methoden der Interpretation zum Einsatz gebracht. Von den ForscherInnen wird verlangt, sich in Distanz zu dem Objekt zu verhalten, um Emotionen oder andere Abhängigkeiten zu vermeiden. In meiner Studie ging ich den umgekehrten Weg und versuchte, bestimmten Momenten der erzählten Biografien näherzukommen. Man könnte von einer Methode des Sich-in-Relation-Bringens sprechen. Es handelt sich dabei aber nicht um eine teilnehmende Beobachtung, die in eine komplette Teilhabe und 10 Zu realisierbaren Utopien siehe Amalia Barboza, „Utopie“, in: Jürgen Hasse/Verena Schreiber (Hrsg.), Räume der Kindheit, Bielefeld 2019, S. 348–353.
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Verschmelzung mit dem Forschungsobjekt übergeht. Aus der Geschichte der Ethnologie kennen wir einige Beispiele solcher Konversionen, die oft folgenden Verlauf haben: Der oder die ForscherIn will an dem Geschehen teilnehmen, behält zuerst die Distanz in der Beobachterperspektive. In den einsamen Stunden kann alles, was erlebt wurde, zu Papier gebracht werden. Irgendwann kippt dies aber um, und der oder die EthnologIn ist nicht mehr in der Lage, sich zurückzuziehen, und wird Teil des Geschehens. Meist gibt es dann kein Zurück mehr in die ehemals gewohnte Welt, so wie bei dem Anthropologen Carlos Castaneda.11 Es ist die Geschichte eines Wissenschaftlers, der nach Mexiko geht, um den Schamanismus zu untersuchen. Castaneda wählt einen Schamanen aus, Don Juan, und beobachtet ihn in seiner Lebensweise und seinen Praktiken. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung kippt aber plötzlich um, als der Anthropologe sich in einen Lehrling von Don Juan wandelt. Der Wissenschaftler wird dann zum Schamanen und die Forschung verwandelt sich in eine Konversion. In meiner Studie führte ich keine teilnehmende Beobachtung durch, sondern startete ein Experiment des Sich-in-Relation-Bringens mit kulturellen Phänomenen, die ich als charakteristisch für einige Biografien empfand und die mich aus Neugier oder auch aus einer Art affektiver Verwandtschaft motiviert hatten, sie weiterzuverfolgen. In diesem Experiment behielt ich ständig eine gewisse Distanz, besonders durch das Reflektieren darüber, dass dieses Sich-in-Relation-Bringen nicht immer oder nur mit Einschränkungen gelingt, wie bei dem Musizieren. Mein Lebensweg führte nicht, wie bei Castaneda, zu einer Konversion, aber das Experiment ließ mich auch nicht unberührt: „Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen“, sagte Goethe. Auf meiner Reise verfolge ich nicht nur eine einzige Perspektive, sondern mehrere gleichzeitig. Es handelt sich in dieser Hinsicht um eine Offenlegung von Relationen, die sich so weit ausbreiten, wie ich selbst gehen kann. Deshalb ist das Bild einer Kletterpflanze eine gute Metapher für diese Methode des Sich-in-Relation-Bringens. Man geht einen Weg bis zu einem bestimmten Punkt, bis es irgendwann in eine andere Richtung weitergeht. Eine Kletterpflanze 11 Carlos Castaneda, The Teachings of Don Juan: A Yaqui Way of Knowledge, Los Angeles, 1968.
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verräumlicht auf der Fläche eine Konstellation von Encruzilhadas, von Wegkreuzungen – eine Konstellation von Begegnungen, die sich nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Dingen und Phänomenen ergeben. Es gibt Momente, in denen sich die Kreuzung mit einer Person, einem Phänomen oder einem Material intensiver verbreiten kann, so zum Beispiel bei den Früchten, die mich länger beschäftigten als ich erwartet hatte. Und es gibt Kreuzungen, die in bestimmten Momenten nicht funktionieren, wie zum Beispiel mein Versuch, gemeinsam mit anderen zu musizieren. In der Soziologie wurde schon früh an ein relationales Modell gedacht. Ich erkannte dieses Denkmodell zuerst bei Karl Mannheim und war so fasziniert von seinem Konzept, dass ich meine Dissertation darüber verfasste.12 In seiner Wissenssoziologie plädierte er dafür, dass ForscherInnen nicht nur versuchen sollten, die eigene Perspektive, den eigenen Denkstil zu reflektieren, sondern auch mit verschiedenen anderen Perspektiven zu experimentieren. Mannheim hatte die Hoffnung, dass durch diese Methode des Sich-in-Relation-Bringens und des Perspektivenwechsels eine Art Synthese entstehen könnte: eine Aufhebung von Unterschieden. Er testete diese Methode in Ideologie und Utopie, indem er mit verschiedenen Denkstilen seiner eigenen Zeit experimentierte, um Konzepte wie Freiheit oder Utopie unterschiedlich zu denken.13 Dies war ein Experiment, das in Mannheims Zeit zumeist nicht verstanden wurde, auch weil er es nicht explizit vorstellte. Schon sein Plädoyer, auch das eigene wissenschaftliche Wissen als standortgebunden zu reflektieren, brachte ihm und seiner Wissenssoziologie viele GegnerInnen ein. Es wurde ihm vor allem Relativismus vorgeworfen, sodass er vorschlug, stattdessen von Relationismus zu sprechen, was im Unterschied zum Relativismus nicht die „Wahrheit“ infrage stellt, sondern nur bewusst macht, von woher, von welchem Standpunkt diese Wahrheit kommt. Aber diese Erklärung half damals nicht viel. Heute wird in der Kultur- und Sozialwissenschaft statt von relationalem Denken von einem „situierten Wissen“ („Situated Knowledge“ bei Donna Haraway) gesprochen.14 Dieser Begriff und diese 12 Amalia Barboza, Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims, Konstanz 2005. 13 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929. 14 Zu Mannheims relationalem Denken und der aktuellen Diskussion eines situierten Wissens: Amalia Barboza, Karl Mannheim’s Sociology of Self-Reflexivity, in: David Kettler/Volker Meja (Hrsg.), Anthem Companion to Karl Mannheim, Anthem Press, London/New York 2017.
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Vorgehensweise scheinen in der heutigen Akademie in der Tat Anerkennung zu finden. Als Mannheim in seiner Wissenssoziologie eine Möglichkeit der Analyse der „Standortgebundenheit des Denkens“ suchte, lebte er in einer Zeit der Eskalation politischer Vielfalt und der Konkurrenz zwischen Weltanschauungen. Die Wissenssoziologie wurde von Mannheim als eine Instanz verstanden, die in dieser Konkurrenzsituation als Schiedsrichter fungieren könnte. Max Scheler, der andere Begründer der Wissenssoziologie, sprach von einem „Zeitalter des Ausgleichs“. Mir wurde immer wieder bewusst, dass ich in meinem Brasilienprojekt mit einem relationalen und performativen Ansatz ein ähnliches Unternehmen versuchte. Statt Ausgleich, was zu sehr nach einem harmonischen Zusammenkommen klingt, plädiere ich stattdessen für Verhandlung, wo die Unterschiede und Antagonismen nicht aufgehoben werden, aber in Erscheinung treten, so dass offen bleibt, wie genau die Unterschiede oder Abstände verhandelt werden können. Es liegt in unserer Hand, in den Händen aller, wie wir mit Abständen, Differenzen oder Ungleichheiten umgehen. Das Flanieren als zielloses Schlendern
Es gibt noch andere Vertreter einer relationalen Soziologie, die auch in der Zeit Karl Mannheims an verwandten Ansätzen arbeiteten. Der Philosoph und Soziologe Georg Simmel verfasste in seinem Buch Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung15 eine komplexe Grammatik, um zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch Relationen zwischen den Individuen und den Dingen unserer Welt zu analysieren. Der Mensch wird darin als ein Moment, als ein Schnittpunkt sozialer Kreise, Räume, Dinge und anderer Phänomene beschrieben. Diese Schnittpunkte stehen alle dynamisch miteinander in Relation – durch Briefverkehr, Schmuck, Wandern, Freundschaften, Geheimnisse … Alle diese Schnittpunkte sind variabel, sodass die Verhältnisse zueinander sich ständig ändern, je nachdem wo und wann man sich befindet. Obwohl Simmel seine Grammatik immer wieder mit Beispielen aus der Geschichte 15 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908), Band 11, Frankfurt am Main 1992.
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oder aus der Ethnologie illustriert, steht vor allem die moderne Gesellschaft im Mittelpunkt – eine Gesellschaft, die durch Geldverkehr und Transport in konstanter Bewegung ist und sich immer weiter ausbreitet. Diese Gesellschaft ist für Simmel nicht nur durch das Prinzip des Geldes gekennzeichnet, sondern auch durch die Stadt und das urbane Leben, wo Komplexität und Dynamik in intensiverer Weise erlebt werden. In seinem berühmten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben reflektiert Simmel über die Figur des Flaneurs, der darauf eingestellt ist, sich in der Stadt mit der anonymen Menschenmasse und mit der Flut an Reizen zu bewegen, als könnten sich in dieser Figur die Vielfältigkeiten der Stadt in einer Stadtwanderung vereinen. Hier ist der Flaneur oder die Flaneurin Medium und Kanalisation der urbanen Vielfalt, Schnittpunkt, an dem alle Relationen zusammenkommen. Die Tätigkeit des Flanierens könnte somit als ein relationaler Ansatz betrachtet werden. Auch wenn die Schriften von Georg Simmel besonders wichtig sind, gibt es andere KulturwissenschaftlerInnen, die diese Methode explizit angewendet und reflektiert haben. Vor allem Siegfried Kracauer und Walter Benjamin, auf die ich mich in meiner Reise beziehe, haben dieses Flanieren in ihren Forschungen angewendet. In seinem Buch Straßen in Berlin und anderswo16 wird dieses Flanieren von Kracauer als ein zielloses Suchen beschrieben: „Auf diesen Routen trieb ich mich umher und mußte in jedem Passanten den Eindruck eines ziellosen Schlenderers erwecken. Und doch war ich, streng genommen, nicht ziellos. Ich glaubte ein Ziel zu haben, aber ich hatte das Ziel zu meinem Unglück vergessen.“17 Die Frage, die sich stellt, ist: Was ist das Ziel eines ziellosen Schlenderers, der sich das Schlendern bewusst vorgenommen hat? In einem anderen Text Kracauers aus derselben Zeit analysiert er einen entgegengesetzten Ansatz, der als die Suche eines Detektivs beschrieben wird.18 Im Unterschied zum ziellosen Schlendern hat der Detektiv ein klares Ziel: die Lösung eines Falls. Er sucht, ohne sich ablenken zu lassen, nach den Spuren, die ihn zur Lösung des Falls führen. Kracauer vergleicht diese detektivische Suche mit dem Ansatz der Wissenschaft. Auch in der wissenschaftlichen Forschung 16 Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo (1925–1933), Frankfurt am Main 2009. 17 Ebd., S. 10. 18 Siegfried Kracauer, Der Detektiv-Roman (1922–1925), Schriften I, Frankfurt am Main 1978.
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klärt man zuerst ganz deutlich, welchen Fall man lösen möchte, und dann geht man methodisch vor. Anders bei dem Flaneur, der sich subjektiv, planlos in der Umwelt bewegt und sich sozusagen treiben lässt. Der Flaneur gerät bei dieser planlosen Suche in eine Art Rausch oder Traumzustand, sodass die Grenzen zwischen dem Ich und dem anderen nicht mehr klar erkennbar sind. Genau in diesem Rausch, in dieser Transzendierung der Grenzen liegt das Ziel des Flanierens, wenn man hier überhaupt von einem Ziel sprechen kann. Auf jeden Fall handelt es sich um ein ganz anderes als das Ziel des Detektivs. In Soziologie als Wissenschaft19 versuchte Kracauer, diesen Ansatz als eine phänomenologische Soziologie zu rekonstruieren, die durch ein Sich-Einlassen auf alle Phänomene, mit denen man in Berührung kommt, zu einem tieferen Sinn zu gelangen, bezweckte. Interessant ist, dass Siegfried Kracauer sich zuerst auch mit verschiedenen Methoden der Kulturanalyse befasst – mit den nomologischen und idiografischen Methoden –, um zu zeigen, dass diese Ansätze zur Begründung einer Soziologie als Wissenschaft untauglich sind. Die Geschichtswissenschaft will das Einmalige, das Unwiederholbare erfassen und die Geschichtsphilosophie sucht nach einem Plan, nach einem Gesetz, wonach die Menschheit sich entwickelt. Die vergleichende Kulturwissenschaft sucht die Ähnlichkeiten verschiedener Kulturen. Und was sollte die Soziologie tun? Laut Kracauer sucht die Soziologie nach den Notwendigkeiten, die hinter dem Chaos des Geschehenden zu finden sind. Und diese Notwendigkeiten werden für Kracauer durch die phänomenologische Wesensschau sichtbar: Alle Impressionen sollen in ihrer Beschaffenheit erfasst werden. Und am Ende der „Einklammerung“ gelangt man in eine Region, die Kracauer als völlig „entindividualisierte Wesensgestaltung“ bezeichnet.20 Die phänomenologische Methode ist in der Lage, zu einer Art Transzendierung der Abhängigkeiten des Subjekts zu führen – bis zu einem Punkt, an dem ein reines Ich die Fähigkeit hat, etwas zu erleben, das „für alle Menschen gleich evident sein muss“.21 19 Siegfried Kracauer, Soziologie als Wissenschaft (1922), Schriften I, Frankfurt am Main 1978. 20 Ebd., S. 40. 21 Ebd., S. 45.
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Wenn wir diese phänomenologische Methode in einen Zusammenhang mit dem ziellosen Schlendern bringen, lässt sich das Flanieren als eine Art Experiment verstehen, anlässlich dessen das flanierende Subjekt versucht, alle Ziele und bewussten Intentionen auszuklammern, um in der Vielfalt der Dinge und Begegnungen zu einer Art „Wesensschau“ und zu bestimmten phänomenalen Evidenzen zu gelangen. Die Religion der Menschheit und die radikale Demokratie
Besonders interessant in Soziologie als Wissenschaft ist, dass Kracauer die Entstehung der Soziologie mit dem Verlust einer religiösen Weltanschauung in Zusammenhang bringt. Die Soziologie entwickelt sich wie eine Art Kompensation für das, was in der Moderne als Resultat der Säkularisierung nicht mehr existiert: der Glaube an eine religiöse Transzendenz oder, wie Kracauer schreibt, an eine „gotterfüllte Wirklichkeit“, in der „alle Dinge auf den göttlichen Sinn“ bezogen sind.22 Wenn die Religion nicht mehr in der Lage ist, uns miteinander und mit der Umwelt zu verbinden, muss diese Verbindung anders hergestellt werden. Die Soziologie als die Wissenschaft der modernen Gesellschaft stellt sich dieser Aufgabe und sucht nach einer Sinngebung, nach einem „höchsten transzendenten Sinn“, um die Seinszusammenhänge zwischen den Menschen und ihrer Umwelt zu verstehen. Nicht nur die Soziologie versucht, Seinszusammenhänge in dieser sinnentleerten Realität zu erforschen, auch die Kunst verfolgt dieses Unternehmen. Obwohl mein Brasilien-Projekt als ein Kunstprojekt begann und auch ein Kunstprojekt bleibt, erstaunt es mich, wie sehr die Soziologie das Projekt kreuzte. Ich musste oft an die Überzeugung eines schon verstorbenen Professors aus meiner Soziologie-Studienzeit in Spanien denken. Jesus Ibañez, der unter Studenten wegen seines unkonventionellen Denkens sehr geschätzt war, schreibt in Del algoritmo al sujeto: „Spaltung ist nicht produktiv: Produktion bedeutet Überschneidung oder Kreuzung. Die Wirkungen des Wissens entfalten sich nicht innerhalb der Begrenzungen, in denen das Universitätssystem seine Klassiker ein22 Siegfried Kracauer, Soziologie als Wissenschaft (1922), Schriften I, Frankfurt am Main 1978, S. 11, 13.
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schließt. Dafür muss man aus diesen Begrenzungen ausbrechen, sich auf ein offenes Feld pflanzen, an die Grenzen, an die Endpunkte oder an die Kreuzungen.“23 Und tatsächlich: Immer wieder auf meiner Brasilien-Reise wurde mir diese Lehre bewusst. Als müsste man die Geschichte der Soziologie aus einer anderen Perspektive schreiben, aus ihren „Undiszipliniertheiten“ und Grenzüberschreitungen. Insbesondere Auguste Comte, der Soziologe, der am eindrucksvollsten das Konzept der Soziologie als Religion verfolgt hat, wurde für mich zu einer zentralen Figur. Und das nicht nur, um Brasilien als Nation zu verstehen, sondern vor allem um Brasilien als eine Projektionsfläche, als ein Land der Hoffnung zu begreifen, wo sich das Projekt der Humanität zu verwirklichen versprach. Ähnlich schreibt auch Stefan Zweig zur Zeit des Nationalsozialismus und des Zusammenbruchs Europas in seinem Buch Brasilien – ein Land der Zukunft.24 Comtes Religion der Menschheit ist der Versuch, die Soziologie nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als eine Kirche der Menschheit zu sehen. Dass diese Kirche, die Comte in Europa zu realisieren hoffte, sich dann stattdessen in Lateinamerika und vor allem in Brasilien verbreitete, zeigt die große Hoffnung, die diese positivistische Soziologie in neuen Nationen weckte – eine Hoffnung auf Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch auf Brüderlichkeit zwischen den Nationen. Als könnte nur eine neue Religion diese Vielfalt der Menschheit und der neu entstandenen Nationen ermöglichen. Auch der Politiker und Philosoph Antonio Gramsci beschrieb in seinen Gefängnis-Heften, wie wichtig es sei, die kommunistische Theorie und die Wissenschaft des Materialismus in eine Religion umzuwandeln, weil nicht nur Theoreme, Weisheiten und Analysen, sondern auch Praktiken und Vorbilder oder gar Heilige in der Lage seien, eine stabile Artikulation der Vielfalt der antagonistischen Bestrebungen zu ermöglichen. Bei Gramsci blieben es nur Überlegungen, die er nicht in die Praxis überführen konnte. Heute werden seine Überlegungen von den TheoretikerInnen einer radikalen Demokratie weitergedacht.25 Diese sehen unter anderem in den Stra23 Jesús Ibáñez, Del algoritmo al sujeto, Madrid 1985. 24 Vgl. S. 16 – 17. 25 Siehe u.a. Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2012; Ernesto Laclau, On Populist Reason, London 2005; Oliver Marchart, Das unmögliche Objekt, Berlin 2013.
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tegien der linken populistischen Bewegungen den Versuch, ein neues linkes Bündnis zwischen allen BürgerInnen (nicht nur den Benachteiligten) zu schaffen. Die Fragen, die ich mir auf meiner Reise immer wieder stellte, waren: Wie soll eine Artikulation aussehen, die in der Lage ist, die Vielfalt in einer Demokratie zu vereinen? Und welche Rolle sollten hier KünstlerInnen, SoziologInnen oder EthnologInnen einnehmen? Ähnlich wie Karl Mannheims freischwebende Intelligenz, die versucht, Differenzen mit einer distanzierten und egalitären Geste aufzuheben? Oder als organische Intelligenz (Gramsci), die sich eher aktiv einbringt, trotz der Gefahr, durch solchen Aktivismus vieles zu exkludieren? Die Kunst bietet oft Möglichkeiten, spielerisch unterschiedliche Artikulationen zu imaginieren. Auf meiner Reise fand ich interessante Modelle, die sich klar vom statischen Leviathan-Modell Hobbes’ unterscheiden. Am besten gefiel mir die Visualisierung sehr verschiedener Menschen mithilfe eines großen Luftballons, der durch die Hände in der Luft gehalten wird (ABB. 04), und auch das Bild von Menschen, die zusammen Forró tanzen und die Füße auf der Erde so sehr schleifen lassen, dass sie durch eine Staubwolke vereint werden (ABB. 05). Vor allem das Tanzen und das Musizieren erwiesen sich als Medien, die besonders gut in der Lage sind, verschiedene rhythmisierte und singende Menschen zu verbinden. Man sollte in dieser Richtung weiterdenken. Eine kommunikative Vernunft und eine Religion der Menschheit scheinen sich am besten in einer tanzenden Kommunikation zu verwirklichen. Es gibt vor allem vier Themen, an denen ich, anknüpfend an das Brasilien-Projekt, in den vergangenen Jahren gearbeitet habe: der Tanz als Medium der Gemeinschaftsbildung (dank Zadiquiel), die Bedeutung von Träumen in der Migration (dank Elis), das Konzept einer bewegten Heimat, und interkulturelle Forschung. Diejenigen, die diese Überlegungen weiterverfolgen wollen, verweise ich auf die entsprechenden Publikationen.26 26 Barboza, Krug-Richter, Ruby (Hrsg.), Heimat verhandeln, München/Wien 2019; Barboza, „Das Versprechen der interkulturellen Philosophie“, Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, 2019; Barboza, „Bewegte Heimat. Topografien des Provisorischen und des Traumhaften in der Migration“, in: Jürgen Hasse (Hrsg.), Das Eigene und das Fremde. Heimat in Zeiten der Mobilität, Freiburg/ München 2018, S. 156–179; Barboza, „Einbruch der Nacht. Zur Bedeutung des ‚Traumraumes‘ bei der Flucht“ und „¿Cuándo llegaré? Topographien des Ankommens“, in: Barboza, Winter u. a. (Hrsg.), Räume des Ankommens. Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht, Bielefeld 2016, S. 13–28, 123–136.
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Verdade Brasil! Nach meiner Brasilienreise bewahrte ich alle gesammelten Bilder, Filme und Objekte in einem Regal auf. Alles blieb ungeordnet beisammen. Ab und zu zeigte ich einige dieser Sammlungsstücke bei einem Vortrag oder Personen, die etwas über meine Reise wissen wollten. Im Jahr 2014 organisierte ich eine Ausstellung im Kunstraum Be Poet zusammen mit Michael Bloeck. Die Ausstellung hieß Verdade Brasil!, eine Anspielung auf den Titel zweier zentraler Bücher: Caetano Velosos Verdade Tropical und Hans Stadens Warhaftige Historia. Ich lud einige der ProtagonistInnen des vorliegenden Buchs ein, um an der Ausstellung teilzunehmen: Marcia zeigte Collagen, die sie über Finnland gemacht hatte, Vládmir ein Video, in dem er ein brasilianisches Nachtlied singt27, Nívea kochte eine Feijoada für uns alle (ABB. 02). Bei der Eröffnung saßen wir zusammen. Die Kinder lernten Capoeira tanzen, indem Marcias Sohn uns die Schritte erklärte. Die Ausstellung war im Prinzip ein Zusammenkommen, ein gemeinsames Essen, begleitet von künstlerischen Arbeiten. Ich selbst zeigte nur wenige Exponate meiner Reise (ABB. 03): die Liste mit den Expeditionsaufgaben, ein Videostill mit einem Foto von mir als Empregada (Bedienstete) am Strand (für Raphaela) und das Empregada-Kleid. Diese Elemente schienen für mich die Gesamtheit der Reise zu repräsentieren. Ich wusste aber, dass noch mehr Material vorhanden ist, das auch irgendwann an die Öffentlichkeit kommen sollte. Die Frage ist immer: Wie? In einer Ausstellung, in einer Installation, in einem Bericht? In diesem Buch habe ich die Form eines Reiseberichts gewählt, die mir anfangs nicht ideal erschien: zu geschlossen, zu direktional, als könnten die Erfahrungen in einer klaren Reihenfolge aufgezählt und wiedergegeben werden. Ich vermisste die Vermischung zwischen den Erfahrungen und auch die Interaktion mit den ProtagonistInnen, die in der Ausstellung Verdade Brasilien! stattfand. Ich hoffte deshalb, noch eine andere Form zu finden, um das Material lebendiger zu präsentieren. Ich suchte nach einer Präsentationsform, die Zusammenhänge zwischen den Dingen aufdeckt, ohne diese zu systematisieren oder zu katalogisieren. Die Zusammenhänge sollten aus dem Material selbst 27 Vgl. Seite 99.
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kommen, als ob das Material ein eigenes Leben hätte, das sich mir und den BetrachterInnen zeigt, ohne direkt oder explizit zu verraten, was genau gezeigt wird. Als hoffte ich wie Hans Staden, dass „Gott“ uns während der Reise etwas Wichtiges mitteilt. Eine Transzendenz in der Immanenz irdischer Materialien und irdischer Begegnungen? Ein schwieriges Unternehmen, besonders wenn man nicht an Gott glaubt und nur eine Neugier besitzt für das Religiöse oder „das Ozeanische“, wie Romain Rolland es einst formulierte. Meine Metiers sind die Kunst und die Wissenschaft und nicht die Religion. Und obwohl ich schon einige Versuche mit Encruzilhadas und Simpatias unternommen habe, entschied ich mich am Ende für diese Publikation für die Erzählform eines Berichts, auch wenn die Reise noch unabgeschlossen ist. Ein Bericht ist als Darstellungsform ähnlich wie ein Essay, so wie er von Theodor W. Adorno oft genutzt wurde: der Versuch, mit dem Mittel der Sprache „aufzusprengen, was in Begriffe nicht eingeht […].“28 Er funktioniert wie eine Brücke zwischen einer wissenschaftlichen und einer literarischen Erzählung, indem viele Bilder und Argumente offen bleiben, ohne dass deutlich zu sehen wäre, wohin dies führen könnte. Es bleibt den LeserInnen freigestellt, die Argumente und Bilder dieses Buchs weiterzudenken. Am besten unternehmt ihr selbst in eurer eigenen Stadt eine Reise, erstellt eine eigene Auftragsliste und lasst euch zu möglichen Parcerias verführen. Das Reiseziel muss nicht Brasilien sein. Jede Stadt bietet die Möglichkeit, eine Fernreise zu unternehmen, ohne die Stadt zu verlassen. Man sollte nur dorthin reisen, wo man sich am meisten angesprochen fühlt. Es sollte eine offene Reise sein, die sich nicht abschließen lässt. Zurzeit befinde ich mich immer noch auf der Suche nach Möglichkeiten des Zusammen-Musizierens. Dank Nívea, die mich zu einem brasilianischen Chor eingeladen hat, bin ich seit einem Jahr Mitglied dieser Gruppe. Wir proben und singen jeden Donnerstag und verhandeln auf unterschiedliche Weisen unsere Differenzen. Außerdem bereite ich mit Nívea eine Parceria vor: Aus den Sambodromo-Bloco-Bildern habe ich verschiedene Muster für Stoffe entworfen, um mit ihr neue Bikinis zu gestalten – das ist sicherlich eine Inspiration aus Hobbes’ Leviathan-Bild. 28 Theodor W. Adorno, „Der Essay als Form“, in: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1981, S. 32.
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ABB. 01: Bikini-Entwurf mit Bloco-Mustern. Eine Parceria mit Nívea Schmidt.
ABB. 02: Ausstellung Verdade Brasil! in BePoet. Feijoada von Nívea Schmidt, Video-Arbeit von Vládmir Combre de Sena, Collagen von Marcia Cruz.
ABB. 03: Schaufenster der Ausstellung Verdade Brasil! in BePoet.
ABB. 04: Eine Gruppe, die ein Luftballon vereint. Solange der Luftballon in der Luft ist, bleiben alle zusammen; solange die Gruppe eins ist, schwebt der Luftballon. Eine ludische Form, eine Gemeinschaft zu stiften. Skizze aus dem Reisebuch.
ABB. 05: Beim Forro-Tanz werden die Schritte schleifend über den Boden geführt. Da die ForroFeste zumeist auf dem Land stattfinden, erzeugen die tanzenden Füße eine Staubwolke, die die Paare zu einer tanzenden Gruppe vereint. Skizze aus dem Reisebuch.
„Es ist von Gewicht, mit welchen Erzählungen wir andere Erzählungen erzählen. Es ist von Gewicht, welche Knoten Knoten knoten, welche Gedanken Gedanken denken, welche Beschreibungen Beschreibungen beschreiben, welche Verbindungen Verbindungen verbinden. Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen.“ „... it matters what stories we tell to tell other stories with; it matters what knots knot knots, what thoughts think thoughts, what descriptions describe descriptions, what ties tie ties. It matters what stories make worlds, what worlds make stories.“ [Donna J. Haraway, Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene, Durham/ London 2016, S. 12. Übersetzung: Karin Harrasser.]
„Um den geliebten Menschen zu erobern: An einem Freitag um Mitternacht geh zum Strand in weißen Kleidern und trage drei weiße Rosen. Geh in das Wasser und wenn das Meer an deine Knie schlägt, zähle drei Wellen und werfe die Rosen nacheinander und sag dabei: ‚Ich biete der Göttin des Meeres Rosen an und bitte (sag den Namen der Person), mich zu lieben.‘ Wiederhole dies dreimal. Nachdem die Blumen geworfen und die Bitten gestellt sind, schrei dreimal den Namen des geliebten Menschen und kehre zum Strand zurück.“ [Für August Comte. Simpatia, Frankfurt am Main, 10. August 2019]
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Bildnachweise Amalia Barboza: S. 1 – 26, 32 – 48, 54 – 60, 68, 78 – 82, 92, 100 – 292; Alexander (anonymisiert): S. 31; Miriam Roia: S. 62; Lütfiye Egge: S. 51; Marcia Cruz: S. 73 – 77; Ivan Santos: S. 65; Nívea Schmidt: S. 84 – 91; Vládmir Combre de Sena: S. 97 – 98; Claudia Medeiros: S. 238; S. 18: Abraham Bosse, Leviathan, Radierung, Frontispiz zu Thomas Hobbes, Leviathan, London 1651; S. 115: Johann Heinrich Richter, Prinz Maximilian zu Wied-Neuwied mit Joachim Quäck auf der Jagd im brasilianischen Urwald. 1828. Brasilien-Bibliothek der Robert-Bosch-GmbH. Katalog Band II: Nachlaß des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied Teil 1: Illustrationen zur Reise 1815 bis 1817 in Brasilien.; S. 116: Karl Prinz zu Wied-Neuwied, Joachim Quäck, um 1830. Brasilien-Bibliothek der Robert-Bosch- GmbH.; S. 119: Fotograph unbekannt, Aby Warburg mit einer Hemis-Katchina-Maske, Oraibi, Arizona, Mai 1896. The Warburg Institut, London.; S. 128: Titelblatt aus dem Buch: Hans Staden, Zwei Reisen nach Brasilien, Marburg an der Lahn 1970, S. 7. Regionalmuseum Wolfhager Land e.V.; S. 129: Hans Staden nach Hans Just Winckelmann, in: Hans Staden, Zwei Reisen nach Brasilien, Marburg an der Lahn 1970, S. 167. Regionalmuseum Wolfhager Land e.V.; S. 133: Maria Sibylla Merian, Metamorphosis insectorum Surinamensium, 1705. Universitätsbibliothek Frankfurt am Main.