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German Pages 156 [154] Year 2009
Geschichte kompakt Herausgegeben von Kai Brodersen, Gabriele Haug-Moritz, Martin Kintzinger, Uwe Puschner Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Uwe Puschner Berater für den Bereich 19./20. Jahrhundert: Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze
Gunilla Budde
Blütezeit des Bürgertums Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
für Jürgen Kocka
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-15170-7
Inhaltsverzeichnis Geschichte kompakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung: Soviel Bürgertum war nie . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Genese des Bürgertums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wurzeln und Entwicklungen: Ursprünge des Bürgertums 2. Zwei Segmente: Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einheit in der Vielfalt: Kultur als Klammer . . . . . . . . .
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III. Bürgerliche Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Liebe und Kalkül: Bürgerliche Familiengründungen . . . . . 2. Die „bürgerliche Kinderstube“: Erziehung zur Bürgerlichkeit 3. Fremd, doch nah: Dienstmädchen in Bürgerfamilien . . . . .
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IV. Bürgertum und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Herren der Städte: Bürger in der Kommunalpolitik . . 2. Revolution mit Regenschirm – Das Bürgertum 1848/49 . 3. Nationalismus, Liberalismus und „konservative Wende“: Richtungschwenks im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . .
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V. Bürgertum und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kunst im Bürgeralltag: Bürgerliche Dilettanten 2. Kunst und Kommerz: Bürgerliche Mäzene . . 3. Kunst und Politik: Bürgerliche Kunstkritik . . .
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60 61 65 69
VI. Bürgertum und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Säkularisierungstendenzen? Die bürgerliche „Gretchenfrage“ 2. Re-Konfessionalisierung: Protestantische, katholische und jüdische Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verlagerungen: Feminisierung und Familiarisierung der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VII. Bürgerliche Selbstdarstellung: Konsum und Freizeit . . . . 1. Der angemessene Lebensstil: Bürgerliche Konsumpraxis 2. „Tages Arbeit, Abends Gäste!“ Bürgerliche Geselligkeit 3. Zelebrierte Bürgerlichkeit: Bürgerliche Feste . . . . . .
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VIII. Bürgertum zwischen den Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwischen Abschottung und „Feudalisierung“: Bürgertum und Adel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Bürgerliche Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . 1. Öffnung der Gesellschaft: Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Salons, Assoziationen, Vereine: Spielarten bürgerlicher Öffentlichkeiten . . . . . 3. Grenzen der Öffentlichkeit: Exklusionen . . . . .
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V
Inhaltsverzeichnis 2. Zwischen Abwehr und Wohltätigkeit: Bürgertum und Arbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der „neue Mittelstand“: Bürgertum und Angestellte . . . . . IX. Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen . . . 1. Rebellische Töchter: Bürgerliche Frauenbewegung . . 2. Wandernde Söhne: Die bürgerliche Jugendbewegung 3. Verblendete Bürger: Bürgertum und Antisemitismus .
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X. Bürgertum international . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grenzenlose Bürgerkultur: Europäische Gemeinsamkeiten 2. Exkurs: Ein „Defizit an Bürgerlichkeit“? Die These vom „deutschen Sonderweg“ . . . . . . . . . . . 3. Welt-Bürger-Visionen: Phantasten und Imperialisten . . . .
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Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Geschichte kompakt In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch) Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissenstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden. Kai Brodersen Gabriele Haug-Moritz Martin Kintzinger Uwe Puschner
VII
Einführung: Soviel Bürgertum war nie Selbst das Dienstmädchen ist zurück. Soziologische Studien haben es unlängst gezeigt: In so manchem bürgerlichen Haushalt öffnen wieder junge, angestellte Frauen die Tür. Sie kommen zwar nicht mehr, wie im 19. Jahrhundert, aus der nahegelegenen ländlichen Region, sondern aus dem mehr oder weniger fernen Ausland. Doch ihre Arbeitsbedingungen erinnern sehr an die Zeit, in der die dienstbaren Geister als „Minimalbedingung eines wirklich bürgerlichen Haushalts“ (Jürgen Kocka) galten. Die Rückkehr des Dienstmädchens ist nur das I-Tüpfelchen; eine Renaissance des Bürgertums kündet sich allenthalben an. Hatte noch vor wenigen Jahren der Berliner Verleger Wolf Jobst Siedler die Krawattenträger auf dem Berliner Kurfürstendamm vermisst und ihr Fehlen als Ende der Bürgerlichkeit gedeutet, weisen aktuelle Stimmen in eine andere Richtung. In den neu aufflammenden Wertediskussionen der Feuilletons lebt die bürgerliche Wertewelt wieder auf. Beobachten lässt sich dies auch im Alltagsleben: In einem kaum überschaubaren Benimmbüchermarkt, im Comeback der Tanzstunde, in vollbesetzten Opernpremieren und gut besuchten Vernissagen, bei denen wieder das „kleine Schwarze“ mit Perlenkette gegenüber der Jeans triumphiert, in den tiefschwarzen Zahlen von Klavierbauern und Quotenrennern wie den diversen Fernsehshows, die „das perfekte Dinner“ als Höhepunkt gepflegter Gastlichkeit zelebrieren. Sonntags bricht man wieder zu einem der „Salons“ seiner Stadt auf, um gebildete Konversation zu pflegen und zur vorabendlichen Entspannung genießt man historische Dokusoaps, die in Herrenhäuser des 19. Jahrhunderts und „Bräuteschulen“ der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts entführen. Auch auf gehobenem Niveau begegnen wir der Bürgerlichkeit neu. In den gesellschaftspolitischen Diskursen feiert, angestoßen von osteuropäischen Bürgerrechtlern der 1980er Jahre, die Zivilgesellschaft als dem 20. Jahrhundert adäquatere, da von einer reinen bürgerlichen Trägerschicht entkleidete Variante der bürgerlichen Gesellschaft, eine neue Blütezeit. Gleichsam allgegenwärtig im wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Tagesgeschäft steht Zivilgesellschaft für die Anerkennung von Pluralität, die Toleranz gegenüber Anderen, ein vertrauensbasiertes Miteinander und nicht zuletzt für die Wiederbelebung bürgerlicher Eigen- und Gemeinschaftsverantwortung. Den Wenigsten ist bewusst, auf welche Traditionen sie sich mit diesen Beschwörungen der Rückkehr der Bürgerlichkeit und der bürgerlichen Gesellschaft berufen. Vergessen scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts die durchaus wechselvolle Geschichte der Erfinder und Architekten dieser Gesellschaft, die Geschichte des keineswegs immer positiv konnotierten Bürgertums und seiner Wertewelt. Doch nicht nur die Wahrnehmungen und Wertungen des Bürgertums schillerten. Mit seinem ständigen Changieren zwischen utopischen Versprechungen und exklusiver Realität, zwischen Aufgeschlossenheit und Engstirnigkeit, zwischen Selbstverliebtheit und Selbstzweifel, zwischen Weitherzigkeit und Vorurteil trug das Bürgertum immer einen Januskopf. Spätestens an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun-
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Einführung: Soviel Bürgertum war nie dert wurden diese Ambivalenzen aus den eigenen Reihen vor den Pranger geführt, wurden kritische Stimmen lauter, die mit dem Finger auf das Philisterhafte, Heuchlerische und Intolerante des Bürgertums wiesen. Damit begann die lange Karriere des negativ besetzten Bürgerbegriffs, das behäbige „Gut-Bürgerliche“, das belächelte „Kleinbürgerliche“, der verspottete „Spießbürger“ gewannen die Oberhand. Dass die historische Forschung das Bürgertum erst in den 1980er Jahren entdeckte, hing einerseits durchaus mit diesem Nimbus zusammen. Andererseits war es auch die konsequente Folge des seit den 1970er Jahren intensivierten Historikerblicks ins „lange 19. Jahrhundert“. In dieser Zeit begonnene Entwicklungen, so die forschungsleitende Annahme, setzten sich fort und trugen Mit-Verantwortung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Das Bürgertum als eine der prägenden Kräfte des 19. Jahrhunderts geriet ins Visier. Dies geschah mit unterschiedlicher Akzentuierung. In den Zentren der Bürgertumsforschung, in Bad Homburg, Bielefeld, Frankfurt am Main und Berlin gingen die Vorstellungen von Genese und Entwicklung dieser sozialen Formation an entscheidenden Punkten auseinander: Der Frankfurter Ansatz unter der Ägide von Lothar Gall betrachtete die Stadt als zentralen Handlungsraum des Bürgertums, der nach regional unterschiedlichen Stadttypen differierte und die ihnen entsprechenden Ausprägungen des Bürgertums hervorbrachte. Von Beginn an beherrschte in diesem Ansatz das Wirtschaftsbürgertum die Szenerie, das als mit dem Bildungsbürgertum im städtischen Raum eng verschränkt gesehen wurde. Das alte Stadtbürgertum und das moderne Bürgertum gingen hier eine enge Symbiose ein, wurden weniger trennscharf von einem „modernen“ Bürgertum betrachtet. Der Bad Homburger und vor allem Bielefelder Ansatz (federführend hier vor allem Werner Conze, Rainer M. Lepsius, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler, Reinhart Koselleck, Klaus Schreiner, Wolfgang Mager und Peter Lundgreen) betrachtete das Bürgertum als Träger einer bürgerlichen Gesellschaft, die mit dem Anspruch antrat, die ständische Gesellschaft abzulösen. Man konstatierte eine klare Trennung von Bildungs- und Besitzbürgertum, die sich an Einfluss und Macht im Laufe des 19. Jahrhunderts einander ablösten. Auch wenn durchaus in Teilbereichen Verbindungslinien zum alten Stadtbürgertum erkannt wurden, überwog die Auffassung, dass sich das neue Bürgertum primär außerhalb der traditionellen Städteordnung bewegte. Entsprechend stark wurde das Innovationspotenzial des „neuen“ Bürgertums als Protagonist der Modernisierung betont. Überdies wurde die Herausbildung eines solchen Bürgertums als europaweiter Prozess begriffen, der historische Vergleich, den der Bielefelder Ansatz einforderte, sollte nach Ähnlichkeiten und Unterschieden beim Weg in die Moderne fragen. Diese unterschiedliche Akzentuierung beeinflusste auch die Vorstellungen von der Blütezeit des Bürgertums. Für die Frankfurter Forschergruppe lag die bürgerliche Hochphase in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts, während im Kaiserreich ein nicht aufzuhaltender Niedergang begann. Vom Bielefelder Projekt inspirierte Forschungen sahen dagegen keinen Machtverlust, sondern eher eine innerbürgerliche Machtverschiebung und
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Einführung: Soviel Bürgertum war nie das Kaiserreich durchaus als noch stark bürgerlich geprägt. Auch wenn lange der Konsens bestand und entsprechend die Forschungsrichtung leitete, dass mit dem Ersten Weltkrieg die Hochzeit des Bürgertums sich ihrem Ende zuneigte, sind in der letzten Zeit aus dieser Richtung durchaus, wenn auch noch wenig empirisch fundierte Überlegungen angestellt worden, die – gewandelte – Formen von Bürgerlichkeit auch im 20. Jahrhundert erkennen wollen. Gemeinsam ist beiden Ansätzen die Vorstellung, dass das so heterogene Bürgertum in einer spezifischen bürgerlichen Kultur eine einigende Klammer fand. Im Zuge der Perspektiverweiterung auf kulturelle Aspekte untersuchte man jetzt die „Bürgerlichkeit“ und das bürgerliche „Lebensweltkonzept“ und meinte damit eine gemeinsame Referenzkategorie, die sich in gemeinbürgerlichen Praktiken, habituellen Dispositionen und wertgestützten Selbst- und Fremdkonzeptionen niederschlug. Doch auch hier gab es Unterschiede: Für die Bielefelder diente die bürgerliche Kultur als überspannendes Netz, dass regionale und zum Teil sogar nationale Bezüge überwölbte. Regionale Besonderheiten, auf die die Frankfurter Studien rekurrierten, gerieten damit in den Hintergrund. Der Schwenk der Bürgertumshistoriographie zur Kultur war doppelt motiviert. Zum einen war er Resultat der Suche nach zusammenhaltstiftenden Elementen des nicht nur sozio-ökonomisch so wenig homogenen Bürgertums. Zum anderen erlaubten es Studien zum Bürgertum, die mit der Perspektive auf eine bürgerliche Kultur andere Handlungsräume und -bezüge in den Blick nahmen und nach Ausprägung und Bedeutung von Symbolen und symbolischen Akten, Aushandlungen und Aushandlungsstrategien, Erinnerungen und Erinnerungsorten, Festen und Festtagsritualen, Werten und Wertevermittlungen fragten, auch den weiblichen Part des Bürgertums in den Blick zu nehmen. Denn: Die bürgerliche Gesellschaft war, dem universalistischen Lippenbekenntnis zum Trotz, eine hochgradig geschlechtsdualistisch konzipierte Welt, die durch für Männer und Frauen unterschiedliche Normen und Rituale im Lot gehalten werden sollte. Männliche und weibliche Handlungs- und Wirkungssphären und eng damit verkoppelt männliche und weibliche Erfahrungen und Empfindungen wurden als „natürlich gegeben“ konstruiert und als strikt voneinander getrennt, doch sich gegenseitig harmonisch ergänzend konzipiert. Bürgertum und Bürgerlichkeit, das macht der Blick in die internationale Forschungslandschaft deutlich, ist ein vor allem deutsches Thema. Erklären lässt sich dies zum einen mit der besonderen Rolle, die dem Bürgertum in der Geschichte des 19. Jahrhunderts zukam, und die ihm von Seiten eines negativ konnotierten „deutschen Sonderwegs“ zugeschrieben wurde. Im Vergleich zu anderen westeuropäischen Ländern wurde dem deutschen Bürgertum ein sich am Jahrhundertende abzeichnendes „Defizit an Bürgerlichkeit“ attestiert. Diese „Sonderweg-These“ provozierte und inspirierte in der Bürgertumsforschung dazu, mit der Methode des historischen Vergleichs systematisch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen deutschen und anderen europäischen Entwicklungen zu suchen. Grundimpuls dieser komparativen Untersuchungen war es, Weggabelungen in der deutschen Geschichte zu identifizieren, an denen der westliche „Normalweg“ in die Moderne verlassen wurde.
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Einführung: Soviel Bürgertum war nie Die Konzentration des vorliegenden Bandes auf das „lange 19. Jahrhundert“ ist weniger der Vorstellung geschuldet, das Bürgertum hätte sich mit dem Ersten Weltkrieg von der Geschichte verabschiedet. Vieles deutet in eine andere Richtung, ohne dass es in der Forschung schon empirisch belegt wurde. Doch eine, wenn vielleicht auch nicht die letzte Blütezeit erlebte das Bürgertum mit Sicherheit zwischen 1789 und 1914. Das erste Kapitel (I) geht der Genese und Entwicklung des Bürgertums über einen langen Zeitraum nach, skizziert die Ausdifferenzierung in „Bildungsbürgertum“ und „Wirtschaftsbürgertum“ im 19. Jahrhundert und die Herausbildung einer kulturellen Klammer. Die Kapitel II und III begeben sich in die Vereine und Familien, und damit an mehr oder minder öffentliche Orte und Institutionen, an denen die bürgerliche Kultur geprägt und weitergegeben wurde. Bürgerlichkeit, so die These von Kapitel IV, bedeutete auch den Anspruch auf politische Partizipation. Wo, zu welchen Zeiten und in welcher Form dieser bürgerlichen Forderung stattgegeben wurde, wird mit Blick auf die kommunale Selbstverwaltung, die „bürgerliche“ Revolution von 1848/49 und den Richtungsänderungen im Kaiserreich untersucht. Die Allgegenwart von Kunst im Bürgeralltag, bürgerliche Kunstförderung und Politik mit der Kunst verweisen, dies zeigt Kapitel V, auf den hohen Stellenwert, den Hochkultur für den bürgerlichen Lebensentwurf einnahm. Ob Kunst und Bildung als „Ersatzreligionen“ den Einfluss der Religion wirklich so schmälerten, wie lange in der Forschung behauptet, fragt das VI. Kapitel. Im ganzen 19. Jahrhundert war das sich neu etablierende Bürgertum auf Selbstsuche. Konsum und konsumtive Praktiken verhalfen dabei zur Selbstdarstellung und Fremdabgrenzung ebenso wie die bürgerliche Festkultur, wie im VII. Kapitel gezeigt wird. Dabei ging es, so argumentiert Kapitel VIII, auch immer um Abgrenzungen von anderen Klassen, vom Adel, der Arbeiterschaft und dann auch den Angestellten. Mit welchen Herausforderungen das Bürgertum am Jahrhundertende konfrontiert wurde, welche Irrwege und Verwerfungen sich innerhalb der eigenen Reihen abzeichneten, wird im IX. Kapitel vorgeführt. Kapitel X richtet die Aufmerksamkeit auf europäische Gemeinsamkeiten, aber auch auf Unterschiede, die nicht zuletzt die lange Forschungskontroverse um den „deutschen Sonderweg“ inspirierten. Das Buch schließt mit einem knappen Ausblick auf das Bürgertum und eine mögliche Bürgertumsforschung im 20. Jahrhundert. Das Bürgertum und seine Wertewelt sind wieder in aller Munde – dies ist der Eindruck, unter dem dieses Buch entstand. Vergessen werden darf bei diesem Ruf nach Zurück zu mehr Bürgerlichkeit nicht, dass es neben den hellen auch dunkle Bürgerseiten gab. Das Bürgertum schillerte, war hochgradig ambivalent. Das macht seine Geschichte so spannend, das zwingt aber auch zu differenzierter Perspektive. Die Augen geöffnet dafür hat mir bereits in den 1980er Jahren Jürgen Kocka, ein wegweisender Pionier der Bürgertumsforschung. Ihm ist dieses Buch in Dankbarkeit gewidmet.
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I. Genese des Bürgertums Mächtige Minderheiten sind selten. Das Bürgertum, das je nach Schätzungen zwischen 5 und 15 Prozent der Bevölkerung ausmachte, gehört dazu. Die Ausstrahlungskraft seiner Lebensform und Wertewelt machte das 19. Jahrhundert, in dem es seine Blütezeit erlebte, zum „bürgerlichen Jahrhundert“.
1. Wurzeln und Entwicklungen: Ursprünge des Bürgertums Die Wurzeln des europäischen Bürgerbegriffs reichen weit in die Geschichte zurück. Seiner sprachlichen Herkunft nach gehört „Bürger“ zu dem Wort „Burg“, das auch die Bezeichnung für „Stadt“ sein konnte. Schon im Althochdeutschen verstand man unter burgari, im Altenglischen burgware und im Mitteldeutschen burgaere die Bewohner einer Stadt. Für die deutsche Wortgeschichte blieb diese Ableitung bestimmend, während sich in den romanischen Ländern unter dem Einfluss der lateinischen Kultur und Sprache bereits im hohen Mittelalter zwei oder auch mehrere Bezeichnungen für „Bürger“ herausbildeten. So gesellte sich im Französischen im 11. und 12. Jahrhundert zu dem Wort bourgeois die Bezeichnung citoyen dazu, während der deutsche Sprachbereich bis heute nur das vieldeutig verwendete Wort „Bürger“ kennt. „Bürger“ meint im Deutschen sowohl den „Staatsbürger“ als auch den Angehörigen einer sozialen Formation. Die sprachgeschichtliche Nähe des Begriffs zur Stadt, die den Bürgerbegriff im europäischen Kontext kennzeichnet, ergab sich aus seinem Ursprung im antiken Stadtstaat. Für Aristoteles bedeutete die polis die Vereinigung von Bürgern, die „bürgerliche Gesellschaft“. Doch nicht allein die Ansässigkeit in der Stadt, sondern auch die Teilhabe und Teilnahme an der dortigen Herrschaft machte den antiken Stadtbewohner zum Bürger. Eben dies unterschied ihn von den übrigen Einwohnern, den Sklaven, Bauern, Händlern und Tagelöhnern. Unter dem Einfluss des Christentums erfuhr der Begriff „Bürger“ eine Ausweitung. Die im Neuen Testament verkündete Idee der Bürgerschaft aller Menschen im zukünftigen „Gottesstaat“, im Civitas Dei, fand, angestoßen von der gleichnamigen Schrift des frühchristlichen Kirchenlehrers Augustinus (354–430), weite Verbreitung. Neu war nun vor allem die Ankoppelung der „Arbeit“, der „geschäftige[n] Lebensführung“ an den Bürgerbegriff. Als Landbesitzer und Krieger hatten die antiken Bürger der Sphäre der Arbeit noch fremd, ja feindlich gegenübergestanden. Verächtlich schauten sie auf das Handwerk herab und überließen es Sklaven und anderen Unfreien. Dies sollte sich ändern: Die ausgewogene Balance zwischen Geschäftigkeit und Müßiggang wurde fortan ein wesentlicher Teil bürgerlicher Identität, wobei das Selbst als auch die Gemeinschaft gleichermaßen davon profitieren sollten.
Begriffsgeschichte
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Genese des Bürgertums
I.
Q
Ideal der Vereinbarkeit von Muße und Geschäftigkeit aus: Augustinus: Vom Gottesstaat (um 410 n. Chr.), München 1977/1978, Bd. 2, 564 f. Was aber jene drei Arten der Lebensführung anlangt, die müßige, die geschäftige und die aus beiden zusammengesetzte, so kann man zwar unbeschadet des Glaubens auf jede dieser Weise sein Leben zubringen und den ewigen Lohn erlangen, doch muß jeder darauf achten, was er um der Liebe willen tun muß. Demnach darf niemand so müßig sein, daß er in seiner Muße das Wohl des Nächsten vergißt, aber auch nicht so geschäftig, daß er die geistliche Betrachtung versäumt. Bei der Muße soll nicht etwa träges Nichtstun locken, sondern das Erforschen und Auffinden der Wahrheit, und jeder darauf bedacht sein, in der Erkenntnis fortzuschreiten und, was er gefunden, auch dem Nächsten gönnen. Beim tätigen Leben aber ist nicht weltliche Ehre und Macht anzustreben – denn alles unter der Sonne ist eitel.
Herausbildung von Städten
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Seit dem 11. Jahrhundert bildeten sich inmitten der grundherrlich-agrarisch geprägten Gesellschaft die Städte als genossenschaftliche Verbände „freier“ Bürger heraus. „Stadtluft macht frei“ – dieses geflügelte Wort erfanden rückblickende Historiker, um das vergleichsweise freiheitliche und selbstbestimmte Dasein städtischer Bürger vor dem Hintergrund einer in herrschaftlichen Zwängen befangenen Welt hervorleuchten zu lassen. Doch auch die Bürger mittelalterlicher Städte, wenngleich weitgehend unabhängig von adliger Herrschaft und Landbesitz, blieben Teil einer feudalen Welt und damit eingebunden in deren Regeln und Reglementierungen. Doch immerhin gehörte zu ihrem Selbstverständnis nun das Wissen um die Möglichkeiten politischer Teilhabe, das Gefühl, durch eine gemeinschaftlich beschlossene Rechtsordnung gegen Willkür geschützt zu sein, die Überzeugung, dass die Wahrnehmung verbriefter Rechte und Pflichten das Wohl der Gesamtheit gewährleistet. Überlieferungen zufolge haben Stadtbürger überall in Europa zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert ihr Zustimmungs- und Kontrollrecht dem Rat gegenüber immer wieder eingefordert und durchgesetzt. Nichts Geringeres als Mitsprache und Rechtssicherheit stand auf dem Spiel; Gewalt und Bedrückung durch diejenigen, die wirklich das Sagen hatten, galt es im Zaum zu halten und abzuwehren. Abseits von politischen Belangen sorgten die Bürger der mittelalterlichen Städte vor allem als Kaufleute und Handwerker für ihren Lebensunterhalt. Gewerbe und Handel gerieten jetzt zum Kernstück des bürgerlichen Lebens. Dieser Typus des mittelalterlichen Stadtbürgers unterschied sich zunächst einmal rechtlich sowohl von allen ländlichen Schichten, die sich aus Adligen, Bauern, Kleinbauern, Landhandwerkern und Heimgewerbetreibenden zusammensetzten als auch von der großen Masse der in den Städten lebenden Unterschichten wie dem Gesinde, den Arbeitern, den Handwerksgesellen, den Betreibern „unehrenhafter“ Gewerbe und den Armen. Die zumeist männlichen Inhaber des Bürgerrechts durften innerhalb der Stadtmauern einem selbstständigen Erwerb nachgehen, eine Familie gründen und einem Haushalt vorstehen, Handel betreiben, Ständevertretungen, Zünften und Vereinen beitreten, hatten in begrenztem, doch wachsendem Umfang Teil an der städtischen Selbstverwaltung, durften Wälder und Wiesen der städtischen Allmende nutzen und konnten im Fall der Armut und Hilflosigkeit mit Fürsorge durch die Gemeinde rechnen. Im Gegenzug hat-
Zwei Segmente: Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum
I.
ten sie Steuern zu entrichten und sich einer eigenen Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Das Bürgerrecht war ein exklusives Recht. Es wurde durch Geburt erworben und konnte auf Antrag auch an Bewerber verliehen werden, wenn sie ein bestimmtes Vermögen und gewisse Leistungen aufbrachten. Prinzipiell stand auch Frauen dieses Recht zu – doch nur in sehr beschränktem Umfang. Erst als Witwe durfte eine Frau einen ererbten Handwerks- oder Handelsbetrieb in eigener Regie mit allen daran geknüpften Rechten und Pflichten führen, als Ehefrau besaß sie diese Befugnis hingegen nur indirekt, über ihren Mann vermittelt. Außerdem war es ihr verwehrt, über die inneren Geschicke des Gemeinwesens mitzubestimmen. Weibliche Amtsträger, Frauen als Ratsmitglieder oder auch Wählerinnen sucht man im 18. Jahrhundert vergebens. So war es in der Regel nur eine größere Minderheit zwischen 10 und 30 Prozent innerhalb der gesamten städtischen Bewohnerschaft, die das volle Bürgerrecht für sich in Anspruch nehmen konnte. Dazu gehörten selbstständige Handwerksmeister, wohlhabende Kaufleute, Ladenbesitzer und Gastwirte, in den größeren Städten vor allem seit dem 15. und 16. Jahrhundert dann auch Ärzte, Juristen und Angehörige der protestantischen Geistlichkeit. Ungeachtet der einigenden Sonderstellung durchzog auch die Bürgerschaft eine hierarchische Ordnung, die im städtischen Alltags- und Festtagsleben ihren Ausdruck fand: in den strengen Kleiderordnungen, in der festen Sitzordnung in der Kirche, in den mehr oder minder pompösen Hochzeitsfeiern oder in der Länge des Glockengeläuts beim letzten Geleit. Darüber hinaus entwickelten sich unter diesem Stadtbürgertum des Ancien Régime bereits Ansätze einer eigenständigen Kultur mit besonderen Normen und Lebensformen. Man schätzte die Arbeit, strebte nach Besitz, zeigte sich religionsverhaftet, bemühte sich um Sparsamkeit und Rechtschaffenheit, beharrte auf einer gestuften Gesellschaftsordnung und beanspruchte begrenzte politische Mitsprache. Diese mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Traditionen und Ideen der europäischen Bürgerstadt bildeten später eine wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg des modernen Bürgertums. Ungeachtet dieser Vorreiterrolle zeigten sich Teile dieses alten Stadtbürgertums gegenüber Herausforderungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts auf der Tagesordnung standen, als traditionsverhaftet und neuerungsfeindlich, auf ihre Privilegien pochend und um sie fürchtend. Man hatte sich hinter seinen Stadtmauern eingerichtet, der Alltag war von Not frei, wohlgeordnet und risikolos. Dies galt es zu bewahren.
2. Zwei Segmente: Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum Anders dachten und lebten zwei neu aufkommende Schichten, die schon die Zeitgenossen ebenfalls zum Bürgertum zählten: das Bildungsbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum. In dem Maße, in dem sich die ständische Ordnung des Alten Reiches im Laufe des 18. Jahrhunderts verflüchtigte, drängte dieses Bürgertum das überkommende und eher rückwärtsgewandte
neues Bürgertum
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Genese des Bürgertums
I.
Bildungsbürgertum
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Stadtbürgertum immer mehr an den Rand. Als fast kometenhaft emporgekommende Aufsteiger zeigte sich das neue Bürgertum höchst dynamisch, brennend vor Ehrgeiz und beflügelt von Selbstvertrauen. Zwar waren auch zuvor schon vereinzelte Vertreter dieser Schicht in Erscheinung getreten, doch erst im ausgehenden 18. Jahrhundert wuchs ihre Zahl und vor allen ihr Einfluss. Woher kamen sie? Zum Teil entstammten sie durchaus dem alten Stadtbürgertum, vielfach waren sie mit ihm durch Heirat verflochten. Andere kamen von außerhalb. Alle waren sie die Nutznießer evolutionärer Prozesse der neuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Sie waren die Gewinner des Aufschwungs und der Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftsbereichs ebenso wie der sich durchsetzenden Bürokratisierung mit ihrer zunehmenden Betonung von wissenschaftlicher Ausbildung. Anfangs ergänzten, später verdrängten sie die alte Honoratiorenschicht. Ungeachtet aller Unterschiede teilten das alte Stadtbürgertum und die Vertreter des neuen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums zunächst ihre städtische Verortung und Orientierung, den gemeinsamen Status des „Dritten Standes“ oder auch „Mittelstandes“ im System der überlokalen, ständischen Repräsentation und, damit verbunden, ein Selbstbewusstsein, zu wem man nicht gehörte, nämlich zum Adel, zum katholischen Klerus, zu den Bauern und zu den Unterschichten. Nicht zuletzt aufgrund der zumindest im westeuropäischen Vergleich verzögerten Industrialisierung in Deutschland stand das Wirtschaftsbürgertum lange im Schatten des Bildungsbürgertums, das in den ersten Jahrzehnten des „bürgerlichen Jahrhunderts“ auf deutschsprachigem Territorium den Ton angab. Zum Bildungsbürgertum formierte sich eine Elite mit Universitätsabschluss, die sich aus Beamten und Professoren, Hauslehrern und Gymnasiallehrern, Anwälten und Notaren, Ärzten und Apothekern, Künstlern und Journalisten zusammensetzte. Diese akademisch Gebildeten und unter ihnen besonders die schnell wachsende Zahl der fürstlichen Diener und Staatsbeamten waren „eximiert“, das heißt durch landesherrliches oder staatliches Recht, dem sie direkt unterstanden, von den Gesetzen und Regeln der Städte ausgenommen. Diese zunächst schmale Schicht der Bildungsbürger entwickelte sich zu einem langsam doch stetig wachsenden Verband, dessen Mitglieder alle ein hochspezialisiertes Leistungswissen mitbrachten. Auf dieser Basis beanspruchten sie die Kompetenz, den entstehenden Aufgaben einer komplexen Modernisierung Herr werden zu können. Schließlich stand eine Fülle von Aufgaben ins Haus: eine Neuordnung des Finanz- und Steuerwesens, die Administration des Heeres, die staatliche Rechtsprechung, die Verbesserung des Schulwesens. Spätestens am Ende des 18. Jahrhunderts beanspruchten Vertreter des Bildungsbürgertums, vor allem im deutschsprachigen Europa, ein zumindest gleichrangiges wenn nicht gar höheres Prestige als das alte Stadtbürgertum und das Wirtschaftsbürgertum. Anders als diese verfügten Angehörige des gebildeten Bürgertums als Teil der bürokratischen Machtelite über direkten politischen Einfluss, halfen mit, politische Entscheidungen vorzubereiten, durchzuführen oder auch zu verhindern. Ihre Karrieren machten sie zunächst in öffentlichen, landesherrlichen, städtischen, landständischen, kirchlichen oder grundherrlichen Diensten; als Staatsbürger kamen sie im
Zwei Segmente: Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum
I.
Laufe des 19. Jahrhunderts in ein staatsunmittelbares Verhältnis. Sie bezogen relativ hohe Gehälter, genossen Privilegien im Gerichtswesen, im Militärdienst und im Steuerrecht. Als Gegenleistung zu diesen Vorrechten erwartete man von ihrer Seite eine besondere Loyalität, die „Beamtentreue“. Beamtentreue aus: Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung, Nr. 124, 31. Mai 1863.
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Unterthänigkeit, Treue und Gehorsam von Beamten ihrem Könige und Herrn eidlich gelobt, ist keine leere Phrase. Die Königlichen Diener haben, außer den jedem Unterthanen obliegenden Pflichten gegen den Landesvater, noch besondere Verpflichtungen gegen Se. Maj. den König freiwillig übernommen. … Auf Grund der versprochenen Treue wird ihnen das Ansehen und die Macht anvertraut, welche der König an der ihnen verliehenen Stelle in seinem Namen ausgeübt wissen will.
Namentlich in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts konzentrierte sich das Bildungsbürgertum auf die staatlich-öffentliche Laufbahn: in der Bürokratie, der Kirche, dem Medizinalwesen, den Universitäten und den höheren Schulen. Unter der Federführung hoher Beamter, allen voran dem Freiherrn vom und zum Stein (1757–1831) und dem Fürsten Hardenberg (1750–1822) wurden zwischen 1807 und 1820 umwälzende Reformen auf Agrar-, Gewerbe-, Bildungs-, Kommunal- und Heeressektor durchgesetzt, die einen wachsenden Beamtenstab notwendig machten. Seit den 1840er Jahren kamen zu den bürokratischen auch die so genannten „freien“ akademischen Berufe zum Bildungsbürgertum hinzu. Ihren Vertretern und den sich schnell etablierenden Interessenverbänden ging es darum, sowohl verbindliche Richtlinien für die Berufsqualifikation zu verankern als auch den Arbeitsmarkt zu lenken und zu kontrollieren. Das beamtete Bildungsbürgertum schuf und beherrschte die Zugangsschleusen der Gymnasial- und Universitätsausbildung und bestimmte die Leistungskriterien der Universitätsprüfungen und späteren Examina. Es verwundert von daher kaum, dass sich der akademisch gebildete Nachwuchs vor allem aus den eigenen Reihen rekrutierte. Dass dieses Bildungsbürgertum vor allem in Deutschland innerhalb des Bürgertums so lange die Vormachtstellung beanspruchen konnte, gründete nicht nur in der wirtschaftlichen Rückständigkeit, sondern auch in der herausragenden Bedeutung, die hier der Bildung zugemessen wurde. Dieser besonders erfolgreiche Siegeszug des Bildungsgedankens war auf Engste mit dem Neuhumanismus verknüpft, verbunden mit einer Aufwertung der Antike und der Hinwendung zu ihrer Kultur. Während im Zuge genereller Säkularisierungserscheinungen die Bedeutung von Religion zwar nicht gänzlich schwand, doch verblasste, übernahm Bildung für weite Teile des Bürgertums eine quasi-religiöse Ersatzfunktion. Vorstellungen, wie diese Bildung hervorgebracht und weitergegeben werden sollte, wurden zum Kernthema der Diskurse der Zeit. Zum bildungsbürgerlichen Credo wurde die Einheit von wissenschaftlicher Forschung und Lehre, ja die gegenseitige Befruchtung und Bereicherung, die Wilhelm von Humboldt (1767–1835) im Rahmen seiner Vorschläge für die Gründung einer Berliner Universität zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschwor:
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Genese des Bürgertums
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Einheit von Forschung und Lehre aus: Wilhelm von Humboldt: Ueber die innere und äußere Ordnung der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, 1810. Die Wissenschaften sind gewiss ebenso sehr und in Deutschland mehr durch die Universitätslehrer, als durch die Akademiker erweitert worden, und diese Männer sind gerade durch ihr Lehramt zu diesen Fortschritten in ihren Fächern gekommen. Denn der freie mündliche Vortrag vor Zuhörern, unter denen doch immer eine bedeutende Zahl selbst mitdenkender Köpfe ist, feuert denjenigen, der einmal an diese Art des Studiums gewöhnt ist, sicherlich ebenso sehr an, als die einsame Musse des Schriftstellerlebens oder die lose Verbindung einer akademischen Genossenschaft. Der Gang der Wissenschaft ist offenbar auf einer Universität, wo sie immerfort in einer grossen Menge und zwar kräftiger, rüstiger und jugendlicher Köpfe herumgewälzt wird, rascher und lebendiger. Ueberhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedesmal wieder selbstthätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stossen sollte.
Wirtschaftsbürgertum
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Bildung geriet zum Kampfbegriff gegen die auf geburtsständische Privilegien pochende Aristokratie, wurde zum vollwertigen und zeitweilig gar höherwertigen Äquivalent zu Adelsprädikat und Kapitalvermögen. Auf politischem Gebiet zeichnete sich europaweit die Tendenz einer stärkeren Zentralisierung ab. Durch bürokratische und parlamentarische Instanzen wurde Herrschaft zunehmend kontrolliert und damit weniger „absolut“. Das Ziel des Verfassungs- und Rechtsstaats rückte zum Teil sehr nah oder fand zumindest als anzustrebende Zukunftsvision wachsenden Zuspruch. Angestoßen wurden diese Wandlungen vornehmlich vom gebildeten Bürgertum – entweder im Verein mit dem Adel oder auch gegen ihn. Doch unabhängig davon, wie stark die Trägergruppe dieser Aufbruchsbewegung des 19. Jahrhunderts auch mit anderen sozialen Schichten durchsetzt war, trug sie überall eine unverkennbar bürgerliche Handschrift. Im Laufe des Jahrhunderts nahm die Zahl der Bildungsbürger zwar immer weiter zu, der gesamtgesellschaftliche Einfluss jedoch ging zurück. Auch wenn das Bürgertum als Ganzes am zunehmenden Wohlstand der Gesellschaft des Kaiserreichs partizipierte, ging die innerbürgerliche Schere zwischen Wohlhabenheit und bloßer Saturiertheit immer weiter zuungunsten des Bildungsbürgertums auseinander. Doch auch dieses verlor nicht völlig seine Macht, sondern fächerte sich im Gefolge schnell vordringender und effektiver Professionalisierung weiter nach Berufsgruppen auf. Die staatliche Beamtenschaft gewann an Stärke und Zusammenhalt. Das Schulwesen wurde weiter reformiert und ausgebaut, Universitäten eröffneten einen immer wichtigeren Aufstiegsweg ins Bürgertum. Eben ihre Erziehung und Ausbildung führten Beamte und Akademiker ins Feld, um neue Ansprüche und Forderungen durchzusetzen. Über sein Kapitalvermögen hingegen definierte sich das zweite Segment des Bürgertums, das Wirtschaftsbürgertum. Es umfasste zunächst die Besitzer und Direktoren großer Wirtschaftsunternehmen, der Verlage, Manufakturen und Bergwerke, der Groß- und Fernhandelshäuser, der Transport- und Bankunternehmen und der frühen Fabriken. Häufig waren sie, vor allem in Mitteleuropa besonders aber in Osteuropa, als Gründer oder Leiter der
Einheit in der Vielfalt: Kultur als Klammer
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neuen Unternehmen durch Eingriffe der Regierung, durch fürstliches oder königliches Privileg von den Vorschriften der zünftig geregelten städtischen Wirtschaft ausgenommen. Zwar verdienten auch sie ihren Lebensunterhalt wie die Mehrheit des alten Stadtbürgertums durch Handel und Gewerbe, doch die Dimensionen ihrer Unternehmungen reichten weit über dessen Möglichkeiten und Vorhaben hinaus. Entsprechend aufwändiger zeigte sich ihr Lebensstil, entsprechend hochfliegender waren ihre Zukunftsträume. Wollten sie im Wirtschaftswettbewerb bestehen, mussten sie über den Tellerrand der städtischen Kleinwelt mit ihrem traditionellen Ordnungsdreieck von Zunft, Brauch und Moral hinausblicken. Auch wenn dieses neue Wirtschaftsbürgertum europaweit in Erscheinung trat, zeigte es sich doch örtlich, je nach Stand und Fortschrittstempo der Industrialisierung, unterschiedlich stark verankert. Kreise dieser häufig auch als Bourgeoisie bezeichneten Schicht, die in London, Liverpool, Paris, Lyon, Bordeaux oder Amsterdam aufgrund der dort früher in Gang gekommenen Industrialisierung bereits im ausklingenden 18. Jahrhundert fest etabliert waren, ließen sich mit Beginn des 19. Jahrhunderts nun auch in Hamburg, Leipzig, Breslau, Frankfurt, Danzig, Bremen oder Augsburg nieder, ohne dass sie dort vor der Jahrhundertmitte eine vergleichbare Macht beanspruchen konnten. Doch im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit dem Durchbruch des industriellen Kapitalismus wendete sich das Blatt. Leistungsfähigkeit und Risikobereitschaft der Unternehmer trugen erheblich dazu bei, dass das Kaiserreich zur stärksten Industriemacht auf dem europäischen Kontinent werden konnte. Hinzu kam, dass diese erfolgreichen Unternehmer jetzt in der Regel ein höheres Bildungsniveau aufwiesen als ihre Kollegen noch einige Dekaden zuvor. Ein Großteil der Unternehmersöhne hatte das Gymnasium durchlaufen und viele noch dazu ein Hochschulstudium absolviert. Bildungsbürgerlicher Dünkel gegenüber den ungebildeten Parvenüs war nun häufig fehl am Platz. Die Unternehmer in dieser Zeit waren jetzt nicht mehr Einzelkämpfer, sondern in weiten Teilen bereits international agierende networker, einige gar frühe global player. Häufig organisiert in einflussreichen Interessenverbänden übten sie zunehmend Einfluss auf Verwaltung und Politik. Einige, frisch nobilitiert, gingen sogar bei Hofe ein und aus, gehörten zum inneren Zirkel der obersten Macht im Kaiserreich. Zwischen Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum lässt sich demnach eine Bedeutungsverschiebung im Laufe des 19. Jahrhunderts beobachten: Zeigten sich zu Beginn eindeutig die Bildungsbürger federführend, verloren sie in der zweiten Jahrhunderthälfte nicht nur das Bildungsmonopol, sondern auch gesellschaftlichen und politischen Einfluss.
3. Einheit in der Vielfalt: Kultur als Klammer Gemeinsam verstanden sich Bildungs- und Wirtschaftsbürger als Trägerschichten der als Leistungsgesellschaft konzipierten „bürgerlichen Gesellschaft“. Mit gutem Grund: Schließlich waren sie es, die neben dem Prinzip der individuellen Leistung auch andere Vorstellungen dieses neuen, in den
Idee der „Bürgerlichen Gesellschaft“
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Studierstuben aufklärerisch gesinnter Meisterdenker erdachten Gesellschaftsmodells aufgriffen, für sich annahmen und verbreiteten. Ständische Ungleichheit und absolutistische Staatsgewalt waren die Hauptangriffspunkte. Vordenker war der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804). Er forderte, ganz im Geiste der Urväter des Gedankens, eine Gemeinschaft freier und formal gleicher Bürger, denen der „Ausgang“ aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gelungen war.
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Wahlspruch der Aufklärung Aus: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: Berlinische Monatsschrift 1783, S. 481–494, S. 481 u. 484. Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. … Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.
Vor allem die anti-adlige, anti-absolutistische Stoßrichtung, die hier mitschwang, stieß auf ein bürgerliches Echo, verkündete sie doch den Abschied von geburtsständischen Privilegien, obrigkeitsstaatlicher Gängelung und klerikalem Deutungsmonopol. Dagegen setzte das Bürgertum die Vision einer von Vernunft, Individualität und Humanität bestimmten Gesellschaftsordnung, in der die staatliche Macht im Sinne des liberalen Rechtsund Verfassungsstaats einerseits begrenzt und andererseits über Öffentlichkeit, Wahlen und Repräsentationsorgane den Einflüssen des mündigen Bürgers unterstand. Ein neues Verhältnis zum Gestern, Heute und Morgen setzte sich durch. Bislang bindende Traditionen wurden überdacht, gewendet, gebrochen und verworfen. Nicht mehr das „Schicksal“ bestimmte in den Augen des Bürgertums seine Gegenwart und Zukunft; allein persönliche Tatkraft machte den Bürger zum Herrn seiner selbst. Und zum Herrn seiner Gesellschaft. 1851 schrieb der Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) in seinem mehrfach aufgelegten Bestseller „Die bürgerliche Gesellschaft“: „Viele nehmen Bürgertum und moderne Gesellschaft für gleichbedeutend. Sie betrachten den Bürgerstand als die Regel, die anderen Stände nur noch als Ausnahmen, als Trümmer der alten Gesellschaft, die noch so beiläufig an der modernen hängen geblieben sind.“ Dieser Bürgerstolz beseelte viele seiner Zeitgenossen. Was in Augustinus Gottesstaat schon angeklungen war, sollte, so erwartete es auch der schottische Historiker Adam Ferguson (1723–1816), in der bürgerlichen Gesellschaft Vollendung finden.
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Bürgerliche Gesellschaft aus: Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hg. u. eingeleitet von Zwi Batscha u. Hans Medick, Frankfurt a. M. 1986, S. 172 (1. Aufl., Edinburgh 1767).
Einheit in der Vielfalt: Kultur als Klammer
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Der Mensch ist von Natur aus Glied einer Gemeinschaft. Betrachtet man das Individuum in dieser Eigenschaft, dann scheint es nicht mehr für sich selbst geschaffen zu sein. Es muß auf sein Glück und seine Freiheit verzichten, wo diese dem Wohl der Gesellschaft widersprechen. … Wenn also das öffentliche Wohl Hauptzweck der Individuen ist, so ist doch in gleicher Weise wahr, daß das Glück der einzelnen der große Endzweck der bürgerlichen Gesellschaft ist: denn in welchem Sinne kann eine Öffentlichkeit irgendein Gut genießen, wenn ihre Glieder, einzeln betrachtet, unglücklich sind? Allerdings sind die Interessen der Gesellschaft und die ihrer Glieder leicht zu versöhnen. Wenn das Individuum der Öffentlichkeit jede nur mögliche Rücksichtnahme schuldet, so wird es, indem es diese Rücksichtnahme erweist, auch des größten Glücks teilhaftig, dessen es seiner Natur nach fähig ist. Die größte Wohltat, welche die Öffentlichkeit ihrerseits ihren Mitgliedern erweisen kann, besteht darin, sie mit sich verbunden zu halten. Derjenige Staat ist der glücklichste, der von seinen Untertanen am meisten geliebt wird, und die glücklichsten Menschen sind die, deren Herzen sich für eine Gemeinschaft engagieren, in der sie jeden Antrieb zu Großmut und Eifer finden und einen Spielraum zur Betätigung jedes ihrer Talente und jeder ihrer tugendhaften Anlagen.
Großherzig und großspurig zugleich war die Vorstellung, dass der eigene Wertehimmel und Gesellschaftsentwurf über die Grenzen der eigenen sozialen Schicht ausstrahlen sollte, dass auf Dauer alle, unabhängig von Stand und Geschlecht, an den Wohltaten der „bürgerlichen Gesellschaft“ partizipieren sollten. Selbstbewusst verhehlten die bürgerlichen Architekten dieses Programms aber auch nicht, dass sie in dieser Gesellschaft die Führung beanspruchen. Es war ein neues, weit weniger starres Weltbild als das des Ancien Régime, das diese Ideen überwölbte. Und es war ein durch und durch optimistisches Programm – mit zweifellos utopischem Anstrich. Dennoch drang der Kern des Ideals bis ins Alltagsleben des Bürgertums vor und geriet zur Klammer dieser in vielen Bereichen so zerfaserten Gesellschaftsformation. Es erwuchs daraus ein Ensemble von den Lebensstil prägenden und die Wirklichkeit deutenden Werten und Vorstellungen, mit anderen Worten: eine spezifische „bürgerliche Kultur“, die die Welt eines Hamburger Kaufmanns, eines Berliner Bankiers, eines Oldenburger Rechtsanwalts und eines Heidelberger Professors im Innersten zusammenhielt. Zu den Mosaiksteinen dieser „bürgerlichen Kultur“ gehörte eine positive Grundhaltung gegenüber selbstbestimmter, eigenverantwortlicher, regelmäßiger Arbeit und – damit eng verbunden – Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt, die Pflichterfüllung im beruflichen und privaten Alltag, die Neigung zur durchdachten Lebensführung, zum Tagesrhythmus nach dem Stundenplan, die Betonung von Erziehung und Bildung, eine empathisch-emphatische Beziehung zur Welt der Kunst, Respekt vor der Wissenschaft und nicht zuletzt die Konzeption und weitgehende Realisation eines spezifischen Familienideals. Auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden, in Absetzung von Wirtschaft und Politik, sollte die Familie danach eine Gegen- und Komplementärwelt bilden, einen durch auskömmliches Einkommen des männlichen Familienoberhauptes und Dienstboten freigesetzten Raum der Muße für Frau und Kinder, einen Ruhehafen im rastlosen Getriebe der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, die sie selbst durch die Erziehung der klei-
bürgerliche Kultur
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Genese des Bürgertums
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nen Bürgerinnen und Bürger immer aufs Neue herzustellen half. Eine dort erworbene „gute Kinderstube“ im Rücken rüstete, neben dem gesicherten finanziellen Hintergrund, für das erfolgreiche Mitwirken auf der bürgerlichen Bühne, versorgte mit den notwendigen Spielregeln und Requisiten, die sich in einer bunten Palette symbolischer Formen äußerten: in Tischmanieren und Begrüßungsritualen, in Anredeformen und Konversationsregeln, in Konsumpraktiken und Kleiderordnungen. Die Familie war einer der Hauptschauplätze, an denen die „bürgerliche Kultur“ geprägt und gepflegt, gefördert und befördert wurde. Hinzu kam ein vielfältiges Vereins- und Assoziationswesen, das dem Bürgertum Wegweiser zur Wirklichkeitsorientierung und Sinnstiftung bot. Das galt auch für die regelmäßigen Besuche von Kultstätten und Kulturinszenierungen. Auf dem sonntäglichen Spaziergang zu Nationaldenkmälern, im Konzert, Theater oder im Museum traf das Bürgertum auf seinesgleichen, die durch Hutlüften, Handschlag und dezentes Kopfnicken gewürdigt wurden. Und nicht zuletzt dienten die vielfältigen Erzeugnisse der Presse als Foren bürgerlicher Selbstverständigung. In der Flut von neu aus der Taufe gehobenen Zeitungen, Zeitschriften und Journalen wurden die kulturellen, politischen und sozialen Normen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt, verkündet und zur Diskussion gestellt.
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II. Bürgerliche Öffentlichkeit 1. Öffnung der Gesellschaft: Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeiten Neue Wertehimmel und Gesellschaftsentwürfe brauchen eine Öffentlichkeit. Nur so finden sie Verbreitung, nur so können sie wirken. Das Bürgertum war sich dessen wohl bewusst. Und es schuf sich diese Öffentlichkeit und damit einen Ort der Artikulation von Erfahrungen und Erwartungen, der Kritik und Vergewisserung, der Konfliktaustragung und Verständigung. Die Vereine, oder wie die Zeitgenossen häufiger sagten, die „Assoziationen“ waren Schlüsselorte, an dem Bürgerlichkeit konstituiert, entwickelt und weitergegeben werden konnte. Überall fanden sich Bürger zusammen, erfüllt von dem Bedürfnis gegenseitigen Austauschs. Sie gründeten Logen, Lesegesellschaften, Musikund Kunstvereine, Natur-, Turn- und Nationalvereine, Schiller-, Dante- und Shakespearegesellschaften, politische Debattierklubs. Fünf Merkmale kennzeichneten diese bürgerlichen Assoziationen: * die Freiwilligkeit des Beitritts, des Bleibens oder auch Austritts – ein wesentlicher Unterschied zu den ständischen und korporativen Verbindungen des Ancien Régime, * die selbstgewählten, in einer Satzung verankerten Ziele moralischer, politischer, künstlerischer oder sozialer Natur, * die selbstgesetzten formalen Regeln, die u. a. über Aufnahmebedingungen und Mitgliederbeiträge bestimmten, * die formale Gleichheit aller Mitglieder, * die Bedeutung der Geselligkeit. Das ganze lange 19. Jahrhundert hindurch blühte das Vereinsleben. Man konnte durchaus mehreren Vereinen angehören, viele Bürger taten dies. Fern von Staat, Markt und Familie vergewisserten sie sich im Kreise von Gleichgesinnten und Gleichgestimmten einer gemeinsamen Wertewelt. Diese Gesellschaften, Assoziationen und Vereine bildeten einen Grundbaustein für das, was Jürgen Habermas in seiner klassischen Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von 1962 in Absetzung zur sogenannten „repräsentativen Öffentlichkeit“ des Ancien Régimes die „bürgerliche Öffentlichkeit“ genannt hat. Auch wenn das Gros dieser Vereine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich der Kulturpflege diente, erfüllte das regelmäßige Zusammenkommen durchaus noch einen Zweck, der über die kulturelle Erbauung hinauswies: Allein durch ihre Organisationsform fungierten die Vereine als Schule der Bürgergesellschaft. Grundmuster der Mitbestimmung konnten hier im Kleinen ausprobiert, eine künftige liberale Gesellschaft antizipiert werden. Zunächst vor allem die Bürgermänner – Frauen wurden erst später geduldet – machten hier ihre ersten Erfahrungen mit demokratischen Praktiken: Sie diskutierten frei, gaben sich eigene Verfassungen in Form von Statuten, wählten neue Mitglieder, bildeten und besetzten Ämter und Ausschüsse, versuchten durch Reden zu überzeugen, beachteten Rituale, führ-
Eigenarten bürgerlicher Vereine
Vereine als „Schulen der Bürgerlichkeit“
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Bürgerliche Öffentlichkeit
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ten Protokoll, erstellten Jahresberichte und erfanden sich eine eigene Tradition, die regelmäßig gefeiert wurde. In diesen bürgerlich exklusiv zusammengesetzten, aber im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften offeneren Sozietäten konnte das Ideal politischer Gleichheitsnormen einer künftigen Gesellschaft eingeübt werden, konnte, wie Margret Jacob es formuliert hat, die „Aufklärung gelebt“ werden. Vier Phasen hat Philip Nord mit Blick auf die Vereinsentwicklung unterschieden: * Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1789: Entstehungsphase in der Hochzeit der europäische Aufklärung * 1820er Jahre bis zur Revolution von 1848/49: das „goldene Zeitalter“ * 1860er/1870er Jahre: Liberalisierung, Nationalisierung und soziale Demokratisierung des Vereinswesens * Phase bis zum Ersten Weltkrieg: weitere Pluralisierung und Ausdifferenzierung. Zeitungen und Zeitschriften
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Zeitgleich mit den Vereinen wuchs europaweit die Zahl von Periodika, Zeitschriften und Zeitungen. Sie gemeinsam zu lesen und zu diskutieren war ein wesentliches Anliegen bürgerlicher Vereinsgeselligkeit. Mit dem raschen Wachstum der Städte und dem Anstieg lesefähiger und -bereiter Bürgerinnen und Bürger entstand ein expandierendes Publikum. Schon vor 1850 war die Zahl der Pressetitel kontinuierlich gestiegen. 1824 kamen in Preußen 96 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 35.000 heraus, 1847 waren es 118 mit einer Gesamtauflage von 76.000. 1850 erschienen 182 verschiedene Zeitungen. Blieb in den 1850er Jahren die Zahl der Zeitungen stabil, nahm sie seit den 1870er Jahren erneut zu. Auch die Gesamtauflagen der Zeitungen zogen weiter an, wobei der größte Anteil auf die Großstadtpresse und die Tageszeitungen entfiel. Vor allem die häufig reich bebilderten Zeitschriften – 1914 gab es davon fast 6.500 – erlebten eine Hochphase. Den Löwenanteil verbuchten die beliebten „Familienzeitschriften“. Spitzenreiter war die von Ernst Keil (1816–1878) im Jahr 1853 aus der Taufe gehobene „Gartenlaube“. Bereits Mitte der 1870er Jahre erreichte sie Auflagen von knapp 400.000. Was in der Familienzeitschrift zu finden war, wovon sie sich eher distanzierte, beschrieb der Herausgeber in seinem programmatischen Prolog: Aufschwung der Zeitschriften Prolog von Ernst Keil zur ersten Aufl. der Gartenlaube, 1853. Wenn Ihr im Kreise Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühlinge, wenn vom Apfelbaume die weißen und rothen Blüten fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann leset unsre Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und für die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für Jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen. Fern von aller raisonnirenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und anderen Sachen, wollen wir Euch in wahrhaft guten Erzählungen einführen in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten. Dann wollen wir hinaus wandern an Hand eines kundigen Führers in die Werkstätten des menschlichen Wissens, in die freie Natur, zu den Sternen des Himmels, zu den Blumen des Gar-
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Salons, Assoziationen, Vereine: Spielarten bürgerlicher Öffentlichkeiten
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tens, in die Wälder und in die Eingeweide der Erde, und dann sollt Ihr hören von den schönen Geheimnissen der Natur, von dem künstlichen Bau des Menschen und seiner Organe, von allem, was da lebt und schwebt und kreucht und schleicht,, was Ihr täglich seht und doch nicht kennt. … So wollen wir Euch unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben, wie der Duft der blühenden Blume, und es soll Euch anheimeln in unsere Gartenlaube, in der Ihr gut-deutsche Gemüthlichkeit findet, die zu Herzen spricht.
Das Konzept ging auf, mit Vorliebe griff das Bürgertum zu dem Keilschen Blatt. Überholt wurde es in der Lesergunst später von der „Berliner Illustrirten Zeitung“, die 1908 eine Auflage von 800.000 Stück verzeichnen konnte. Neben den Zeitschriften, die in den Bürgerfamilien von Hand zu Hand gingen, gewann nach der Jahrhundertmitte die Parteipresse an Gewicht. Für einen politischen Journalisten galt es jetzt nicht mehr als opportun, sich hinter einer scheinbaren „Unparteilichkeit“ zu verstecken. Hierzu war er lange Zeit im Deutschen Reich genötigt gewesen, um unter dem Druck der Zensur überhaupt bestehen zu können. Jetzt definierten professionell schreibende Bürger das Bekenntnis zu ihrer politischen Gesinnung als ihre Standesehre; „Unparteilichkeit“ geriet in der deutschen Presselandschaft zum Synonym für „Gesinnungslosigkeit“. Mit solcherart Presse erwuchs, wie Jörg Requate gezeigt hat, kein tendenziell unabhängiges Gegengewicht zu den Parteien und Verbänden, sondern ein Forum, auf dem die Parteien ihre Programme vertreten konnten. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der politischen Zeitungen enorm. In den 23 Jahren von 1824 bis 1847 war sie schon von 96 auf 118 gestiegen, bis 1850, beflügelt von der Revolution von 1848/49, schoss die Quote noch einmal rapide nach oben: 184 „politische Zeitungen“ verzeichnete die Preisliste des Berliner Zeitungsamtes. Für ganz Deutschland schätzt man die Zahl der Zeitungen im Jahr 1849 auf etwa 1.700. Vielzahl und wachsende Vielfalt der Presse weiteten den öffentlichen Kommunikationsraum nicht nur kräftig aus, sondern führten auch zu seiner weiteren Ausdifferenzierung. Angesichts dessen haben Forscher in jüngerer Zeit, unter ihnen Nancy Fraser, Joan Landes, Mary Ryan und Geoff Eley, in Absetzung gegenüber dem ihnen zu homogenisierend erscheinenden Habermaschen Öffentlichkeitsbegriff, dafür plädiert, eher von Öffentlichkeit im Plural, von einer Fülle von „Teilöffentlichkeiten“ zu sprechen.
2. Salons, Assoziationen, Vereine: Spielarten bürgerlicher Öffentlichkeiten Der Blick in die unterschiedlichen Spielarten bürgerlicher Öffentlichkeit macht dies plausibel. Bereits im geselligen 18. Jahrhundert stößt man auf ein breites Spektrum des Assoziationswesens. Das unterschied sich von seinen Vorformen vor allem darin, dass die Vereine ihrem Anspruch nach staaten-, stände- und konfessionsübergreifend auftraten und sich, ganz im Zei-
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Bürgerliche Öffentlichkeit
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Salons
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chen der Aufklärung, gleichsam als „moralische Internationale“ (Reinhart Koselleck) verstanden und nichts weniger als die Verbesserung der Menschheit auf ihre Fahnen schrieben. Man suchte sich – und das galt vor allem für die sich seit 1717 von England aus verbreitenden Freimaurerlogen – einen geschützten Raum, weniger um, was einige Zeitgenossen unterstellten, den Sturz der alten Ordnung vorzubereiten als vielmehr der Tugend, dem Zauberwort der Zeit, zur Entfaltung zu verhelfen. „Revolutionsnester“ waren die Logen schon deshalb nicht, weil sich ihre Mitgliedschaft primär aus den Stützen der Gesellschaft, nämlich aus hohen Staatsbeamten zusammensetzte, die kaum an dem Ast sägte, auf dem sie saß. Nicht „geheim“, sondern semi-privat waren dagegen Zusammenkünfte, die sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert in nahezu allen europäischen Großstädten großer Beliebtheit erfreuten. Schon im ausgehenden 17. Jahrhundert war Paris die Hauptstadt der Salongeselligkeit, gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden bedeutende Salons auch in London, Wien und Berlin. Hier öffneten nun gebildete Damen der höheren Stände ihre Salontüren einem kleinen, elitären Publikum. Die Öffentlichkeit, die sich dabei versammelte, war noch keine rein bürgerliche, sondern eine bürgerlichadelige Melange. Zunächst schlug sie eine Brücke zwischen der langsam zerfallenden, „höfischen“ und der neuen, „bürgerlichen“ Gesellschaft, später, nachdem sich das gebildete Bürgertum immer mehr vom Hof löste, geriet die Salonöffentlichkeit mehr und mehr zu einem Gegengewicht zur höfischen Gesellschaft. Salons erfüllten eine Vielfalt von sozialen und intellektuellen Funktionen. Allein die lange Liste der intellektuellen und künstlerischen Prominenz, die sich hier ein Stelldichein gab, erzeugt Gänsehaut: Die Luft muss nur so vor klugen Gedanken geflirrt haben. Häufig herrschte eine quicklebendige Arbeitsatmosphäre: Manuskripte wurden vorgelesen und der Kritik ausgesetzt, Musiker nahmen auf dem Klavierhocker Platz, um Kompositionsentwürfe zu intonieren, Urteile über Theateraufführungen und Operninszenierungen wurden gefällt, schauspielerische Glanzleistungen gefeiert, durchreisende Wissenschaftler lieferten sich Diskursduelle mit Kollegen, selbst die Konversation übers Wetter geriet zum brillanten Schlagabtausch. Bei der Wiener Salonière Caroline Pichler (1769–1843) gaben sich Größen aus Politik, Wissenschaft und Kunst die Klinke in die Hand. Ihre 1802 ins Leben gerufenen Gesellschaftsabende avancierten, wie ihre Kollegin Madame de Staël schwärmte, zu einer „geistige[n] Macht in Wien“. Als 1815 der Kongress tagte und tanzte, ging es auch im Hause Pichler hoch her:
Salonalltag aus: Caroline Pichler: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben, Zweiter Band, München 1914, S. 40. Indessen waren der Kongreß hier in Wien, die Feste, die ihn begleiteten und das raschbewegte Leben, das er mit sich brachte, ihren Gang fortgegangen. Es kamen viele und mitunter sehr schätzbare oder merkwürdige Fremde in unser Haus, und unsere Gesellschaftsabende an Dienstagen und Donnerstagen waren sehr besucht. Unter den Bedeutenderen nenne ich vor allen den Grafen Heinrich von Stolberg-Wernigerode, der nicht allein durch seinen Rang, sondern vielmehr
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Salons, Assoziationen, Vereine: Spielarten bürgerlicher Öffentlichkeiten
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noch durch die gediegene Bildung seines Geistes, wie durch ein edles, ebenso anstandsvolles als herzliches Benehmen uns allen ungemein wert geworden war. Daß auch er sich durch Achtung und Wohlwollen an unser Haus gezogen fühlte, bewies die Treue, mit der er nicht allein keinen der Abende versäumte, an denen meine Mutter und ich Gesellschaft empfingen, sondern sehr oft noch an den Sonntagsabenden, wann sich nur wenige und nur die nähern Freunde versammelten, zu uns kam. Unser alter geschätzter Freund, Hofrat Büel, hatte uns diesen vorzüglichen Mann zugeführt, mit dem er schon früher in Norddeutschland bekannt geworden war und Freundschaft geschlossen hatte. Noch bewahre ich als Andenken vom Grafen ein einfaches, aber geschmackvolles Teeservice von Wedgewood, das ich in einem kleinen Gedicht gefeiert habe. … Ich zähle noch mehrere dieser Großen, die damals unser Haus besuchten, nur mit ihrem Namen auf, weil sie mir, mancher persönlichen Liebenswürdigkeit ungeachtet, sonst eben durch nichts bedeutender wurden: wie den Fürsten von Lippe-Schaumburg und seine Schwester, den Grafen und die Gräfin Münster, die Baronin Münchhausen, die Fürstin Ysenburg und einige andere. Bedeutend in anderer Hinsicht waren mir General La Harpe, der vor nicht langem in der Schweiz starb, Herr Bertuch aus Weimar, Baron Cotta, Oberst Hövel, Dr. Weissenbach usw.
Was erfahren wir aus dieser Beschreibung? Offenbar gab es Abstufungen zwischen Besuchen von „schätzbaren und merkwürdigen Fremden“ einerseits und denen der „wenigen und nähern Freunde“ andererseits. Selbstverständlich wurden Freunde von Freunden willkommen geheißen, der Verkehrskreis blieb in Bewegung. Man bedankte sich für die Gastfreundschaft mit schlichten aber geschmackvollen Geschenken und hielt Gastgebern und Gästen auch dann noch die Treue, wenn sie längst von dannen gezogen waren. Auf der Namensliste der Eingeladenen versammelte sich ein buntes adelig-bürgerliches Gemenge: Grafen, Fürsten und Barone, aber auch Generäle, Kaufleute und Akademiker. In dieser frühen Phase des Vereinswesens, das sich in der Salonkultur nicht nur einer Pichler, sondern auch einer Rahel Varnhagen, Henriette Herz oder Madame de Staël formierte, war demonstrativer Wohlstand weniger gefragt als die Fähigkeit zu wohlgesetzter Konversation. Die Bewirtung war spartanisch, man reichte Tee, Kekse und Butterbrote, eine opulente Gastlichkeit widersprach dem idealen Programm der Zusammenkünfte. Es ging um das gelehrte Räsonnement, um anregenden Austausch, um das Kennenlernen von interessanten Persönlichkeiten. Bildung war hier die Quintessenz, die untereinander verband und gleichzeitig andere, eben Ungebildete, ausschloss. Gleichzeitig Voraussetzung und Ergebnis der Salon-Kommunikation war diese Art der Bildung nicht an Bildungspatenten ablesbar, sondern ließ sich im doppelten Wortsinn über das Gespräch zwischen verschiedenen Gesellschaftsgruppen fast spielerisch herstellen. Dies galt auch für die seit den 1770er Jahren aufkommenden Lesegesellschaften, die aber anders als die Salons, primär von einem rein bürgerlichen Publikum initiiert und frequentiert wurden. Basis dieser Öffentlichkeit war eine zunächst kleine, aber kritisch diskutierende Gemeinschaft, die nun nicht mehr wenige Standardwerke immer wieder intensiv las, sondern ihre Lektüregewohnheiten auf laufende Neuerscheinungen einstellte und diese gemeinsam erörterte. Horizonterweiterung lautete das Schlüssel-
Bedeutung der Bildung
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wort. Schätzungen zufolge gab es Ende des 18. Jahrhunderts rund 500 solcher Lesegesellschaften. Im „goldenen Zeitalter“ der Vereine entstand ein immer dichteres Geflecht geselliger Vereine. Wie schon ihre Vorläufer bezogen auch sie ihr Selbstverständnis aus der Vorstellung, dass politische Tugend und sozialer Austausch untrennbar miteinander verbunden und aufeinander bezogen seien. Zu Quellen höherer „Menschlichkeit und Cultur“ stilisierten sie die sie gründenden und frequentierenden Bürger. Gerade in der Frühphase wussten Bürger sehr wohl, welches fragile Gut ihnen mit dem freien Vereinswesen zu Gebote stand. Pathosschwanger rühmten Karl von Rotteck (1775–1840) und Carl Theodor Welcker (1790–1869) in ihrem „Staats-Lexikon“ (1834–1843) das „Assoziationsrecht“.
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Vereinsideal aus: Art. Assoziation, in: Karl von Rotteck u. Carl Theodor Welcker: Staatslexikon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften, Altona 1845–1848, Bd. 1, S. 723–747, S. 732 f. Es ist dieses nehmlich der Grundsatz, daß dasjenige, was allen einzelnen Bürgern rechtlich freisteht, wie z. B. das Spazierengehen, das Zeitungslesen, der Ausdruck erlaubter Wünsche und Bitten, die Beförderung guter wohlthätiger patriotischer Zwecke, dadurch an sich noch nicht rechtsverletzend und zum Vergehen wird, daß sie dasselbe gemeinschaftlich, daß sie es in der wesentlichen Grundform menschlicher Bildung und durch Ausübung des ältesten Menschenrechts, nehmlich in freier Association thun. … Es giebt aber kein wichtigeres und heiligeres in dieser rechtlichen Freiheit enthaltenes Recht, als gerade die freie Verbindung des Menschen mit seinen Mitmenschen, für das, was er für gut und recht und heilsam hält, für religiöse und moralische, für wissenschaftliche und künstlerische, für ökonomische und politische Ausbildung und Wirksamkeit. Es ist ein Recht auf Wahrheit und Bildung, ihre Erwerbung und Mittheilung und ein Recht auf Erwerbung und Mittheilung der wichtigsten Mittel und Güter für alle menschlichen Zwecke und Genüsse.
Vereine als Geselligkeitsnetzwerke der Bürgerfamilien
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Die Orientierung am Gemeinwohl galt Rotteck und Welcker als Kern aller Bürgertugend. In „Bürgersinn“ und „Bürgermuth“ sahen sie die Lebensader der bürgerlichen Vereine und in der Geselligkeit mit anderen Bürgern die Chance, sich stetig selbst zu „verbessern“. Durch die zwanglose Hinwendung zum wahlverwandten Vereinsbruder konnte die gewünschte Selbstveredelung zum intellektuell, moralisch und emotional wohltemperierten Subjekt verwirklicht und der Grad der Verwirklichung durch Spiegelung im Anderen ermessen werden. Neben solch hehren Idealen sollten die Vereine aber schlicht auch eine Gegenwelt bieten, eine Gegenwelt zur fordernden und konfliktträchtigen Berufswelt ebenso wie zur weiblich dominierten Familienwelt. Durchaus absichtsvoll war dieser Raum der Entspannung lange Zeit rein männlich besetzt, frei von den fordernden Konventionsgeboten einer gemischt-geschlechtlichen Gesellschaft. Dennoch profitierte die Familie als Ganze von der väterlichen Vereinsmitgliedschaft. Nicht zuletzt erfüllten die Vereine ganz konkrete soziale, ökonomische und politische Zwecke, ohne dass diese ausdrücklich in den Satzungen genannt wurden. Zog eine Bürgerfamilie von einer Stadt in die
Grenzen der Öffentlichkeit: Exklusionen
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andere, was unter den vielfach versetzten beamteten Bürgern im 19. Jahrhundert immer häufiger der Fall wurde, führte einer der ersten Wege das Familienoberhaupt zu einem der relativ offenen Musik- oder Kunstvereine. Hier traf man, da konnte man sicher sein, auf die anerkannten Spitzen der städtischen Gesellschaft. Ein Großteil der Bürgermänner des 19. Jahrhunderts war nicht nur Mitglied in einem der vielen Vereine, sondern brach nahezu jeden Abend zu einer anderen Örtlichkeit auf, um über die neuesten politischen Entwicklungen zu diskutieren, einen Vortrag über Schiller zu hören, ein Lied von Mozart anzustimmen, eine neue Erfindung zu bewundern, die Gründung von Krankenhäusern, Theatern oder Mädchenschulen zu planen, eine Kunstausstellung zu konzipieren oder einfach in vertrauter Runde zu trinken und zu schwadronieren. Darüber hinaus verhalfen die Vereinsmitgliedschaften dazu, neue Geschäftsverbindungen herzustellen, einen Karrieresprung vorzubereiten, einen passenden Schwiegersohn zu finden, die richtigen Verkehrskreise der Ehefrau zu umgrenzen und die angemessenen Spielgefährten der Kinder zu wählen. Kurz: Hier versammelten sich die Oberhäupter der Familien, mit denen es zu verkehren galt, hier wurde die Bürgergesellschaft im Kleinen gelebt.
3. Grenzen der Öffentlichkeit: Exklusionen Bürgerstolz auf der einen Seite begegnete Skepsis der Obrigkeit auf der anderen. „Es spricht sich schon herum, daß die Vereine gefährliche Schulen sind, in denen sich die Leute an öffentliche Verhandlungen gewöhnen, daß sie, wenn der Wind einmal umsetzt, plötzlich in politische Klubs umschlagen können“, trug Karl Varnhagen von Ense am 4. Dezember 1844 in sein Tagebuch. In der Tat waren gerade die Vierzigerjahre dazu angetan, vielen Vereinen einen politischen Anstrich zu verleihen. 1850 reagierte das preußische Vereinsgesetz auf den sich drehenden Wind: Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenen Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes. Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, Nr. 20, vom 11. März 1850
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§ 2 Die Vorsteher von Vereinen, welche eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten bezwecken, sind verpflichtet, Statuten des Vereins und das Verzeichnis der Mitglieder binnen drei Tagen nach Stiftung des Vereins, und jede Aenderung der Statuten oder der Vereinsmitglieder binnen drei Tagen, nachdem sie eingetreten ist, der Ortspolizeibehörde zur Kenntnißnahme einzureichen, derselben auch auf Erfordern jede darauf bezügliche Auskunft zu ertheilen. Die Ortspolizeibehörde hat über die erfolgte Einreichung der Statuten und der Verzeichnisse, oder der Abänderung derselben, sofort eine Bescheinigung zu ertheilen. … § 8 Für Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, gelten außer vorstehenden Bestimmungen nachstehende Beschränkungen: a) sie dürfen keine Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen;
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Bürgerliche Öffentlichkeit
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b) sie dürfen nicht mit anderen Vereinen gleicher Art zu gemeinsamen Zwecken in Verbindung treten, insbesondere nicht durch Komite’s, Ausschüsse, Central-Organe oder ähnliche Einrichtungen oder durch gegenseitigen Schriftwechsel. Werden die Beschränkungen überschritten, so ist die Ortspolizeibehörde berechtigt, vorbehaltlich des gegen die Betheiligten gesetzlich einzuleitenden Strafverfahrens, den Verein bis zur ergehenden richterlichen Entscheidung (§ 16) zu schließen. Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge dürfen den Versammlungen und Sitzungen solcher politischen Vereine nicht beiwohnen. Werden dieselben auf die Aufforderung des anwesenden Abgeordneten der Obrigkeit nicht entfernt, so ist Grund zur Auflösung der Versammlung oder der Sitzung (§§ 5.6) vorhanden.
Vereinsmitgliedschaft jüdischer Bürger
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Auch wenn immer wieder „von oben“ argwöhnisch beäugt: Das Vereinsleben florierte. Gleichzeitig erweiterten die Vereine selbst den Kreis der Ausgeschlossenen. Vereinsmitgliedschaft galt als Eintrittsbillet in die bürgerliche Gesellschaft, aber die Mitgliedschaft selbst musste erst mühsam errungen werden. Für Minderheitengruppen wurde der erreichte oder verwehrte Zugang zu einem der Vereine zum Gradmesser ihrer Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Wie weit etwa die Vereine jüdischen Bürgern offen standen, differierte nach Zeit und Region. Anders als den christlichen Minderheiten war der jüdischen Kaufmannschaft der Eintritt in bürgerliche Vereine noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts verwehrt geblieben. Im Vergleich zu den Reformierten und Katholiken in lutherisch dominierten und den Protestanten in katholischen Städten, deren Emanzipation sich fast zeitgleich mit der Vereinsbildung vollzog, waren die Widerstände gegenüber den jüdischen Bürgern ungleich größer. Dabei hatten sich schon in der ersten Jahrhunderthälfte mentale Annäherungen unverkennbar vollzogen: Binnen Kurzem griffen emanzipatorische Ideen eines aufgeklärten modernen Reformjudentums, die sich an den Vorstellungen eines Moses Mendelssohn (1729–1786) und Christian Wilhelm von Dohm (1751–1820) orientierten, in den jüdischen Gemeinden um sich. Zu Recht hat Shulamit Volkov betont, dass sich weite Kreise der jüdischen Bevölkerung lange vor dem 3. Juli 1869, als die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes alle mit der Religionszugehörigkeit verbundenen Einschränkungen und Ausschlüsse untersagte und damit auch die Juden zu Vollbürgern erklärte, bereits als Teil einer bürgerlichen Gesellschaft verstanden. Dieser Prozess der Verbürgerlichung hieß vor allem „Akkulturation“ – ein Prozess, der von nicht-jüdischen und jüdischen, aufgeklärten Bildungsbürgern gemeinsam vorangetrieben wurde. Jüdische Bürger wollten nicht nur wie die anderen, sondern auch mit den anderen leben, d. h. auch Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit sein. Das nicht-jüdische Bildungsbürgertum, das zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Bedingungen der Verbürgerlichung aufstellte, verlangte von Eintrittswilligen in die bürgerliche Gesellschaft, zunächst selbst „Bildungsbürger“ zu werden. Auserkorene Stätten für diesen Bildungsprozess waren die Vereine. So erscheint es nur konsequent, dass Juden, die in den alten, auf zünftigen und ständischen Prinzipien fußenden gesellschaftlichen Organisationen nicht geduldet worden waren, nun jede Anstrengung unternahmen, diesen neuen Vereinigungen beizutreten.
Grenzen der Öffentlichkeit: Exklusionen Doch die Hindernisse, die es dabei zu überwinden galt, waren hoch. Selbst in den Freimaurerlogen, die programmatisch religiöse Toleranz großschrieben, ging die Aufnahme jüdischer Logenbrüder selten ohne lange Kontroversen vonstatten – und das nicht nur in Deutschland. Während des ausgehenden 18. Jahrhunderts gelang es jüdischen Bürgern gelegentlich, in die neuen, für die entstehende bildungsbürgerliche Kultur so charakteristischen Lesegesellschaften einzutreten. An der Jahrhundertwende spielten Juden und Jüdinnen in der Berliner Salon-Gesellschaft eine gewisse Rolle, doch dieses Phänomen, so beeindruckend es für seine Zeit war, blieb marginal. Im Großen und Ganzen öffnete sich das Tor zur Welt der bürgerlichen Vereine selbst für die meisten hochgebildeten Juden nur einen Spalt breit. Diese Erfahrungen der jüdischen Bevölkerung waren paradigmatisch für den Umgang der bürgerlichen Vereinsöffentlichkeit mit Minderheiten. Die hehren Ideale, die vorn auf den Vereinssatzungen prangten, wurden häufig durch restriktive Ausschlüsse im Kleingedruckten ad absurdum geführt. Konfessionelle Barrieren erwiesen sich für den Vereinszugang ebenso wie soziale Unterschiede als häufig unüberwindbar. Auch Frauen blieb die aktive Teilnahme an verschiedenen bürgerlichen, auch nicht-politischen Vereinen untersagt. „Das Weib bleibt auf den kleinen Kreis beschränkt“, lautete das zeitgenössische Motto; der „kleine Kreis“ hieß die Familie. Weibliche Aktivitäten außerhalb sollten kontrolliert und tunlichst eingeschränkt werden. Die bürgerliche Öffentlichkeit sollte den Männern vorbehalten bleiben, weibliche Grenzgänger waren nicht vorgesehen, wurden gar als Gefahr beschworen, stand doch nichts Geringeres als der Erhalt der Familie auf dem Spiel. Die Vereine waren damit beinahe ausnahmslos Räume für Männer. Nicht nur in den philanthropischen, mit konkreten Reformprojekten befassten Gesellschaften blieben die Männer unter sich; auch die Geselligkeits- und Bildungsvereine schlossen Frauen aus. Zwar gab es einige Lesegesellschaften, zu denen Frauen Zutritt hatten. In manchen Musikvereinen waren sie als Begleiterinnen ihrer Männer zugelassen, und bei öffentlichen Konzerten rechnete „es sich die Gesellschaft zur Ehre“, wie es hieß, wenn Damen im Publikum saßen. Als zahlende und mitwirkende Vereinsmitglieder jedoch waren sie nicht willkommen. Dieser Ausschluss der Weiblichkeit wurde überdies durch das Vereinsgesetz buchstäblich legitimiert, der Ausschluss der jüdischen Minderheit hatte jedoch keine rechtliche Basis. In den relativ liberalen 1840er und 1860er Jahren schienen sich dann einige Vereine etwas zu öffnen, unter dem anschwellenden Nationalismus in den 1880er Jahren mit einem anschwellenden Antisemitismus im Gefolge wurde eine Integration erneut erschwert. Trotz anderslautender Rhetorik zeigte sich die bürgerliche Öffentlichkeit immer weniger offen. Den Ausgeschlossenen blieb nun nur eine Wahl: Sie mussten sich eine eigene Vereinsöffentlichkeit schaffen. Viele Juden und einige Frauen taten dies. Ende des 19. Jahrhunderts folgten auch immer mehr Arbeiter diesem Weg. Denn: Auch wenn in den Vereinssatzungen häufig zu lesen war, dass allen „gebildeten Männern“ der Zutritt offen stünde, konnte ein Arbeiter noch so belesen sein, spätestens an den häufig hohen Mitgliedsbeiträgen scheiterte er. Bei allem bürgerlichen Engagement, den aufklärerischen Zeitgeist unter die Massen zu tragen, spricht aus der Praxis der Vereine eine ge-
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Vereinsmitgliedschaft von Bürgerinnen
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Bürgerliche Öffentlichkeit
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hörige Portion Misstrauen gegen die ach so „ungebildeten Stände“. In den Volks- und Arbeiterbildungsvereinen ging es nicht um den Gedankenaustausch unter Gleichgesinnten. Eine klare Hierarchie wiederholte die Gesellschaftsordnung, die eigentlich im Verein überwunden werden sollte: Die Bürger im Vorstand fungierten als Lehrmeister, die Arbeiter hatten sich als gelehrige Schüler zu gebärden. Die universale Utopie einer Gesellschaft der Gebildeten, die sich sukzessive zur bürgerlichen Gesellschaft erweitern sollte, blieb infolgedessen – trotz aller Anstrengungen im Einzelnen – auf eine Gesellschaft der Bürger beschränkt.
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III. Bürgerliche Familie Herzstück der bürgerlichen Kultur war ein eigenes Familienideal. Danach sollte die Familie * auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden sein, * sich primär aus Vater, Mutter und einer überschaubaren Kinderzahl zusammensetzen, * abgeschottet sein von Arbeits- und Berufswelt, * vornehmlich um die Erziehung der in ihren Eigenarten und Bedürfnissen „entdeckten“ Kinder kreisen, * vor allem dem Aufgaben- und Verantwortungsbereich der Bürgerfrau unterstellt sein, die dank ihrer ihr zugeschriebenen Geschlechtscharaktere als für die Aufgabe prädestiniert stilisiert wurde, und durch ein auskömmliches Einkommen des Gatten und Vaters sowie durch „dienstbare Geister“ genügend Mittel und Muße dafür bereitgestellt bekommen sollte.
Kennzeichen des bürgerlichen Familienideals
So und ähnlich war es in einer Vielzahl von normativen Schriften zu lesen, so und ähnlich versuchte es das Bürgertum weitgehend zu verwirklichen. Und nicht nur das Bürgertum: Auch für andere soziale Schichten, selbst wenn häufig die materielle Ausstattung für eine konsequente Umsetzung fehlte, galt das bürgerliche Familienideal als erstrebenswert. Einerseits erfuhr die Familie durch das Auseinandertreten von Arbeitsund Familienleben einen einschneidenden Funktionsverlust. Von einer Produktionssphäre wurde sie zu einer reinen Reproduktions- und Rekreationssphäre. Die Welt der Arbeit verlagerte sich mehr oder weniger aus den häuslichen vier Wänden heraus, zumindest aber aus dem unmittelbaren Gesichtskreis der Frauen und Kinder. Andererseits erlebte die Familie eine ideelle Aufwertung, indem sie als harmonische Gegenwelt zur fordernden Außenwelt entworfen wurde. Die innerfamiliale Aufgabenteilung, die Bürgermännern die familienferne Berufswelt und den Bürgerfrauen die Familiensphäre zuwies, wurde als den „angeborenen“ Geschlechtscharakteren entsprechend und damit als „natürlich“ deklariert. Zeitgenössische Lexikonartikel halfen eifrig mit, diesem Modell ein normatives Fundament zu geben. Frauen wurden darin als passiv, bewahrend, emotional, irrational, anpassungsbereit, wankelmütig, emsig und bescheiden charakterisiert, Männer als aktiv, selbständig, tapfer, vernünftig, energisch, zukunftsorientiert und weitblickend. Mit einer solchen polar entworfenen Geschlechterordnung wurden nicht nur Ungleichheiten festgezurrt, sondern gleichzeitig auch in einem System der Über- und Unterordnung verankert. Entscheidungen traf der Ehemann und Vater, seiner absoluten Autorität unterstanden sämtliche Familienangehörigen. Wie aber vertrug sich die Idee weiblicher Unterordnung mit der Idee allgemeiner Chancengleichheit und Entfaltungsfreiheit – ohne Rücksicht auf Geburt und damit auch Geschlecht? Immerhin: Auch die Meisterdenker des utopischen Bürgergesellschaftsprogramms trieb diese Unstimmigkeit um, beflissen suchten sie nach Rechtfertigungen. Dabei begaben sie sich auf argumentative Schlingerkurse: Da die Frauen, so etwa Johann Gottfried Her-
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Bürgerliche Familie
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der (1744–1803) in seiner Zeitschrift „Adrastea“, fortwährend im „Paradies“ der „häuslichen Gesellschaft“ lebten und damit Herrin über den Raum des „Reinmenschlichen“ wären, bräuchten sie nicht, anders als die sich in der Berufswelt tummelnden Bürgermänner, die Kompensationssphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit. Bürgerfrauen hätten sich und ihre „Bestimmung“ als „Erzieherin der Menschheit“ demnach schon „gefunden“, Bürgermänner hingegen müssten sich für ihren Selbstfindungsprozess eigene Formen und Institutionen außerhalb der Familie suchen.
1. Liebe und Kalkül: Bürgerliche Familiengründungen Ideal der Liebesheirat
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Zusammenfinden sollten Mann und Frau in der Ehe. Nicht als politische und ökonomische Herrschaftssicherung, wie sie der an geburtsständischen Privilegien und äußeren Konventionen orientierte europäische Adel noch bis ins 19. Jahrhundert hinein instrumentalisierte, sondern als eine von allen sachlichen Interessen freie emotionale Beziehung zwischen zwei Partnern sollte gemäß der bürgerlichen Eheauffassung der Bund fürs Leben geschlossen werden. Liebe, nichts als Liebe sollte den Ausschlag bei der Partnerwahl geben. So belehrt wurden die Bürgerinnen und Bürger in Zeitschriften, Gedichten und Romanen. Vor allem die Dichter der Romantik führten einen Federfeldzug gegen die berechnende Vernunftheirat und für die reine Neigungspartie. 1796 deklarierte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in seinem Naturrecht die Ehe als Herzenssache: Liebesheirat aus: Johann Gottlieb Fichte, Naturrecht, 2. Teil, Jena u. Leipzig 1796/97, § 15, S. 187. Der Mann und die Frau sind innigst vereint. Ihre Verbindung ist eine Verbindung der Herzen und der Willen. … Sonach hat der Staat über das Verhältniß beider Ehegatten gegen einander gar keine Gesetze zu geben, weil ihr ganzes Verhältniß gar kein juridisches sondern ein natürliches und moralisches Verhältniß der Herzen ist. Beide sind Eine Seele.
Die Botschaft war klar: Ehe heißt Liebe, Mann und Frau sind ein Herz und eine Seele. Doch selbst wenn Bürgerinnen und Bürger diese Schriften mit feuchten Augen lasen: So ganz beherzigten die Wenigstens das darin gepriesene Ideal. Das bürgerliche, natürlich nicht laut ausgesprochene Motto lautete dagegen: Ehe heißt Liebe und Vernunft. Und selbst „Liebe“ meinte dabei nicht eine „romantische Liebe“, die alle Konventionen über Bord werfen ließ, sondern eine wohltemperierte, eine „vernünftige“ Zuneigung. Denn: Auch wo die Liebe beschworen wurde, schwang das Kalkül oft mit. Allein aufgrund gegenseitiger Zuneigung den Bund fürs Leben einzugehen, wäre wenigen Bürgerinnen und Bürgern in den Sinn gekommen. Familienrücksichten sprachen ein gewichtiges Wort mit. Lange unhinterfragt blieb auch im Bürgertum das Mitspracherecht der Eltern bei der Eheschließung. Zeitgenössische Lithographien zeigen noch um die Jahrhundertmitte
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Liebe und Kalkül: Bürgerliche Familiengründungen
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Szenen des „Um-die-Handanhaltens“. Auf denen sitzt der künftige Ehemann, sichtlich nervös, den skeptisch dreinblickenden Brauteltern gegenüber; die Braut ist nur, offenbar heimlich lauschend, schattenhaft am Türspalt zu erkennen. Ein Thema wird bei diesem Gespräch unter sechs Augen mit Sicherheit zur Sprache gekommen sein: die finanzielle Situation des Bräutigams. Zu den üblichen und ersten Fragen, die Bürgerväter ihren potenziellen Schwiegersöhnen stellten, gehörte die nach ihrer finanziellen Situation und beruflichen Position. Nicht selten ließen Bürgerväter detaillierte Nachforschungen zur Finanzkraft des möglichen Gatten ihrer Tochter folgen. Denn eines stand fest: Eine gesicherte berufliche Existenz des Ehegatten war unabdingbare Voraussetzung für die Statuswahrung. Dennoch: Das war nur die Zahlenseite der Medaille. Liebesbriefe zwischen Verlobten, je nach Gusto und Gabe der Schreibenden poetisch oder im Poesiealbenstil verfasst, bezeugen wortreich den Erfolg der die Liebe preisenden Poeten. So wenig wie es reine Neigungsehen gab, so wenig angemessen waren reine Vernunftpartien. Söhne und Töchter des Bürgertums überließen die Entscheidung, an wessen Seite sie vor den Traualtar traten, zunehmend weniger allein ihren Eltern. Während die Bürgersöhne ohnehin erst nach ihrer in der Regel langwierigen Berufsausbildung in bereits fortgeschrittenem Alter und daher dem Elterneinfluss weitgehend entzogen auf Brautschau gingen, waren nun auch Bürgertöchter weniger bereit, den ersten Heiratsantrag anzunehmen, wenn ihnen der Kandidat nicht zusagte. Am 20. Mai 1852 schrieb die sechzehnjährige Arzttochter Anna Maria Sauer keineswegs erfreut in ihr Tagebuch: Heiratsantrag Tagebuch der Anna Maria Sauer, Eintrag vom 20.5.1852, Kempowski Archiv A 259.
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Dieser Tag scheint ein wichtiger Tag in meinem Leben werden zu wollen. Heut erhielt ich oder vielmehr der Vater eine Brief, dessen Inhalt ich nicht geahnt hätte. Es war nämlich ein Heiratsantrag von einem Herrn Brachmann, mit dem ich zwar einige Male getanzt, den ich aber außerdem kaum kenne. Grosser Gott! Ich und heirathen! Im ersten Augenblick lachte ich darüber, später aber stiegen auch ernste Gedanken in mir auf. Meine Jugend ist bisher heiter und ungetrübt dahingeflossen, wie manche Unannehmlichkeiten werden sich nun entgegenstellen!
Sowohl für sie wie auch für ihre Eltern stand es zu diesem Zeitpunkt außer Frage, dass diesem Unbekannten ein Korb zu geben sei. Ein Jahr später, fast zur gleichen Zeit, wurde Fräulein Sauer wieder mit dem gleichen Ansinnen konfrontiert, wobei sie diesmal jedoch schon nicht mehr den Gedanken ans Heiraten an sich weit von sich schob, sondern nach quälendem Nachdenken am 26. April 1853 sich entschied, den Antrag abzulehnen, da von ihrer Seite „besonders der tiefste Grund, die innige wahre Liebe“ sich partout nicht einstellen wollte. Doch trotz allen Mitspracherechts der Brautleute: „Mesalliancen“, also nach Eltern- und Gesellschaftsmeinung nicht-standesgemäße Beziehungen, waren wenig wahrscheinlich. Die Heiratsmärkte filterten die Heiratskreise. An den Orten, wo die Zukünftigen sich in der Regel trafen, weilte man innerhalb eines festgefügten sozialen Rahmens unter sich. Drei typische Treffpunkte und Anlässe lassen sich ausmachen:
Heiratskreise
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Bürgerliche Familie
III. Heiratsmärkte
Unterschiede zwischen Bildungs- und Besitzbürgertum
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Zum einen dienten über das ganze 19. Jahrhundert hinweg gesellschaftliche Inszenierungen dazu, Töchter und Söhne „in die Gesellschaft“ einzuführen, sie mit deren Gepflogenheiten vertraut und mit Angehörigen der eigenen Gesellschaftskreise bekannt zu machen. Familienfeiern, Bälle, Diners und Hauskonzerte gehörten zu diesen Veranstaltungen, bei denen der gegenseitige Umgang stark ritualisiert und etwaige Verstöße sanktioniert wurden. Hierbei musste man die Vertrautheit mit gepflegten Manieren unter Beweis stellen, hier demonstrierten Frauen und Töchter überdies mit Garderobe und Schmuck die Finanzkraft der Familie. Die Gästeliste dieser Veranstaltungen wurde wohlbedacht. Häufig erweckte sie gar den Eindruck, dass die Gastgeber bei der Komposition der Tischordnung gezielt Paarbildungen im Auge hatten. Eine zweite und im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in Mode kommende Möglichkeit der Kontaktaufnahme waren Bildungsreisen und Kuraufenthalte. Da diese Bildungsreisen in der Regel zu kulturhistorisch interessanten Stätten führten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dort auf kunstbeflissene Klassengenossen und somit auf geeignete Heiratskandidaten zu treffen. Ähnliches galt für die Kuraufenthalte. In der Regel setzte sich auch die Kurgesellschaft aus einem elitären, zumeist bürgerlich-adelig durchmischten Zirkel zusammen. Fern der Heimat, doch im Grunde in einer heimischen Gesellschaft, schienen in der Kurgesellschaft die starren Konventionen ein Stück weit gelockert, so dass sich leichter zarte Bande knüpfen ließen. Am Jahrhundertende öffnete sich europaweit noch ein dritter Heiratsmarkt: Sport, im englischen Bürgertum längst en vogue, wurde nun generell salonfähig. Das galt vor allem für Tennis und Schlittschuhlauf. Auf dem Tennisplatz oder auf dem Eis konnten sich die Jugendlichen offensichtlich eher unverbindliche und unbeobachtete Flirts erlauben, als es bei den in der Regel nach einer strengen zeremoniellen Schablone ablaufenden gesellschaftlichen Anlässen der Fall war. Doch unabhängig davon, ob man sich auf mehr oder weniger glattem Parkett zum Walzer oder Eistanz, auf der Kurpromenade oder auf dem Tennisplatz traf: Alle die hier skizzierten Schauplätze des Näherkommens begrenzten den sozialen Kreis. Dass trotz dieser so eingeschränkten Wahlmöglichkeit zwischen den Einzelnen wirklich Zuneigung erwachsen konnte, beruhte nicht zuletzt auf gerade diesem Faktum. Sich dort scheinbar spontan ergebende Wahlverwandtschaften gründeten auf gemeinsamen Vorlieben und Geschmacksvorstellungen, einem Tableau attraktiv erachteter Eigenschaften, auf einem ähnlichen Habitus. Von daher verwundern die im Bürgertum stark endogam geprägten Heiratskreise wenig; bei der Partnerwahl wurden selten die bürgerlichen Grenzen überschritten. In welchem Verhältnis Neigung und Vernunft zueinander standen, hing auch davon ab, ob die Brautleute aus bildungs- oder wirtschaftsbürgerlichen Kreisen kamen. Gab es ein Unternehmen als familialen Fixpunkt im Hintergrund, sprachen neben der Zuneigung auch ganz unverhohlen praktische Rücksichten mit. Die Einheirat in eine „gute Familie“ galt als willkommene Chance, den Kreis derjenigen zu erweitern, mit denen man nicht nur geschäftlich, sondern auch privat verkehrte. Mit „planvollen Querheiraten“ (Jürgen Kocka) Beziehungen zwischen Unternehmen durch Familienbezie-
Liebe und Kalkül: Bürgerliche Familiengründungen
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hungen zu stärken und zu festigen, war vor allem in den Anfangsjahren der Industrialisierung gang und gäbe. Mehr als später waren Unternehmer aufeinander verwiesen, wenn es darum ging, kollektive Interessen gegenüber der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung durchzusetzen. Wenn man dabei einen festen Verwandtenstamm an seiner Seite hatte, umso besser. Folgerichtig trafen sich im ganzen 19. Jahrhundert häufig Söhne und Töchter aus dem Wirtschaftsbürgertum vor dem Traualtar. Neben der Maximierung geschäftlicher und gesellschaftlicher Möglichkeiten verhalfen solcherart geplante Familiengründungen überdies zu einer Minimierung möglicher Risiken. Spielten sich geschäftliche Transaktionen im Rahmen eines weitverzweigten Verwandtschaftskreises ab, bewegte man sich dabei in einem Netzwerk gegenseitigen Vertrauens, das die vertragliche Regelungsdichte reduzieren, Kosten zur zuverlässigen Informationsbeschaffung senken sowie diejenigen für die Kontrolle von Geschäftsbeziehungen einsparen helfen konnte. Den krönenden Höhepunkt der Werbungs- und Verlobungsphase bildete eine glanzvolle Hochzeitsfeier, deren Ausrichtung traditionsgemäß dem Brautvater oblag. Ein solcher vermerkte 1895 in seiner Haus-Chronik: Hochzeitsfeier aus: Ingeborg Weber-Kellermann: Vom Handwerkersohn zum Millionär. Eine Berliner Karriere des 19. Jahrhunderts, München 1990, S. 131.
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Polterabend war am Montag, den 6. Mai, in unserer Wohnung. Er verlief bei herrlichem Wetter unter Benutzung des Gartens ganz entzückend. An 50 Personen waren anwesend. Die Aufführungen sind zur Erinnerung gedruckt. … Hochzeit war am Mittwoch, den 8. Mai. Die Ziviltrauung in Steglitz, in Berlin die kirchliche in der neuen Kirche von unserem alten Freund Prediger Richter aus Mariendorf. Das Festmahl fand in Berlin im ‚Englischen Haus‘, Mohrenstraße 49, statt, fein und vornehm. 85 Personen nahmen daran teil. Es hat 2575 Mark gekostet.
„Die Neuvermählten sind um 10 Uhr auf die Reise gegangen“, lautete die abschließende Eintragung, die Hochzeitsreise hatte sich eingebürgert. Bezüglich der Orte, zu denen die Flitterwöchner aufbrachen, kristallisierten sich gewisse Präferenzen heraus, die den bürgerlichen Anstrich dieser tours d’amour akzentuierten. Häufig stand Italien auf dem Routenplan, wo im Schatten von Kunst und Architektur und damit vertrauten Terrains die erstmalige längere Zweisamkeit erleichtert werden sollte. Während dieser Reisen erlebten die Eheleute auch ihre erste gemeinsame Nacht. Viele junge Bürgerfrauen standen völlig unvorbereitet dem für sie unverständlichen ehelichen Ansinnen ihres Gatten gegenüber, der ihnen vordem eher in respektvoller Distanz begegnet war. Dieses „BrautnachtTrauma“ (Peter Gay) bot vor allem den weiblichen Bürgern kaum eine positive Ausgangsbasis für ein erfülltes eheliches Sexualleben. Während für sie in den meisten Fällen die Nacht nach der Vermählung den ersten sexuellen Kontakt brachte, waren die Ehemänner zumeist schon in der ars amandi unterwiesen. Ihre Lehrmeisterinnen kamen dabei in der Regel aus unterbürgerlichen Schichten. Wie diese so unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen der Eheleute ihr Miteinander prägten, lässt sich nur ahnen. Das sonst so beredte Bürgertum verstummte vor bürgerlichen Schlafzimmertüren.
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Bürgerliche Familie
III. Ehealltag
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So wenig wir über bürgerliche Nächte wissen: Wer tagsüber in der Ehe das Sagen haben sollte, stand für die Flut von Eheratgebern fest: Familienoberhaupt war der Ehemann und Vater. Gestützt wurde seine Position noch durch die häufig große Altersdifferenz zwischen den Eheleuten. Bürgerfrauen waren in der Regel zehn oder mehr Jahre jünger als ihre Männer. Dass bürgerliche Frauen und Männer sich zu so unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Lebens das Ja-Wort gaben, hing damit zusammen, dass die Bürgersöhne erst nach einer langwierigen Berufsausbildung – sei es nach einem Studium und häufig daran anschließender Referendars-, Assistenten- und Vikarszeit, sei es nach längeren, häufig auswärtigen Unternehmenspraktika – auf Freiersfüßen wandelten. Ihre Auserwählten wiederum hatten eine eher poröse, einseitige und früh abgeschlossene Ausbildung durchlaufen. Doch schon vor der Ehe war der Horizont, in dem sich Bürgerfrauen und Bürgermänner bewegten, ein anderer. Für zeitgenössische Publizisten wie dem Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl, der in seiner Abhandlung über die „Bürgerliche Gesellschaft“ der Familie ein eigenes, großes Kapitel widmete, war dabei weniger die sich früh abzeichnende Verengung des Wirkungskreises der Frauen auf die Familien das Problem, sondern die Würdigung dieser Position. „Weibliche“ und „männliche“ Sphäre aus: Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie, Stuttgart u. Berlin 1925 (1. Aufl., 1854), S. 101. Das Weib wirkt in der Familie, für die Familie; es bringt ihr sein Bestes zum Opfer dar; es erzieht die Kinder, es lebt das Leben des Mannes mit … Nun kann aber doch wahrlich die Frau fordern, nicht daß der Staat ihre Person teilnehmen lasse an dem öffentlichen Leben, wohl aber, daß er die große politische Macht der Familie, in weit höherem Maße als gegenwärtig, berücksichtige bei der Volksvertretung wie in der Staatsverwaltung. Wird man der Familie gerecht, dann wird man den Frauen gerecht, denn der Herd des Hauses ist ja der Altar, darauf sie ihr verschwiegenes und doch so entscheidendes Wirken für Gesellschaft und Staat niedergelegt haben.
Eine Aufwertung der fraueneigenen Familiensphäre galt es zu fördern. Literatur, die diesem Auftrag nachkam, gab es im 19. Jahrhundert zuhauf. Pfarrer, Journalisten, Pädagogen und Mediziner machten Bürgerfrauen darin ihre „Berufung“ schmackhaft, indem sie nicht müde wurden, ihre Bedeutung zu unterstreichen. Und viele Bürgerfrauen fanden wirklich Gefallen an der „hehren“ Aufgabe, betrachteten die Familie als ihren ureigenen Ort, an dem sie gestaltend wirken konnten. Als Hüterin des auf der bürgerlichen Werteskala weit oben platzierten Familiensinns gaben sie Rhythmus und Tonfall des Familienlebens vor, führten Regie über die familialen Alltage und Festtage, erzogen die Kinder zu künftigen Bürgerinnen und Bürgern, bestritten den Haushalt mit einem häufig wenig opulenten Budget, inszenierten sich und die Familie bei Geselligkeiten, befehligten das Dienstmädchen, pflegten den Kontakt zur nahen und weiten Verwandtschaft und bewährten sich als Krisenmanagerin. Eine Fülle von Pflichten fürwahr, die hier zusammen kam. Entsprechend mischten sich Stolz und Sorge in den Tagebüchern von Bürgerfrauen. So auch bei der sechsfachen Mutter und Berliner Kaufmannsgattin Helene Eyck:
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Liebe und Kalkül: Bürgerliche Familiengründungen
Aufgaben der Frau aus: Helene Eyck: Tagebuch, Eintrag vom 26. November 1897, Privatarchiv Eyck, Calgary, Alberta, USA.
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Ein Vater solch grosser Familie mit ihren Ansprüchen an das Dasein hat’s wahrlich nicht leicht, besonders wenn er im vorgerückten Lebensalter noch um das tägliche Brot zu schaffen hat und weniger denn je Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft ist. … Und dagegen die grossen Kinder! Das volle Haus – der Wunsch, angenehm zu leben, die Erziehung in jeder Beziehung zu vollenden, das alles zusammen gezogen und verglichen giebt ein Exempel das leider nicht stimmt. Und wo ist hier der Hebel anzusetzen? Wo die Besserung zu erwarten? Natürlich zuerst bei mir, durch meine Kunst sollte es geschehen, dass wir auf einem einfacheren und kleineren Fusse leben. Und wir thun es auch und bin ich mir bewusst für meine Person besonders mich wirklich einzuschränken! Auch mit der Kleidung der Kinder geschieht es – aber ob im Haushalt nicht manches noch viel einfacher sein könnte, bestreite ich nicht, füge jedoch hinzu, dass es ausserordentlich schwer ist, wenn man gewisse Lebensgewohnheiten und Anforderungen, wozu ich in erster Reihe die Erhaltung des Bestehenden, also der Wirthschaft rechne, nicht ablegen möchte. Ja und ich möchte nicht gern, möchte doch den Kindern und uns ein angenehmes Heim bieten, möchte ihnen auch Freundschaft und Umgang erhalten und sie noch nicht allzusehr mit den Sorgen des Lebens bekannt machen.
Der Spagat zwischen bürgerlichem Anspruch und Wirklichkeit erwies sich in der Tat als „Kunst“, in der sich Bürgerfrauen tagtäglich zu bewähren hatten. Hinzu kam die Aufwertung der Mutterschaft; im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie in einem anschwellenden Chor von Kirchenmännern, Sozialmoralisten, Pädagogen, Schriftstellerinnen und Ärzten als gleichsam heilige Aufgabe verklärt. Gebetsmühlenartig machten sie sich über die Instinkte, Gefühle und Pflichten der Mütter Gedanken, die Väter kamen in diesem primär bürgerlichen Diskurs kaum vor. Im Bürgeralltag sah das anders aus. Hier ließen sich Bürgerfrauen und -männer keineswegs davon abhalten, die ihnen zugewiesene Sphäre zu verlassen. So wie Bürgermänner auch mal unvernünftig agierten und sich ihre Gefühle nicht verbieten ließen – auch wenn sie diese dem Männlichkeitsideal der zweiten Jahrhunderthälfte folgend weniger nach außen trugen – so agierten ihre Frauen durchaus auch öffentlich, weitblickend und rational. Die meisten Bürgerinnen und Bürger zeigten sich als regelmäßige Grenzgänger, die die normative Mauer zwischen privat und öffentlich jeden Tag aufs Neue bröckeln ließ. Ehefrauen, die berufliche Ratschläge gaben, finden sich dabei ebenso wie Ehemänner, die sich über das Stillen der Säuglinge Gedanken machten. Im August 1856 schrieb Theodor Fontane kurz nach der Geburt seiner Tochter an seine Gattin Emilie: Eheleben aus: Theodor an Emilie Fontane, Brief vom 2.8.1856, in: Emilie u. Theodor Fontane: Dichterfrauen sind immer so. Der Ehebriefwechsel 1844–1857, hg. v. Gotthard Erler, Berlin 1998, S. 371 f.
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Hieran knüpf’ ich am besten gleich einige Bemerkungen über Georgens Schwesterchen. Daß Du, unberufen und unbeschrien, so wohl bist, freut mich außeror-
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Bürgerliche Familie
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dentlich zu hören. Pflege Dich gut, habe Bewegung aber mäßig, iß Fleisch und trinke (nach George’s Vorschrift) Kaffe, so wird mit Gottes Hülfe alles gut gehn. In Betreff einer Amme kann ich von hier aus wirklich keinen Rath geben. Alle Ammen sind greulich aber nothwendig. Da liegt ohngefähr mein Rath drin, d. h. nimm eine und bezwinge Deine Abneigung in dem Gefühl, daß solche lebendige Milchquelle nöthig ist. Fühlst Du vorher, daß Du das nicht kannst, so nimm lieber keine. Sonst entsteht Aerger, Du wirst krank, die Amme auch und schließlich auch das Kind. Nur so viel sei schon heute gesagt, laß Dich nicht durch Oekonomie und Geldrücksichten abhalten, eine Amme zu nehmen. Es muß beschafft werden und so viel werd’ ich doch wohl von hier aus zuverdienen. Du mußt die Sache mal mit Koblanck besprechen. Du scheinst über den guten Doctor absichtlich zu schweigen, um mich nicht eifersüchtig zu machen. Ehekrisen
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Die Amme der Fontanes blieb ein Problem, aber auch die sehr unterschiedlichen Erwartungen, die die Eheleute an sich stellten. Ihn „schwimmfähig“ zu halten, sah der Journalist und Schriftsteller als die erste Pflicht seiner Ehegattin, die sich immer wieder auf die spontanen, dem familialen Budget nicht eben zuträglichen Entscheidungen ihres Gatten einzustellen hatte. Nicht nur der Ehebriefwechsel zwischen den Fontanes enthüllt die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung, die in vielen bürgerlichen Ehen den Alltag überschattete. Gerade weil das Bürgertum im Unterschied zu anderen Schichten und Zeiten zuvor die Ehe und das Eheleben mit so hohen Erwartungen befrachtete, blieben Enttäuschungen nicht aus. Denn: Mustergatten und Musterehen waren rar. In einigen Fällen – und auch das war ein beliebtes Motiv von Bürgerkritikern der schreibenden und zeichnenden Zunft – begaben sich Bürgermänner unter Umgehung des ehelichen Treueschwurs auf außereheliche Abwege. Selbst dann reichte die Liberalität der Ehefrau gegenüber der Libertinage des Gatten häufig so weit, diese Seitensprünge zu tolerieren. Es galt, den Schein einer heilen Ehe aufrechtzuerhalten. Die herrschende Doppelmoral, die Männern weit mehr Spielraum bot, um ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben, betitelte dieses männliche Tun euphemistisch als „Kavaliersdelikt", während Ehebrecherinnen – die häufig von authentischen Fällen inspirierten Romane Fontanes führten dagegen gekonnte Klage – in der Regel mit gesellschaftlichem Verstoß sanktioniert wurden. Zu einem Auseinandergehen führte das Auseinanderleben selten; nur ein Bruchteil von Bürgerehen endete vor Gericht. Dass es mit einem nicht geringen Risiko verbunden war, sich von Tisch und Bett des techtelmechtelnden oder ungeliebten Gatten zu trennen, hing nicht zuletzt von den eingeschränkten Finanzbefugnissen der bürgerlichen Ehefrauen ab, die mit der Eheschließung häufig ihren Besitz der Verwaltung und Nutznießung dem Gatten überließ. Hinzu kam das jeweils herrschende Scheidungsrecht. Die im Allgemeinen Landrecht von 1794 vergleichsweise liberalen Vorgaben, die, gleichsam als Vorform des „Zerrüttungsprinzips“ auch die Auflösung einer Ehe bei tief „verwurzelten … Widerwillen“ erlaubten, führten zu einem im europäischen Vergleich beträchtlichen Scheidungsvolumen. Zwischen 1849 und 1860 wurden 35.490 Ehen geschieden, im Deutschen Reich gingen allein 1899 9.433 Ehen aufgrund eines Richterspruches auseinander.
Die „bürgerliche Kinderstube“: Erziehung zur Bürgerlichkeit
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2. Die „bürgerliche Kinderstube“: Erziehung zur Bürgerlichkeit Teil des bürgerlichen Familienideals war auch eine neue Einstellung gegenüber den Kindern. Bereits 1762 hatte der Philosoph, Soziologe, Dichter und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zum ersten Mal und mit viel Verve in seiner Erziehungsutopie „Emile oder Über die Erziehung“ das Recht auf Kindheit verkündet. Entdeckung der Kindheit aus: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung, 5. Aufl., Paderborn u. a. 1981 (1. Aufl. 1762) S. 69.
„Entdeckung der Kindheit“
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Die Natur will, daß Kinder Kinder sind, ehe sie Männer werden. Kehren wir diese Ordnung um, so erhalten wir frühreife Früchte, die weder reif nach schmackhaft sind und bald verfaulen: wir haben dann junge Gelehrte und alte Kinder. Die Kindheit hat eine eigene Art zu sehen, zu denken und zu fühlen, und nichts ist unvernünftiger, als ihr unsere Art unterschieben zu wollen.
Diese Idee des kindlichen Eigenrechts fand vor allem in bürgerlichen Schichten, die sich den Luxus des Sentiments am ehesten leisten konnten, Gehör. Die „Entdeckung der Kindheit“ (Philippe Ariès) zeigte Wirkung in der Einrichtung von Kinderstuben, Kinderliteratur, Kinderkleidung und nicht zuletzt in einem Aufschwung der Spielzeugindustrie. Dass Eheleute sich jetzt in ihren Briefen detailliert über die Spielsachen ihrer Sprösslinge austauschten, zeugt von ihrer wachsenden Bedeutung im Erziehungsprozess. Spielzeug als Erziehungsmedium aus: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, 4. Aufl., Berlin 1907, S. 137. Brief von Caroline an ihren Mann Wilhelm, 28.3.1804.
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Teuerster Humboldt! Durch den rückgehenden Vetturio schicke ich eine Schachtel mit Spielzeug für die kleinen Mädchen. Es sind drei nackte Gliederpuppen darinnen, wovon Du eine zurücklegen mußt und die beiden andren kleiden lassen. In den Schränken liegen noch allerlei Lappen, die dazu dienen können, und was für die Anna zu schwer zu machen sein möchte, wird meine Schneiderin, Madame Botzi, mir zu Gefallen gewiß gern machen. Ferner sind in der Schachtel zwei Handkörbchen für Adelheid und Gabrielen, ein Bauspiel aus Häusern und Bäumen, und eine Menage. Strümpfchen müssen die Puppen auch bekommen, die Mädchen können sie ja stricken. Vicenza hat Baumwolle. Ich hoffe, die Spielsachen werden besonders der Adel viel Freude machen, und deshalb habe ich sie mit wahrer kindischer Lust gekauft. Die Adel muß mir aber auch die Freude machen und die Sachen nicht alle auf der Erde herumwerfen.
Mehr und mehr zentrierte sich das bürgerliche Familienleben um die Kinder. Bewundernd und amüsiert lauschte man den ersten Lauten und Worten der Kleinen, geduldig und gerührt betrachtete man ihre ersten Schritte ins Leben und ergriff die Chance, diese behutsam in die richtigen Bahnen zu lenken. Schon von Rousseau bewusst adelskritisch gedacht, nahm das europäische Bürgertum die „Waffe Erziehung“ dankbar auf, um die eigene Überlegenheit gegenüber Adelsusancen zu unterstreichen. Erziehung als ab-
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Bürgerliche Familie
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Kinderzahl
geschlechtsspezifische Erziehung der Bürgerkinder
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sichtsvolle und von den Eltern geleitete Veranstaltung wurde mit Interesse verfolgt und mit Hoffnungen bedacht. Als Brücke zwischen Kinderwelt und Erwachsenenwelt sollte sie die jeweils notwendigen und erwünschten Charaktermerkmale und Persönlichkeitsstrukturen herstellen. Je mehr Energie, Emotionalität und Erziehungsmühen auf die Kinder verwandt wurden, desto mehr wuchs der Wunsch, ihnen die optimalen mentalen wie materiellen Zuwendungen bieten zu können. Bei häufig begrenztem Budget hieß dies, die Kinderzahl überschaubar zu halten. Nachdem die Durchschnittskinderzahl in Bürgerfamilien bis zur Jahrhundertmitte bei etwa fünf bis sieben Kindern gelegen hatte, tummelten sich in den Kinderstuben des Kaiserreichs häufig nur noch zwei bis vier Kinder. Bildungsbürgerliche Familien, und zuerst die jüdischen unter ihnen, übernahmen bei der Reduktion ihrer Kinderzahl die Vorreiterrolle. Dass Familien aus dem Wirtschaftsbürgertum deutlich später diesem Trend folgten, hing mit der besonderen Funktion der Familie in Unternehmerfamilien zusammen: Je größer die Familie, desto größer das finanzielle Potenzial. Viele „gute Partien“ der Söhne und Töchter konnten die Kapitalkraft eines Unternehmens stärken, die Kreditwürdigkeit steigern, zum Knüpfen neuer Geschäfts- und Berufsverbindungen dienen, aus Konkurrenten Koalitionspartner machen, Karrieren vorantreiben und Krisen abwenden. Ein weiterer Grund für die Geburtenreduzierung war die im ausgehenden 19. Jahrhundert wachsende Chance, dass Kinder ihre Kindheit überlebten. Dank verbesserter Hygiene, neuer Erkenntnisse im Bereich der Säuglingspflege und medizinischer Fortschritte, von denen das Bürgertum am ehesten profitierte, überstanden ihre Kinder Krankheiten, die ihnen wenige Jahre zuvor noch fast zwangsläufig das Leben gekostet hatten. Dennoch: Das Risiko, trotz vieler Geburten die für den Familienerhalt notwendigen Nachkommen wieder zu verlieren, nahm zwar mehr und mehr ab, war aber dennoch im Bürgerbewusstsein weiterhin traumatisch verankert. Die von einem Augenarzt in den 1890er Jahren vertretene Familienplanung „zwei Kinder und ein Reservekind“, enthüllte die zeitgenössische Angst, die geliebten Kinder wieder zu verlieren. Doch bei aller Liebe zwischen Eltern und Kindern: Die bürgerliche Familienharmonie kannte auch Missklänge. Selbst wenn das Bürgertum bereit war, altersspezifischen Ansprüchen der Kinder in hohem Maße Rechnung zu tragen, wurde dabei nie die zukünftige gesellschaftliche und vor allem geschlechtsspezifische Rolle der Kinder aus den Augen verloren. Schon von den ersten Kinderjahren an hatten auch Bürgereltern sehr konkrete Vorstellungen, was Jungen mussten und Mädchen nicht durften – und umgekehrt. Bürgersöhne konnten zwar ihre ersten Kinderjahre relativ unbeschwert genießen, mussten dann aber bald dafür gewappnet werden, in den Fußstapfen des Vaters den eingeschlagenen Bürgerweg weiter zu gehen. Mit dem Vater als Vorbild, dessen Beruf in dem Zusammenspiel von materiellem Erwerb und individueller Erfüllung als Maxime des männlichen Lebensentwurfs verklärt wurde, waren die kleinen Bürger schon von klein auf mit hohen Leistungserwartungen konfrontiert. Mehr noch als die Söhne aus dem Bildungsbürgertum hatten Unternehmersöhne, befand sich, wie noch lange im 19. Jahrhundert üblich, die Familienvilla auf dem Betriebsgelände, immer ihre berufliche Zukunft direkt vor Augen. Frühe Einblicke in die Welt
Die „bürgerliche Kinderstube“: Erziehung zur Bürgerlichkeit
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des Unternehmens erhielten sie nicht nur durch elterliche Gespräche am Mittagstisch, sondern auch bei regelmäßigen Betriebsbesuchen an der Hand des Vaters. Hier konnten sie beobachten, wie ein Fabrikherr agierte und eine ehrfürchtige Verehrung für die Tätigkeit des Vaters, von ihm gefordert und von der Mutter gefördert, entwickeln. Spätestens mit dem Eintritt ins Gymnasium, das spätestens im Kaiserreich als opportune Schulform für Bürgersöhne sowohl des Bildungs- als auch des Wirtschaftsbürgertums galt, begann für alle der Ernst des Lebens. Der Stundenplan beherrschte nun ihren Alltag, der sich in einer methodischen Zeiteinteilung nach Schulschluss fortsetzte. Selbst in den Ferien wich man kaum von dieser Regelhaftigkeit ab. Im Reisegepäck für die Sommerfrische hatten die Bürgerväter häufig Akten und die kleinen Bürger ihre Schulbücher dabei. Drohte ein Sohn den schulischen Anforderungen nicht gerecht zu werden, griffen die Väter zu drastischen Mitteln. Ein beamteter Architekt legte seinem Sohn, dessen schulische Leistungen zu wünschen übrig ließen, in der letzten Ferienwoche folgendes Schreiben nebst Anweisungen auf den Schreibtisch. Bürgersöhne unter Leistungsdruck aus: Heinrich Hoffmann: Lebenserinnerungen, Frankfurt a. M. 1985 (1. Aufl. 1926), S. 37 f.
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Da der Heinrich – wie eine leider nunmehr 14tägige Erfahrung zu meiner großen Betrübnis gelehrt hat – in ungeregelter Tätigkeit und leichtsinniger Vergeßlichkeit fortlebt, überhaupt nicht imstande ist, seine Betriebsamkeit nach eignem freien Willen auf eine vernünftige und zweckmäßige Weise zu regeln, und im Verfolg dieser Regellosigkeit, die Schande für seine Eltern, der größte Nachteil für ihn selbst zu gewärtigen ist, so will ich ihm hiermit nochmals die Pflicht ans Herz legen und ihn auffordern: zur Ordnung, zum geregelten Fleiß, zur vernünftigen Einteilung seiner Zeit zurückzukehren, damit er ein nützliches Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft werde, und seine Eltern wenigstens zu der Erwartung berechtigt sind, daß er nicht untergehe in der Flut des alltäglichen gemeinen Lebens. In der Besorgnis, daß auch diese Ermahnung nichts helfen wird, und in dem festen Willen, wenigstens die bevorstehende letzte Ferienwoche nicht in tagdiebischen Schlendrian zugebracht zu sehen, befehle ich folgende Einteilung der Zeit. 1) 20 Minuten Zeit zum Waschen und Anziehen. 2) Bis zum Kaffee: Klavierübung. 3) Von 8–10 Uhr: Zeichnen. 4) Von 10 Uhr bis zum Mittagessen: Repetition der lateinischen und griechischen Grammatik. 5) Von 2–4 Uhr: Klavierübung. 6) Von 4–7 Uhr: Repetition der deutschen, französischen und englischen Grammatik. 7) Von 7–9 Uhr Algebra. Die Unterrichtsstunden beim Herrn Pfarrer, sodann im Französischen und der Musik sind die einzigen Ausnahmen.
Leistungsdruck und Selbstdisziplin lasteten vor allem auf den Bürgersöhnen. Die Erwartungen, denen die Bürgertöchter unterstanden, waren anderer Art. Dass die Familie ihr Bestimmungsort sein würde, für den sie schon als Mädchen vorbereitet werden sollten, erfuhren sie früh und ebenso früh die damit verbundenen Einschränkungen. Anders als ihre Brüder, deren Erziehung zur Selbstständigkeit groß geschrieben wurde, durften Bürgertöchter den schützenden Familienraum nur selten verlassen. Ihre „Berufung“ lebte ihnen die Mutter vor, vorbereitet darauf wurden sie mit Puppen, Puppenstuben und Küchenutensilien en miniature. Was sie als Kleinkinder noch im Spiel erproben sollten, wurde bald zu ernsthaften Verantwortlichkeiten für den Fa-
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milienhaushalt. Da bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts eine weitergehende Ausbildung fehlte und ein Beruf für Bürgertöchter nur dann als Notlösung akzeptiert wurde, wenn sich kein Ehemann einstellte, fiel ihre Schulausbildung entsprechend porös aus. Das klassische Curriculum einer idealen Töchterausbildung formulierte eine ehemalige Gouvernante im Jahr 1877 wie folgt:
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Bildung der Töchter aus: Meta Wellmer, Deutsche Erzieherinnen und deren Wirkungskreis, Leipzig 1877, S. 55 u. 58. Einst drei neuere Sprachen fließend und elegant sprechen, brillant Clavier spielen, mit Ausdruck singen, in der Literatur dreier Nationen zu Hause zu sein, geistreiche Briefe, Reisebeschreibungen und Tagebücher schreiben können, außerdem viel Bildendes in mehreren Sprachen gelesen haben. … Die Geschicklichkeit feiner Stichereien zu verfertigen und das angenehme Talent originelle Skizzen nach der Natur zu entwerfen, gehen so nebenher, als sich von selbst verstehende Beschäftigungen. … Man muß eines Tages eine vielseitig unterrichtete, angenehme, piquante, graziöse junge Dame in die Welt und Gesellschaft einführen können, welche durch den Firniß ihrer Kenntnisse, Talente, Reize aller Art die Wahl eines unabhängigen reichen Mannes zu fesseln verstehe.
Auch wenn es sich nicht alle Bürgereltern leisten konnten, ihre Töchter mit einer solchen Vielfalt „weiblicher“ Kenntnisse zu versorgen, war doch die Beschlagenheit auf dem gesellschaftlichen Parkett ein unhinterfragtes Muss der weiblichen Erziehung. Durch ihr geschliffenes Auftreten sollten sie jede Gesellschaft schmücken, die Aufmerksamkeit der Männerwelt auf sich ziehen und sich die besten Heiratschancen eröffnen. Das in der Schule erlernte Bildungswissen geriet dabei leicht in den Hintergrund. Erst im Kaiserreich, als die Bürgerängste wuchsen, nicht alle Töchter angemessen verheiraten zu können, entstanden, in der Regel auf Initiative ihrer Väter, höhere Töchterschulen, die jedoch im Lehrplan weiterhin andere Akzente setzten als die von den Söhnen besuchten Gymnasien. Drei Jahre früher als ihre Brüder kehrten Bürgertöchter auch jetzt noch ihrer Schule den Rücken, um sich als „Wartemädchen“ die Zeit bis zur erwünschten Eheschließung zu vertreiben. Die Meisten gewannen dieser monotonen Zeit als „Haustochter“ wenig ab. „Der heutige Tag verging äußerlich gleich den andern“, lautete ein gängiger Tagebucheintrag. „Langeweile legte sich wie Mehltau auf meine Seele“, schrieb Marianne Weber, Helene Lange konnte es ihr nachfühlen:
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Eintöniges Haustochterdasein aus: Helene Lange: Lebenserinnerungen, Berlin 1925, S. 87. Kleinstadtleben in der Heimat, wo ich bis auf weiteres das Dasein einer ‚Haustochter‘ im großväterlichen Hause führen sollte. Das bedeutete: ein wenig Hausund Handarbeit, etwas Klavierspielen, einen Spaziergang durch den Schloßgarten oder das Everstenholz und ‚Kaffeevisiten‘, bei denen häufig der rote kalte Pudding mit weißer oder der weiße mit roter Sauce das wesentliche Unterscheidungsmerkmal bildete. Der geistige Bedarf wurde durch eine gründliche Erörterung bevorstehender oder schon erledigter Bälle oder sonstiger gesellschaftlicher Veranstaltungen, Verlobungen und Verlobungsmöglichkeiten gedeckt. Manchmal wurde dabei eine überflüssige Stickerei mehr oder weniger gefördert.
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Fremd, doch nah: Dienstmädchen in Bürgerfamilien
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Blieben Verlobung und Vermählung aus, verbuchte man dies für Bürgertöchter ebenso als Versagen wie einen missglückten Studienabschluss oder beruflichen Fehlschlag ihrer Brüder. Kaum fünfundzwanzigjährig als „alte Jungfer“ abgestempelt, das hatten viele Bürgertöchter am Beispiel ihrer unverheirateten Tanten mahnend vor Augen, waren sie dann auf das Wohlwollen der Verwandtschaft angewiesen. „Unvermutet wie zumeist, kommt die Tante zugereist“, reimte 1877 Wilhelm Busch und reihte sich damit ein in die lange Liste von Tantenkarikaturen seiner Zeit. Dabei war für die Bürgerfamilien der selbstlose Einsatz dieser weiblichen Verwandten oft unabdingbar, namentlich dann, wenn Mütter durch Krankheit oder Wochenbetten ausfielen.
3. Fremd, doch nah: Dienstmädchen in Bürgerfamilien Einspringen mussten dann auch die obligatorischen Dienstmädchen, ohne die, so haben es Historiker wie Thomas Nipperdey und Jürgen Kocka durchaus zu Recht betont, der Bürgerstatus kaum aufrecht erhalten werden konnte. Schon zeitgenössische Vertreter der Zunft hatten die tragende Rolle erkannt, die „dienstbare Geister“ in Bürgerfamilien spielten. „Keine Cultur ohne Dienstboten“, konstatierte Heinrich von Treitschke 1875, und Arthur Schopenhauer war schon rund ein halbes Jahrhundert zuvor zu der Einsicht gekommen: „Die bürgerliche Kultur beruht auf den Dienstboten.“ In der Tat waren es die häufig noch sehr jungen, zumeist aus dem ländlichen Milieu kommenden Frauen, die durch ihre tatkräftige Hilfe im Bürgerhaushalt vor allem den Bürgerfrauen die notwendige Muße ermöglichten, die bürgerliche Kultur mitzuprägen und weiterzugeben. Spricht man vom „bürgerlichen“ 19. Jahrhundert, kann man im gleichen Atemzug vom „Jahrhundert des Dienstmädchens“ (Jürgen Kocka) reden. Beider Geschichten waren eng miteinander verwoben: Bedurfte das Bürgertum zumindest eines Dienstmädchens, um sich in die Gesellschaft der Bürger einreihen zu können, klingelten Dienstmädchen auf der Suche nach Anstellung vor allem an bürgerlichen Haustüren. Die Stellung der Dienstmädchen im bürgerlichen Haushalt spiegelt einmal mehr die janusköpfige Bürgerlichkeit wider: Nach seiner rechtlichen Lage, seinen Lebens- und Arbeitsbedingungen und seiner Position im Bürgerhaushalt verkörperte das Dienstmädchen Relikte einer gerade vom Bürgertum als überholt erklärten, vormodernen Welt. Gemäß den sechzig Varianten der deutschen Gesindeordnungen waren Dienstboten rechtlich gleichsam „mit Leib und Seele“ eingebunden in den Haushalt ihrer Arbeitgeber. Diese schon von aufgeklärten Zeitgenossen als „Überbleibsel aus der juristischen Steinzeit“ oder „Fortsetzung der aufgehobenen Leibeigenschaft“ gescholtenen Verordnungen hielten sich immerhin bis 1918. Durch ihre Sozialisation waren diese jungen Frauen wenig gerüstet, sich dagegen zu wehren. Geübt in Genügsamkeit, befähigt zur Anpassung, bereit zur Unterordnung, zufrieden mit kleinen Fluchten, gewohnt an Arbeit hatten die Mädchen in ihren Familien eine Fülle von Eigenschaften und Qualifikationen erworben, die im späteren Dienst gefragt waren. Kaum
Dienstmädchen als Signum der Bürgerlichkeit
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Bürgerliche Familie
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„HerrschaftsBeziehungen“
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selbst den Kinderschuhen entwachsen, übernahmen sie Pflichten und Verantwortung, führten den Haushalt und sorgten für jüngere Geschwister. Aufgrund ihrer sprichwörtlichen Bescheidenheit, die vor allem Mädchen aus den ländlichen Unterschichten zugesprochen wurde, rechneten die bürgerlichen Herrschaften kaum mit Dienstmädchenklagen über ihre Unterbringung. Verständlich wären sie allemal gewesen. Bestenfalls bezogen die jungen Frauen in einem nicht beheizbaren Mansardenzimmer Quartier, zumeist jedoch verfügten sie nur über ein Bett, das abends in der Küche, in einem Verschlag daneben, in Bad oder Flur aufgeschlagen wurde. In nahezu allen europäischen Großstädten auf dem Kontinent gab es überdies die berühmt-berüchtigte Einrichtung des Hängebodens. Dabei handelte es sich um kleine Gelasse, die in den Wohnungen durch eingezogene Decken über der Speisekammer, über dem Bad oder über dem Flur geschaffen wurden. Dicht beieinander lebten die Bürgerfamilie und ihr Dienstmädchen allemal. Geräusche, Gerüche und Gefühle ließen sich nur schwerlich voreinander verbergen. Singende Dienstmädchen und streitende Herrschaften wurden in dieser porösen Privatheit schnell zur Ruhe gezwungen. Ob bei der vielen Arbeit den Dienstmädchen überhaupt zum Singen zumute war, ist fraglich. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts wurde im Bürgerhaushalt ein Teil der Grundnahrungsmittel und Gebrauchsgüter selbst hergestellt. Ratschläge fürs Buttern, Pökeln und Kerzenziehen, die die zeitgenössischen Haushaltsbücher füllten, legen Zeugnis ab von der Aufgabenfülle, die den Dienstmädchen abverlangt wurde. Erschwerend wirkte beim Saubermachen und -halten das im Fin-de-Siècle modische Ambiente bürgerlicher Wohnstätten, die mit Nippes und Fransen überall Staubfänger bereithielten. Alle Arbeiten mussten, wie es das gängige Bild der „dienstbaren Geister“ plastisch zum Ausdruck brachte, in ihrem Ablauf möglichst unbemerkt vor sich gehen. Doch nicht nur von Geisterhand, sondern auch von Meisterhand sollte das Resultat sein. Spezialausbildungen für Dienstmädchen, die eine solche Anspruchshaltung rechtfertigten, gab es hingegen nicht. Was die jungen Frauen an Kenntnissen und Fertigkeiten mitbrachten, hatten sie im elterlichen Haushalt von der Mutter oder anderen weiblichen Verwandten abgeschaut, vieles lernten sie erst on the job von der Hausfrau oder erfahrenen Kolleginnen. Wenn auch das männliche Familienoberhaupt rechtlich als offizieller Arbeitgeber fungierte, waren es am Arbeitsplatz primär die Bürgerfrauen, mit denen es die Dienstmädchen zu tun bekamen. In wohlhabenden Bürgerfamilien, in denen die Dame des Hauses lediglich dann mit dem häufig größeren Dienstbotenstab in Kontakt trat, um ihm Anweisungen zu geben und ansonsten, demonstrativ müßig, eher aus der Ferne Regie führte, zeigten sich am ehesten Ansätze eines modernen, eher unpersönlichen Arbeitsverhältnisses. Für die Mehrheit der Bürgerhaushalte, in denen Dienstmädchen Anstellung fanden, hieß es dagegen tagtäglich, die Kluft zwischen repräsentativer Außensicht und sparsamen Innenleben zu überbrücken. Bei diesem Seiltanz übernahm das Dienstmädchen eine Schlüsselrolle, indem es half, nach außen den Schein aufrechtzuerhalten, dass die Bürgerinnen im Haushalt ihre Finger nur zum Klavierspiel oder Handarbeiten rühren mussten. Doch die Multifunktionalität des Bürgerhaushaltes als erbaulicher Erholungsstätte, wohlgeordnetem Erziehungsrahmen und repräsentativem Er-
Fremd, doch nah: Dienstmädchen in Bürgerfamilien folgsschaustück erforderte in der Regel ein handfestes Zupacken aller im Haushalt lebenden Frauen. Ungeachtet der engen Zusammenarbeit durfte dabei die Hierarchie zwischen Vorgesetzter und Untergebenen nicht ins Wanken geraten. Die Sorge um den Erhalt hierarchischer Strukturen bewegte auch eine Vielzahl von Kochbüchern und Haushaltsratgebern, die im ausgehenden 19. Jahrhundert beharrlich die Notwendigkeit betonten, die „natürliche“ Distanz zwischen Hausherrin und Dienstmädchen nicht aufzugeben. Sicherlich konnte diese im täglichen Miteinander auch in weibliche Solidarität umschlagen. Häufiger standen sich in dieser weiblichen Beziehungsgeschichte sehr junge Dienstmädchen und eine respektgebietende, reservierte Hausfrau gegenüber. Zu groß war die Kluft, zu viele Spannungen durchzogen den alltäglichen Umgang, als dass sich Treue und Vertrauen uneingeschränkt entwickeln konnten. Auch Zeitgenossen wussten um diese Problematik. Sie wurden nicht müde, den Dienstmädchen in Anbetracht ihrer Chance, am „bürgerlichen Leben“ teilzunehmen, Gehorsamkeit und Dankbarkeit zu predigen; den bürgerlichen Hausfrauen empfahlen sie, sich als Erzieherinnen ihrer Dienstboten zu verstehen. Offensichtlich zeigten sich viele geneigt, das prekäre Verhältnis als ein pädagogisches umzudeuten. Schließlich, so wurde immer wieder betont, konnten die Bürgerfrauen hierbei in einer von Klassengegensätzen gespaltenen Zeit beispielhaft wirken und die Chance ergreifen, bürgerliche Werte in untere Schichten und namentlich an zukünftige Mütter von Arbeiter- und Handwerkerfamilien zu übermitteln. Wir wissen wenig darüber, wie diese Erziehungsbemühungen bei den Dienstmädchen ankamen. Mütterliche Verantwortungsbereitschaft widersprach, so konnten sie hoffen, herrschaftlichem Ausbeutungsstreben. Doch andererseits erwies sich die Grenze zwischen Güte und Gängelei oft als hauchdünn. Missverständnisse waren vorprogrammiert, Machtmissbräuche blieben kaum aus. Auf Dauer mussten Dienstmädchen die oft kleinlichen Gebote und Verbote, zu denen neben der Limitierung der Ausgangszeiten, Anweisungen für die Anrede und Wortwahl, die Frisur, die Kleidung, den Konsum und die Gestaltung der spärlichen Freizeit zählten, als gravierende Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit erfahren. Oscar Stillich, der am Jahrhundertende eine Enquete unter Dienstmädchen und Herrschaften durchführte, bestätigte dies: Bürgersicht auf Dienstmädchen aus: Oscar Stillich: Die Lage der weiblichen Dienstboten in Berlin, Berlin 1902, S. 243 f.
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Infantilisierung der Dienstmädchen
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Das Mädchen wird als ein unmündiges Kind betrachtet und behandelt, das, sobald es in die häusliche Gemeinschaft aufgenommen ist, erzogen werden soll, sich eine stete Einmischung der Herrschaft in seine Lebensführung, eine Controlle seiner Ausgaben und Einnahmen, seines Aufwandes, seiner Kleidung u. s. w. gefallen lassen muß. Auch für des Mädchens Sittlichkeit ist die Herrschaft besorgt. Sie verbietet ihm, mit jungen Männern auszugehen, einen Liebhaber zu haben uam. Unsere Frauen halten sich in diesen und anderen Fällen nicht nur für berechtigt, sondern auch für moralisch verpflichtet, ihren Mädchen detaillierte Vorschriften zu machen. Sie glauben, wenn sie ihre Arbeitskraft kaufen und sie bei sich wohnen und essen lassen, auch die Bestimmung über ihren Willen, über ihr Seelenle-
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ben und ihre geschlechtliche Verfügungsfreiheit erlangt zu haben. Allein hinter dieser Coulisse dieser bevormundenden Fürsorge verkriecht sich nur zu häufig eine andere Form der Beherrschung … Die Gewalt erscheint hier in dem moralischen Gewande der Erziehung.
wachsende Spannungen
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Doch solche aufgeklärten Stimmen kamen spät und waren rar. Zeitgenössische Anstandsbücher, Haushaltsratgeber und Zeitschriftenartikel, die unisono vor einer zu großen Vertraulichkeit warnten, übertönten sie. Ihre soziale Herkunft, so mutmaßte man, prädestinierte die Dienstmädchen für einen unerwünscht unverhohlenen Umgang mit Themen, die das Bürgertum gar nicht oder nur mit spitzen Fingern zu berühren wagte. Vor allem die Bürgerkinder sah man gefährdet, deren Vorliebe für die Küche legendär war. Gefühlvoll sangen sie mit den Dienstmädchen mollgestimmte Küchenlieder, die bürgerliche Tabubereiche wie Verführung, Untreue, Kindsmord und Tod berührten, und ängstigte sich bei dramatischen Sagen und Gruselgeschichten. Die Kinderwelt und die noch wenig entzauberte Welt, aus der die Dienstmädchen kamen, fanden sich hier harmonisch zusammen. Die Empfänglichkeit der Bürgerkinder für alles Geheimnisvolle und Unerklärliche versetzte die Dienstmädchen häufig zurück in die eigene Welt mit Werten und Vorstellungen, deren Auflösung das Bürgertum sich als Verdienst anrechnete. Eben diese holte es sich mit dem Dienstmädchen wieder ins Haus. Wollte man den bürgerlichen Wertehimmel nicht verdüstern, galt es den als unheilvoll betrachteten Einfluss des Dienstmädchens gerade auf die Kinder unter strenger Kontrolle zu halten. Doch in Situationen, in denen die aufgeklärte Bürgerwelt ins Wanken geriet, schlug die Stunde des Dienstmädchens. Dies galt in der Regel immer dann, wenn die Natur ihr Recht forderte, namentlich bei Geburt, Krankheit und Tod. In dem Maße, in dem das Bürgertum all diese körperzentrierten Lebensäußerungen aus seinem Sprechen und Sehen verbannt hatte, geriet es in die Abhängigkeit von Experten. Neben den professionellen Spezialisten zählten dann auch wieder die traditionellen. So wünschte sich die Hausherrin im Kindbett nicht zufällig häufig das Dienstmädchen zum Beistand. Waren die Mediziner mit ihrem Latein am Ende, kamen die Heilkräuter und Geheimrezepturen der Dienstmädchen wieder zu Ehren. Nicht nur in solchen Situationen wurde Dienstmädchen bewusst, dass die Welt der Herrschaft nicht unbedingt der ihren überlegen war. Schließlich wurden sie tagtäglich Zeuginnen des Kampfes um den schönen Schein, wodurch sie mehr sahen und hörten, als es dem Bürgertum lieb sein konnte. Wachsende Spannungen zwischen Dienstboten und Herrschaften Kathinka von Rosen: Zur Dienstbotenfrage. Eine Erwiderung an Dr. Oskar Stillich, Leipzig 1903, S. 29 f. Das Mädchen benutzt nun die Tage oder Stunden, die ihr bis zu ihrem Eintritt in den Dienst bleiben, um ihrerseits Erkundigungen über die Herrschaft einzuziehen. … Mit der Adresse der Herrschaft in der Hand sucht es sich einen in der Nähe der Wohnung gelegenen Laden auf; Milch- oder Bäckergeschäfte sind ihr besonders willkommen, sie tritt ein und bittet, ihr die Wohnung ihrer Herrschaft anzugehen. … Und nun geht es an, nicht die geringste Kleinigkeit, die in dem
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Fremd, doch nah: Dienstmädchen in Bürgerfamilien
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Hause vorgeht oder vorgehen könnte, wird vorenthalten. Mit allen Dienstboten des Hauses, mit allen Geschäftsfrauen der Nachbarschaft schließt das Mädchen Freundschaft, aufgehetzt und mißtrauisch tritt sie ihren Dienst an. Unsere schlechten Wohnungsverhältnisse zwingen uns, mit den Dienstboten in fortwährende Berührung zu kommen. Wir leben mit ihnen. … Wir alle, ob wir unsere Dienstboten gut oder schlecht behandeln, sind in ihren Händen und ihrer Klatsch- und Verleumdungssucht preisgegeben. Dienstboten sehen und hören Alles, mißverstehen das Meiste und legen es auf ihre Weise zu unseren Ungunsten aus. Wir stehen den ganzen Tag unter ihrer Aufsicht. Nichts bleibt ihnen verborgen, und mit der größten Schnelligkeit wird aus einer Mücke ein Elefant. Wie häufig schwirren Gerüchte durch die Luft, der gute Name einer Frau ist plötzlich vernichtet, der Kredit eines Mannes untergraben.
Ein durchs Schlüsselloch äugendes oder an der Tür lauschendes Dienstmädchen geriet zu einem beliebten Motiv zeitgenössischer Karikaturisten. Der Begriff „Gerüchteküche“ mag aus diesem Klischee erwachsen sein. Je enger das Zusammenleben, desto weiter schauten die Dienstmädchen hinter die Kulissen. Die anfängliche Bewunderung, die das junge Mädchen vom Lande dem distinguierten Lebensstil seiner bürgerlichen Herrschaft entgegengebracht haben wird, konnte bald in spöttische Verachtung umschlagen. Das Dienstmädchen kannte nur allzu gut die täglichen Anstrengungen des dem Gebot des Sparens unterstellten Bürgerhaushalts. Sorgsam gehütete Familiengeheimnisse, -fehden und -fehltritte konnten ihm nicht verborgen bleiben und statteten es mit Trümpfen aus, die die wenigsten ausspielten, um ihre Stelle nicht zu gefährden. Eine solche von Misstrauen und Unverständnis gestimmte Atmosphäre schien im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr um sich gegriffen zu haben. Als das auflagenstarke Familienblatt „Die Gartenlaube“ am 1. Januar 1853 zum ersten Mal in die bürgerlichen Wohnstuben flatterte, zierte die Titelvignette noch eine Biedermeierfamilie, die unter einer Laube um einen runden Tisch sitzt. Auf der rechten Bildseite trägt das Dienstmädchen mit freundlichem Blick auf die Herrschaftsfamilie das Kaffeegeschirr vorbei. Bereits zu Beginn der 1860er Jahre hatte sich ein wesentliches Detail verändert: Das Dienstmädchen fehlte. Diese Verbannung war symptomatisch für einen allgemeinen Trend zunehmender Distanz und anschwellender Disharmonien. Die Pflicht der Dienstmädchen, Uniform zu tragen, bei gleichzeitigem Klagen über ihre Putzsucht, deutete auf die Angst vor verschwimmenden Grenzen. Zu den Distanzierungsbemühungen gehörten auch die immer üblicher werdenden Dienstbotenaufgänge, -mahlzeiten und die vom familiären Geschehen möglichst weit abgelegenen Unterbringungen – eine Neuerung, die sogar in den Puppenhäusern des ausgehenden 19. Jahrhunderts ihren Niederschlag fand. Zwei Gründe leisteten dieser räumlichen und emotionalen Distanzierung Vorschub. Zum einen spielte die hohe Fluktuation der Dienstmädchen eine große Rolle; Hoffnung auf Verbesserung begründete ihren Hang zur Veränderung. Die Herrschaften wurden die dienstbaren Geister, die sie riefen, häufig eher wieder los, als ihnen recht sein konnte. Glaubt man zwei Umfragen und statistischen Auswertungen, die 1899 in Berlin durchgeführt wurden, verspürten 90% der Dienstmädchen spätestens nach drei Jahren
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den Wunsch „sich zu verändern“. Gefördert wurde diese Wanderlust der Dienstmädchen noch durch verheißungsvolle Angebote, mit denen sich das Bürgertum gegenseitig die Dienstmädchen abwarb. Diese wenig feine Methode nahm in dem Maße zu, in dem sich – und hier ist der zweite Grund zu suchen – Angebot und Nachfrage auf dem Dienstbotenmarkt nicht mehr die Waage hielten. Die sogenannte Dienstbotenfrage wurde zum zentralen Thema, um das die Gespräche der bürgerlichen Kaffeekränzchen kreisten. Die Verknappung auf dem Dienstbotenmarkt, so die Klage, ging mit einem vermeintlich selbstbewussteren Auftreten der Dienstmädchen einher. Wir wissen wenig darüber, inwieweit Dienstmädchen nach Ende ihrer Dienstzeit in ihren eigenen Familien bürgerliche Werte umsetzten. Dass der Dienst keine Spuren hinterließ, ist eher unwahrscheinlich. Je positiver ihre Bilanz im Rückblick ausfiel, desto mehr werden die in ihren Stellungen gesammelten Erfahrungen ihr zukünftiges Leben bestimmt haben, werden sie, wie die Zeitgenossen hofften, zu Missionarinnen der Bürgerlichkeit geworden sein.
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IV. Bürgertum und Politik Teil bürgerlichen Denkens und Handelns war stets auch die politische Ordnung und damit auch der Staat. Dabei ging es nicht nur darum, eine bestimmte Ordnung zu erhalten oder zu verändern. Ziel war es vor allem, bürgerlichen Werten staatlichen Schutz und allgemeine Gültigkeit zu verleihen. Vor allem auf kommunalpolitischem Terrain unternahm das Bürgertum erste entscheidende Schritte zur politischen Teilhabe, in der Revolution war es partiell richtungsweisend und auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab das Bürgertum, ungeachtet von diversen Richtungsschwenks, nicht auf, politische Partizipation einzuklagen und wahrzunehmen.
1. Die Herren der Städte: Bürger in der Kommunalpolitik Im städtischen Rahmen, und damit schloss es an die Tradition des alten Stadtbürgertums an, nahm das Bürgertum schon um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zentrale Positionen auf politischem Terrain ein. Früh wurde hier das Mitspracherecht „von oben“ akzeptiert. Mitspracherecht des Bürgertums in den Städten aus: „Ordnung für sämtliche Städte der Preußischen Monarchie […]“, gegeben zu Königsberg am 19. November 1808 von Friedrich Wilhelm III., in: August Krebsbach (Hg.): Neue Schriften des Deutschen Städtetages, Heft 1, Stuttgart 1957, S. 47.
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„Wir, Friedrich Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, etc., etc. thun kund und fügen hiermit zu wissen: Der besonders in neuern Zeiten sichtbar gewordene Mangel an angemessenen Bestimmungen in Absicht des städtischen Gemeinwesens und der Vertretung der Stadt-Gemeine, das jetzt nach Klassen und Zünften sich theilende Interesse der Bürger und das dringend sich äußernde Bedürfniß einer wirksamen Theilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung des Gemeinwesens, überzeugen Uns von der Nothwendigkeit, den Städten eine selbstständigere und bessere Verfassung zu geben, in der Bürgergemeine einen festen Vereinigungs-Punkt gesetzlich zu bilden, ihnen eine thätige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens beizulegen und durch die Theilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten“.
Das waren keine leeren Versprechungen. Was die preußische Städteordnung hier in Aussicht stellte, sollte bald Wirklichkeit werden: die Teilhabe, ja Vorherrschaft des Bürgertums in der Verwaltung seiner Stadt. Hier konnte im Kleinen, gleichsam im überschaubaren Experimentierfeld erprobt werden, was die Vision der bürgerlichen Gesellschaft im Großen verhieß. Schließlich wurde man zum Bürger im emphatisch-zeitgenössischen Sinn nicht zuletzt durch seine Orientierung am Gemeinwohl, die in der Praxis in der Mitarbeit in der städtischen Selbstverwaltung unter Beweis gestellt werden konnte. Zumindest ein Teil der theoretischen Kopfgeburten, die die Ver-
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einsdiskussionen belebten, ließen sich hier ganz praktisch auf den Weg bringen. Städtische Gremien konnten mit bereits ausgearbeiteten Konzepten unter Zugzwang gesetzt werden, sei es um den Ausbau der Kanalisation oder den Bau eines Opernhauses voranzutreiben. Auf diese Weise wirkten die Vereine in der Tat direkt ins politische Leben hinein. Doch mit solch indirekter, vermittelter Einflussnahme begnügte sich das Bürgertum nur selten. Zwar waren Bürgerschaft und Bürgertum nicht vollends deckungsgleich, doch das Bürgertum als neue soziale Formation war bestrebt und auch erfolgreich, in der kommunalen Regierung die Oberhand zu erringen und zu bewahren. Die Preußische Städteordnung von 1808 und ihre revidierten Varianten von 1831 und 1853 waren beispielhaft für eine Reihe ähnlicher Ordnungen, indem sie das Bürgerrecht an ein Mindestmaß an Selbstständigkeit, an das männliche Geschlecht, an die Vollendung des 24. Lebensjahres, an einen eigenen Hausstand, an die Nichtinanspruchnahme der städtischen Armenpflege und an eine steuerliche Mindestleistung („Zensus“) banden. In einem Großteil der Gemeinden und Städte entschied das lokale Bürgertum darüber, in welcher Höhe Bürgerrechtsgelder gezahlt werden sollten. Während einige Großstädte wie Berlin, Breslau und Köln infolge des Freizügigkeitsgesetzes von 1867 gar keine Kosten mehr erhoben, schöpften viele preußische Klein- und Mittelstädte weiterhin den erlaubten Höchstbetrag ab. Praktisch kamen diese Gelder einer „Wahlrechtssteuer“ gleich, denn nur ihre Zahlung erlaubte die Teilnahme an den Kommunalwahlen. Die Folge war absehbar: Obwohl im Zuge einer verstärkten Urbanisierung die Einwohnerzahl der mittleren und größeren Städte in der zweiten Jahrhunderthälfte immer mehr in die Höhe schoss, ging die Zahl der Inhaber des Bürgerrechts zurück. Dies führte dazu, dass der Anteil der Bevölkerung, der bei Landtags- und Reichstagswahlen an die Wahlurne trat, deutlich höher lag als der, der bei Kommunalwahlen seine Stimme abgab. Dass sich innerhalb einer tendenziell kleiner werdenden Bürgerschaft Formen kollektiver Identität herausbildeten, war auch der Vielzahl von symbolischen Formen und rituellen Akten zu verdanken, die die Aufnahme in die Bürgerschaft zu einem würdevollen Initiationsritus erhoben. Zu den zeremoniell zelebrierten Praktiken der Bürger-Werdung gehörte der Eintrag in ein „Bürgerbuch“ oder einer „Bürgerrolle“, die Ableistung eines „Bürgereides“ oder die feierliche Übergabe eines „Bürgerbriefes“. Drohte die Aberkennung des Bürgerrechts – ein Konkurs war dafür ein üblicher Grund – wurde dies als gravierender Ehrverlust empfunden. Auch das passive Wahlrecht trug entscheidend mit dazu bei, dass die kommunale Selbstverwaltung weitgehend von Angehörigen des Bürgertums getragen wurde. Es war nicht nur an das männliche Geschlecht gebunden, sondern es privilegierte durch seine Abhängigkeit vom geleisteten Steuerzins deutlich die wohlhabenden Klassen. Das preußische Dreiklassenwahlrecht brachte diese bürgerliche Bevorzugung unverhohlen zum Ausdruck.
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Preußisches Dreiklassenwahlrecht Der Begriff „Dreiklassenwahlrecht“ meint das Wahlrecht, das 1849 von Friedrich Wilhelm IV. zur Wahl der zweiten Kammer des Preußischen Landtags, dem Abgeordnetenhaus, eingeführt wurde und bis 1918 in Kraft blieb. Die Wahlberech-
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tigten wählten in ihrem Urwahlbezirk 3 bis 6 Wahlmänner, wobei jeder Urwahlbezirk so viele Wahlmänner stellte, wie er gemäß der letzten Volkszählung Einwohner hatte. Demnach hatte ein Urwahlbezirk mindestens 750 und höchstens 1749 Einwohner, kleinere Gemeinden wurden zu Urwahlbezirken zusammengefügt. Die Wähler wurden in drei Abteilungen („Klassen“) eingeteilt. Als Grundlage galt das Aufkommen der direkten Staatssteuern, also der Klassen-, Grundund Gewerbesteuer. Die Wahlberechtigten, die die meisten Steuern zahlten, wählten in Abteilung I. Von ihnen wurden so viele in die erste Abteilung eingruppiert, bis ein Drittel des Steueraufkommens erreicht war. Es kam durchaus häufig vor, dass in der I. Abteilung nur eine Person wählte. Diese Person bestimmte dann allein über immerhin ein Drittel der Mitglieder des Stadtrates. In die zweite Abteilung wurden die Wähler mit der nächsthöheren Steuerleistung eingeteilt, wiederum bis ein Drittel des Steueraufkommens erreicht war. Die übrigen Wähler fanden sich in der III. Abteilung wieder. In ärmeren Vierteln der Großstädte konnte es vorkommen, dass die Abteilungen I und II gar nicht mit Wahlmännern bestückt wurden.
Es verwundert von daher kaum, dass die städtischen Führungsschichten ein so reges Interesse zeigten, ein Wahlverfahren, das sie mit so viel Einfluss in der Bürgerschaft ausstattete, so eifersüchtig zu verteidigen. Durchaus ohne Skrupel: Hier, so konnte man diese innerstädtische Hegemonie legitimieren, erprobte man damit das eigene Ideal der bürgerlichen Gesellschaft en miniature. Schließlich kam ein solches sich selbst steuerndes Gemeinwesen, bestimmt von einem Kreis freier und gleicher, selbstständiger, öffentlich debattierender und nach Maßgaben der Vernunft entscheidender Männer den Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft schon sehr nah. Der Kreis der Bürger, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts antrat, sich aktiv um die Belange der Stadt zu kümmern, ist häufig als Honoratiorenverwaltung charakterisiert worden. Völlig zu Recht. Folgt man Max Webers (1864–1920) Definition, setzten sich die frühen Stadtverwaltungen in der Tat aus wohlhabenden Männern zusammen, die „für die Politik leben konnten, ohne von ihr leben zu müssen“ und überdies mit ihrem „guten Namen“ bürgten. Ihnen vertraute man und ihnen nahm man ab, dass sie sich, von der Tugend des „Gemeinsinns“ geleitet, mit all den ihnen zu Gebote stehenden Kräften zum Wohle der Stadt einsetzen würden. Im Zuge der Revolution von 1848 nahmen die Chancen politischer Partizipation weiter zu, politische Vereine und Parteien griffen in Kommunalwahlkämpfe ein, durch die Selbstverwaltungsorgane zogen sich Fraktionen entlang der Parteigrenzen. Nicht zuletzt schickten sich jetzt „Berufspolitiker“ an, die vorherigen Honoratioren zu verdrängen. Doch dies war ein langsamer Prozess. Blickt man in die Stadtverwaltungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, trifft man dort noch immer auf eine ähnlich zusammengesetzte Klientel vornehmlich bürgerlicher Herkunft wie schon in den Dekaden zuvor. Und auch hier findet man mindestens zwei Bürgergesichter: Auf der einen Seite Haus- und Grundbesitzer, die ihre ökonomischen Interessen selbst angesichts wuchernder Armenviertel rigoros durchsetzten; auf der anderen Seite verantwortungsvolle Bürger, die sich sensibel zeigten für die Nöte der Mitbürgerinnen und Mitbürger und, wenn auch mit patriarchalischem Gestus, beherzt eingriffen.
Berufspolitiker
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Bürgerliche Armenfürsorge Beispielhaft dafür war das „Elberfelder System“. In den 1850er Jahren auf den Weg gebracht, war es ein Versuch, die kommunale Armenfürsorge den Bedingungen der entstehenden Industriegesellschaft anzupassen. Benannt nach seinem Entstehungsort wurde es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zahlreichen Städten übernommen. Aufgrund der hohen Zuwanderung in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts in die früh industrialisierten Textilstädte Barmen und Elberfeld war der Anteil der Armen überproportional groß. Mit der zentral geleiteten städtischen Armenfürsorge ließen sich die damit verbundenen Probleme nicht lösen. Ein erster und wesentlicher Schritt des 1853 eingeführten Systems war eine Dezentralisierung der Armenverwaltung. In den einzelnen Stadtbezirken wurden Armendeputationen eingerichtet, in deren Auftrag Armenpfleger tätig waren. Diese Armenpfleger agierten ehrenamtlich, rekrutierten sich häufig aus dem Bürgertum und gaben auch Bürgerfrauen eine der wenigen Chancen einer öffentlichen Betätigung. „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautete das Motto.
Aber auch hier stand es außer Zweifel: Das tonangebende Bürgertum war bereit, Verantwortung zu übernehmen, wollte sie aber auch keineswegs wieder aus den Händen geben. Als die Berufspolitiker in die Verwaltungen einzogen, änderte sich daran wenig. Ohnehin setzten sie sich erst im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert in Marsch, dessen Tempo nur schleppend anzog. Träger der vielfältigen Modernisierungsleistungen in den Städten, die aufgrund demographischer, sozialer und ökonomischer Herausforderungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung standen, war und blieb das Bürgertum. Von einem professionellen Beamtentum, das mit Siebenmeilenstiefeln durch die Verwaltung fegte und die alten Honoratiorenregimes von ihren Plätzen drängte, konnte keine Rede sein. Sicherlich: Die Beamtenschaft wuchs, doch das hieß nicht, dass das Bürgertum sich aus der ersten Reihe vertreiben ließ. Eine Vielzahl von formellen und informellen Einflusskanälen hielt es sich weiterhin offen, um die eigenen Interessen im Stadtgefüge zu wahren. Gegen eine Professionalisierung der städtischen Verwaltung konnte es nichts einwenden, schließlich hatte es sie selbst in anderen Berufsbereichen mit vorangetrieben und von ihr profitiert. Bei aller Ausweitung des Berufsbeamtentums zeigten sich die Honoratioren der Stadt jedoch bemüht, nicht die Kontrolle zu verlieren. Möglichkeiten dafür gab es zuhauf: Erstens landeten die Bewerbungsschriften der städtischen Beamten auf den Schreibtischen der bürgerlichen Honoratioren. Nicht nur die beigelegten Zeugnisse und Bildungspatente entschieden über den Erfolg der Bewerbung. Das „soziale Kapital“ oder, um nicht mit Bourdieu sondern mit den Zeitgenossen zu sprechen, bürgerlicher „Stallgeruch“, war ebenso entscheidend. Aus den angesehenen Bürgerkreisen der Stadt selbst zu kommen oder doch durch Einheirat, Verwandtschaft oder Ausbildung mit ihnen verbunden zu sein, erhöhte die Chance auf eine Anstellung beträchtlich. Abgesehen von den Oberbürgermeistern, die als bereits andernorts bewährte und vielerorts umgarnte Persönlichkeiten das Prestige einer Stadt heben konnten, rekrutierte sich das Gros der Stadtbeamtenschaft aus dem näheren Umkreis des städtischen Bürgertums. Zweitens unterstanden diese Beamten einem primär durch Ortsstatuten festgelegten System von Qualitätskriterien, Gehältern und Pensionen. Auch hier waren es die Honoratioren, die das
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entscheidende Wort sprachen, was erwartet werden sollte und wie hoch die Besoldungen ausfallen durften. Drittens entschieden sie letztlich nicht nur über die einzelnen Beamten selbst, sondern auch über die Größe des Beamtenstabes. Ein Gleichgewicht zwischen den Berufsbeamten und den Honoratioren in den Magistraten zu wahren, gehörte zu den ureigensten Interessen der Stadtparlamente. Alles in allem ersetzten im 19. Jahrhundert Berufsbeamte die bürgerlichen Honoratioren keineswegs flächendeckend. Vielmehr hatten beide Seiten ein großes Interesse daran, sich zu arrangieren. Mehr noch: Die gegenseitigen Abhängigkeiten machten beide Gruppierungen eher zu Verbündeten als zu Gegnern. Auch außerhalb der Amtstuben und Gremien verkehrte man miteinander, lud sich gegenseitig ein, traf sich im Musikverein oder im Theater oder gar vor dem Traualtar oder dem Taufbecken. Die noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestehende Macht des Magistrats bekam auch Adolf Wermuth zu spüren, nachdem er 1912 zum Oberbürgermeister von Berlin gewählt worden war: Macht des Magistrats aus: Adolf Wermuth: Ein Beamtenleben. Erinnerungen, Berlin 1922, S. 325 f.
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Freilich entfiel auf den Oberbürgermeister nicht die leichteste Rolle. Den Stadträten als Einzelbeamten ist er Vorgesetzter, aber im Magistrat zur Masse geballt stehen sie ihm gleich. Was Wunder, wenn sie versammelt ihm gern zeigen, daß er dort nicht den Herrscher herauszukehren habe. So ist er einer gegen fünfunddreißig. Ich wurde trotz meinem Behagen an der Weise meiner Kollegen von ihnen unbedenklich in die Mache genommen, hatte aber den Trost, daß das Spiel, den Oberbürgermeister in die Höhe zu schnellen und wieder aufzufangen, schon in der Zeit meines Vorgängers beliebt gewesen war. Auf der Wacht für Selbstverwaltung und Freiheit und gegen Übergriffe des Vorsitzenden standen vornehmlich die unbesoldeten Mitglieder, Mosse an der Spitze.
Doch so wie Wermuth in seinem Amt häufiger Rückendeckung von dem Verleger und Geheimrat Rudolf Mosse (1843–1920) erfuhr, waren es keineswegs immer die bürgerlichen Honoratioren, die städtische Projekte hintertrieben oder ausbremsten. Im Gegenteil konnte es sogar gegen ein verschleppendes Berufsbeamtentum schon im 19. Jahrhundert zu Bürgerinitiativen kommen, die auf Eis gelegte Projekte der kommunalen Daseinsvorsorge wie Kanalisation oder Gasbeleuchtungswerke vorantrieben oder die Beamtenschaft beim Bau eines Museums oder Gymnasiums unter Zugzwang setzten. Um die Ämter der städtischen Selbstverwaltung lagerte sich demnach ein engmaschiges Honoratioren-Netzwerk, dessen Exponenten die Kommune als lokale Machtbasis und Experimentierfeld bürgerlicher Politik nutzten und dies auch noch, als in wachsendem Maße eine Berufsbeamtenschaft in die Kommunen einzog. Kein Gaswerk wurde errichtet, keine Straßenbahn geplant, keine Stadtbeleuchtung installiert, kein Abwassersystem angelegt, keine Schule gebaut und keine Kunsthalle eröffnet ohne die maßgebliche Teilnahme des städtischen Bürgertums. Kommunale Beamten und städtische Bürgerschaft gemeinsam waren es, die in den kommunalen Selbstverwaltungen, in den Magistraten und Stadtparlamenten tonangebend wirkten.
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2. Revolution mit Regenschirm – Das Bürgertum 1848/49
Bürgerbewegungen im Vorfeld von 1848/49
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„Wegen Revolution geschlossen!“ Ein solches Schild prangte im März 1848 an vielen Schulen, Ämtern und Ladengeschäften. Ein politischer Umsturz – formell annonciert. Solch paradoxes Zusammenspiel besaß ungewollte Symbolkraft: Kaum prägnanter konnte das zwiespältige Verhältnis des Bürgertums zu „seiner“ Revolution auf den Punkt gebracht werden. Bis heute sind sich die Historiker nicht einig, wie diese prekäre Beziehung zu werten sei: eine „bürgerliche“ Revolution, doch vom Bürgertum „ungewollt“? Zumindest einige Aspekte einer nach Trägern und Motiven vielschichtigen Revolutionswirklichkeit trugen unverkennbar bürgerliche Züge. Als Wegbereiter der Revolution fungierte die Vielzahl von teils liberalen, teils demokratischen Bürgerbewegungen im Vorfeld, die im Laufe der Revolution an Zahl und Einfluss gewannen. Bereits seit den 1820er Jahren hatte das Bürgertum mit immer mehr Nachdruck Reformen der neoabsolutistischen Beamtenregierung gefordert, die seit den „Karlsbader Beschlüssen“ von 1819 jede freiheitliche Regung in der deutschen Staatenwelt mit drastischer Polizeigewalt eindämmte. Eine konstitutionelle Regierungsform erschien dem Bürgertum als einzige Möglichkeit, seine Interessen zu realisieren. Unter dem Druck der von der französischen Julirevolution von 1830 aufgeheizten Stimmung war dem Drängen des Bürgertums nach mehr Spielräumen der Parlamente halbherzig und kurzzeitig nachgegeben worden. Doch das Unbehagen blieb und wuchs. Zu offensichtlich verfehlte der „Deutsche Bund“ seine Aufgabe, als einigende Klammer der zersplitterten deutschen Staatenwelt zu dienen. Im Gegenteil entwickelte er sich in den Augen des Bürgertums immer mehr zum verhassten Instrument fürstlicher Arroganz und bürokratischer Willkür. Im Verein mit liberalen Vertretern des Wirtschaftsbürgertums machte das Bildungsbürgertum Front gegen Kleinstaaterei, bürokratische Gängelung, gegen feudale Privilegien und ständische Ungleichheit. Man setzte sich ein für Menschen- und Bürgerrechte, für freiheitliche Verfassungen, parlamentarische Institutionen und für den Nationalstaat. Die Arbeit der Parlamente in den verfassungspolitisch fortgeschrittenen süddeutschen Staaten mit Baden und Württemberg an der Spitze drohte ins Leere zu laufen. Ein konstitutioneller Nationalstaat sollte, so die immer nachdrücklichere Forderung, dieser Pattsituation ein Ende bereiten. Der Ruf nach Freiheit und nationaler Einheit, beide als miteinander untrennbar verknüpft gedacht, wurde lauter. Ganz oben auf dem bürgerlichen Forderungskatalog standen überdies Presse- und Versammlungsfreiheit, Schutz vor behördlicher Willkür, eine liberale Umgestaltung des Strafrechts und insbesondere der Übergang zu konstitutionellen Regierungsformen. Nicht selbstherrlich, sondern in Übersteinstimmung mit der bürgerlichen Öffentlichkeit sollten die Staatsbehörden agieren. Erst wenn die Regierungen eine kritische Öffentlichkeit als grundsätzlichen Maßstab ihres Handelns akzeptierten, so hoffte man in bürgerlichen Kreisen, waren entscheidende Weichen auf dem Weg zur bürgerlichen Gesellschaft gestellt.
Revolution mit Regenschirm – Das Bürgertum 1848/49 Zu diesen hehren Zielen gesellten sich ganz handfeste Interessen. Wirtschaftsbürger, allen voran rheinische Kaufleute und Unternehmer, drängten darauf, die Ökonomie von behördlicher Bevormundung zu befreien, das Rechtssystem weiter zu reformieren, die Währungen zu vereinheitlichen und einen geschlossenen Binnenmarkt zu schaffen. Überdies war sich das Gros der Unternehmerschaft des Sprengstoffs bewusst, den die soziale Lage der unterbürgerlichen Schichten in sich barg. Der Weberaufstand in Schlesien im Jahr 1844 war nur die Spitze eines Eisberges, der immer weiter wuchs. Als Präventivmaßnahme gegen drohende Eruptionen verlangten Unternehmer nach Reformen. Doch bald nach seinem Regierungsantritt im Jahr 1840 wurde es klar: Friedrich Wilhelm IV. wollte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Hartnäckig weigerte er sich, tiefgreifende Reformen in Angriff zu nehmen, von der versprochenen preußischen Gesamtverfassung ganz zu schweigen. Selbst im konservativen bürgerlichen Lager mehrten sich die Stimmen, denen das romantisch verklärte patriarchalische Staatsverständnis des preußischen Monarchen nicht mehr zeitgemäß erschien. Auch in den süddeutschen Staaten hatten sich die Gegensätze zwischen dem Kammerliberalismus und den dynastischen Regierungen immer mehr zugespitzt. Es waren dann die im Vorfrühling des Jahres 1848 vor allem von der breiten Masse der Bevölkerung getragenen Straßendemonstrationen, die den Reformforderungen der bürgerlich-liberalen Bewegung zu größerer Stoßkraft verhalfen. Angesichts der brodelnden Unruhe in den Unterschichten sahen die Fürsten keinen anderen Ausweg, als unverzüglich Regierungen einzusetzen, die das Vertrauen der Kammermehrheiten und der Öffentlichkeit besaßen. Das war die Geburtsstunde der „Märzministerien“. Binnen weniger Tage wurde auch den „Märzforderungen“ in weiten Teilen nachgegeben oder zumindest ihre künftige Erfüllung in Aussicht gestellt. Die „Märzforderungen“ Diese Forderungen, mit denen die Regierungen der deutschen Staaten fast überall konfrontiert wurden, trugen mit dazu bei, dass die Revolution von 1848 auch mit dem Etikett „bürgerlich“ versehen wurde: Sie spiegeln den Wertekanon der „bürgerlichen Gesellschaft“ insofern wider, als sie Versammlungsfreiheit, Rede- und Pressefreiheit, politische Gleichberechtigung aller Staatsbürger, Volksbewaffnung, unabhängige Justiz, Stärkung der gewählten Kammern und die Einberufung eines deutschen Nationalparlaments ganz oben auf ihre Forderungsliste platzierten.
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Vormärzbewegung
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Doch Revolution? Wollte man die wirklich? Diese Bürgerskepsis wurde von den Ereignissen überrollt. Ahnungen von kommenden Erschütterungen der Bürgerwelt machten sich breit. Einige mochten sich an Goethes „Zauberlehrling“ erinnert fühlen; schließlich hatten sie das Ihrige getan, um die „Geister“ der Revolution zu rufen: In der Zeit des so genannten Vormärz hatte man sich in Vereinen, Versammlungen und Gesellschaften getroffen, politisch debattiert und Visionen einer neuen Gesellschaft entworfen. Das war die theoretische Seite der Medaille. Das Ende der papierenen Gesellschaftsentwürfe war gekommen, aber gleichzeitig auch der Beweis erbracht, dass Denken und Schreiben die Welt nicht nur deuten, sondern auch verändern kann. Die geistige Teilhabe und Mitverantwortung an der gesellschaftlichen Veränderung konnte und wollte sich das Bürgertum nicht nehmen lassen.
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Bürgertum und Politik
IV. Bürger als Revolutionsakteure
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Als die Revolution zum Greifen nahte und dann ganz praktisch wurde, fand man das Bürgertum keineswegs in der ersten Reihe wieder. Hier waren andere revolutionäre Kräfte am Zug. Die Basis bildeten die keineswegs homogenen Unterschichtgruppen. Hörte man in die Sitzungen von Handwerker- und Arbeitervereinen hinein und lauschte man den Sprechchören auf der Straße, schallten einem dort ganz ähnliche Schlagworte entgegen wie bei den Bürgerversammlungen, die wenige Schritte weiter tagten. Doch wenn beide von Freiheit schwärmten, meinten sie sehr Unterschiedliches: Im Bürgertum zielte die Freiheitsforderung auf Verfassung, Gedanken, Sprache und Schrift, auf politische Organisation und vor allem auf die individuellen Freiheitsrechte, die wirtschaftliche Selbstständigkeit und Marktwirtschaft mit einschlossen. In die politischen Forderungen der Unterschichten mischten sich von Anfang an soziale Ansprüche: Ihnen ging es um Lohnerhöhungen, Schutz vor ungerechtfertigten Entlassungen, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Maßnahmen gegen die Teuerung, Senkung der Lebensmittelsteuern. Sicherlich: Zwischen diesen Protagonisten der Revolution gab es viele Brücken, Beeinflussungen, Verflechtungen und Überschneidungen. Schließlich war man, wollte man seine Forderungen durchsetzen, aufeinander angewiesen: Mit dem Rückenwind der revolutionären Volksbewegung kamen die reformbegierigen Bürger an die Macht, oder zumindest an einen Teil der Macht. Umgekehrt brauchte die sich entfaltende Volksbewegung die Überführung ihrer Energie in Programme und Institutionen, um nachhaltig wirken zu können. Doch bewusst war diese gegenseitige Abhängigkeit den Wenigsten. Im Gegenteil wuchs zwischen April und Oktober 1848 das Gefühl der Entfremdung. Zu unterschiedlich waren die Schauplätze, auf denen man seine Forderungen verfocht, zu unterschiedlich die Mittel, zu denen man griff. Auf den Barrikaden und bei den Straßenkämpfen fanden sich nur wenige Bürger; am ehesten schlossen sich Studenten aus dem bürgerlichen Milieu diesen Aktionen an. In den ersten Märztagen wurde vor allem aus Universitätsstädten berichtet, dass Gruppen von jungen Männern vor die Häuser der stadtbekannten Zensoren zogen. Manchmal flog dann auch ein Stein durch die Fenster, um der Forderung nach „Preßfreiheit“ Nachdruck zu verleihen. Und selbst wenn Vertreter des Bürgertums nicht nur debattierten, sondern auch handgreiflich agierten, blieb die bürgerliche Handschrift unverkennbar. Wenn man revoltierte, dann in gesitteter Form. Eine Episode aus Budapest, György Konrád hat sie den Tagebuchaufzeichnungen des Dichters Sándor Petöfi entnommen, bietet einen kuriosen, keineswegs nur für Ungarn typischen Beleg dafür: Als eine Gruppe von gut tausend Bürgern bei strömendem Regen eine Druckerei besetzte, um dort Flugblätter mit ihren Forderungen zu vervielfältigen, riet der Dichter Maurus Jókai, man möge sich wegen des starken Regens zum Mittagessen nach Hause begeben. Schließlich könne es leicht passieren, dass man sich in der Menge mit den Regenschirmen gegenseitig die Augen aussteche. Um drei sollten alle zurückkehren, dann würden sie die Revolution fortsetzen. Der Vorschlag fand breite Zustimmung, schnellen Schrittes begaben sich alle an die häusliche Tafel. Ob ein Schild „Wegen des starken Regens wird die Revolution während der Mittagspause ausgesetzt“ existierte, ist nicht überliefert, aber nicht unwahrscheinlich.
Revolution mit Regenschirm – Das Bürgertum 1848/49
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Am 18. März 1848 fügten sich die Ereignisse in Berlin nicht mehr solchen bürgerlichen Regieanweisungen. Ein Zeitzeuge, der als Neunjähriger die Revolution miterlebte, erinnert sich: Radikalisierung der Revolution aus: Paul Lindau: Nur Erinnerungen. 1. Bd., Stuttgart 1916, S. 17 f.
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Wir durften, als ob nichts geschehen sei, gerade wie am Sonntage vorher, zum Spielen auf die Straße gehen; wenn wir nur, an Körper und Kleidern leidlich unversehrt, rechtzeitig zum Mittagessen zur Stelle waren, bekümmerte man sich gar nicht darum, was wir inzwischen getrieben hatten. Und es war ein so wundervoller Frühlingstag, dieser 19. März, so warm, so sonnig so heiter! … Wir hatten uns weiter als gewöhnlich vom Hause entfernt. Vor dem königlichen Schlosse war der Auflauf so stark, dass wir keinen Schritt vorwärts machen konnten. Der Schlossplatz war auch abgesperrt. Nicht vom Militär, nicht von der Polizei – von einer freiwilligen Schutzmannschaft, die sich eben erst aus dem Bedürfnisse des Augenblicks gebildete hatte. Meist junge Leute, die sich brüderlich die Hand reichten, umzingelten den ganzen Platz und sperrten jeden Zugang von den daraufmündenden Verkehrswegen: von der Langen Brücke, der Breiten und Brüderstraße, den Werderschen Mühlen und der Schloßfreiheit. Wir waren zu weit entfernt, um die schauerliche Szene, die sich vor dem Königsschlosse abspielte, zu sehen. Wir hörten nur ein dumpfbrausendes Stimmengewirr, Lärm, der bedrohlich anschwoll, dazwischen unverständliche Rufe. Dann plötzlich trat Ruhe ein, während sich aller Blicke nach oben, nach dem Balkon des Schlosses richteten – den Balkon selbst konnten wir nicht sehen – und wiederum hörten wir unverständliches Geschrei. Dazwischen erklang etwas Gesang, erst undeutlich, dann immer vernehmlicher. Der Lärm dämpfte sich zu leiserem Gemurmel, verstummte. Und siegreich, feierlich, ergreifend ertönte nun von tausenden von Stimmen der Choral: ‚Jesus meine Zuversicht!‘ Aller Häupter entblößten sich. Was da zu bedeuten hatte, was diese erregte, andächtig singende Menschenmenge wollte, ahnten wir nicht. Aber wir Kinder fühlten doch, dass es etwas unendlich Trauriges sein müsse. Es war, wie ich später hörte, der historisch gewordene Zug: der König und die Königin mussten auf dem Balkon des Schlosses erscheinen, um den Leichen der gefallenen Freiheitskämpfer, die man auf Leiterwagen und Tragbahren mit entblößten, blumengeschmückten Wunden vorüberführte, zu grüßen.
Nach diesem Schock war die Erleichterung groß, als wenig später die Revolution wieder in geordneten Bahnen lief. Offenbar, so atmeten viele Bürger hörbar auf, geriet sie in Deutschland anders als in Frankreich nicht aus den Fugen. Am 20. März schrieb Werner von Siemens an seinen Bruder Wilhelm: … und wieder Beruhigung aus: Werner von Siemens: Lebenserinnerungen, hg. v. Wilfried Feldenkirchen, München u. Zürich 2004, S. 73.
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Ich beeile mich, lieber Bruder, Dir auch meinen ersten Gruß aus freiem Lande zu überbringen! Gott, welche Änderung seit 2 Tagen! Die beiden aus Versehen getanen Schüsse am Schloßplatz haben Deutschland um ein Menschenalter fortgeschoben! Vor meinem Fenster organisiert sich soeben die Bürgergarde unseres Reviers. Die Reste des Militärs ziehen mit Trauermusik, wie das Volk es verlangt, aus der Stadt. Es war eine schrecklich schöne Nacht. … Mit Tränen in den Augen habe ich die gesunde, kräftige Logik der Leute aus den untersten Klassen ange-
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Bürgertum und Politik
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hört, und die Überzeugung habe ich gewonnen, daß kein Volk reifer für die Freiheit sein kann. Du hättest sehen sollen, wie mutig alles fortstürmte, wenn es hieß, sie kommen – vorwärts Brüder. Wenn wir nur Waffen hätten, hieß es allgemein, sollte es bald vorüber sein, doch auch ohne sie werden wir siegen! Und denke Dir, während der ganzen Revolution ist keine einzige Laterne zerschlagen, kein einziges Stück Privateigentum berührt! Alle Häuser standen offen und die Menge durchströmte sie Trepp auf Trepp ab und nicht ein Stück ist gestohlen. Kann man jetzt nicht stolz darauf sein, ein Deutscher zu heißen? Paulskirchenparlament
Als Ende März das Vorparlament und dann am 18. Mai 1848 das Parlament in der Frankfurter Paulskirche seine Arbeit aufnahm, schien die „Revolution“ wieder ganz in bürgerlicher Hand. Zeitgenössische Bilder zeigen eine geordnete Prozession dunkel gekleideter Bürgermänner mit weißem Vatermörderkragen und Zylinder in der Hand – schließlich betrat man ein Gotteshaus! – zwischen dem Spalier eines diszipliniert aufgestellten Bürgerwehrheeres. Allein die flatternden schwarz-rot-goldenden Fahnen wirkten anarchisch locker in dem von feierlichem Ernst gestimmten Szenario. Frankfurt, wie zu einer Hochzeit geschmückt, leuchtete. Das Pathos des Neuanfangs hatte die Oberhand gewonnen. Schon zu dieser Zeit, als noch weniger als die Hälfte der später 812 Abgeordneten ihre Arbeit aufnahmen, war die Paulskirche ein durch und durch bürgerlicher Schauplatz. Berufliche Zusammensetzung der Frankfurter Nationalversammlung 1. Freie Berufe Rechtsanwälte Ärzte Bibliothekare Verleger, Buchhändler Schriftsteller/Journalisten Geistliche Sonstige Akademiker
233 106 23 3 7 20 39 35
3. Wirtschaftsstände Großgrundbesitzer Bauern Fabrikanten Kaufleute Handwerksmeister
99 43 3 14 35 4
GESAMTZAHL davon Akademiker davon im Staatsdienst juristisch geschult
812 ca. 600 436 491
2. Staatsdiener Universitätsprofessoren Gymnasiallehrer sonstige Lehrer Offiziere Diplomaten Richter, Staatsanwälte höhere Beamte mittlere Beamte Bürgermeister 4. Ohne Berufsangabe
436 49 45 30 18 11 110 115 37 21 44
Nach: Frank Lorenz Müller: Die Revolution von 1848/49, Darmstadt 2002, S. 87.
Dass, auch wenn die Juristen die Übermacht hatten, bei dieser Besetzung häufig die Rede von einem „Professorenparlament“ oder einer „Honoratiorenversammlung“ aufkam, erstaunt kaum. Doch so wenig diese Zusammensetzung die Bevölkerungsstruktur widerspiegelte, so deutlich reflektierte sie
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Revolution mit Regenschirm – Das Bürgertum 1848/49
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die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Reinhart Koselleck): Die alte Ständegesellschaft des Ancien Régime war in dieser Phase des 19. Jahrhunderts noch nicht von einer Klassengesellschaft abgelöst worden. Auch wenn die Abgeordneten grundsätzlich nach dem allgemeinen Männerwahlrecht gewählt wurden: Die Wahl fiel auf bekannte und geachtete Persönlichkeiten, die sich durch Rang, Amt, Besitz und nicht zuletzt Bildung Respekt in der Bevölkerung errungen hatten und auch ohne Wahlen zuvor schon das Sagen hatten. Die Auswahl der Abgeordneten gab Tonfall, Stimmung und Rhythmus in der Paulskirche vor. Begnadete Selbstdarsteller feierten hier ihren großen Auftritt, andere lieferten eher Stoff für Karikaturen. Stadtgespräch waren die Bürgermänner, zumeist Newcomer auf dem politischen Parkett, allemal. Das Frankfurter Parlament aus: Veit Valentin: Geschichte der deutschen Revolution 1848/49, 2. Bde., Berlin 1931, Bd. 2, S. 12 f.
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So entstand diese einzigartige Versammlung der Kapazitäten, das Qualitätsparlament als solches, eben deshalb vielleicht kein eigentlicher politischer Körper, der größte Versuch und zugleich das größte Mißlingen des Parlamentarismus. Sie enthielt mehr Theoretiker als Praktiker, mehr Juristen als Kaufleute, mehr Professoren als Handwerker, mehr Offiziere als – Soldaten; sie war eine Hochschule für Politik, zu fachlich klug, zu akademisch wissend, zu philosophisch beredt, um politisches Organ werden zu können: sie war, mit einem Worte, zu bedeutend, um sich einzuordnen in die diffuse deutsche Wirklichkeit, sie war eine Kräftezusammenballung, die sich selbst als Ausgangs- und Mittelpunkt der Entwicklung ansehen mußte, die in ihrem Werke schon gescheitert war, wenn sie nicht mehr als das Höchste, sondern als ein Faktor von verschiedenen Faktoren galt. Das Selbstbewußtsein all dieser Aristokraten und Honoratorioren, dieser Bildungs-, Geldund Titelpatrizier, schon bei den einzelnen nicht gering, sammelt sich im Frankfurter Parlament zu einer Hybris, ohne die es keine echte Tragödie gibt. Die Bedeutung des Frankfurter Parlaments ist zuerst in der Öffentlichkeit der Zeit überschätzt worden; es selbst hielt an dieser Überschätzung am längsten fest.
Doch bei aller bürgerlichen Einfärbung der Eröffnungszeremonie und der sozialen Zusammensetzung des Parlaments: In den ersten Stunden und Tagen ging es in der Paulskirche offenbar wenig diszipliniert zu. Man genoss das Glück des Augenblicks, sonnte sich in der Größe der Aufgabe – auf Kosten disziplinierter Diskussionen und konstruktiver Arbeit. Nachdem die Debatten durch eine Geschäftsordnung gebändigt waren, zeichneten sich bald Friktionen und Fraktionen ab. Das bürgerliche Lager spaltete sich in einen demokratischen und einen liberalen Flügel. Monarchie oder Republik?, lautete die Grundsatzfrage. Die Demokraten wünschten sich die republikanische Staatsform für eine künftige deutsche Nation. Zwar sperrten sie sich nicht prinzipiell gegen eine parlamentarische Monarchie, aber nur mit einem „König ohne Eigenschaften“, wie es der Mediziner und Demokrat Rudolf Virchow auf den Punkt brachte. Die zentrale Entscheidungsgewalt sollte beim Parlament liegen. Eine Stärkung des Parlaments entsprach durchaus auch dem Credo der Liberalen. Doch der Wunsch nach einer Republik ging ihnen zu weit. In ihren Augen war dies gleichbedeutend mit Masse, Terror und letztlich – und entscheidend – dem Ende aller bürgerlichen
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Bürgertum und Politik
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Revolution als Anstoß zu einer„Fundamentalpolitisierung“
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Werte. Bilder der blutigen Nachwehen der Französischen Revolution waren in den Köpfen der Liberalen noch sehr lebendig. Ein starker Monarch, so ihre Hoffnung, sollte vor einer solchen Massendemokratie schützen. Diese beiden Positionen prägten auch die Programme, die sich langfristig zu eigenen Parteien formierten. Mit der Revolution von 1848 fiel auch der Startschuss für eine moderne Parteienlandschaft in Deutschland. Die Demokraten machten im November 1848 mit dem „Centralmärzverein“ den Anfang. Diese erste „moderne“ Partei vereinte mehrere Fraktionen der Paulskirche mit einer Vielzahl von Vereinen; Ende März 1849 umfasste sie bereits eine halbe Million Mitglieder. Der Erfolg der Demokraten zwang auch die Liberalen 1849 zu einem nachholenden Schritt „wider Willen“ (Dieter Langewiesche). Sie gründeten den „Nationalen Verein“ als eine Dachorganisation, welche die Arbeit der liberalen Vereine koordinieren sollte. Doch auch Bürgerbewegungen außerhalb des Parteienwesens erlebten eine neue Hochphase. Das schon im Vormärz blühende Vereinswesen holte noch einmal zu einem fulminanten Aufschwung aus. Vor allem in den ersten Monaten der Revolution obsiegte auch im Bürgertum zunächst die Begeisterung für die Chancen eines revolutionären Umsturzes. Vom „Frühlingshauch der Freiheit“ schwärmten poetisch ambitionierte Bürger. Die Wenigsten beließen es beim Schwärmen, binnen weniger Wochen nahm die Zahl der politischen Vereine sprunghaft zu. Aber auch im eher privaten Kreis wurde in den „tollen Tagen“ häufiger und heftiger denn je politisch debattiert. Während es selbstverständlich schien, dass auf den Bänken in der Paulskirche ausschließlich Männer Platz nahmen, waren bei diesen privaten Soireen Frauen häufig, wie in den Salons wenige Jahrzehnte zuvor, mitredende Gastgeberinnen. Doch vor den Toren der Institutionen endeten die Möglichkeiten für Frauen, sich aktiv am politischen Geschehen zu beteiligen. Frauen waren aus dem politischen Vereinsleben ebenso wie vom Wahlrecht zu den neu gegründeten Parlamenten ausgeschlossen. Immerhin bewirkten Proteste, dass bei der Eröffnung der Deutschen Nationalversammlung 200 Frauen auf den Galerien als Zuschauerinnen Platz nehmen konnten. Dass Männer so verhalten, wenn nicht ablehnend auf weibliches Interesse an Politik reagierten, hatten Frauen schon im Vormärz schmerzlich erfahren müssen. Doch die Bürgerfrauen kannten das Programm der bürgerlichen Gesellschaft durchaus und nahmen es beim Wort. Viele von ihnen zogen die Konsequenz und bildeten in einigen europäischen Großstädten „Demokratische Frauenvereine“. Auch wenn der Aufbruchselan bald abflaute, war das Feuerwerk ihrer Ideen noch keineswegs abgebrannt: Gemessen an den zahllosen, von weiblichen Zeitzeugen initiierten Aktivitäten in den Jahren 1848/ 49 lässt sich in der Revolution auch die Geburtsstunde der ersten bürgerlichen Frauenbewegung ausmachen. Ihre Ideen waren in der Welt und wirkten fort, um sich dann in den 1860er Jahren auf überregionaler Ebene zum Fundament einer bürgerlichen Frauenbewegung zu festigen. Diese langfristigen Folgen eines auf den ersten Blick vermeintlichen Scheiterns erscheinen symptomatisch auch für andere, lange übersehene Nachwirkungen der Ereignisse der Jahre 1848/49. Sicherlich, vieles spricht dafür, die Revolution für gescheitert zu erklären. Die Hauptziele wurden schließlich nicht erreicht. Doch einen kleinen Schritt hat sie das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft weiter gebracht: durch die Beschleunigung der noch aus-
Nationalismus, Liberalismus und „konservative Wende“
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stehenden Agrarreformen, durch diverse Erleichterungen einer industrialisierungs- und bürgerfreundlichen Wirtschaftspolitik wie durch die Konstitutionalisierung der Regierungen und Präsidialmächte des Deutschen Bundes. Und nicht zuletzt: Die Selbstverständlichkeit der politischen Partizipation, die „Fundamentalpolitisierung“ der Gesellschaft war nicht mehr aufzuhalten. Politik war fortan für das Bürgertum eine Herzensangelegenheit.
3. Nationalismus, Liberalismus und „konservative Wende“: Richtungschwenks im Kaiserreich Als die „Berliner Illustrirte“ 1899, wenige Tage vor der Jahrhundertwende, unter ihrer bürgerlichen Leserschaft eine Umfrage startete, welches historische Ereignis sie als das bedeutendste des verflossenen Jahrhunderts ansähe, war das Ergebnis eindeutig: Die nationale Einigung durch Otto von Bismarck im Jahr 1871 stand an der Spitze aller Nennungen. Häkelgardinen, Porzellantassen, Gobelins und Postkarten, die die von dem Maler Anton von Werner festgehaltene Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles ins Alltagsleben hineinholten, fanden noch Jahrzehnte nach dem eigentlichen Akt reißenden Absatz. Nachdem mit der Reichsgründung am 18. Januar 1871 das deutsche Bürgertum eine seiner Hauptforderungen der Revolution von 1848 erfüllt sah, hätte man denken können, dass es sich nun in der „neuen Nation“ eingerichtet habe und zur Ruhe gekommen sei. Im Kaiserreich wurde jedoch bald deutlich, dass der äußeren Reichsgründung eine innere erst noch folgen musste. Denn: Ohne Weiteres wuchs nicht zusammen, was als zusammengehörig erträumt worden war. Dabei gab es in den ersten Jahren durchaus positive Signale: Die von der Revolution angestoßenen Reformen setzten sich fort; liberale Rechtsreformen im Reichsgründungsjahrzehnt beseitigten rechtliche Relikte der ständischen Rechtsordnung fast zur Gänze; neue Verfassungen begrenzten weiter den Zugriff spätabsolutistischer Regierungen. Auch die Verfassungsfrage wurde nun endgültig entschieden. Einerseits zwar gegen die volle Parlamentarisierung und für die Bewahrung eines erheblichen Einflusses der alten Eliten und Institutionen. Andererseits, nicht zuletzt dank des liberalen Bürgertums, gegen die reaktionären Forderungen vieler Konservativer und zugunsten eines Verfassungsstaates mit durchaus liberaler Substanz und demokratischen Elementen. Und nicht zuletzt: Das allgemeine, gleiche und direkte Männerwahlrecht wurde früher als in den Nachbarländern institutionalisiert. Wiederum war dieser Wandel „von oben“ – seitens der Regierung und ihres Apparates – geleitet, gestaltet und teilweise auch initiiert worden. Doch diesmal, anders als zwischen 1800 und 1815, im Verein mit den Liberalen. Sie führten zwar nicht Regie – die ließ sich Bismarck nicht aus der Hand nehmen – doch sie trugen entscheidend dazu bei, dass weitere Weichen für das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft gestellt wurden. Nicht zufällig sprachen schon die Zeitgenossen von der Zeit zwischen 1871 und 1878 von einer „liberalen Ära“, die sie als Höhepunkt bürgerlicher Gestal-
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tungskraft empfanden. Eine bereits in den 1840er Jahren begonnene Erfolgsgeschichte der Liberalen schien in der Zielgerade. Schließlich hatte dieses Innovationspathos auch die in den 1860er Jahren vollzogene innere Spaltung der Liberalen in „Nationalliberale“ und „Fortschrittsliberale“ überlebt. Was machte den Liberalismus für weite Teile des Bürgertums so attraktiv? Es war nicht zuletzt der moderate Anspruch seiner Zukunftsvisionen in seiner für viele annehmbaren Mischung aus Traditionswahrung und Fortschrittsemphase, die ihn lange konkurrenzlos erscheinen ließ. Die Konservativen hatten die Nation als politischen Bezugsrahmen noch nicht akzeptiert. Der politische Katholizismus, der sich in den 1870er Jahren mit dem „Zentrum“ zu organisieren begann, konnte sich, mit seinem Hauptziel vor Augen, seine innere Autonomie gegen den Staat zu verteidigen, noch nicht in die liberalen Rechtsstaatsforderungen einfügen. Die Demokraten mit ihren dezidiert kompromisslosen politischen und sozialen Gleichheitsansprüchen gingen in den Augen vieler Bürger zu hart mit dem Bestehenden ins Gericht und näherten sich zu sehr den Ideen der entstehenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung an. Hinzu kam, dass nach der Jahrhundertmitte der deutsche Liberalismus nicht nur das Bildungsbürgertum in seinen Bann zog, sondern auch für Wirtschaftsbürger an Anziehungskraft gewann. Spätestens als die Entwicklung zum Industriestaat von liberaler Seite als Fortschritt positiv gedeutet und mit vorangetrieben wurde, fanden sich Repräsentanten des Wirtschaftsbürgertums in wachsender Zahl in den politischen Vereinen, in denen der Liberalismus verankert war. Durch die nun übliche gymnasiale und zum Teil sogar universitäre Ausbildung der Söhne nun auf Augenhöhe mit dem Bildungsbürgertum, gewann das Wirtschaftsbürgertum an Stimme nicht nur innerhalb der eigenen sozialen Formation, sondern auch an staatlichen Stellen. Hier zeichnete sich jedoch eine Allianz zwischen Staat und Wirtschaftsbürgertum ab, die langfristig die liberale Politik auf eine Zerreißprobe stellen sollte. 1878 war das annus horribele, in dem es zum großen Bruch kommen sollte. Die wirtschaftliche Situation hatte entscheidenden Anteil daran. Dem Gründerboom folgte 1873 der Gründerkrach. Dass man gemeinsam handelnd mehr Druck und Macht ausüben konnte, war eine in den Jahren zuvor gemachte Bürgererfahrung, Teile des Wirtschaftsbürgertums setzten sie erneut um. Im Januar 1876 entstand mit dem „Centralverband deutscher Industrieller“ (CdI, später ZdI) ein starker wirtschaftsbürgerlicher Interessenverband. Zu seinen Kernforderungen gehörten die Abkehr vom liberalen Freihandel, der die Wirtschaftspolitik in der Hochkonjunkturphase 1866/67 bestimmt hatte, und die Einführung von Schutzzöllen, die die heimischen Produkte vor Auslandsimporten abschirmen sollten. In einer an den Kaiser direkt gerichteten Eingabe des Vorstandes des Zentralverbandes deutscher Industrieller vom 12. Juli 1877 hieß es:
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Eingabe des Vorstandes des ZDI vom 12.7.1877 aus: Eingabe des Vorstandes des ZDI vom 12.7.1877 an Wilhelm I. über die Ursachen der Krise der deutschen Wirtschaft, in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Das deutsche Kaiserreich 1871–1914. Ein historisches Lesebuch, 5. Aufl., Göttingen 1992, S. 203 ff.
Nationalismus, Liberalismus und „konservative Wende“
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Ew. Kaiserliche und Königliche Majestät erlaubt sich der erbietigst unterzeichnete Vorstand des Zentralverbandes deutscher Industrieller zur Beförderung und Wahrung nationaler Arbeit mit nachstehender Bitte ehrfurchtsvoll zu nahen. Seit fünf Jahren herrscht in unserem deutschen Vaterlande eine gewerbliche Krise, wie sie heftiger und verheerender seit Menschengedenken nicht aufgetreten ist. … In den Kreisen der Industriellen und bei allen denen, welche dem praktischen Erwerbsleben nahestehen, waltet die Überzeugung ob, daß die durch die Beschlüsse des Reichstags veranlaßte Handelspolitik diese beklagenswerte wirtschaftliche Krankheit zwar nicht hervorgerufen, daß sie aber wesentlich dazu beigetragen hat, dieselbe zu verschärfen und zu verlängern. Fast unausgesetzt ist der vaterländische Gewerbesfleiß in den letzten zwölf Jahren durch das Zusammentreffen widriger Umstände das Opfer zollpolitischer Experimente geworden, welche notwendigerweise die Stabilität der Verhältnisse erschüttern und den heimischen Markt dem ungewissen Erfolge einer völlig uneingeschränkten auswärtigen Konkurrenz preisgeben mußten, … während alle Nachbarstaaten sich durch hohe Zölle hermetisch gegen uns abschließen.
Unter dem „Druck ausländischer Konkurrenz“ hatten sich auch die ostelbischen Agrarier einer protektionistischen Politik geöffnet. Im Februar 1876 schufen sie die „Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer“, die sich für Einfuhrzölle auf ausländisches Getreide stark machte. Im Oktober 1877 einigten sich CdI und die „Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer“ auf ein gemeinsames Zollprogramm. Vieles spricht dafür, in diesem demonstrativen Zusammengehen von Großindustriellen und Großagrariern mehr als ein nur ökonomisches Zweckbündnis zu sehen. In der historischen Forschung gilt es vielmehr häufig als Beginn einer „Sammlungspolitik“, die lange die deutsche Innenpolitik bestimmt und jenen Elitenkonsens hervorgebracht hat, auf dem das Kaiserreich letztlich aufruhte. Der Übergang zur Schutzzollpolitik war nur ein Schritt einer „konservativen Wende“. Schon bei den Reichstagswahlen vom 10. Januar 1877 zeigte sich ein deutlicher Rechtsschwenk. Die Nationalliberalen blieben zwar stärkste Fraktion, mussten jedoch herbe Stimmverluste hinnehmen, die den konservativen Parteien zugutekamen. Doch eine gefügige Reichstagsmehrheit hatten die Wahlen Bismarck dennoch nicht beschert. Er sah die Zeit gekommen, einen großen Trumpf aus dem Ärmel ziehen: die wachsende Angst des Bürgertums vor der „roten Gefahr“. Sie war in der Revolution von 1848 schon hochgekommen, jetzt, nachdem die Sozialdemokratie als SAP und nicht mehr als in den „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ (ADAV) und die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“ (SDAP) gespalten auftrat, schien sie näher denn je. Die Zeitgenossen übersahen dabei, dass namentlich in ihrer Gründungsphase weniger Lohnarbeiter als Kleinbürger das Profil der Partei prägten. Zur Zeit der Reichsgründung konnte von einer realen Bedrohung durch eine die wachsende Masse der Lohnarbeiter bündelnde Arbeiterpartei noch keine Rede sein. Doch angesichts der Wahlgewinne in der Reichstagswahl vom Januar 1877, die den Sozialdemokraten fast eine halbe Million, und damit 9,1 Prozent der Wählerstimmen bescherte, nahm dass Schreckgespenst der „roten Gefahr“ riesenhafte Gestalt an. Zwei unpolitische Attentate auf den greisen Kaiser Wilhelm I. boten den willkommenen Vorwand,
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das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ am 21.10.1878 in Kraft zu setzen. Die Liberalen wussten sehr wohl, dass Bismarck hier Rückendeckung von großen Teilen des Bürgertums hatte. Wollten sie nicht den Vorwurf riskieren, Staat und Bürgern den Schutz vor der Sozialdemokratie zu versagen, mussten sie zustimmen. Durchaus mit Bauchschmerzen – schließlich gab die Durchsetzung des Gesetzes wesentliche liberale Rechtsgrundsätze preis. Das Wirtschaftsbürgertum dagegen litt weniger an Magengrimmen; die staatliche Politik gegenüber Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung stieß in seinen Kreisen durchaus auf Zustimmung. Das galt für das „Sozialistengesetz“, das galt aber auch für die wenige Jahre später nach und nach einsetzende „Sozialgesetzgebung“. Hatte sich Bismarck mit dem Sozialistengesetz ein Instrument geschaffen, das zahlreiche Handlungsoptionen bot, um die sozialistische Arbeiterbewegung im Zaum zu halten, so war er doch einsichtig genug zu erkennen, dass Repression im Umgang mit der industriellen Arbeiterschaft nicht das einzige Mittel sein konnte. Schließlich handelte es sich um die im Zuge des rasch fortschreitenden Industrialisierungsprozesses am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Auch wenn die Sozialgesetzgebung auch die Unternehmer durchaus etwas „kostete“: Der Ertrag, so hoffte man, waren immerhin geringere Unkosten und nicht zuletzt eine soziale Befriedung. Beide Gesetzesinitiativen, lange als eng miteinander gekoppelte „Zuckerbrot und Peitsche-Politik“ betrachtet, zeigten deutlich, dass das Bürgertum seit den späten 1870er Jahren immer deutlicher die Fronten zu wechseln begann. Unter einem erstarkten Wirtschaftsbürgertum, das in der aufholenden Industrialisierung innerhalb des Bürgertums nun die Führungsrolle übernahm, war es nun vor allem die als Bedrohung stilisierte Arbeiterschaft, von der man sich dezidiert absetzte und aus dem verachteten Adel einen neuen Bündnispartner machte. Liberale Bildungsbürger erfuhren diesen Richtungswechsel als gravierende Zäsur, als Angriff auf die eigene Wertewelt. Diese zu verteidigen, fiel nicht zuletzt deshalb schwer, weil das Bildungsbürgertum im Kaiserreich selbst immer stärker nach Berufsfeldern differenziert auftrat und damit deutlich an Homogenität verlor. Durch die Gründung eines deutschen Nationalstaates hatten sich ihm neue Berufs- und Wirkungsfelder eröffnet: der Ausbau von Verwaltung und Justiz, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der Siegeszug von Industrie und Technik, die Professionalisierung der freien Berufe und nicht zuletzt auch die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen. All das erforderte eine immer größere Zahl von akademisch geschultem Personal. Zwischen 1871 und 1914 verdoppelte sich das Bildungsbürgertum bei einer gleichzeitigen Zunahme der Reichsbevölkerung um 65 Prozent. Mit dieser Expansion ging, auf den ersten Blick paradox, ein fortschreitender Bedeutungsverlust einher. War noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts die kulturelle Hegemonie des Bildungsbürgertums ganz unbestritten, so büßte es im Kaiserreich zunehmend an Prägekraft ein. Das einst so hoch geschätzte humanistische Bildungsideal verflachte immer mehr zum patentierten Berechtigungswesen und taugte nicht mehr dazu, mit ihm einen gesellschaftlichen und politischen Führungsanspruch zu begründen. Die kulturelle Generalkompetenz bröckelte zusehends. Die neue Vormacht der „Bereichsspezialisten“ mit beschränkten Kenntnissen und Kompetenzen
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Nationalismus, Liberalismus und „konservative Wende“
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wurde zum bildungsbürgerlichen Angriffsziel, gebündelt und geballt drang diese Dauerklage in den vielen, negativ gestimmten „Kulturbilanzen“ im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an die Öffentlichkeit. Der Bankier Ludwig Bamberger war nur einer von vielen, als er in seiner Schrift „Die Sezession“ von 1881 über den beklagenswerten Zustand des Liberalismus lamentierte. Eine ganze Bandbreite von Indizien führte er dafür ins Feld: der Übergang vom Freihandel zum Schutzzoll, die Ablösung der Nationalliberalen durch Konservative und das Zentrum als Regierungsfraktion, der neu entflammte Antisemitismus, die Sozialistengesetze und der beginnende Abbau des Kulturkampfes. In all diesen Entwicklungen sahen Bamberger und andere Liberale grundlegende, einander bedingende Faktoren, die gleichsam in einer Kettenreaktion dazu führten, dass der junge Nationalstaat mit „demjenigen Kulturvolk“ brach, aus dem er hervorgegangen war. In der Geschichtswissenschaft ist das, was Bamberger hier beklagte, als Übergang vom linken zum rechten Nationalismus bezeichnet worden. Der Schock über das Ende der liberalen Ära drang in den deutschen Liberalismus so tief ein, weil man es gleichzeitig als das Ende einer bildungsbürgerlich geprägten, liberalen politischen Kultur empfand. Doch die Unkenrufe eilten der Wirklichkeit voraus. Nach wie vor stellte das Bildungsbürgertum die Mehrheit in einem noch keineswegs gänzlich geschwächten Liberalismus. Neu war nur die Konkurrenz, die auch um die Gunst des Bürgertums buhlte. Da war zum einen das katholische Zentrum, auf das der protestantische Liberalismus mit der eiligen Gründung des Evangelischen Bundes reagierte. 1887 ins Leben gerufen, verfügte er bereits 1913 über mehr als eine halbe Million Mitglieder. Den nationalen Verbände wie dem „Alldeutschen Verband“, dem „Ostmarkenverein“ und dem „Flottenverein“ setzten liberale Bürger weniger entgegen, obwohl gerade diese eindringlich demonstrierten, wie gründlich die Liberalen ihr früheres Monopol, politische Ziele auf den Zentralwert „Nation“ hin definieren zu können, verloren hatten. Langfristig wirkte dieser vom Bürgertum so hochgehaltene Nationalismus, dessen Schattenseiten durchaus auch in seiner Anfangsphase zu ahnen waren, immer weniger integrativ. Die Errichtung des Nationalstaates, kaum zufällig von den Zeitgenossen zum Erinnerungsort erkoren, trieb die Nationsbildung voran und beförderte das nationale Wir-Gefühl. Gleichzeitig wurden zu Außenseitern deklarierte, sogenannte „innere Reichsfeinde“ mehr und mehr ausgegrenzt. Immer mehr geriet der Nationalismus, bestärkt durch soziale Spannungen im Innern, zu einer Ideologie mit intolerantem Absolutheitsanspruch. Die schrecklichen Folgen eines so jeden Liberalismus entkleideten Nationalismus, die sich dann im 20. Jahrhundert offenbarten, hatten auch weite Teile des Bürgertums mitzuverantworten.
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V. Bürgertum und Kunst „Der Nutzen“, schrieb Friedrich Schiller im Jahr 1795 in seiner Abhandlung „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“, ist „das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen, und alle Talente huldigen sollen. Auf dieser groben Waage hat das geistige Verdienst der Kunst kein Gewicht, und, aller Aufmunterung beraubt, verschwindet sie von dem lärmenden Markt des Jahrhunderts“. Dies waren Unkenrufe, die früh ein bürgerliches Echo fanden. Bald, so mahnten vor allem die Dichter der Romantik, würde die Aufklärung, bar aller Erscheinungen des Wunderbaren, nicht mehr hell leuchten, sondern ihr auch graues Antlitz enthüllen. Man zweifelte, manche verzweifelten schon jetzt an dem Verdikt der Vernunft. Zu durchgeplant, zu sehr entzaubert, zu wenig wunderbar erschienen die daran geknüpften Vorstellungen. Bürgerliche Sehnsüchte nach Phantasie und Emotion kamen auf und spiegelten sich in einem Aufschwung von romantischen Erzählungen, skurrilen Märchen, elegischen Gedichten und sentimentalen Romanen. Musiker und Maler taten das Ihre, Gegenwelten zu kreieren. Doch nicht allein als Weltfluchthelfer, sondern auch als „Mitbildner seiner Zeit“ sollte sich in den Augen der bürgerlichen Kulturwächter der Künstler verstehen. Die von ihnen geweckte Phantasie galt dabei als wertvolle Quelle, die Gegenwart zu deuten und zu bereichern. Diese Ansicht vertrat nicht nur Ferdinand Avenarius (1856–1923), Dichter und Gründer der Zeitschrift „Der Kunstwart“ (1887), der sich die „Geschmacksbildung“ des Bürgertums zur Aufgabe gemacht hat.
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Verstand, Empfindung und Phantasie aus: Ferdinand Avenarius (1856–1923): Unsere Künste. Zum Überblick, in: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen, 1. Jg., 1. Stück (1887), S. 1–4, Zitat S. 1. Vielleicht werden künftige Forscher bei der Kennzeichnung des Geistes, der in unserem Geschlechte waltete, Einiges als ein Wichtiges hervorheben: die fast unbeschränkte Hochschätzung der Verstandesbildung auf Kosten der Bildung von Empfindung und Phantasie. … Nach der Empfindungsschwelgerei im Zeitalter der Sentimentalität, nach der einseitigen Pflege ästhetischen Genießens, die im Bewußtsein der großen Menge der Gebildeten ihr folgte, erscheint der heutige Kultus des Verstandes und Willens freilich fast wie die nachträgliche Stärkung eines vernachlässigten Organs. Auf der Höhe der Menschheit aber schreitet ein Geschlecht erst dann, wenn es die ebenmäßige Ausbildung all seiner Kräfte erstrebt und erreicht hat.
Vielen Bürgern, mehr und mehr gebeutelt von der selbst reproduzierten Leistungsgesellschaft, sprach Avenarius damit aus dem Herzen. Sie wünschten sich ein besseres Leben, oder besser: Ein zusätzliches, das Überraschungen, Geheimnisse versprach und nicht so berechenbar wie das gewöhnliche erschien. Vorhersagbarkeit und Planbarkeit des Lebens waren zwar Kern bürgerlicher Weltanschauung, doch die Lust am Geheimnisvollen und Wunderbaren blieb. Man räsonierte im politischen Verein über Gesellschaftsentwürfe und traf sich wenige Stunden später hinter verschlossenen Vorhängen
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Kunst im Bürgeralltag: Bürgerliche Dilettanten
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zu Séancen. Man erzog die Kinder zur Selbstständigkeit, Vernunft und Leistungsbereitschaft, schließlich sollten sie einst ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können. Gleichzeitig schenkte man ihnen Wahrsagepuppen, die unter dem weiten Taftrock eine Fülle von Prophezeiungszetteln trugen, auf denen stand, welches Schicksal ihnen bestimmt sei.
1. Kunst im Bürgeralltag: Bürgerliche Dilettanten Die Welt der Kunst wurde einerseits als bewusste Gegenwelt zur Arbeitswelt konstruiert, die Kompensation und Rekreation gegen die Forderungen des Bürgeralltags bot und dazu beitrug, die bürgerliche Gesamtpersönlichkeit immer aufs Neue wieder herzustellen und zu erhalten. Kunst sichtbar zu pflegen, verhalf andererseits zum Abstecken bürgerlicher Grenzen. Eine hauseigene Bibliothek anzulegen, Kunstwerke zu sammeln und in den eigenen vier Wänden zu präsentieren, regelmäßig Kunstausstellungen sowie Opern, Theater und Konzerte zu besuchen dienten ebenso wie Hausmusik und das sachverständige Jonglieren mit Fachvokabular auf Vernissagen, im Theaterfoyer oder im bürgerlichen Salon dazu, das bürgerliche Heimischsein in der Welt der Kunst unter Beweis zu stellen. Innere Vervollkommnung und äußere Zurschaustellung waren die beiden Hauptaufgaben, die Kunst im bürgerlichen Lebenshaushalt übernahm. Diese Doppelfunktion wurde auf alle Kunstsparten übertragen. So diente die Welt der Literatur dazu, von Zeit zu Zeit der Realität zu entfliehen, Reisen in Phantasiewelten auf dem Kanapee zu genießen. Doch nicht nur zum zeitweiligen Eskapismus verhalf die Bücherwelt. Belesenheit galt als untrügliches Zeichen von gebildeter Bürgerlichkeit. Es machte sich gut, in Konversationen mit Klassikerzitaten glänzen und fachmännisch über einen Dichter parlieren zu können. Angeregt vom englischen „Handbook of Familiar Quotations“ (1853) und dem französischen „L’ésprit des autres“ (1855) brachte Georg Büchmann 1864 seine „Geflügelten Worte“ heraus und verhalf damit auch dem deutschen Bürgertum zu seinem Zitatenschatz. Gefüllte Bücherschränke, aus denen kostbare Buchrücken hervorstachen, bezeugten eindrucksvoll die gewichtige Rolle der Literatur im bürgerlichen Lebensentwurf. In der Regel beheimateten die Bibliotheken des Bürgertums ein europäisches Repertoire. Neben nationalen Heroen wie Schiller, Goethe und Herder fanden sich dort auch die Werke von Shakespeare, Dante, Dostojewski, Cervantes und Molière. An den Wänden der Kinderstuben zogen sich Regale entlang, auf denen die Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur versammelt waren: Defoes „Robinson Crusoe“, Hoffmanns „Struwwelpeter“, die Grimmschen, Bechsteinschen und Andersenschen Märchen, J. F. Coopers „Lederstrumpf“, Gustav Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ und „Gullivers Reisen“ von Swift. Belehrend und belustigend zugleich sollten sie schon bei den kleinen Bürgerinnen und Bürgern die Lust am Lesen entfachen. Ein gewünschter Nebeneffekt war es, schon die Kinder mit der Kunst des Ausdrucks vertraut zu machen, ihren Sinn für Sprachschönheit zu wecken
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Bürgertum und Kunst
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bürgerliche Hausmusik
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und die Sensibilität für feine Untertöne zu schärfen. Geübt wurde dies an Familienabenden, bei denen Gedichte deklamiert, Geschichten vorgelesen oder Dramen mit verteilten Rollen inszeniert wurden. Regelmäßige Theaterbesuche wurden im Anschluss auf Puppentheaterbühnen wieder und wieder zur Aufführung gebracht. Auch Konzert- und Opernerlebnisse wurden in den eigenen vier Wänden im Kleinen inszeniert. Hausmusik anstelle der Hofkonzerte der Aristokratie war eine ureigene bürgerliche Kunstform, mit der gleichzeitig familiäre Gemeinsamkeiten und musikalische Begabungen zelebriert und von Zeit zu Zeit auch einer ausgewählten Öffentlichkeit präsentiert wurden. Das Klavier, schon von Max Weber zu „seinem ganzen musikalischen Wesen nach … bürgerliche[n] Hausinstrument“ erklärt, übernahm hierbei eine tragende Rolle. Warum errang gerade das Klavier eine solche Bedeutung? Erstens kam es als das Individualinstrument schlechthin dem Streben des Bürgertums nach individuellem Ausdruck vortrefflich entgegen. Ganze Symphonien und Opern ließen sich mit zwei Händen darauf intonieren. Entsprechende Notenliteratur, die im Laufe des 19. Jahrhunderts den Musikmarkt überschwemmte, trug dem Wunsch Rechnung, von Zeit zu Zeit den Konzertsaal in den bürgerlichen Salon zu holen. Zweitens entsprach das Pianoforte dem bürgerlichen Ordnungssinn. Buchstäblich schwarz auf weiß lagen die Töne auf Anschlag bereit. Und es waren „richtige“ Töne, die Anfänger erzeugen konnten. Relativ bald, nach einigem Fleiß, ließ sich bereits ein Stück Klaviermusik meistern. Drittens war das Klavier allein durch sein Format und seine Doppelfunktion als Musikinstrument und Möbelstück geradezu prädestiniert, dem Besucher bürgerlicher Wohnstätten sehr augenscheinlich die Kultiviertheit ihrer Bewohner vorzuführen. Das Klavier manierlich zu spielen, war vornehmlich Aufgabe der Bürgertöchter. Besonders bei Anlässen, die der Selbstdarstellung der Familie dienlich waren, hatten sie ihr Können unter Beweis zu stellen. Kleine, kurze und beherrschbare Stücke waren dafür gefragt. „Nocturnes“, „Walzer“ und „Préludes“ von Chopin, „Kinderszenen“ und das „Album für die Jugend“ von Schumann, Mendelssohns „Lieder ohne Worte“ oder auch Nils Gades „Aquarellen“ gehörten zum beliebten und durchaus anspruchsvollen Programm. Spitzenreiter jedoch waren die heute nicht zufällig vergessenen Salonstücke von Sigismund Thalberg und Thekla von Badarzewska-Baranowska, deren „Gebet der Jungfrau“ europaweit die Notenständer eroberte. Solche moment musicaux, auch hochtrabend „Charakterstücke“ genannt, trugen so sprechende Namen wie „Die Klosterglocken“, „Singers Nähmaschine“, „Die verfallene Mühle“ oder „Das Erwachen des Löwen“. Sie vor allem waren es, die dann auch durchaus musikbegeisterte Kritiker auf den Plan riefen. Die „Qualen nachbarlichen Clavierspielens“ aus: Eduard Hanslick: Ein Brief über die ‚Clavierseuche‘, in: Die Gartenlaube 35, 1884, S. 572–575. Die Qualen, die wir täglich durch nachbarlich klimpernde Dilettanten oder exercirende Schüler erdulden, sind in allen Farben oft genug geschildert. Ich glaube allen Ernstes, daß unter den hunderterlei Geräuschen und Mißklängen, welche
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tagsüber das Ohr des Großstädters zermartern und vorzeitig abstumpfen, diese musikalische Folter die aufreibendste ist. In irgend eine wichtige Arbeit oder ernste Lektüre vertieft, der Ruhe bedürftig, oder nach geistiger Sammlung ringend, müssen wir wider Willen dem entsetzlichen Clavierspiel neben uns zuhören; mit einer Art gespannter Todesangst warten wir auf den uns wohlbekannten Accord, den das liebe Fräulein jedesmal falsch greift, wir zittern vor dem Laufe, bei welchem der kleine Junge unfehlbar stocken und nun von vorn anfangen wird. … Könnte und wollte man übrigens einige tausend Städter von den Qualen nachbarlichen Clavierspielens befreien, so müßte man eben so vielen Tausenden ihre beste, oft einzige Freude und Erholung rauben, den Fachmusikern oft geradezu ihre Existenz. Ja, das Merkwürdigste ist, daß in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen, hier Kläger und Beklagter, Selbstspieler und Angeklagter in demselben Individuum zusammenfallen; den gerade wir, die wir unter den unerbetenen nachbarlichen Klängen am empfindlichsten leiden, sind in der Regel selbst musikalisch und musicirend. Wir fangen selber an, wenn der Andere aufhört, und so dreht sich die Klage im ewigen Kreise.
In dem gleichen Aufsatz in der „Gartenlaube“ mahnte der bekannte Kritikerpapst des 19. Jahrhunderts, Eduard Hanslick, vor zu weitgehendem elterlichen Ehrgeiz, der Töchterträume von Pianistinnenkarrieren nähren könne. Eine „massenhafte Drillung von Pianisten“ ginge laut Hanslick nur mit einem „Anwachsen eines bedauernswerthen musikalischen Proletariats“ einher. Der Kunst sollte fern der Arbeitswelt gefrönt werden, zum bürgerlichen „Brotberuf“ indessen tauge sie nicht. Damit verwies der Kritiker auf ein bürgerliches Dilemma: Mit seiner Kunstverehrung begab sich das Bürgertum auf eine Gratwanderung. Einerseits nutzte es Kunst als Kompensation der Deformationen durch die arbeitsteilig strukturierte, bürgerliche Gesellschaft, gegen die von Schiller beschworene Gefahr, dass der Mensch zum Bruchstück seiner selbst verkomme. Andererseits durfte man nicht zu tief in die Welt der Kunst eintauchen, um sich nicht in ihr zu verlieren. Pianistinnen sollten die Bürgertöchter ebenso wenig werden, wie sie auch nicht der „Lesesucht“ verfallen sollten. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen Romane, in deren Einbände Nadel und Faden eingelassen waren, um die Frauen, die das Buch aufschlugen, umgehend an ihre eigentliche Bestimmung zu gemahnen und ihnen das Weiterlesen mit einem schlechten Gewissen zu verleiden. Kunstbeflissen doch künstlerskeptisch setzte sich das Bürgertum einem doppelten Konformitätsdruck aus: Auf der einen Seite musste und wollte man sich in der Welt der Kunst zu Hause zeigen. Kein Familienabend ohne Lektüre oder Klavierspiel, kein Geburtstags- oder Weihnachtsfest ohne Gedicht- oder Liedvortrag, kaum eine Abendgesellschaft ohne den Auftritt eines bekannten Virtuosen. Damit schuf sich das Bürgertum eine eigene Form der Selbstdarstellung, die sowohl individuelle wie auch gemeinschaftliche und gemeinschaftsstiftende Elemente in einen harmonischen Einklang brachte. Auf der anderen Seite durfte die Kunst nur für den Hausgebrauch, gleichsam domestiziert, Eingang ins Bürgerleben finden. Der Versager, das in jeder Bürgerfamilie obligatorische „schwarze Schaf“, war oft derjenige, der im Balanceakt zwischen Kunstverehrung und Künstlerskepsis das Gleichgewicht verlor.
zwischen Kunstverehrung und Künstlerskepsis
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Bürgertum und Kunst
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Musik- und Kunstvereine boten bei diesem bürgerlichen Seiltanz den institutionellen Schutzschirm. Eingebunden in einen Kreis von Gleichgesinnten und Gleichgestimmten konnte man sich sicherer auf dem schwer taxierbaren Terrain der Kunst bewegen. Vor allem wenn es um die bildende Kunst ging, zeigte sich das Bürgertum in seinem Geschmacksurteil eher wenig selbstbewusst. Nicht zufällig schmückten die Wände der Bürgerhäuser vornehmlich Reproduktionen der „großen Meister“, deren Qualität als unbestritten galt. Kunstgeschichtliche Führer, die hohe Auflagenzahlen verzeichneten, wurden dankbar als Rezeptionsleitfäden aufgegriffen, lieferten sie doch Geschmacksrichtlinien und das nötige Fachvokabular, um bei Kunstausstellungen mit Kennerschaft glänzen zu können. Kunstverstand, diese bürgerliche Wortschöpfung des 19. Jahrhunderts, verdichtete das Verhältnis des Bürgertums zur bildenden Kunst: Künstlerische Inspiration sollte durch bürgerliche Intention erklärt und erklärbar werden. „Die Kunst, in drei Stunden ein Kunstkenner zu werden“, versprach augenzwinkernd-ironisch im Jahr 1834 der Advokat Johann Hermann Detmold seiner Leserschaft vermitteln zu können. Mit seiner Effie Briest und ihrem frisch angetrauten Ehegatten Baron Instetten hatte schon Theodor Fontane das flitternde Brautpaar, das merklich gehetzt alle Kunstschätze Italiens „abzuhaken“ bemüht war, karikiert. Kunstsinnige Bürgerfamilien hätten ihm reichlich Stoff für weitere Häme geboten. Brachen sie allsonntäglich zu den Stätten der bildenden Kunst auf, ging es weniger um das Sehen als um das Gesehenwerden. An eine solche Pflichtübung erinnert sich auch der 1901 geborene Sohn eines Diplomingenieurs:
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Pflichtbesuch im Kunstverein aus: Herman Heimpel: Die halbe Violine. Eine Jugend in der Haupt- und Residenzstadt München, Frankfurt a. M. 1985, S. 106. Also, wir gehen in den Kunstverein. Das ist man sich schuldig als Mitglied, und zu Hause, freilich vom Salon allmählich in die hinteren Zimmer wandernd, hängen die lithographierten Jahresgaben: Grützners Mönche und Defreggers Gebirgler, dazu das ‚ländliche Fest in Schwaben‘. … Die offizielle, höfisch und bürgerliche anerkannte Kunst der Künstlergenossenschaft des Herrn von Marr bot dem Auge des Vaters, der Landschaften und besonders Interieurs liebte, manche Weide, man verweilte lange, während Erhard hängenden Magens, mit Gähnen und Seitenstechen kämpfend, zwischen den Schwestern trottete. Für die ‚merkwürdige‘ Kunst der Sezession und das elterliche Entsetzen über die noch modernere Malerei kleiner Malervereinigungen blieb dann weniger Zeit, die Schritte wurden länger, die Blicke in den Katalog kürzer, für Erhard war wenig Unterschied der Schulen … Er fand, daß auch die Großen, die Wandelnden, Sich-Begrüßenden, auf Polsterbänken Ruhenden nicht zu sehr bei der Sache waren. War der Kunstverein erledigt, und war, wie meist, der Glaspalast geschlossen, so gab es Museen.
Mitgliedschaft im Kunstverein bot nicht nur Wegweiser zum „richtigen Kunstgenuss“, sondern galt auch als Ausweis von Bürgerlichkeit. Eine wahre Gründungswelle erlebten die Kunstvereine in den 1820er Jahren: 1823 machte der Münchner Kunstverein den Anfang, weitere Gründungen folgten in Bremen, Bamberg und Mainz. Coburg reihte sich 1824 in den Vereinsreigen ein, Berlin 1825, Freiburg und Stuttgart 1827, Halberstadt, Würzburg, Nürnberg und Dresden 1828, Frankfurt und Düsseldorf 1829. Alle Vereine verzeichneten bald steigende Mitgliederzahlen. Der Kunstverein in
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Kunst und Kommerz: Bürgerliche Mäzene
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Frankfurt am Main konnte im Jahr 1888 2.148 Mitglieder aufweisen, der Münchner Kunstverein im Jahr 1870 immerhin schon 3.537. Organisiert waren die Kunstvereine überwiegend als Aktienvereine. Für die Einzahlung eines festgesetzten Jahresbeitrages erhielt jedes Mitglied eine Aktie. Höhepunkt des Vereinslebens waren Ausstellungen und damit häufig verbunden die Verlosung von Gemälden oder graphischen Blättern unter den Mitgliedern. Überdies gab es noch die jährliche Verteilung von Jahresgaben oder Prämienblättern. Manche leisteten sich sogar eine eigene Sammlung oder Galerie.
2. Kunst und Kommerz: Bürgerliche Mäzene Die Kunstvereine waren es auch, die im Laufe des 19. Jahrhunderts einen Löwenanteil mäzenatischen Engagements für sich verbuchen konnten. Sie, genauer: ihre bürgerlichen Mitglieder, trugen erheblich dazu bei, dass mäzenatisches Tun zunehmend verbürgerlichte. In der Renaissance- und Barockzeit waren es vor allem Adelige, Fürsten, Könige oder hochrangige Kirchenvertreter gewesen, die sich Hofmaler und -musiker verpflichteten, die ihrerseits damit ihren Lebensunterhalt gesichert wussten. Doch nicht das Wohl von Künstlern, Kunst und Öffentlichkeit stand bei diesen frühen individuellen Mäzenen im Mittelpunkt, allein die Steigerung des eigenen Prestiges war das Ziel. Die Maler und Musiker sollten zum Ruhme ihres Auftraggebers wirken, ihm Rahmen und Medien der Selbstrepräsentation bieten. Um von Beginn an den Eindruck zu zerstreuen, dass man als Mäzen sich in diese Tradition einreihte, trat bürgerliches Mäzenatentum seit den 1820er Jahren häufig als kollektives Mäzenatentum auf. Anders als die Hofkünstler, die an einen individuellen Mäzen gebunden waren, konnten die von einem Kunstverein geförderten Künstler, nicht mehr von einem einzigen Gönner abhängig, sich relativ autonom auf dem „Markt“ bewegen. Kunstvereine boten ihnen ein Ausstellungsforum und kauften, wenn sie selbst eine Sammlung anlegten, auch Teile ihrer Werke. Eine Verbürgerlichung des mäzenatischen Engagements ging mit einer Pluralisierung der Kunstrichtungen einher, bedeutete das Ende der Verbindlichkeit des Kunstgeschmacks. Doch was die Bürger durch ihr eifriges Mitmischen auf dem Kunstmarkt selbst provozierten, führte gleichzeitig zu ihrer Verunsicherung. Einem schnellen Stilwechsel begegneten die meisten mit Skepsis. Mit ihren Vorbehalten gegenüber der „merkwürdige[n] Kunst der Sezession“ waren die Eltern von Hermann Heimpel keineswegs allein. Bei der „Sezession“ handelte es sich um eine zunächst in München, später auch in Berlin entstandene Künstlervereinigung, die weniger ein gemeinsamer Stil, sondern vor allem die Abkehr von verbindlichen Normvorgaben und richtungsweisenden Malerfürsten wie Franz von Lembach oder Anton von Werner einte. Dennoch würde es zu kurz greifen, dem Bürgertum generell Ignoranz gegenüber Strömungen der künstlerischen Moderne zu unterstellen. Auch in seiner Einstellung zur Kunst war das Bürgertum alles andere als homogen. Es gab durchaus bürgerliche Geschmackspioniere, die Innovationen gegen-
Verbürgerlichung des Mäzenatentums und Pluralisierung der Kunst
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Bürgertum und Kunst
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über aufgeschlossen waren, ja sich explizit zur Förderung von jungen, mutigen Künstlern entschlossen. Andere wiederum hielten sich an die „Klassikern“ und reagierten irritiert auf künstlerische Wagnisse. Damit zeigte sich das bürgerliche Publikum ebenso gespalten wie die Künstlerschaft und die Kunstkritik. Es waren, schaut man auf die Fürsprecher und Ächter, nicht die konservativen, unbeweglichen Bürgerbanausen auf der einen Seite und die weltoffenen, die Moderne fördernden Künstler auf der anderen Seite, die hier diskutierten. Glaubten sie ihre Existenz bedroht, zeigten sich auch die Künstler als Teil eines heterogenen Bürgertums und griffen zu konservativen Argumenten. 1911 etwa erschien, herausgegeben von dem neuromantischen Landschaftsmaler Karl Vinnen, ein Manifest mit dem Titel „Ein Protest deutscher Künstler“, in dem gegen die „Invasion“ französischer Kunst als „große Gefahr für unser Volkstum“ und Bedrohung der „deutschen Eigenart“ polemisiert wurde. Unter den 140 Unterzeichnern waren zwanzig Museumsdirektoren, viele mit einem Professorentitel vor dem Namen, und eine Reihe von Künstlern der Berliner Sezession, unter ihnen auch Käthe Kollwitz. Anlass war der Ankauf eines Gemäldes mit einem idyllischen Motiv: Es ging um van Goghs Bild „Mohnfeld“, das der Direktor der Bremer Kunsthalle, Gustav Pauli, für sein Haus erworben hatte. Dass Künstler hier gegen einen Kunsthallendirektor, und damit einen potenziellen Förderer Sturm liefen, zeigt, wie vielschichtig und flexibel die Allianzen auf dem Kunstmarkt mittlerweile waren. Künstler, Galeristen, Kunsthallenleiter, Kritiker und Mäzene konnten in sehr unterschiedlicher Form miteinander kooperieren. Häufig saßen sie zusammen, um größere Ausstellungen zu konzipieren, manchmal gerieten sie auch in Streit bei der Frage, wer gefördert werden sollte, wer dagegen nicht. Einig waren sich zu diesem Zeitpunkt jedoch alle: Sie wollten Mitsprache im Chor der Geschmacksbildner, das Ende des obrigkeitlichen Monopols in der Kunstförderung war gekommen. Und nicht nur das: Wortwörtlich im „Verein“ mit Fachexperten betrachtete das Bürgertum sein Kunsturteil als fundierter, abgewogener und damit der staatlichen Kunstförderung als überlegen. Wie ausgeprägt das bürgerliche Selbstbewusstsein in Kunstfragen bereits war, zeigte sich im Vorfeld der Weltausstellung in St. Louis im Jahr 1904. Bei den Diskussionen, welche Kunst über den Atlantik geschickt werden sollte, erteilten selbst kaisertreue Vertreter des Bürgertums den kunstabsolutistischen Ansprüchen Wilhelms II. eine klare Absage. Lebhaftes Bravo auf allen Seiten vermerkte das Protokoll der Reichstagssitzung vom 16. Februar 1904, nachdem der Abgeordnete von Kardorff für die Freiheit der Kunst und gegen Eingriffe „von allerhöchster Seite“ plädiert hatte. Über alle Parteigrenzen hinweg war man sich hier einig, dass man nicht, wie vom Kaiser gewünscht, ausschließlich dekorative Konventionskunst nach Amerika entsenden wollte. Die Nachbarn staunten: Die Londoner „Times“ und die „New York Times“ widmeten dieser ungewöhnlichen Sitzung im deutschen Reichstag mehrere Zeilen. Schon drei Jahre zuvor waren kaiserliche „Kunstauffassungen“ ins kritische Bürgervisier geraten. Die 1901 fertiggestellte Siegesallee mit ihren idealisierten Herrscher-, Minister- und Soldatenporträts galt vielen als unzeitgemäße Monstrosität. Eine Mundwasserreklame in der Zeitschrift „Jugend“ persiflierte die Berliner Prachtmeile, indem sie anstelle der Figuren Odolflaschen aneinanderreihte.
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Kunst und Kommerz: Bürgerliche Mäzene Mischten sich in die Diskurse vornehmlich Bildungsbürger ein, engagierten sich in der konkreten Förderung eher Wirtschaftsbürger, wohlwollende Künstler an ihrer Seite. Für beide Teile, so scheint es auch aus dem Brief von E. T. A. Hoffmann auf, wirkte ein solches Zusammenspiel zwischen wirtschaftbürgerlichen und künstlerischen Interessen bereichernd, beide trugen überdies gemeinsam dazu bei, mit ihrer Kunstförderung die Volkserziehung zu verbessern: „Wein gegen Bücher“ aus: E. T. A. Hoffmann: Briefe und Tagebücher, Bd. I u. II, hg. u. mit einem Nachwort versehen von Walther Harich, Frankfurt a. M. 2000, S. 354 f.: Brief an Hitzig in Berlin, Bamberg, den 28. April 1812.
V. bildungs- und wirtschaftsbürgerliche Kooperation in der Kunstförderung
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Ich habe hier beinahe seit dem ersten Viertel-Jahr als ich hergekommen war in der Person des Weinhändlers Kunz einen sehr angenehmen interessanten Freund der, wie man es in dieser Classe von Kaufleuten gewiß selten findet, ästhetisch und literarisch ausgebildet ist, weshalb sein Umgang sich auch nur auf hiesige Gelehrte … und Künstler erstreckt. Schon seit mehreren Jahren sammelt er eine herrliche Bibliothek die schon jetzt fünf bis sechstehalb tausend Bände und darunter sehr seltene alte Werke so wie das beste der neuern und neuesten Literatur und Poesie enthält. Diese Bibliothek gab die Veranlassung, daß er von seinen Freunden sowohl als von der öffentlichen Behörde aufgefordert wurde eine Leihbibliothek zu errichten die ganz abweichend von der Tendenz der gewöhnlichen Leihbibliotheken nur das wahrhaft Gute der ästhetischen Literatur und wissenschaftliche Werke enthalten sollte, wozu er sich denn auch hat bereit finden lassen. Um die neuesten Meßprodukte sogleich zu erhalten, hat er sich mit mehrsten Buchhändlern in Leipzig … Rücksichts ihrer Verlags-Artikel in Verbindung gesetzt und ihnen, da er schon längst Wein nach Sachsen sandte, Drogat-Geschäfte mit Wein gegen Bücher angeboten, welches sie alle auf das bereitwilligste acceptiert haben. Ein gleiches Anerbieten macht er Ihnen, mein lieber Freund! in der Anlage und ich kann die Versicherung aus mannigfacher eigner Erfahrung hinzufügen, daß er in den Weinen eben so wie in seiner Bibliothek nur das wahrhaft gute geistvolle aufnimmt und hegt.
Wie überhaupt die Kultur und die Welt der Kunst ein wesentliches Bindeglied zwischen Bildungsbürgertum und Wirtschaftsbürgertum darstellten, finden wir im Mäzenatentum ein perfektes Zusammenwirken beider Segmente der sozialen Formation. Als Kunstmäzene waren Bürger bereit, private Mittel für öffentliche Zwecke zu geben, und damit mit staatlichen Organen in der Förderung zu konkurrieren. Hier konnten sie überdies Selbstständigkeit nicht nur in ihrem Lebenszuschnitt, sondern auch in ihrem Kunsturteil unter Beweis stellen, indem sie Kunst und Künstlern unter die Arme griffen, denen staatliche Förderung bislang versagt geblieben war. Bildung und Besitz wirkten hier im Idealfall perfekt zusammen: Während die einen die Förderungsziele und die Förderungswürdigkeit definierten, stellten die anderen die zum Teil erheblichen Summen bereit, diese Vorgaben umzusetzen. Kauf- und Stiftungsentscheidungen wurden in der Regel durch den Rat professioneller Kunstkenner abgefedert. Mut, Entscheidungsfreudigkeit und Risikobereitschaft hatten die wohlhabenden Unternehmer tagtäglich in ihren Geschäften aufzubringen, bei ihren Kunstkäufen zeigten sie sich eher vorsichtig, gleichzeitig aber auch konsequent bürgerlich, weil sie
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Bürgertum und Kunst
V. Motive bürgerlichen Mäzenatentums
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in Zeiten einer zunehmenden Professionalisierung die Kennerschaft von außen anerkannten und nutzten. Neben dem Wunsch, auch im Bereich der Kunst mitzusprechen, ja sogar durch ihre Förderung neue Akzente zu setzen, finden sich noch eine Reihe weiterer Motive, warum ein Unternehmer oder Bankier als Kunstförderer auftrat. Für viele war es, wie schon für die aristokratischen Vorläufer, eine willkommene Möglichkeit, sich mittels Kunstförderung ein Denkmal zu setzen. Zumal ein Denkmal, das gänzlich andere Facetten aufwies als das übliche, in der Regel negativ besetzte Image des ausschließlich geldgierigen, egoistischen Unternehmers, der über den Tellerrand seines Betriebes nicht hinauszuschauen bereit war. Als „ganzer“ Bürger konnte sich der wohlhabende Mäzen stilisieren, der getrieben von Geschäften dennoch das „Wahre“ und „Schöne“ nicht aus den Augen verlor, der sich nicht nur am wirtschaftlichen Erfolg, sondern auch an der auf den ersten Blick zweckfreien Kunst delektierte. So mancher Bürger mag darüber hinaus auch staatliche Anerkennung erwartet haben. Schließlich kratzte man mit der Kunstförderung nicht nur an einem staatlichen Monopol, sondern entlastete gleichzeitig auch das Staatssäckel. Doch von staatlicher Seite wurde zunächst vor allem der Eingriff in die ureigene Hoheitssphäre gesehen. Jede private Schenkung musste vorher eingehend geprüft werden, ehe die Erlaubnis dafür gegeben wurde. Doch je stärker die Abhängigkeit von mäzenatischen Aktivitäten von Bürgern wuchs, desto stärker konnten sie nun auch das Gepräge staatlicher Kunsteinrichtungen mitbestimmen. Der Berliner Gemäldegalerie etwa wurden im Zeitraum von 1872 bis 1904 von den insgesamt 380 erworbenen Gemälden immerhin 158 als Geschenk oder Vermächtnis übereignet, also 42 Prozent. Erst nachdem sich Kaiser Wilhelm I. von der direkten Kontrolle des Museums zurückgezogen hatte, konnte sich dieses als eigenständige Institution emanzipieren und als solche auch Geschenke annehmen. Nach wie vor war jedoch die persönliche Integrität des Gebers Voraussetzung des Annehmens einer Schenkung, ein bürgerlicher Mäzen musste sich als„würdig“ erweisen. Eine Ehescheidung etwa konnte diese „Würde“ bereits infrage stellen. Doch andererseits sprach viel dafür, über solche Schönheitsfehler großzügig hinwegzusehen: Mit der globalen Ausweitung des Kunstmarktes schossen auch die Preise in die Höhe, so dass spätestens in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts der Staat nun durchaus auch die positiven Seiten des bürgerlichen Stiftens erkannte. Seiner zunehmend kostspieligen Aufgabe zumindest ein Stück weit entledigt, war er bemüht, sich die Spender gewogen zu halten. Sich mit Orden, Nobilitierungen oder Kommerzienratstiteln zu revanchieren, bürgerte sich vor allem um die Jahrhundertwende immer mehr ein. Auch wenn ein Großteil der bürgerlichen Mäzene nicht in erster Linie nach staatlicher Anerkennung trachtete: Hochtrabende Hoffnungen, die über die individuelle und öffentliche Erbauung hinausging, knüpften durchaus einige an ihre Spendentätigkeit. Einer unter ihnen war der Bremer Kaffeegroßhändler Ludwig Roselius (1874–1943), der sich neben der Erfindung des entkoffeinierten „Kaffee Hag“ als Kunstförderer hervortat. Als Mäzen griff er Künstlern wie Paula Modersohn-Becker und Bernhard Hoetger unter die Arme. In der Bremer Böttcherstraße errichtete er ihnen ein eigenes Mu-
Kunst und Politik: Bürgerliche Kunstkritik
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seum. Doch Roselius ging es nicht allein darum, noch unentdeckten Künstlern den Weg zu ebnen. Besessen von einem völkisch-nordischen Gedankengut, wollte er, so seine Worte, dem „unersetzlichen Wert der nordischniederdeutschen Rasse“ ein Denkmal setzen. Diese Verknüpfung von Kunst und Politik, der bürgerliche Versuch, mittels gezielter und selektiver Kunstförderung gleichzeitig politische Ideen und Ideologien zu verbreiten, war eine durchaus nicht seltene Motivvariante bürgerlichen Mäzenatentums. Der Doppelcharakter des Schenkens als zugleich freiwilliger und verpflichtender, selbstloser und selbstsüchtiger, rationaler und emotionaler Akt kam dieser Absicht entgegen.
3. Kunst und Politik: Bürgerliche Kunstkritik Kurz nachdem wenige Tage vor Weihnachten 1899 die Tore der Bremer Kunsthalle aufschlossen worden waren, betrat eine junge, blasse Frau die Ausstellungssäle. Langsam, doch entschlossen trat sie vor einzelne Bilder, hängte sie ab und verließ dann, die Gemälde unter dem Arm, schnellen Schrittes die Kunsthalle. Es war die zu der Zeit noch nicht von Roselius geförderte Malerin Paula Modersohn-Becker, der der bekannte Kunstkritiker Arthur Fitger am Tage zuvor in der „Weser-Zeitung“ eine vernichtende Kritik zugeeignet hatte. Sehr zu beklagen sei, so war dort zu lesen, dass man anstelle der „Schätze“ der Kunsthalle im Cabinet „Studien“ einer Malerin aufgehängt habe, für die der „Wörterschatz einer reinlichen Sprache“ nicht ausreiche. „Hätte eine solche Leistungsunfähigkeit auf musikalischem oder mimischem Gebiete die Frechheit gehabt, sich in den Concertsaal oder auf die Bühne zu wagen, so würde alsbald ein Sturm von Zischen und Pfeifen dem groben Unfug ein Ende gemacht haben“. Die „Pflicht der Kritik“ sei es von daher, zur Rettung des „wahren Kunstschatz[es] des deutschen Volkes“ diese vernichtende Stimme zu erheben. Die Malerin, noch wenig selbstbewusst, beugte sich dem harschen Urteil des Kritikers. Die Bremer Episode zeigt neben der Kurzlebigkeit von Kunstmoden auch die Macht der Kritiker, die sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auf allen Gebieten der Kunst errungen hatten und mit der sie auch Politik machten. Dies geschah nicht zuletzt auf dem Feld der Musik, der dem Bürgertum vermeintlich nächsten Kunst. Warum erkor das Bürgertum gerade die Musik zu „seiner“ Kunst? Zum einen war es gerade die Interpretationsoffenheit des musikalischen Kunstwerks, das Zusammenspiel von individuellen und universellen, disziplinierenden und zivilisierenden, integrativen und exklusiven Optionen, die die Welt der Musik in den Augen der bürgerlichen Zeitgenossen so attraktiv machte. Zum anderen konnte man sich durch den „richtigen“ Musikgenuss vom Adel absetzen, für den in den Augen des Bürgertums Musik lediglich der Untermalung und Unterhaltung diente und der damit ihren eigentlichen Wert verkannte. Wie stark die Musik den bürgerlichen Lebenshaushalt durchdrang, vermerkten europaweit schon die Zeitgenossen – je nach Gusto freudig oder frotzelnd. In der Tat erschien Musik allgegenwärtig: Musikvereine schossen wie Pilze aus dem Boden, Orchester und Kammerensembles wurden aus
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Bürgertum und Kunst
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der Taufe gehoben und gingen europaweit auf Tourneen, die Notenliteratur wuchs in Fülle und Vielfalt, Musikerbiographien fanden reißenden Absatz, jede größere europäische Stadt brachte ein eigenes Musikjournal heraus, Konservatorien und Konzerthäuser öffneten ihre Pforten. In Tagebüchern und Briefen aus bürgerlicher Feder spielte das Musikleben innerhalb und außerhalb der Familie eine wesentliche Rolle, der erste Opern- und Konzertbesuch war ein unvergessliches Erlebnis. Mozarts „Don Giovanni“ und „Zauberflöte“, Beethovens „Fidelio“ und Carl Maria von Webers „Freischütz“ rangierten an der Spitze der Opern, in die Bürgereltern ihre Kinder oft in sehr jungen Jahren zum ersten Mal führten. Verfolgt man die europäische Tagespresse seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in der musikalische und politische Ereignisse gleichermaßen prominent platziert wurden, wuchs das Angebot musikalischer Aufführungen fast täglich. Möglich wurde dies erst mit dem Auszug der Opern- und Orchesterensembles aus den Prunksälen der Höfe und ihrem Einzug in die eigens für sie konzipierten öffentlichen Gebäude, die ihre Entstehung im Laufe des 19. Jahrhunderts nun immer häufiger bürgerlicher Initiative verdankten.
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Bürger finanzieren Bau des Leipziger Gewandhauses aus: „Das neue Leipziger Gewandhaus“, in: Die Gartenlaube 33, 1885, S. 19. Das neue ‚Gewandhaus‘ steht nun vollendet da und hat am 11. Dezember mit seinem ersten Konzerte den Tag seiner Einweihung gefeiert. … Wir müssen zu seiner Ehre einige Zahlen sprechen lassen. Der ganze Bau vom Grund bis zum letzten Ornament und allem Inventar erforderte die Summe von 1.350.000 Mark. Dieselbe wurde größtentheils durch ‚Stiftungsanteile‘ aufgebracht, 400.000 kamen aus der Stiftung eines Leipziger Bürgers, Grassi’s, hinzu und ein anderer Bürger dieser Stadt, Voigt, gab dazu den Bauplatz umsonst her. Es gehört gewiß zu den preiswürdigen Vorzügen von Leipzig, daß es seine werthvollsten Bauwerke und Anstalten der Hochherzigkeit seiner Bürger verdankt: sein reiches Museum für bildende Kunst, sein neues Theater und nun sein Konzerthaus, das nach Geschmack und Zweckmäßigkeit der Ausstattung und Einrichtung als ein bis jetzt unerreichtes Muster zu gelten hat.
bürgerliche Adelskritik mit kulturellem Vorzeichen
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Um die Welt der Musik in Beschlag nehmen zu können, musste sie, so betonten bürgerliche Musikkenner, erst aus den Fängen des Adels befreit werden. Dass das öffentliche Musikleben aus den prunkvollen Herrscherhäusern in öffentliche Kultstätten umgezogen war, bedeutete keineswegs, dass das adelige Publikum nicht mitzog. Namentlich im Opernhaus trafen Adelige und Bürger aufeinander, die offenbar unterschiedliche Motive in die Welt der Musik führten. So zumindest argumentierten bürgerliche Kritiker. Die adelig-bürgerlichen Unterschiede der Musikrezeption dominierten vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Diskurse in der musikwissenschaftlichen Presse und machten damit eines deutlich: Es war kein „apolitischer Bereich der Kultur“ (Norbert Elias), in den sich das Bürgertum zurückzog, keine weltfremde Flucht in eine politikferne Innerlichkeit, keine Kompensation fehlender politischer Macht. Raum und Medien der musikalischen Praxis wurden mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu weidlich genutzten Foren politischer Artikulation. Anders aber als in den Vereinen und Gesel-
Kunst und Politik: Bürgerliche Kunstkritik ligkeiten des frühen 19. Jahrhunderts spielten sich im Konzert- und Opernhaus die Auseinandersetzungen vor den Augen und Ohren einer breiteren Öffentlichkeit ab. Hämische Adelsschelte paarte sich dabei mit bürgerlichem Überlegenheitsgestus. Wurden zum einen die Logen in den Opernhäusern zur Zielscheibe beißender Kritik, kreierte man zum anderen den Gegenentwurf eines bürgerlichen Publikums, das nach einem mühseligen und langwierigen Bildungsweg, begleitet von kompetenten Kritikern und Künstlern, den Schlüssel zu wahrer Kennerschaft erringen könne und damit als Sieger im Kampf gegen den Adel hervorgehe. Der Topos des ungebildeten adeligen Publikums, das nicht fähig war, Musik in angemessener, das hieß nach bürgerlichem Verständnis konzentrierter Form, aufzunehmen, brach sich in vielen Sparten der Öffentlichkeit Bahn. In Gesellschaftsromanen und Satireblättern war er ebenso zu finden wie in den sich seriös gerierenden Konzertkritiken der Tagespresse und Musikjournale. Offenbar, so beschrieben es die bürgerlichen Kritiker, verlegte die englische Aristokratie, stand ein Opernbesuch im Kalender, den eigenen Salon kurzfristig in die Loge, in der man dann, unterstützt vom obligaten Dienstpersonal, Gäste empfing, Roben bewunderte, Champagner trank, Karten spielte, mündlich „klatschte“ – und mit den Händen an den falschen Stellen. Ganz anders das von der Musikkritik erzogene bürgerliche Publikum: Die vielgelesenen Musikjournale hatten es sich zur Aufgabe gemacht, den Bildungs-Weg des bürgerlichen Publikums, kanalisierend und selektierend, mit wohlwollender Strenge zu begleiten. Als verschworene Gemeinschaft von Kennern, die die Deutungshoheit über den „guten Geschmack“ beanspruchte, konstruierten sie den Zugang zur „richtigen“ Musik und die ihr angemessene Rezeption als bürgerlichen Bildungsweg, der stetige Arbeit und eine ständige Auseinandersetzung mit der Musik einforderte. Man müsse, so eine immer wiederkehrende Wendung in den Zeitschriften, das „Publikum zu sich hinaufziehen“, es „heranbilden“, es sich „emporarbeiten“ lassen. Vor allem die Herausgeber der Musikzeitschriften stilisierten sich als Wortführer einer zunehmend autonomen bürgerlichen Öffentlichkeit. „Wagtet ihr es, Berlin, ein Kunsturtheil zu fällen, ehe ihr Rellstab gehört hattet?“, fragte ironisch ein Zeitgenosse und pointierte damit am Beispiel des bekannten Kritikers bei der „Vossischen Zeitung“ die gewachsene Macht des neuen Berufsstandes, der seine Arbeit selbst als „gemeinnützige Thätigkeit“ interpretierte. Die Kritiker waren es auch, die nicht nur die bürgerliche Überlegenheit gegenüber dem Adel betonten, sondern daran auch den Ruf nach einer „nationalen Musik“ knüpften und den lauter werdenden Chor mitdirigierten. Dass vor allem die Oper der Ort sein sollte, an dem eine national geeinte Gemeinschaft gleichsam als Vision einer künftigen Gesellschaft zusammen kam, war ein Ideal, das bereits Mitte der 1820er Jahre wiederholt beschworen wurde. 1817 entwickelte Carl Maria von Weber in der „Dresdner Abendzeitung“ programmatisch seine Idee einer deutschen Oper. Sie sollte nicht auf die Sinnenlust einzelner Momente abzielen, sondern sich „zum schönen Ganzen“, zu einem abgeschlossen Kunstwerk runden. Um diese Facette zu schärfen, konfrontierte nicht nur Weber das tiefe und ernsthafte Gefühl in der deutschen Musik mit der Sinnlichkeit und Leidenschaftlichkeit der italienischen Musik.
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Nationalisierung der Musik
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Vermengt und gesteigert mit anti-italienischen Ressentiments und durchmischt mit chauvinistischen Tönen brach sich hier bereits im frühen 19. Jahrhundert ein deutscher Nationalstolz Bahn, dem wenig Emanzipatorisches innewohnte. „So gewiß nun wir Deutschen geistig höher stehen, als Italien mit seinem Rossini“, hieß es 1825 etwa im 3. Heft der „Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung“, „so gewiß ruht in uns das Verlangen nach einer höhern Musik und wird sich befriedigen. Nur daß Keime, die tiefer gelegt sind, später hervorsprossen. … Nur der Deutsche hat das Bedürfnis und das Vermögen zu einer einheitsvollen und dabei innerlich reichen und beseelten Schöpfung“. 1821 machte Carl Maria von Weber seine Idee konkret. In Dresden wurde sein „Freischütz“ uraufgeführt und erhielt umgehend die Kritikerweihen, eine deutsche „Nationaloper“ geschaffen zu haben. Das primär bürgerliche Publikum, das sich zur Premiere einfand, war ganz nach dem Geschmack des Komponisten und der Kritiker:
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Bürgerliches Publikum bei der „Freischütz“-Premiere aus: Max M. von Weber: Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild, Berlin 1912, S. 357. Das Parterre füllte, dicht gedrängt, Kopf an Kopf, die jugendliche Intelligenz, das patriotische Feuer, die erklärte Opposition gegen das Ausländische: Studenten, junge Gelehrte, Künstler, Beamte, Gewerbtreibende, die vor acht Jahren in Waffen geholfen hatten, den Franzmann zu verjagen. Unter Carolinens Loge stand Benedikt und die lange schmächtige Gestalt Heinrich Heines. Die Haute-Volée und die Autoritäten der literarischen, musikalischen und gelehrten Kreise Berlins füllten Sperrsitze und Logen. Man sah wenig hohe Beamte, fast gar keine Uniformen. … Auf den stürmischen Empfang folgte die feierliche Ruhe.
Es ist ein nicht gerade liberaler Nationalismus, der uns hier in der Musikwelt bereits in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts entgegentritt. Beim bürgerlichen Publikum überwog der Wunsch nach nationaler Hegemonie vor dem nach einer europäischen Harmonie. Auch wenn selbst die vermeintliche nationale Musik mehr internationale Spuren trug, als den bürgerlichen Zeitgenossen lieb sein konnte, es ihnen bei allen Versuchen schwer fiel, konkret die Wesenszüge der jeweils eigenen Musik zu definieren, und die Künstler selbst am wenigsten den Anspruch vertraten, „deutsche“ Musik zu schaffen: Die zu Meinungsführern avancierten Kritiker lasen und schrieben das Nationale in die Musik hinein, und das bürgerliche Publikum folgte geflissentlich. Die durch Austausch von Repertoire, Künstlern und Fachmedien fortschreitende internationale Verflechtung wurde vom Bürgertum weniger als Chance künstlerischer Bereicherung und grenzüberwindender Kommunikation verstanden. Im Gegenteil. In dem Augenblick, als die Grenzen der Musik immer mehr zu schwinden schienen, zeigte sich das Bürgertum bemüht, neue Grenzen zu ziehen. Gewappnet mit gewachsener Kennerschaft begab man sich auf einen Kriegsschauplatz, dessen Regeln man selbst schuf und entsprechend beherrschte. Schon deswegen war man sich seines Sieges gewiss.
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VI. Bürgertum und Religion 1. Säkularisierungstendenzen? Die bürgerliche „Gretchenfrage“ „Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?“, lässt Goethe Gretchen in seinem „Faust“ (I, Vers 3415) fragen. Heinrich Faust zeigt sich um eine klare Antwort verlegen. Dem Gros des Bürgertums des 19. Jahrhunderts wäre es ähnlich gegangen. Zum Programm der bürgerlichen Gesellschaft, wie es Ende des 18. Jahrhunderts formuliert wurde, gehörte die Befreiung von kirchlicher Gängelung und Deutungsmacht unabdingbar dazu. Nicht zufällig sind „Säkularisierung“ und „Entkirchlichung“ für das bürgerliche 19. Jahrhundert häufig gebrauchte Schlagworte. Nicht selten wird es auch als säkularisiertes Jahrhundert bezeichnet. Gemeint ist der zunehmende Bedeutungsschwund von Religion und Kirche seit der frühen Aufklärung. Nicht allein unter rückblickenden Historikern, auch unter den Zeitgenossen mehrten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Stimmen, die über eine merkliche religiöse Indifferenz vor allem im protestantischen Bürgertum klagten. „Ueber die Unkirchlichkeit dieser Zeit im protestantischen Deutschlande. Den Gebildeten der protestantischen Kirche gewidmet“, schrieb Karl G. Bretschneider, Herausgeber der Schriften von Philip Melanchthon 1820. Solche Kassandrarufe von kirchlicher Seite finden sich in den folgenden Jahren zuhauf. Vor allem im Lebenshaushalt des Bürgertums, so die Klage, wären Ersatzreligionen wie „Bildung“ und „Nationalismus“ an die Stelle der Religion und der Kirche getreten. Säkularisierung Im rechtlichen Sinne wurde der Begriff genutzt, um den Übergang einer Sache, etwa eines Gebäudes oder von Ländereien, aus dem Eigentum der Kirche in staatliches Eigentum zu beschreiben. Im weiteren Sinne, und so auch in der historiographischen Diskussion, wird der Begriff verwandt, um eine grundsätzliche Trennung von Kirche und Staat, die Ablösung der politischen Ordnung von ihrer geistlich-religiösen Bestimmung und Durchdringung und allgemein die Abkehr der Gesellschaft von religiöser Orientierung, eine „Entzauberung der Welt“, wie Max Weber es genannt hat, zu beschreiben.
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Doch wie „entzaubert“ war die Bürgerwelt wirklich? Welche Strahlkraft blieb der Religion am bürgerlichen Wertehimmel? Ein Spektrum widersprüchlicher Phänomene, das sich im 19. Jahrhundert abzeichnete, verbietet auf diese Frage eine eindeutige Antwort. Eine erkennbar abnehmende Kirchenbindung und Transformation christlich-kirchlicher Glaubensvorstellungen verlief parallel zu neuen Formen der Religiosität und einer Re-Konfessionalisierung vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf der einen Seite nahmen deutlich weniger – vor allem männliche – Bürger nun noch regelmäßig am Abendmahl teil. In Berlin sank die Zahl derjenigen, die religiöse Feiern und Rituale zelebrierten, zwischen 1750 und 1850 von 150% auf 17%. In einer Breslauer Gemeinde ging sie von 135% auf ebenfalls 17% zurück und in Hamburg, wo sie 1750 noch bei 150% gelegen hatte, nahm sie im Jahr 1880 um 92% ab. In Sachsen verringerte sich
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Bürgertum und Religion
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Religion und Aufklärung
Pfarrer als Paradebürger
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die Frequenz zwischen 1861 und 1913 um mehr als die Hälfte. Auf der anderen Seite engagierten sich Bürger gerade im Kaiserreich in mindestens einem der vielen religiösen Vereine. Am Sonntag predigten viele Pfarrer vor leeren Bänken, doch die Großveranstaltungen der Katholikentage und des Evangelischen Bundes erfreuten sich größerer Beliebtheit als jemals zuvor. Gewisse Formen der Kirchlichkeit verloren also zumindest in Teilen des Bürgertums an Gewicht, andere hingegen lebten, wenn auch in veränderter Form, wieder auf. Unabhängig welcher Konfession die Vertreter des Bürgertums anhingen oder abschworen: Auch in den Religionen hatte die Aufklärung ihre Spuren hinterlassen. Eine bürgerliche Frömmigkeit, egal ob protestantisch, jüdisch oder katholisch, orientierte sich nicht mehr an einer dogmatischen Glaubenslehre. Vielmehr betrachtete das Bürgertum seine Religion als ein überkommenes und weiterhin mächtiges Deutungssystem, das sich aber nun gegenüber einer wachsenden Konkurrenz anderer Deutungssysteme behaupten musste. Offizielle Kirchenlehre und private Glaubensüberzeugung waren nicht mehr zwangsläufig deckungsgleich, sondern entwickelten sich eher auseinander. Die Herausforderungen waren vielfältig. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse provozierten traditionelle Glaubensgewissheiten und regten lebhafte Diskussionen an. Überhaupt zeichnete sich bürgerliche Religiosität im 19. Jahrhundert durch einen permanenten Reflektionsimpuls aus. Sie entstand in der Praxis einer ständigen Auseinandersetzung und Aushandlung und war eingebunden in die bürgerliche Idee des sich selbst bildenden Subjekts. Unter dem Dach dieser Gemeinsamkeit konnte sich eine Vielfalt von Glaubenshaltungen entwickeln: Es gab scheinbare religiöse Indifferenz, die aber häufig gekoppelt mit philosophisch-historischer Kirchenkritik und damit alles andere als gleichgültig gegenüber religiösen Fragen auftrat. Es gab Vorstellungen, in denen Religion, Philosophie und Wissenschaft in einer „Kultursynthese“ (Ernst Troelsch) zusammenflossen. Und es gab eine erneuerte Christlichkeit und Kirchlichkeit, bei der Religion und Kirche als Schutzraum gegen die Gefährdungen der Moderne im Allgemeinen und der„Arbeiterbewegung“ im Besonderen dienen sollte. Eine weitere Gemeinsamkeit kam hinzu: Der bürgerliche Anspruch, die eigenen Interessen durchzusetzen und zu verwalten, übertrug sich auch auf die Kirche und die ihr angeschlossenen Institutionen. Auch in den kirchlichen Vereinen saßen in der Regel Bürger an der Spitze. Die religiös-kulturellen Zeitungen und Zeitschriften wurden von Bildungsbürgern, darunter vor allem Pfarrer, Lehrer, Professoren und Journalisten, herausgegeben. In den vielfach schichtenübergreifend organisierten Vereinen wie der „Inneren Mission“, der „Caritas“, dem „Evangelischen Bund“ und dem „Volksverein für das katholische Deutschland“, die alle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, fungierten Bildungsbürger als Vorstände, Vorsitzende und Schriftführer. Auf Festen, Jahresversammlungen und Symposien von Vereinen und Verbänden sowie in den innerkirchlichen Partizipationsinstanzen wie den Synoden traten Bürger ans Rednerpult und leiteten die Sitzungen. Nicht zu vergessen die Pfarrer. Sie bildeten fraglos eine Kerngruppe innerhalb des Bildungsbürgertums, hatten sie doch die Aufgabe zu übernehmen,
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auf dem Hintergrund sozialen, politischen und auch kirchlichen Wandels die Rolle von Kirche und Religion in der modernen bürgerlichen Gesellschaft und damit auch ihre eigene Position neu zu bestimmen. Eng dem bürgerlichen Wertekanon verhaftet, wurden der Pfarrer und seine Familie als Idealbild gelebter Bürgerlichkeit, das „gläserne Pfarrhaus“ als Inbegriff des bürgerlichen Familienideals stilisiert. Der Pfarrer in der Stadt, aber vor allem auf dem Land und damit in einer bürgerlichen Enklave, verstand sich explizit als Bildungsbürger. Das evangelische Pfarrhaus aus: Oliver Janz: Das evangelische Pfarrhaus, in: Etienne François u. Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte III, München 2001, S. 221–238, S. 221.
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Kommt die Rede auf das Pfarrhaus in Deutschland, so stellt sich eine ganze Vielfalt von Bildern ein. Da ist das romantisch-ländliche Idyll, gastfrei und kinderreich, mit der treu waltenden Hausfrau und den züchtigen Predigertöchtern, der biedermeierliche Pfarrherr im Schlafrock mit der langen Pfeife. Da ist Hausmusik und Tischgebet, es riecht nach Zimtsternen und es weihnachtet sehr. Aber das sind auch strenge Väter im Talar, gottvatergleich auf ihren Kanzeln und überlebensgroß, da ist protestantische Askese und Lustfeindlichkeit, da sind hohe moralische Ansprüche und übersteigerter Leistungsdruck, hinter denen Depressionen und Versagensängste lauern.
Die Vorstellung, dass namentlich die evangelischen Pfarrer als Paradebürger den bürgerlichen Wertehimmel in Reinform vertraten und ihr Familienleben als Nährboden einer schillernden Bürgerlichkeit diente, wird durch die lange Liste berühmter, zum Teil auch berüchtigter Pfarrerskinder genährt: Dichter und Philosophen, Historiker und Pädagogen, Mediziner und Architekten bis hin zu Terroristinnen und Bundeskanzlerinnen.
2. Re-Konfessionalisierung: Protestantische, katholische und jüdische Bürger Doch solche kirchennahen Paradebürger waren eine protestantische Eigenart. Überhaupt kristallisierten sich neben den konfessionsübergreifenden Gemeinsamkeiten im Laufe des 19. Jahrhunderts Tendenzen heraus, die die Grenze zwischen den Konfessionen wieder schärfer zog. Formen der ReKonfessionalisierung waren besonders in der zweiten Jahrhunderthälfte verstärkt zu beobachten. Bei aller Säkularisierungsneigung blieb es im Bürgertum erstaunlich wichtig, welcher Konfession man angehörte, nicht zuletzt bei der Partner- und Patenwahl und den Verkehrskreisen. Man blieb dabei unter sich, Verstöße gegen dieses ungeschriebene Gesetz bedurften der keineswegs immer tolerierten Rechtfertigungen. Das galt nicht zuletzt deshalb, weil der Katholizismus und das Judentum innerhalb des Bürgertums Minderheiten darstellten; die große Mehrheit der Bürger war protestantisch. Wenn der Theologe und Kirchenhistoriker Adolf Harnack (1851–1930) 1897 die These aufstellte, „daß von seinem Ur-
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sprung her der evangelische Protestantismus und die bürgerliche Ordnung der Gesellschaft zusammengehören“, stimmten viele Bürger ihm uneingeschränkt zu. Auch die Statistik gab ihm Recht. Protestanten stellten einen überproportional hohen Anteil an den bildungsbürgerlichen Berufen, waren auf Gymnasien und Lehrstühlen weitaus häufiger zu finden als Katholiken. Katholische Professoren gab es in Preußen zwischen 1885 und 1897 nur 13%, preußische Gymnasien verzeichneten lediglich 21% katholischer Schüler. Innerhalb der Beamtenschaft waren Katholiken deutlich unterrepräsentiert, nur knapp 26% unter ihnen gehörten im Jahr 1907 der katholischen Kirche an, wobei zum gleichen Zeitpunkt 36,5% der Bevölkerung des Deutschen Reiches katholisch war. In den freien Berufen betrug ihr Anteil 12%. Nicht zuletzt das Fehlen der intellektuell belebenden Pfarrhäuser wird häufig neben einer stärker ländlichen Bindung bei gleichzeitiger Bildungsferne als Erklärung für diese katholische Unterrepräsentanz ins Feld geführt. Doch auch unter den Wirtschaftsbürgern dominierten Protestanten. Max Weber hat in seiner „Protestantischen Ethik“ diese Konstellation als keineswegs zufällig, sondern als einander bedingend erklärt.
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Der Zusammenhang von Beruf und Konfession aus: Max Weber: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, 7. durchgesehene Aufl. Gütersloh 1984, S. 35 f. … daß mit so vagen Vorstellungen wie der (angeblichen!) ‚Weltfremdheit‘ des Katholizismus, der (angeblichen!) materialistischen ‚Weltfreude‘ des Protestantismus und vielen ähnlichen hier nichts anzufangen ist, schon weil sie in dieser Allgemeinheit teils auch heute noch, teils wenigstens für die Vergangenheit gar nicht zutreffen. Wollte man aber mit ihnen operieren, dann müssten außer den schon gemachten Bemerkungen noch manche andere Beobachtungen, die sich ohne weiteres aufdrängen, sogar den Gedanken nahelegen, ob nicht der ganze Gegensatz zwischen Weltfremdheit, Askese und kirchlicher Frömmigkeit auf der einen Seite, Beteiligung am kapitalistischen Erwerbsleben auf der anderen Seite geradezu in eine innere Verwandtschaft umzukehren sei. In der Tat ist nun schon auffallend … wie groß die Zahl der Vertreter gerade der innerlichsten Formen christlicher Frömmigkeit gewesen ist, die aus kaufmännischen Kreisen stammen. Speziell der Pietismus verdankt eine auffallend große Zahl seiner ernstesten Bekenner dieser Abstammung. … Und ähnlich könnte man dann die gleichfalls … so auffallend häufige Erscheinung, daß aus Pfarrhäusern kapitalistische Unternehmer größten Stils hervorgehen, als eine Reaktion gegen asketische Jugenderziehung zu erklären suchen. Indessen diese Erklärungsweise versagt da, wo ein virtuoser kapitalistischer Geschäftssinn mit den intensivsten Formen einer das ganze Leben durchdringenden und regelnden Frömmigkeit in denselben Personen und Menschengruppen zusammentrifft, und diese Fälle sind nicht etwa vereinzelt, sondern sie sind geradezu bezeichnendes Merkmal für ganze Gruppen der historisch wichtigsten protestantischen Kirchen und Sekten.
Weber ging davon aus, dass der moderne Kapitalismus eng mit dem protestantischen Habitus verknüpft sei, der in der „innerweltlichen Askese“ eine Ethik der Lebensführung verfolgte, die sich durch unablässiges Erwerbsstreben die außerweltliche Erlösung versichern wollte. Während somit Protestantismus und Bürgerlichkeit durchaus vereinbar schienen, wurde es im Kaiserreich zunehmend prekär, ein katholischer Bürger zu sein. Die Entwicklung des Katholizismus seit den 1870er Jahren hin
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zum ultramontanen Katholizismus hieß für die Katholiken, die diesem Schwenk folgten, eine Abkehr von bürgerlichen Kulturidealen. Denjenigen Bürgern, die im katholischen Milieu verblieben, blieb oftmals nur der Weg in die innere Emigration. Als „Paukenschlag“, dem eine „große Krise“ folgte, wertet Thomas Nipperdey die „ultramontan“ orientierte Politik des Katholizismus im Kaiserreich. Ultramontanismus Mit „Ultramontanismus“ wird eine Haltung des Katholizismus bezeichnet, nach der alle Weisungen ausschließlich von der päpstlichen Kurie, demnach aus dem „jenseits der Berge“ („ultra montes“) liegenden Vatikan bezogen werden sollen. Seinen Höhepunkt erreichte der Ultramontanismus im Zuge des Ersten Vatikanischen Konzils von 1870, das die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitte zum Dogma erhob. Dieses in der katholischen Kirche durchaus umstrittene Dogma bedeutete den Sieg einer Richtung, die die Kirche zentralistisch und absolutistisch auf Rom und den Papst ausrichten und sich von allen Erscheinungen der Moderne abgrenzen wollte. Bereits im „Syllabus errorum“ von 1864 wurden alle modernen Grundsätze und Institutionen verdammt und das Weltanschauungsmonopol der katholischen Kirche fixiert.
Im Bürgertum stellten, das verwundert nach diesem Anspruch kaum, entschiedene „Ultramontane“ nur eine kleine Minderheit; umso mehr, als der römische Katholizismus seine Abwendung von der Moderne gleichzeitig als eine Abwendung von der bürgerlichen Wertewelt proklamierte. Neben empörten Protestanten wandten sich Teile des katholischen Bürgertums entschieden gegen diese Richtung. Der Weg in die bewusste Opposition war neben der inneren Emigration eine von einigen bewusst gewählte Option, die in der Sezession der „Altkatholiken“ mündete. Doch unter den Katholiken, ohnehin in der Minderheit, entschied sich dazu nur ein sehr kleiner Kreis, eine „Gelehrtenhäresie“ (Thomas Nipperdey), deren Einfluss gering war und blieb. Aber auch außerhalb der „Altkatholiken“ gab es Tendenzen, die den dogmatischen Anspruch konterkarierten. Vor allem in den katholischen Vereinen wurde nicht nur Traditionspflege betrieben, sondern das Überlieferte auch kritisch reflektiert und diskutiert. Unter diesen Vereinen, die auch im katholischen Milieu in großer Zahl gegründet wurden, gaben sich einige einen ausdrücklich bürgerlichen Anstrich: 1876 wurde neben der „GörresGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“ auch der bürgerlich-sozialreformerische Verein „Arbeiterwohl“ gegründet, 1897 entstand der „Deutsche Caritasverband“, 1903 der „Katholische Deutsche Frauenbund“ als Teil der bürgerlichen Frauenbewegung. Vor der Jahrhundertwende entstand damit ein intellektueller Katholizismus, ein „Reformkatholizismus“, dem es darum ging, Katholizismus und Moderne miteinander zu versöhnen, ohne den Kernbestand der Konfession preiszugeben. 1897 erschien die Programmschrift „Der Katholizismus als Prinzip des Fortschritts“ des Würzburger Theologieprofessors Hermann Schell. Sie war ein Votum gegen eine weitere Klerikalisierung und Verrechtlichung der Kirche, wandte sich gegen die Angst vor der Moderne, gegen das Wiederaufleben von Teufels- und Wunderglaube, kurz: brachte ein Plädoyer für Pluralität und Öffnung gegenüber der modernen Kultur, der Wissenschaft und der Bildung. Bereits zwei Jahre nach ihrem Erscheinen kam
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„Reformkatholizismus“
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die Schrift zwar auf den Index, doch Schell ließ sich nicht mundtot machen und verlegte seine Missionsarbeit in Vortragssäle. Und er war keineswegs allein unter den „Modernisten“, wie der Vatikan diese aufmuckenden Bildungsbürger nannte. Zwischen 1903 und dem Ersten Weltkrieg kamen allein 150 Bücher auf den Index, 1907 wurde gar eine „Enzyklika“ gegen die „Modernisten“ erlassen. Auch die katholische Welt zeigte sich also weniger klerikal, der weltliche Bereich autonomer, die Laien von Hierarchie, Autorität und Tradition emanzipierter als vom Vatikan verlangt. Diese Gegentendenzen zum Ultramontanismus mit seinem anti-bürgerlichen Gegenwind mögen mit dazu beigetragen haben, dass es im gebildeten katholischen Bürgertum, anders als im protestantischen, keine nennenswerte Auswanderung aus der Kirche gab. Die Bürger waren kirchentreu und „gut katholisch“, aber nicht so klerikal, wie es ihre Kirche wünschte. Das katholische Bürgertum befand sich in einer permanenten Schaukellage zwischen Bürgerlichkeit und Katholizismus. Dass dieser Balanceakt zwischen zwei konkurrierenden Weltanschauungen, zwischen „Klasse und Konfession“ über lange Zeit gelang, erklärt Thomas Mergel nicht zuletzt mit der Kohäsionskraft des Sozial- und Kulturmodells „Bürgertum“, unter dessen Dach konfessionelle Aspekte zunächst verblassten und erst durch den Polarisierungsdruck des „Kulturkampfes“ den Einzelnen zu einer Entscheidung für die eine oder andere Seite nötigte.
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Kulturkampf Unter dem Begriff „Kulturkampf“ wird die Auseinandersetzung zwischen der katholischen Kirche unter Papst Pius IX. und dem kaiserlichen Deutschland unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck zwischen 1871 und 1878/87 verstanden. Erstmals gebraucht wurde der Begriff am 17. Januar 1873 im preußischen Abgeordnetenhaus von Rudolf Virchow. Ihm ging es dabei um ein Zurückdrängen des Einflusses der Kirche auf die Kultur, wie sie von ultramontaner Seite beansprucht wurde. Auch Bismarck war an einer strikten Trennung von Staat und Kirche gelegen, die katholische Zentrumspartei opponierte dagegen. Eine Reihe von Repressalien gegen katholische Institutionen folgte: das Verbot des Jesuitenordens 1872, das Klostergesetz von 1875, das die Auflösung aller Klostergemeinschaften, mit Ausnahme der krankenpflegerischen, in Preußen vorsah. Mit den so genannten Maigesetzen von 1873 ging es um staatliche Reglementierungen der katholischen Kirche (Pflicht eines staatlichen Examens auch für katholische Geistliche, staatliche Meldepflicht für alle Geistlichen, Berufungsrecht an staatlichen Gerichten gegenüber kirchlichen Strafen, Erleichterung des Kirchenaustritts). Mit der Einführung der Zivilehe 1875 wurde der Kirche ein weiteres Monopol entzogen.
Im Kulturkampf brach erstmalig eine neue, bislang zwar latent existierende, aber eher wenig relevante Trennlinie durch das Bürgertum: die Konfession. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts glaubten reisende Protestanten wie der Berliner Verleger und Aufklärer Christoph Friedrich Wilhelm Nicolai ein zivilisatorisches Gefälle zwischen dem protestantischen Norden und dem katholischen Süden feststellen zu können. In seiner zwölfbändigen „Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz“ aus dem Jahr 1781 lobte Nicolai, zwar die architektonische Pracht klerikaler Bauwerke, geißelte aber im selben Federstrich die Rückständigkeit und Entwicklungsunfähigkeit des Katholizismus. Der Topos der katholischen Kirche als Brems-
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Re-Konfessionalisierung klotz der Aufklärung wurde hier geboren, der im Laufe des Kulturkampfes immer wieder belebt wurde und bürgerliche Liberale zu häufig wenig liberalen Ausfällen veranlasste. Konfessionelle Spannungen durchzogen auch das bürgerliche Alltagsleben. Hatte es das interkonfessionelle Tauwetter in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts noch durchaus erlaubt, Kirchen und Friedhöfe gemeinsam zu benutzen, verschwand in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Simultaneum nach dem anderen. So wenig, wie man jetzt bereit war, sich einträchtig den Kirchenraum zu teilen, so wenig verkehrte man privat miteinander. Konversionen, ein nicht seltenes Phänomen im vermeintlich säkularisierten Zeitalter, folgte gesellschaftliche Ächtung. Gesellschaftlicher Ächtung war gegen Ende des Jahrhunderts, wir werden es noch in einem anderen Kapitel sehen, das jüdische Bürgertum zunehmend ausgesetzt, Zumutungen gab es auch vorher schon. Erst durch einen erfolgreich durchlaufenen Bildungsprozess, durch die „bürgerliche Verbesserung“ sollte ihm die Emanzipation zugestanden werden. Christian Wilhelm Dohms 1781 erschienenes Buch über die „Bürgerliche Verbesserung der Juden“ wurde zum Klassiker seines Genres, gleichzeitig erfüllt von einer grenzenlosen Erzieherarroganz und einem unerschütterlichen Erziehungsoptimismus. Scheinbar klaglos fügten sich viele jüdische Bürger dieser Forderung, viele fühlten sich ohnehin im sozialökonomischen Sinn längst als Bürger. Die mit dem Verbürgerlichungsprozess verbundene Akkulturation bedeutete aber für die meisten Juden nicht die Aufgabe ihrer jüdischen Traditionen. Ziel war es vielmehr, diese mit dem bürgerlichen Bildungsprogramm in Einklang zu bringen. Wie dies vonstatten gehen sollte, war Thema zahlreicher Diskussionen unter jüdischen Bürgern. So wie auch protestantische und katholische Bürger im 19. Jahrhundert über einen neuen Sinn und Zweck ihrer Religion reflektierten und sie den Zeitumständen anzupassen strebten, nutzten jüdische Bürger ihre ebenfalls reformierte Konfession als Ankerplatz und Abfederung im Modernisierungsprozess, als sinnstiftende Kraft im Alltag. Die Vermittlung von Tradition und Moderne durchdrang, stärker als im Protestantismus und im Katholizismus, selbst das Gepräge der Gottesdienste. Ästhetisierung, Ritualisierung, Disziplinierung und Verwissenschaftlichung waren wesentliche Komponenten der neuen Form des jüdischen Gottesdienstes. „Shulamit“, die erste deutschsprachige jüdische Zeitung, 1806 gegründet, wurde nicht müde, ihre Leser zu ermahnen, deutsche Bildung und Sittlichkeit auch in die Synagoge zu tragen. Konkret war damit gemeint, während des Gottesdienstes nicht mehr umherzugehen und alle nach außen sichtbaren Gefühlsäußerungen zu unterlassen. Um auch Emotionen ihr Recht zu geben, wurden gleichzeitig gefühlsbetonte Elemente wie Chorgesänge in den Ritus integriert. Die überdies eingeführte deutsche Predigt diente dabei nicht nur der Erbauung, sondern auch als willkommenes Genre bürgerlicher Wertevermittlung. Predigten wurden zu kleinen Kunstwerken, über die im Anschluss außerhalb der Synagoge diskutiert wurde und die im Einzelfall auch in gedruckter Form kursierten. Auf diese Weise gelang vergleichsweise gut eine Einpassung der Religion in den bürgerlichen Bildungskanon.
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konfessionelle Spannungen im bürgerlichen Alltag
jüdisches Bürgertum
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Gleichzeitig blieben die Gemeinden, auch und gerade für die Bürger, denen der Aufstieg in die bürgerliche Gesellschaft gelungen war, vor allem in einer Atmosphäre eines sich verschärfenden Antisemitismus Schutz- und Halt bietende Rückzugsorte. Hier konnte man sich seiner jüdischen Identität, wenn auch in verbürgerlichter Form (Simone Lässig), immer aufs Neue versichern. Die Folgen waren deutlich: Während vor allem protestantische Bürgermänner im Laufe des 19. Jahrhunderts aus den Kirchen auszogen, blieb das jüdische Bürgertum auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Synagoge treu.
3. Verlagerungen: Feminisierung und Familiarisierung der Religion Jüdische Meisterdenker forcierten nicht nur den Verbürgerlichungsprozess, sondern formten auch eine neue Leitfigur, in der Kernelemente des bürgerlichen und jüdischen Wertekanons zusammenfließen sollten: die jüdische Bürgerin als Hüterin der jüdischen Familie und der jüdischen Tradition. Wiederum war hier ein weiblicher Balanceakt gefragt, denn die Frauen hatten den Spagat zwischen Akkulturation und Traditionswahrung tagtäglich zu bewältigen. Henriette Hirsch, Tochter aus gutem bürgerlichen Haus, erinnerte sich an die Aufgaben, die an ihre Mutter herangetragen wurden, um diesem Anspruch gerecht zu werden.
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Das Freitag-Abend-Ritual aus: Nachlass Henriette Hirsch: Erinnerungen an meine Jugend. Memoiren, Leo Baeck Institut New York, zit. nach: Marion A. Kaplan: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997, S. 16. Jeden Freitag Abend, nachdem sie die Freitagabend-Lichte entzündet hatte, hat unsere Mutter uns ‚gebenscht‘, – so hieß der Ausdruck dafür – gesegnet! Sie legte ihre Hände auf unseren gebückten Kopf und sagte die Worte, auf Hebräisch natürlich … . Ein herzlicher Kuß beschloß diese immer feierliche kleine Andacht. […] Nachdem Mutter uns gebenscht hatte, ging man zu Tisch. Der schön gedeckte Tisch mit den brennenden Sabbatkerzen … gab schon äußerlich dem Ganzen ein feierliches Gepräge. … [An den Samstagen hatten] unsere Eltern … immer Besuch von vielen Familienmitgliedern und Freunden. … Wir Kinder spielten, turnten, lasen, und wenn wir genügend an Zahl versammelt waren, wurde aus den klassischen Dramen mit verteilten Rollen gelesen, Don Carlos, die Jungfrau von Orleans, Iphigenie oder sonst eines.
Anerkennung dafür gab es nicht nur aus den eigenen Reihen. Die Sakralisierung des familiären Raums und die Innigkeit des jüdischen Familienlebens wurden auch von christlichen Bürgern als vorbildhaft gerühmt. Die „Gartenlaube“ widmete nicht selten dem jüdischen Familienleben mehrere Seiten. Der Familie und vor allem den Bürgerfrauen die Hauptverantwortung für die religiöse Praxis zu übertragen, teilte das jüdische mit dem christlichen Bürgertum. Diese „Feminisierung der Religion“, durchaus nicht nur im Bürgertum zu beobachten, bildete einen Kontrapunkt zu einer männlichen Abkehr von Kirche und Religion. Blieb die Kirchenpolitik und kirchliche Ver-
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Verlagerungen: Feminisierung und Familiarisierung der Religion einsöffentlichkeit weiterhin primär männlich bestimmt, waren die Bürgerfrauen nun tonangebend, was die mehr oder minder religiöse Prägung des Alltags anging. Mit der Verlagerung der religiösen Praxis ins familiale Innenleben färbten die dort virulenten Phänomene der Intimisierung und Emotionalisierung auch auf die Religionsausübung ab. Der Höhepunkt kirchlicher Feiern wie Weihnachtsfest, Taufen, Konfirmationen und Hochzeiten spielte sich nun innerhalb der Familie ab, der kirchliche Ritus selbst war häufig nur noch der Ausgangspunkt einer privaten Familienfeier, bei der die Bürgerfrauen Regie führten. Überdies spielte Religion in der Kindererziehung, der ohnehin mütterlichen Domäne, weiterhin eine zentrale Rolle. Bürgermütter übernahmen die religiöse Erziehung der Kinder, sie wachten über deren Kirchgang und ihre Abendgebete. Denn dass die Kinder, bei aller Abkehr von einer religiösen Normierung des eigenen Lebenszuschnitts, weiterhin getauft, gefirmt oder konfirmiert werden sollten, stand auch für die Väter außer Frage. Die Langlebigkeit traditioneller Wertmuster in der Kindererziehung zeigte sich hier einmal mehr bestätigt. Unabhängig von dem Grad, in dem die Ablösung der Wertorientierung von religiösen Begründungszusammenhängen fortgeschritten war, nutzten Eltern die sozialmoralischen Religionsgebote für die Kindererziehung. Ihre Zuhilfenahme erleichterte die Tradierung von Lebensmaximen wie Fleiß, Bescheidenheit und nicht zuletzt Gehorsam. Gerade die patriarchalische Struktur der Religion trug zur Stützung der Autorität des pater familias bei. Mit einer Familiarisierung der Religion wuchs der bürgerlichen Frau eine herausragende Bedeutung als Bewahrerin der religiösen Tradition, als Kulturträgerin zu. Doch gleichzeitig öffnete ihnen ihre wachsende Bedeutung für die innerfamiliale religiöse Praxis auch Handlungsräume außerhalb der eigenen vier Wände. Weil sich Männer im kirchlichen Leben zunehmend zurückhielten, wurde hier eine von Frauen dominierte Öffentlichkeit möglich, lediglich durchbrochen durch die männliche Gegenwart des Geistlichen. Schon im Vormärz fanden Bürgerfrauen in religiösen Oppositionsbewegungen ein öffentliches Forum, auf dem sie ihre Interessen artikulieren konnten. In der Vielzahl von karitativen Vereinen wie Kinderbewahranstalten, Krankenpflegevereinen, Vereinen für „gefallene“ Mädchen waren es zunehmend Frauen, die das Heft in die Hand nahmen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden neben dieser Vielzahl kleiner regionaler Vereine Dachverbände mit konfessioneller Basis: 1899 der „Deutsch-Evangelische Frauenbund“, 1903 der „Katholische Deutsche Frauenbund“ und 1904 der „Jüdische Frauenbund“. Mehr denn je wurden Frauen in der Kirche wahr- und ernst genommen. Blieb ihnen aufgrund des Vereinsrechts der Zutritt zu großen Teilen der bürgerlichen Vereinsöffentlichkeit verwehrt, konnten sie unter kirchlicher Ägide mehr Bewegungsund Artikulationsfreiheit entfalten. Viele Bürgerfrauen wussten dies durchaus zu schätzen. In einer zunehmend normierten, gemäß den vermeintlich „natürlichen“ Geschlechtscharakteren nach weiblich und männlich getrennten Sphären gehörte die Kirche zu einem der wenigen öffentlichen Räume, die Frauen überhaupt offenstanden. Die Religion war der einzige Ort außerhalb der Familie, an dem sich Frauen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung gesellschaftlicher Aner-
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Bürgerinnen als Wahrerinnen religiöser Traditionen
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kennung und der Unterstützung einflussreicher Männer erfreuen konnten und darüber hinaus in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten handelten. Schon die bleibende, sich im Laufe des 19. Jahrhunderts sogar verstärkte Einbindung von protestantischen, jüdischen und katholischen Frauen in die Welt der Kirche und Religion macht deutlich, dass von einer pauschalen Säkularisierung des Bürgertums nicht die Rede sein kann.
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VII. Bürgerliche Selbstdarstellung: Konsum und Freizeit „Der Herr Hofmaler Knaus wäre nun da“. Als das Dienstmädchen den Kunstmaler avisiert, hat die Familie des „Eisenbahnkönigs“ Bethel Henry Strousberg schon Aufstellung genommen. Gewandet im Sonntagsstaat posiert sie vor dem Maler, in der Mitte thront der Patriarch. In gestellter Ungezwungenheit sich als Familie zu präsentieren, gehörte zur häufig genutzten Variante bürgerlicher Selbstdarstellung, die schon bald auch von Herrscherhäusern, gleichsam als Ausweis ihrer „Verbürgerlichung“, imitiert wurde. Indessen: Kleine Gesten, den liebevollen Zusammenhalt zur Schau stellend, unterschieden diese Gemälde von den Familienbildern in Adelshäusern. Die kleine Geste anstelle des protzigen Gehabes war es, die bürgerliches Auftreten von der Adelsattitüde abheben sollte. Alles, womit man sich umgab und womit man sich zeigte, sollte eine gepflegte Bescheidenheit ausstrahlen. Die Überzeugung, im Unterschied zu anderen Gesellschaftsschichten genau zu wissen, was man wie angemessen konsumiert, gehörte vor allem in der Konstituierungsphase des Bürgertums zu den wesentlichen Merkmalen der Selbstdefinition. In der Absetzung gegenüber dem Adel wurde nicht nur dessen politischer und gesellschaftlicher Führungsanspruch in Frage gestellt, sondern auch der adelige Lebenszuschnitt. Die inneren Werte des Bürgertums sollten die äußere Prachtentfaltung des Adels überstrahlen. Wenn auch die Gegner im Laufe des 19. Jahrhunderts wechselten: Es war der abschätzige Blick des Bürgers auf eine vermeintlich unangemessene konsumtive Praxis, der für sein Selbstbewusstsein konstitutiv war und unverhohlen zum Ausdruck brachte, wem man zu Seinesgleichen zählte und wen nicht. Maßvoller Konsum wurde zu einer Kompetenz, die im Laufe des bürgerlichen BildungsWeges errungen werden konnte und immer wieder neu unter Beweis gestellt werden musste. In seiner „Theorie der feinen Leute“ formulierte der Ökonom und Soziologie Thorstein Veblen (1857–1929) das so: „Theorie der feinen Leute“ aus: Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2000 (1. Aufl. 1899), S. 119.
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Sein Motiv besteht im allgemeinen in dem Wunsch, einem herkömmlichen Brauch zu genügen, unerfreuliches Aufsehen und entsprechende Kommentare zu vermeiden und den anerkannten Normen der Wohlanständigkeit gemäß zu leben, das heißt die richtige Art und die richtige Menge von Gütern zu konsumieren wie auch Zeit und Energie in angemessener Weise zu vertun.
1. Der angemessene Lebensstil: Bürgerliche Konsumpraxis Konsum als distinktive Praxis besaß aus mindestens zwei Gründen für das Bürgertum Relevanz: Zum einen galt das „angemessene“ Konsumieren als Schlüssel im Prozess der Bürger-Werdung. Zum zweiten erzwang das bür-
Konsum als distinktive Praxis
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Bürgerliche Selbstdarstellung: Konsum und Freizeit
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gerliche Geschlechtermodell mit seiner Zwei-Sphären-Vorstellung die Idee einer Symbiose von Produktion und Konsumtion. Während die Bürgermänner die Welt der Produktion beherrschten, wies man den Frauen die Welt des Konsums zu. Entsprechend der komplementär gedachten Geschlechtscharaktere sollten sich beide Sphären in der bürgerlichen Familie zu einem harmonischen Ganzen fügen. Bürgermänner hatten durch ihre Arbeit für die materiellen Mittel zu sorgen. Ihr Einkommen entlastete die übrigen Familienmitglieder von produktiver Tätigkeit und verschaffte ihnen Spielräume der Muße, um die Facetten bürgerlicher Konsummuster zu erlernen und weiter auszufeilen. Konsum als bürgerliche Praxis war immer zweckgebunden, rational fundiert und ideologisch unterfüttert. Konzipiert als Gegenentwurf zur vermeintlich bloßen Genusssucht der Aristokratie sollte sich im Konsum die bürgerliche Wertewelt widerspiegeln: Das Ambiente der bürgerlichen Wohnung diente als Ausweis des „guten Geschmacks“, die Einrichtung von Kinderstuben mit altersgerechtem Mobiliar und Spielzeug als Beweis pädagogischer Verantwortung, die Tischmanieren als Indiz kultivierter Umgangsformen, die Garderobe der Bürgerfrauen als elegante Zeugnisse von schlichter Wohlhabenheit und die im Kaiserreich aufkommenden Matrosenanzüge der kleinen Bürger gar als politischer Loyalitätsbeleg ihrer Eltern. Neben der Deckung des täglichen Bedarfs kamen dem Konsum im Bürgertum vor allem zwei Funktionen zu: Zum einen sollte das gemeinsame Konsumieren das bürgerliche Familienideal nach innen stärken. Zum zweiten diente eine demonstrativ „bürgerliche“ Konsumpraxis zur Selbstdarstellung und Fremdabgrenzung nach außen. Bei dem ständigen Ringen um den adäquaten Konsum standen vor allem die Bürgerfrauen im Rampenlicht. Nur-Konsumentin zu sein geriet zum Prestigeindiz und zur Definitionskomponente der Bürgerfrau. Mit durchaus zwiespältigem Effekt: Gerade weil sie so ostentativ entspannt die Früchte männlicher Arbeit verzehren sollte, durfte die dahinter liegende reale Anstrengung nicht sichtbar werden. Veritable Konsumexpertinnen waren da gefragt. Vor allem die zahlreichen Haushaltsratgeber, die auf den Buchmarkt strömten und jetzt Kapitel wie „Die Kunst des Wirtschaftens“ und „Vom Erkennen guter Waren“ enthielten, lassen ahnen, mit welchen Erwartungen die Bürgerfrauen als Konsumentinnen mehr und mehr konfrontiert wurden. In einer immer bunteren Warenwelt und den sprießenden Variationen von Vertriebsmöglichkeiten geriet der tägliche Einkauf der Bürgerfrau zur Herausforderung. Der richtige Laden musste gewählt, das Vertrauen zu einem Händler aufgebaut, die Qualität der feilgebotenen Waren eingeschätzt werden. Die Ratschläge der schreibenden Meisterhausfrauen bewegten sich im bürgerlichen Wertespektrum: Der solide Händler mit treuer Stammkundschaft, die rationalen Kaufentscheidungen, das sparsame Wirtschaften, die maßvollen Einkäufe zeichneten die perfekten Hausfrauen aus. Mit einem häufig knappen Budget ausgestattet, trennten sie häufig nach „privatem“ und „öffentlichem“ Konsum: Im Familienalltag war „Schmalhans Küchenmeister“, kündigten sich Gäste an, plünderte man die Speisekammer, tischte großzügig auf und kleidete sich und die Kinder im Sonntagsstaat. Doch selbst wenn der alltägliche Konsum der Bürgerfamilie ungleich weniger aufwendig betrieben wurde, gewannen die gemeinsam zelebrierten
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Der angemessene Lebensstil: Bürgerliche Konsumpraxis Mahlzeiten als Familienrituale an Bedeutung. Je mehr sich mit der Trennung von Produktions- und Konsumptionssphäre die gemeinsam verbrachten Stunden aller Familienmitglieder reduzierten, desto mehr Gewicht bekamen die Zeiten des Miteinanders. Als Widerschein des familiären Zusammenhalts und der innerfamilialen Hierarchie dirigierte der kollektive Konsum entscheidend den Tagesrhythmus einer Bürgerfamilie. Einen besonderen Anstrich erhielt der familiäre Konsum zu Feiertagen und bei Familienfeiern. Dann hatte sich der Familiensinn, den es als Hort der Gemeinsamkeit ständig neu zu installieren, zu stabilisieren und zu tradieren galt, besonders zu bewähren. Anstelle der frugalen Speisekarte des Alltags, wurden nun fulminante Köstlichkeiten aufgefahren. Tagelange Vorbereitungen von Hausfrau und Dienstmädchen waren vorausgegangen. Neue Erkenntnisse und Prioritäten der schreibenden Meisterhausfrauen, die zur schnellen und gesunden Küche rieten, verblassten kurzzeitig gegenüber wieder hervorgeholten Familienrezepten. „Hausgemacht“, ein Warenschild, das im Zuge der sich durchsetzenden Konsumgesellschaft seinen Ruf als Qualitätssiegel zunehmend einbüßte, wurde in Zeiten, in denen die Bürgerfamilie sich selbst feierte, zum wieder anerkannten Etikett. Nicht zuletzt die deutliche Abschließung des privaten Wohnbereichs von der Öffentlichkeit ließ die schon im Speiseplan aufscheinende Trennung zwischen Repräsentation nach außen und Reduktion nach innen überhaupt erst zu. Wo und in welchem Rahmen sich das bürgerliche Leben abspielte, markierte entscheidend die familiale Stellung auf der gesellschaftlichen Skala. Welche Quartiere man wählte, wie viele Zimmer zur Verfügung standen, in welcher Weise diese funktional differenziert und ausstaffiert wurden, kurz: Die „Wohnkultur“ verriet nicht nur viel über die materielle Situation, sondern auch über das Selbstverständnis des Bürgertums. Dass man vor allem in Städten wohnte, war eine bürgerliche Selbstverständlichkeit; im 19. Jahrhundert einsetzende Urbanisierungsprozesse leisteten dieser bürgerlichen Vorliebe Vorschub. Zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg war allein die Zahl derjenigen, die in Großstädten, d. h. in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern, lebten, von 4,8% auf 21,3% angestiegen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts zeichneten sich in diesen Städten dann auch homogene, rein bürgerliche Stadtteile ab; zuvor war eine Mischung aus Hinterhof und Beletage noch die Regel gewesen. Wie sehr das Bürgertum die Wohnung als Prestigeindiz wertete, lässt sich aus dem nicht seltenen Wohnungswechsel ablesen. Einem Karrieresprung folgte das Packen der Umzugskisten. Selbst wenn man am selben Ort blieb, schien es opportun, den beruflichen Erfolg mit einer vornehmeren Wohnung zu krönen. Doch nicht nur die Adresse, auch die innenarchitektonische Handschrift sollte Distinguiertheit ausstrahlen und damit Distinktionsfunktion übernehmen. Analog zur Verklärung des bürgerlichen Familienlebens verlief einerseits die Idealisierung des Ortes, an dem es sich abspielte, zum „trauten Heim“ als Sinnbild einer Schutz und Erholung bietenden Enklave. Andererseits sollten die familialen vier Wände als von Außenstehenden zu betrachtendes Schaustück bürgerlichen Lebensstils dienen. Besucher betraten zunächst den Eingangstrakt, der gleichsam als Filter das ungebetene Eindringen in die Privatsphäre verhindern konnte. Die häufig mit kostbaren
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bürgerliche Wohnkultur
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Spiegeln, Wandfriesen, Marmorböden und imposanten Lüstern geschmückten Treppenhäuser mancher Mietshäuser künden von dem Wunsch, schon mit dem ersten Eindruck Bewunderung zu wecken. Öffnete dann das Dienstmädchen die Türen zum eigentlichen Wohnbereich seiner Herrschaft, betrat man den Flur, von dem aus die einzelnen Räume erschlossen werden konnten. Ein Kennzeichen bürgerlichen Wohnens war eine funktionale Separierung der einzelnen Räume in Küche, Kinder-, Arbeits-, Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. Auf diese Weise erreichte man eine Abschottung von der Außenwelt aber auch die Rückzugsmöglichkeit einzelner Familienmitglieder in private Nischen. Die Doppelfunktion von Rekreation und Repräsentation führte überdies zu einer Grenzziehung innerhalb der Wohnstätten. Nach hinten heraus lagen Schlaf- und Hauswirtschaftsräume, zur Straße gelegen waren der „Salon“ und das Esszimmer, in denen man auch Gäste empfing. Die „kalte Pracht“, wie die fast immer ungeheizten Räume selbstironisch genannt wurden, trug namentlich für die Bürgerkinder ein Doppelgesicht: Hier musste man vor lästigen Besuchern die „gute Kinderstube“ vorführen, hierüber schwebte aber auch die glänzende Gloriole des Weihnachts- und Geburtstagszimmers. In welchem Stil dieses Zimmer eingerichtet war, hing ab von der jeweiligen Mode der Zeit. In der ersten Jahrhunderthälfte überwog das schlichte Biedermeier, in das eine Arzttochter sich stets versetzt fühlte, wenn sie in den 1880er Jahren ihre Großmutter besuchte:
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Biedermeier-Wohnung aus: Ina Seidel: Meine Kindheit und Jugend. Ursprung, Erbteil und Weg, Stuttgart 1935, S. 80. In der Wohnung herrschte noch das Biedermeier Zeitalter vor, aber es gab auch einen schönen Empire-Sekretär, auf den unter einem Glassturz eine kunstvolle Pendeluhr stand. Hier gab es keine offenen Bücherregale, sondern den Bücherschrank mit Glastüren; das Sofa und die steillehnigen Stühle waren nicht mit Plüsch, sondern mit Rips bezogen. Auf dem runden Tisch stand eine Alabasterschale, in der im Winter rote Äpfel lagen. … An den Wänden hingen Stiche nach Gemälden von Ruysdael und anderen romantischen Landschaftlern, außerdem Familienbilder in ovalen Holzrahmen.
Bei ihr zu Hause mag es dann eher so ausgesehen haben, wie in der Leipziger Professorenfamilie, deren Ambiente der Sohn des Hauses etwa zur gleichen Zeit beschreibt:
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Gründerzeit-Wohnung aus: Rudolf G. Binding: Erlebtes Leben, Frankfurt a. M. 1928, S. 101 f. Hier standen unförmige riesige Sessel mit rotem Samt puffig überzogen, an allen Ecken, an allen Armlehnen hingen zweifache schwer gefranste Troddeln, gleichfalls rot, auf speckigen Atlasrosetten, und gedrehte Schnüre, zweifach gezogen, säumten die mit Nähten aneinandergestoßenen Teile. Lange gewichtige Vorhänge, seidig glänzend, mit gewundenen, spiraligen und ewig sich neu verschlingenden Litzen und Borden benäht, waren nur wenig zur Seite gerafft, und wieder hingen die schweren Troddeln, die doppelten Schnüre und hielten den Stoff in zurechtgelegten und aufdringlich drapierten Falten. Daran an den Kanten ein Fran-
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sensaum seidener Knötchen und Büschel, Büschel und Knötchen, endlos sich wiederholend, von oben bis unten, quer unter den gerafften Überhängen, unten auf dem Boden, wo lange Schleppen von den Fenstern bis ins Zimmer lagen. … Ein Glaslüster, aus kleinen Renaissancemotiven zusammengesetzt, hing in der Mitte. Die Türen trugen Aufsätze mit renaissancehaften Kehlungen und Simsen, und goldene Linien zierten die Pfosten und rahmten die Füllungen. Die Wände waren still dunkelblau angestrichen – eigentlich schön; aber eine unglücklich sich verlaufende Mäanderlinie in einer andern Farbe unterwanderte die Felder und versuchte sich, klassisch zu sein. In jedem der Felder hing ein Blatt jener farbigen Reproduktionen der großen Wandgemälde Rafaels und Michelangelos, die damals vortrefflich von einer englischen Kunstgesellschaft hergestellt wurden. Auf den Tischen und auf kleinen tischhohen Schränken an den Wänden standen Fotografien meiner Eltern und jüngeren Geschwister.
Nur eines fehlte in dieser Anhäufung nicht-funktionaler Dekorationsobjekte als gewollter Kontrast zur schnörkellosen Arbeitswelt, um das bürgerliche Ambiente perfekt zu machen: das Klavier. Gezielt wurden in den in Samt und Plüsch getauchten Bürgerwohnungen mit ausgesuchten Accessoires Akzente gesetzt und damit den Besuchern Wegweiser zur Persönlichkeit, oder besser: zum Selbstimage erschlossen. Das Stilgemisch aus Neo-Gotik, Neo-Rokoko und Neo-Renaissance sollte dabei weniger von bürgerlicher Geschmacksunsicherheit als vielmehr vom souveränen Jonglieren mit historischen Stilrichtungen künden. Galt die Wohnung als showroom, war die Kleidung die wandelnde Visitenkarte bürgerlicher Distinguiertheit. Zeitgenössische Bilder vermitteln den Wandel, den der bürgerliche Dresscode durchlief. Nicht zuletzt die geschlechtsspezifische Aufgabenzuweisung schlug sich darin nieder. Die Frauen und Töchter durften, ja sollten den Wohlstand der Familie, einem immer schneller wechselndem Modediktat folgend, mit einer nach Stoff, Schnitt und Farbe variantenreicher Garderobe sichtbar nach außen tragen. Das männliche Oberhaupt der Familie dagegen verkörperte auch in der Freizeit im dunklen Anzug und weißem Hemd den stets strengen Berufsmenschen. Exzessiv uneitel zeigten sich viele Bürgermänner, diesem Gebot entsprechend, auf überlieferten Bildern. Der erfolgreiche Unternehmer Hugo Stinnes etwa zeigte sich auf sämtlichen überlieferten Photos in einer immer gleichen, dunkelgrauen, leicht knittrigen Kombination aus Jacke, Weste, Hose, weißem Hemd und schwarzer Melone, unabhängig davon ob er sich im Kontor, bei der Schiffstaufe, an der Seite des Kaisers, auf der Hochzeitsreise oder im Kreis der Familie ablichten ließ – der Duft des ostentativen Arbeitsethos steigt noch mehr als hundert Jahre später in die Nase. So unterschiedlich sich Bürgermänner und Bürgerfrauen nun kleideten, so anders sah jetzt auch die Kinderkleidung im Kontrast zur Erwachsenenkleidung aus. Kleine Bürgerinnen trugen rosa und weiße Kleidchen bis kurz über die Knie, wobei der Rocksaum mit zunehmendem Alter immer weiter nach unten wanderte; kleine Bürger schlüpften bis zur Konfirmation in kurze Hosen und zu Festlichkeiten in weiße Matrosenanzüge. Fielen im Alltag die Kleider deutlich schlichter aus, holte man, wenn der Sonntagsspaziergang anstand oder wenn Gäste kamen, die „Ausgehtoiletten“ aus dem Schrank.
Kleider machen Bürger
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2. „Tages Arbeit, Abends Gäste!“ Bürgerliche Geselligkeit
gesellschaftlicher Verkehr
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So auch, wenn „Gesellschaften“ auf dem Programm standen. Neben den in diverse Vereine zerklüfteten „Teilöffentlichkeiten“ gab es Formen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die lange Zeit von Historikerinnen und Historikern als „nicht-öffentlich“ qualifiziert und zur Privatsphäre gerechnet wurden. Doch diese Zusammenkünfte unterschiedlichsten Zuschnitts dienten ganz ähnlichen Zwecken wie die öffentlichen Vereine. Neben den in der Regel eher informellen Verwandtentreffen, gehörte es zum guten bürgerlichen Ton, auch darüber hinaus eine generell nach analoger Gesellschaftsstellung und Weltanschauung ausgewählte Runde zu bewirten und zu besuchen. Wer der bürgerlichen Gästeliste für würdig empfunden wurde, hing nur teilweise von der männlichen Profession ab. Ebenso viel Gewicht kam der sozialen Provenienz und Prominenz des Ehepaares, seinen kulturellen Präferenzen und seiner Perfektion im gesellschaftlichen Protokoll zu. Erst die Teilnahme an dieser halb-öffentlichen Geselligkeit machte einen Bürger, als der er qua Beruf in der Öffentlichkeit auftrat, erst eigentlich zu einem Mitglied der „bürgerlichen Gesellschaft“. An dieser Schlüsselstelle der Konstituierung der „Bürgerlichkeit“, an der die Grenze von „privat“ und „öffentlich“ fließend wurde, verlor die Frau ihre Nebenrolle und nahm als Gastgeberin wenn nicht gar den wesentlichen so doch einen gleichberechtigten Part ein. Berufskollegen, über Generationen „ererbte“ Hausfreunde und Vereinsgenossen zusammen mit ihren Gattinnen und manchmal auch ihren Kindern gaben sich so mehr oder minder regelmäßige Stelldicheins. Wie vielfältig die Zusammensetzung aus dem bürgerlichen Rekrutierungsfeld aussah, richtete sich einerseits nach der regionalen und nationalen Abkunft von Gastgebern und Gästeschar, andererseits aber auch nach der Förmlichkeit des Anlasses. In kleineren Städten oder Vororten waren die Kommensalkreise häufig identisch mit der Nachbarschaft, in der sich oft das breite Spektrum der bürgerlichen Berufe versammelte. Die Zusammenkünfte dieser Kreise fanden häufiger und spontaner statt, waren gewohnte Einschnitte im Wochentakt ohne offizielle Einladung und wurden wenig aufwändig ausgerichtet. Anders hingegen sahen die großen Abendgesellschaften aus, die vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte regelmäßig auf dem Programm vornehmlich des städtischen Bürgertums standen. Durch ihre von steifen Konventionen geprägte Ausgestaltung wurden sie von den Bürgern zumeist eher als ein lästiges Muss als eine vergnügliche Form der Muße betrachtet. „Jäger, schieße meine Frau tot, sie hat schon wieder Gäste eingeladen“, lautete bezeichnenderweise der erste Satz eines Dramoletts eines Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Gymnasiasten, der die Tragikkomik widerspiegelt, mit der das Gros des europäischen Bürgertums dieser gesellschaftlichen Pflichtübung begegnete. Häufig handelte es sich dann bei den Geladenen um Berufskollegen des Mannes, wobei sich die im Kontor, in den Amtsstuben oder an den Universitätsfakultäten herrschende Hierarchie in der Tischordnung des bürgerlichen Salons wiederholte.
„Tages Arbeit, Abends Gäste!“ Bürgerliche Geselligkeit
Das Diner aus: Carl Fürstenberg: Die Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers, niedergeschrieben von Hans Fürstenberg, Wiesbaden 1961, S. 396.
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In Berlin hat stets die Sitte des Diners vorgeherrscht, und ich muß leider sagen, daß sie gerade damals anfing, sich in eine Unsitte zu verwandeln. Das neue Deutschland war schnell reich geworden. Die Ansprüche auf Luxus und äußeren Glanz hatten sich sogar zu schnell vermehrt. Unter solchen Umständen übte mancher der hohen Beamten, die an der gesellschaftlichen Repräsentation mit in erster Reihe beteiligt waren, derlei Pflichten notgedrungen in größerem Umfange aus, als die ihm zur Verfügung stehenden Geldmittel eigentlich gestattet hätten. Obgleich wir manchen Diners aus dem Wege zu gehen suchten, war es doch bald so weit, daß wir während der Wintermonate für jeden Abend eine und meist sogar mehrere Dinereinladungen hatten und täglich eine solche befolgten. Man aß um acht Uhr ein offizielles gesetztes, nach heutigen Begriffen unheimlich langes und nicht immer kulinarisch befriedigendes Mahl und erhob sich um halb zehn Uhr übersättigt. Erst gegen halb elf Uhr kam eine gemeinschaftliche Unterhaltung zwischen Damen und Herren zustande, deren Anfang aber auch schon das erste Zeichen zum Aufbruch zu bedeuten pflegte. Das alles war oft mehr ermüdend als anregend und hielt mich übrigens in ungebührlichem Ausmaße von meinen Kindern und meinem Hause fern.
Das Unbehagen, das diese Diners bei vielen auslösten, resultierte nicht zuletzt aus ihren nicht unerheblichen Kosten. Zwischen drei- bis vierhundert Mark musste für eine Abendeinladung mit 16 bis 20 Gästen veranschlagt werden, um die immer höheren Erwartungen der Geladenen zu erfüllen. Hinzu kam die große Anstrengung, die mit dem reibungslosen Ablauf dieser Soirees verbunden war. Sie begann bereits im Vorfeld mit der Erstellung der Gästeliste, der Versendung der Einladungen, dem Umdisponieren bei Absagen, dem Aufsetzen der Tischordnung, der Komposition des Menüs und dem Arrangement des Tafelschmucks. Von all diesen Mühen sollten am Festabend vor allem die Eingeladenen nichts merken, obwohl zumindest die weiblichen Gäste sehr wohl aus eigener Erfahrung wussten, welche Anstrengung das Mimen der charmant-entspannten Gastgeberin kostete. Gerade dieses Expertenwissen, das alle Beteiligten in mehr oder minder hohem Maße mitbrachten, wobei die Bürgermänner bei jeder Flasche Wein im Stillen gerechnet und die Bürgerfrauen mit Argusaugen auf einen Patzer des Dienstmädchens gelauert haben mögen, gestaltete diese Abende zu heuchlerischen Schauspielen. Ihr Ablauf war hingegen schon soweit etabliert, dass niemand es wagte, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Sich diesen Verpflichtungen durch Absage zu entziehen, barg die Gefahr in sich, bei der nächsten Gelegenheit nicht mehr berücksichtigt zu werden. Vielfach setzten sich die von Konkurrenz bestimmten Strukturen der männlichen Berufswelt hinter den Salontüren in einer pseudo-privaten Sphäre fort. Hier wurden neue Kontakte geknüpft, Karrierechancen austariert und der Status jedes Einzelnen immer wieder aufs Neue einer Prüfung unterzogen. Kurz: Das Prozedere eines solchen Abends diente der Bestätigung der herrschenden sozialen Ordnung. Mit welchen Strapazen das „schadlose“ Überstehen für alle Beteiligten einherging, lassen die zahllosen Benimmbücher ahnen, die besonders im ausgehenden 19. Jahrhundert überall in Europa zu neuem Ruhm kommen
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sollten. Groß schien der Bedarf, detaillierte Leitlinien in die Hände zu bekommen, um das zunehmend kompliziertere gesellschaftliche Comment zu beherrschen. Die Spannweite der Ratschläge reichte von der angemessenen Kleidung über die Anredeformen, die Essmanieren, die Körperhaltung bis hin zu den gebotenen und verbotenen Gesprächsthemen. Für Varianten einer Menü-Einladung blieb nur wenig Spielraum, der Ablauf war strikt schablonisiert: Man traf sich im Salon zum Aperitif und zur Vorstellung von noch Unbekannten, zog dann in förmlich steifer Prozession aus dem Salon ins Speisezimmer, wo alsbald das Essen mit bis zu zehn Gängen gereicht wurde. Nach dem Menü begab man sich zu einer Atempause und zu Mokka und Zigarre ins Damen- bzw. Herrenzimmer, um nach kurzer Zeit – das Aufklappen des Flügeldeckels und das Rascheln der Notenblätter gaben das Signal – in den Salon zurückzukehren, wo die Herrin oder Tochter ihr musikalisches Können, häufig auch Nicht-Können zum Besten gab. Nicht nur zeitgenössische und zeitkritische Romanciers wie Theodor Fontane, sondern selbst die sonst eher betulichen Familienblätter persiflierten in Glossen und Satiren diese gleichzeitig langweiligen wie anstrengenden Gesellschaften.
3. Zelebrierte Bürgerlichkeit: Bürgerliche Feste
Stadtfeste als Bürgerfeste
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Eine willkommene Gelegenheit, neben dem regelmäßigen geselligen Verkehr die wohlanständige Bürgerlichkeit in Szene zu setzen, waren Festlichkeiten aller Art. An erster Stelle rangierten dabei die vielfältigen Familienfeste, zu denen sich in der Regel die Großfamilie ebenso wie Hausfreunde einstellten. Zu Verlobungsfeiern, Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen, BarMizwas und Kindergeburtstagen kam der große Kreis der Verwandtschaft wieder zu seinem Recht, öffnete die Kleinfamilie, ohnehin aufgrund der häufigen Besuche selten unter sich, gastfreundlich die Tür. Hier ergab sich die Option, gleichzeitig die Feier des bürgerlichen Individuums und des Bürgertums als Kollektiv zu begehen. Diese Feste folgten in der Regel strengen, über Generationen eingeübten Ritualen, die mithalfen, eine Familientradition zu erfinden und zu festigen. Neben der Familie bot der städtische Raum gute Möglichkeiten bürgerlicher Selbstinszenierungen. Allein die Geschichte der jeweiligen Heimatstadt präsentierte eine Reihe von Bezugspunkten bürgerlicher Selbstvergewisserung. Feste im städtischen Raum waren keine bürgerliche Erfindung des 19. Jahrhunderts; Jahrmärkte, Karneval und Prozessionen hatte es lange zuvor schon gegeben. Was bürgerliche und diese traditionellen Stadtfeste einte war, dass sie bewusst komplementär zur Arbeitswelt, zur Erholung und Erfrischung gedacht und empfunden wurden, als etwas Außeralltägliches, das willkommene Zäsuren im Jahresrhythmus markierte. Doch darüber hinaus hatten die Stadtfeste, in denen das Bürgertum im 19. Jahrhundert den Ton angab, ihren eigenen Zuschnitt und ihre spezifische Handschrift. Zum einen feierte man bei Verfassungsfesten, Eisenbahneinweihungen, Museumseröffnungen und Denkmalenthüllungen genuin bürgerliche Errungenschaften. Zum anderen „verbürgerlichten“ diese Feste insofern, als sie von dem Anstrich des Freien, Unbeschwert-Zügellosen entkleidet wur-
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den. Auch die Festzeit, so vermitteln es die Drehbücher dieser events, blieb eine bürgerliche Zeit und das hieß kontrollierte und disziplinierte Zeit. Regie führten dabei die Bürgermänner, im Festkomitée saßen Vertreter aus dem Bildungs- wie Wirtschaftsbürgertum. Gemeinsam planten da Mitglieder des örtlichen Bürgervereins, der Liedertafel, des Kaufmannvereins, den Vorsitz übernahmen pensionierte höhere Beamte, Oberlehrer, Professoren und Zeitungsredakteure. Nicht selten waren sie Angehörige des städtischen Magistrats, häufig untereinander verwandt oder verschwägert, federführend. Bürgerliche Feste halfen so, die klassenspezifische politische Kultur des lokalen Raumes zu schaffen und zu bekräftigen. Sie symbolisierten kein Ausbrechen aus der sozialen Ordnung, sondern ihre Abbildung mit anderen Mitteln. Ausdruck fanden diese in der Choreographie der Festzüge, dem Duktus der Festreden, der Metaphersprache der Umzüge und nicht zuletzt in den klaren sozialen Grenzziehungen zwischen den Festteilnehmern. Diese teilten sich in diejenigen, die auf Ehrenplätzen im Bankettsaal Platz nahmen, und diejenigen, die lediglich als Zuschauer die Straßen säumten. Das badische Verfassungsfest von 1843 ist dafür beispielhaft: Verfassungsfest aus: Paul Nolte: Die badischen Verfassungsfeste im Vormärz. Liberalismus, Verfassungskultur und soziale Ordnung in den Gemeinden, in: ders. u. Manfred Hettling (Hg.): Bürgerliche Feste. Symbolische Formen politischen Handelns im 19. Jahrhundert, Göttingen 1993, S. 72.
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Um die Mittagszeit löste sich die Versammlung auf. Die bisherigen Teile des Festes hatten sich, räumlich gesehen, vor allem ‚außen‘ abgespielt (bei strahlendem Sonnenschein übrigens, wie übereinstimmend berichtet wird) und hatten, sozial gesehen, der gesamten Bevölkerung, ‚Honoratioren‘ und einfachen Bürgern, Tagelöhnern, Frauen und Kinder offengestanden, wenn auch die Festordnung jeder Gruppe ihren ‚angemessenen‘ Platz zugewiesen hatte. Mit dem nun folgenden Festmahl fand eine markante Eingrenzung statt: räumlich nach ‚innen‘, in einen der besseren Gasthöfe des Ortes oder in besondere Zelte, falls die Gasthäuser sich als zu klein erwiesen; und sozial auf den wohlhabenderen und politisch aktiven Teil der (erwachsenen, männlichen) Bevölkerung und die auswärtigen Gäste der liberalen ‚Prominenz‘. … Hier wurde gegessen und getrunken; viele weitere Toaste und Ansprachen folgten. Nebenher und am Nachmittag fanden Spiele und Vergnügungen, vor allem für die Kinder, auf den Straßen statt. An die Armen des Ortes wurde Essen oder Geld verteilt. Mit einem Fackelzug oder einem Feuer, besonders häufig mit einer Tanzveranstaltung, klang das Verfassungsfest am Abend aus. Diese Bälle fanden in den entsprechenden kommerziellen Etablissements statt, zum Teil aber auch, gewissermaßen ‚halb-öffentlich‘, im Lokal des Bürgervereins.
Diese Exklusivität der Stadtfeste verlor sich jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend. Nun gerieten auch Festivitäten, die vormals primär unter bürgerlicher Leitung standen, immer mehr in einen Sog von Konsum und Kommerzialisierung. Durchaus mit Zustimmung und Zutun rechnender Wirtschaftsbürger, die den stärker touristischen Anstrich aus kommerziellen Erwägungen begrüßten und beförderten. Die sakrale Aura, die einigen Festen noch wenige Jahre zuvor durch ihre ritualisierten Formen anhaftete, verflüchtigte sich, Feste, auch die bürgerlichen, verloren ihren Ernst und dienten nun vornehmlich bis ausschließlich dem Vergnügen.
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VIII. Bürgertum zwischen den Klassen Kollektive Identitätsfindung und -stärkung braucht das Gegenüber. Schon in der Formationsphase des Bürgertums war die Frontstellung gegenüber anderen, zu denen man explizit nicht gehören wollte, wesentlicher Teil bürgerlicher Selbstdefinition. An erster Stelle stand dabei der Adel, dicht gefolgt von der diffusen Masse der Unterschichten. Waren die frühen Frontstellungen noch Ausdruck eines gewachsenen Bürgerstolzes, schlug dieser in der zweiten Jahrhunderthälfte um in kleinmütige Bürgerfurcht vor der vermeintlich „roten Gefahr“ und der „nivellierenden Kultur“ einer neuen, ins Bürgertum drängenden Schicht der Angestelltenschaft.
1. Zwischen Abschottung und „Feudalisierung“: Bürgertum und Adel
„Feudalisierung“ des Bürgertums
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In der Konstituierungsphase des Bürgertums war der Hauptgegner schnell ausgemacht: Vom Adel wollte man sich absetzen, das Projekt der „bürgerlichen Gesellschaft“ war explizit als Gegenprojekt zur adelig dominierten Alten Welt konzipiert. Das hieß Abschied von geburtsständischen Privilegien, Abschied von einer dynastisch-strategischen Familienpolitik, Abschied von dünkelhafter Repräsentation. Vor allem das Bildungsbürgertum, das sich in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts anschickte, die gesellschaftliche Vormachtrolle zu übernehmen, hatte dabei ein überaus düster getöntes Adelsbild vor Augen. Nach der Jahrhundertmitte, mit schnell fortschreitender Industrialisierung, erstarkte das Wirtschaftsbürgertum. Viele hatten es jetzt zu einem ungeheuren Wohlstand gebracht, einige wollten diesen Wohlstand auch zeigen. Das bürgerliche Maßhalten und Sich-Bescheiden wurde, so mokierten sich Vertreter des Bildungsbürgertums, nun häufig überblendet von einer wirtschaftsbürgerlichen Leistungsschau. Schon Zeitgenossen geißelten dieses Gebaren als schnöde Abkehr von der bürgerlichen Wertewelt und als Anbiederung an adelige Lebensentwürfe. Unter dieser Annäherung an den Adel, auch auf den Begriff „Feudalisierung“ oder auch „Aristokratisierung“ des Großbürgertums gebracht, verstanden die, die in dieser Debatte das Wort ergriffen, nicht nur den politischen Schulterschluss mit dem Adel. Sie verurteilten im gleichen Atemzug auch eine Imitation und Adaption des adeligen Lebensstils. Steingewordene Bürgerträume von Adelsschlössern anstelle schlichter bürgerlicher Behausungen, die Hochschätzung des bislang adelig dominierten Militärs, die Ausbildung der Töchter in vornehmen ausländischen Pensionaten, die weitgehende Delegation der Kleinkindererziehung an dafür engagiertes Personal und ein alles in allem auf äußere Repräsentation statt auf innere Werte schauender Habitus galten als Insignien einer schrittweisen Aufgabe bürgereigener Ideale zugunsten aristokratischer Weltanschauungen und Daseinsformen.
Zwischen Abschottung und „Feudalisierung“: Bürgertum und Adel
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Nicht zuletzt die Furcht vor einer erstarkten und zunehmend politisierten Arbeiterschaft hätte vor allem das zu großem Wohlstand gekommene Wirtschaftsbürgertum dazu gebracht, die vormals emanzipative Haltung gegenüber dem Adel in eine affirmative umzukehren. Aber auch das Bildungsbürgertum sei, von dieser Angst getrieben, nach rechts, an die Seite der alten adeligen Machteliten gerückt. Nach Scheitern der Revolution habe das Wirtschaftsbürgertum seine liberalen Ambitionen gezügelt, sich auf seine ökonomischen Interessen konzentriert und wäre dabei Zweckbündnisse mit den alten Eliten eingegangen. Wie „feudal“ war das Bürgertum, unabhängig von politischen Allianzen, wirklich? Zunächst findet man in der zweiten Jahrhunderthälfte deutlich weniger adelskritische Pamphlete, wie sie noch an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert den Buchmarkt überschwemmten. Zum zweiten waren Nobilitierungen, Heiraten und geselliger Verkehr mit Vertretern der Aristokratie im Kaiserreich zweifellos häufiger als in den Jahrzehnten zuvor. 24 % der Söhne und 32% der Töchter der reichsten Unternehmer des Wilhelminischen Kaiserreichs heirateten in Adelsfamilien ein. Auch die Zahl der Nobilitierungen stieg. Zwischen 1789 und 1918 sind in Preußen-Deutschland etwa 1.450 Nobilitierungen ausgesprochen worden, davon rund zwei Drittel nach 1860. Schon hellsichtige Zeitgenossen erkannten in dem Boom der Nobilitierungen vor allem die Absicht Otto von Bismarcks, Adel und Bürgertum in mehrfacher Hinsicht zu Bündnispartnern zu machen. Besonders großzügig ging Kaiser Wilhelm II. mit der Titelvergabe um; 180 Verleihungen nahm er pro Jahrzehnt vor. Die Neugeadelten kamen in den Genuss einer Reihe von Privilegien, die ihnen im Adelsbrief zugesichert wurden. Nicht zuletzt berechtigte er seine Träger, bei Hofe ein- und auszugehen, auch höfische Ämter zu bekleiden und zu dem Zugang zu exklusiven Erziehungsanstalten oder Ritterakademien. Dennoch: Auch in der zweiten Jahrhunderthälfte überstieg die Zahl der Titelverleihungen an Unternehmer selten ein oder zwei Fälle pro Jahr. Unter Wilhelm II. stieg die Zahl derartiger Auszeichnungen, doch auch von den 221 von ihm jährlich zu Baronen, Grafen und Fürsten Erhobenen waren nur 16 bürgerlicher Herkunft. Im Gegenteil zeigten sich einige von ihnen dem „von“ vor dem Namen gegenüber eher reserviert. Manche, so der Magnat Alfred Krupp, lehnten 1864 den offerierten Adelstitel sogar ab, andere, wie Werner von Siemens, machten eher selten von ihm Gebrauch. Ein Grund dafür war ein Konkurrenztitel, der in wirtschaftsbürgerlichen Kreisen offenbar als attraktiver galt. Kommerzienrat Der Titel „Kommerzienrat“ war ein staatlich verliehener Ehrentitel für verdiente Mitglieder des Handels- und Gewerbestandes. Eine hervorragende kaufmännische oder industrielle Stellung, ein erhebliches Vermögen und „allgemeine Verdienstlichkeit“ waren die Kriterien, die zu erbringen waren, um in die Gunst des Titels zu kommen. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde ein Vermögen von 100.000 Talern vorausgesetzt, um die Jahrhundertwende musste ein Titelanwärter schon eine halbe Million aufweisen können.
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Was unter „Verdienstlichkeit“ gemeint war, wussten die Zeitgenossen sehr wohl. Nachzuweisen war der engagierte Einsatz für das öffentliche Wohl, manifestieren ließ er sich in der Mitgliedschaft und Tätigkeit in Verbänden,
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Bürgertum zwischen den Klassen
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in der Übernahme politischer Ehrenämter oder auch in mildtätigen Stiftungen. Und ebenso wie die Vermögensanforderungen gegen Ende des Jahrhunderts zunahmen, wurde auch die Messlatte der „Verdienstlichkeit“ höher gelegt: Seit den 1890er Jahren sticht in den Anträgen auf den Titel ins Auge, dass das Engagement in Stiftungen, Ehrenämter und Wohlfahrtseinrichtungen gehäuft und betont herausgestellt wird. Dass viele Wirtschaftsbürger den Kommerzienratstitel dem Adelstitel vorzogen, zeugt eher von Bürgerstolz als von Adelsnähe. Ein Titel, der dem heiligen Bürgerwert des „Gemeinwohls“ so verpflichtet war, trug unverkennbar bürgerliche Züge. Und nicht zuletzt: Selbst zu großem Wohlstand gekommene Unternehmer des Kaiserreichs zogen sich selten als „Rentiers“, die nur noch von ihrem Vermögen lebten, zurück; die meisten blieben bis an ihr Lebensende in ihrem Unternehmen aktiv. Auch bei der Berufswahl der Unternehmersöhne änderte sich wenig. Nur jeder zehnte schaute sich in Berufsfeldern um, die gemeinhin als „adelig“ galten, wurden Rittergutsbesitzer, Diplomaten oder schlugen die Offizierslaufbahn ein. Sich auf den Lorbeeren der Vorfahren auszuruhen, kam den wenigsten in den Sinn. Dennoch: Seinen Reichtum zu mehren blieb selbstverständlich, ihn auch zu zeigen galt weniger als verpönt. So mancher Wirtschaftsbürger baute sich nun sein Schlösschen vor den Stadttoren. Die Kruppsche Villa Hügel, die an Imposanz adeligen Herrenhäusern in nichts nachstand, war nur ein besonders hervorstechendes Beispiel unter vielen. Auch die bürgerliche Gastlichkeit in den Bürgervillen und -wohnungen wurde formeller und repräsentativer. Die großen Abendgesellschaften hatten nun kaum noch etwas gemein mit den gemütlichen und informellen Stelldicheins von Großfamilie und Hausfreunden. Doch kritiklos ging auch dies nicht vonstatten. Das Bürgertum selbst klagte im stillen Kämmerlein über die horrenden Ausgaben, die „Gartenlaube“ karikierte mit ungewohnt spitzer Feder das Ende „des Thees und der Butterbrote“. Und: Ein weiteres, lang gehaltenes Adelsprivileg strahlte auf bürgerliche Schichten aus. Im Kaiserreich nahmen Teile des Bürgertums Vorlieben an, die zuvor als Domäne des Adels galten. Dass die lang ersehnte Nation durch einen Krieg und damit durch einen militärischen Erfolg errungen worden war, erhöhte das Ansehen des Militärs auch im Bürgertum erheblich. Dies hieß nicht, wie Ute Frevert richtig betont, dass das Militär in bürgerlichen Kreisen nicht auch zuvor schon hoch im Kurs stand; doch der gewonnene Krieg ließ sein Prestige noch um ein Vielfaches anwachsen. Begeistert begrüßte das Bürgertum jede Möglichkeit, zumindest ein Stück weit daran teilzuhaben. Wichtigstes Tor dazu wurde die Institution des „Reserveoffiziers“. Einjährig-Freiwilliger 1813 führte Preußen erstmals die Möglichkeit zum Dienst als „Einjährig-Freiwilliger“ ein. Wie es im Namen schon anklingt, leistete der Einjährig-Freiwillige statt der sonst üblichen zwei oder drei Jahre lediglich ein Jahr seinen Dienst. Da er sich auf eigene Kosten ausrüsten und versorgen musste, war die soziale Rekrutierungsbasis auf die oberen Schichten eingeschränkt. Unabdingbare Voraussetzung war es, dass der Anwärter die mittlere Reife an einem Gymnasium oder einer Realschule vorweisen konnte. Nach Ableistung des Dienstjahres und zwei achtwöchigen Militärübungen wurden die Einjährig-Freiwilligen üblicherweise zu Reserveoffizieren befördert.
Zwischen Abschottung und „Feudalisierung“: Bürgertum und Adel
VIII.
Gerade für Söhne des Bürgertums stellte das Einjährigen-Freiwilligensystem eine attraktive Möglichkeit dar, eine zivile Karriere mit einem militärischen Titel zu krönen. Schließlich verschaffte er seinem Träger ein blendendes Image und verbesserte die Aussichten auf berufliches Fortkommen. Diese Zukunftsinvestition war teuer erkauft und von daher hoch exklusiv: 300 bis 400 Mark monatlich mussten veranschlagt werden, um in die Gunst des Titels zu gelangen. Auch ungewohnter körperlicher Einsatz war gefragt, vor dem viele Bürgersöhne bald kapitulierten. Soldatenleben aus: Heinrich Mann: Der Untertan, 11. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 51 f.
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Im Privatgespräch in der Kantine eröffnete Diederich seinem Vorgesetzten, daß er vom Soldatenleben begeistert sei. ‚Das Aufgehen im großen Ganzen!‘ sagte er. Er wünsche sich nichts auf der Welt, als ganz dabeizubleiben. Und er war aufrichtig – was ihn aber nicht hinderte, daß er am Nachmittag, bei den Übungen ‚im Gelände‘, keinen anderen Wunsch mehr kannte, als sich in den Graben zu legen und nicht mehr vorhanden zu sein. Die Uniform, die ohnedies, aus Rücksichten der Strammheit, zu eng geschnitten war, ward nach dem Essen zum Marterwerkzeug. … Es kam dahin, daß er am Sonntag den alten Herrn eines Korpsbruders aufsuchte, der Geheimer Sanitätsrat war. Er müsse ihn um seinen Beistand bitten, sagte Diederich, rot vor Scham. Er sei begeistert von der Armee, für das große Ganze, und wäre am liebsten ganz dabei geblieben. Man sei da in einem großartigen Bereich, ein Teil der Macht sozusagen, und wisse immer, was man zu tun habe: das sei ein herrliches Gefühl. Aber der Fuß tue nun einmal weh. ‚Man darf es doch nicht so weit kommen lassen, daß er unbrauchbar wird. Schließlich habe ich Mutter und Geschwister zu ernähren.‘ Der Geheimrat untersuchte ihn: ‚Neuteutonia sei’ dein Panier‘, sagte er. ‚Ich kenne zufällig Ihren Oberstabsarzt.‘ Hiervon war Diederich durch seinen Korpsbruder unterrichtet. Er empfahl sich, voll banger Hoffnung.
Das Netzwerk der „alten Herren“ griff wunschgemäß, Heinrich Manns fußkranker Held erhielt Dispens. Erkauft werden musste dies jedoch mit dem Verzicht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit den bürgerlichen Frack mit des „Königs Rock“ vertauschen zu dürfen. Bürgerliche Reserveoffiziere trugen nicht unerheblich dazu bei, das Zivilleben des Kaiserreichs militärisch einzufärben. Betont schneidig und forsch auftretend verlagerten sie viele in der Armee erlernte Umgangsformen in ihren Berufsalltag. Schulinspektoren ließen Lehrer strammstehen, Lehrer ihrerseits traktierten die Schüler im schnarrenden Befehlston. In der Hierarchie der Titel rangierte der Leutnant der Reserve etwa auf Heirats- und Todesanzeigen an der Spitze und stellte selbst die Mitgliedschaft in renommierten wissenschaftlichen Akademien in den Schatten. Über die Institution des Reserveoffiziers fand auch der ursprünglich dem Adel vorbehaltene Ehrenzweikampf Eingang ins Bürgertum. Ihre erste Bekanntschaft mit dem Duellkomment machten Reserveoffiziere bereits vor ihrer Militärzeit. In den studentischen Korporationen, neben dem Gymnasium die zweite wichtige Prägestätte wilhelminischer Bürgersöhne, gehörte der Zweikampf zur Tagesordnung Auf dem Paukboden Mensuren auszufechten und dabei Verletzungen stoisch hinzunehmen, erschien jungen Bürgern als bester Beweis von Mut und Männlichkeit. Auch wenn so mancher
Duell
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Bürgertum zwischen den Klassen
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Ein-Bürgerung adeliger Umgangsformen
zeitgenössische Beobachter sich über die rotverquollenen Narben mokierte und Max Webers Mutter gar ihrem entstellten Filius vor Schreck eine Ohrfeige versetzte, galten den Bürgersöhnen die so genannten „Schmisse“ als Ehrenmale. Schon während des Studiums auf den Zweikampf geeicht, stellten Akademiker neben Offizieren das größte Kontingent in der Duellstatistik des Kaiserreichs. Höhere Beamte, Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer, Rechtsanwälte und Ärzte wetteiferten darum, ihre Ehre oder die ihrer Frau oder Schwestern im Zweikampf zu verteidigen. Dennoch ging es hier nicht darum, wie Ute Frevert nachgewiesen hat, eine adlige Konvention zu imitieren. Sich duellierende Bürger sahen in dieser Form der Ehrverteidigung kein feudales Relikt, das umstandslos in die bürgerliche Lebenswelt überführt werden konnte. Vielmehr besaß der Ehrenkodex einen „spezifischen Eigensinn“, der ihn gerade für Männer aus dem Bildungsbürgertum attraktiv machte. Das Duell, so Ute Frevert, eröffnete „die Möglichkeit, den eigenen, aus einem antiständischen Berufsethos entspringenden Anspruch auf individuelle Integrität glaubhaft zu inszenieren“. Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun, mit Leib und Leben einzustehen für Worte und Handlungen, „dies war der Anspruch, der dem bürgerlichen Persönlichkeitsmodell und seinem Vollkommenheitsstreben eingeschrieben war“. So erklärt sich auch, dass ein so scharfer Kritiker einer „Feudalisierung“ wie Max Weber sich als Duellanhänger offenbarte und 1910, als bald fünfzigjähriger Hochschullehrer, keinen Augenblick zögerte, die Ehre seiner Frau zu verteidigen, nachdem diese, eine Aktivistin der bürgerlichen Frauenbewegung, in einem Zeitungsartikel beleidigt worden war. Nur die Weigerung seines Kontrahenten verhinderte einen Waffengang. Weniger eine „Aristokratisierung“ als eine Ein-Bürgerung adeliger Gepflogenheiten lässt sich im Kaiserreich beobachten. Auf der einen Seite verlor der Adel fraglos sein Feindbildimage und wurde auf vielen Ebenen zum Bündnispartner. Auf der anderen Seite trug die Hinwendung zu gewissen Attitüden und Verhaltensweisen, die ursprünglich im Adel wurzelten oder mit ihm assoziiert wurden, häufig eine bürgerliche Handschrift. Und auch die Begeisterung für die vormalige Adelsdomäne des Militärs erwuchs weniger einer Adelsverehrung, sondern einer Institution, der man das Bürgerziel des Nationalstaates zu verdanken glaubte.
2. Zwischen Abwehr und Wohltätigkeit: Bürgertum und Arbeiter Räume bürgerlichproletarischen Zusammentreffens
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So wie das Bürgertum im Kaiserreich nun Kontakte zum Adel suchte, so wenig konnte es Kontakte zu den Unterschichten verhindern. Das mit im Haushalt lebende „Mädchen für alles“ war allgegenwärtig, die Fabrikarbeiter in den Betrieben zumindest für die Unternehmer unter den Wirtschaftsbürgern unverzichtbar. Darüber hinaus leisteten die in den deutschen Großstädten noch wenig sozial segregierten Wohnquartiere und großen Mietshäuser einem täglichen Zusammentreffen Vorschub. Sehr zum Leidwesen einiger zeitgenössischer Publizisten, die dies als großes Manko geißelten:
Zwischen Abwehr und Wohltätigkeit: Bürgertum und Arbeiter
Klassengesellschaft in „Mietskasernen“ aus: H. Beta: Deutsche und englisches Geschäftsleben, in: Die Gartenlaube 48, 1862.
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Die Berliner hocken in ihren zahllosen ‚Mieths-Kasernen‘ viel zu dicht neben, über und in einander. Alle Stände und Bildungsgrade wohnen ganz dicht zusammen in je demselben Hause. Der Professor, Dichter, Künstler, Geheimrath, General in der ersten Etage muß mit Frau und Kindern die allergemeinsten Schimpfreden und Unfläthereien der Leute im Keller, im Hofe, im Waschhause mit anhören. … Hat der Wirth oder die Wirthin … etwas Ruhe gestiftet, wogegen die unterliegenden Parteien noch lange hinterher protestiren, so kommt natürlich der erste, zweite, dritte bis sechste und siebente Leierkasten und durchschrillt alle Etagen mit der furchtbarsten Fluth von verstimmten Trompeten-Pfeifen. Die Dienstmädchen in den Küchen ziehen ihre Pantoffel aus, tanzen und werfen Dreier, wohl gar Groschen hinunter. Kinder aus dem Hause und von der Straße lärmen und jauchzen drum herum. … In solcher Umgebung arbeitet der Künstler, der Gelehrte, der Kaufmann in seinem Hinterzimmer. Unmittelbar neben ihm in der Wohnung schreien Kinder, poltern, putzen und zerbrechen Dienstboten. Madame und Mutter und Gattin kommt dann und wann ganz entrüstet hereingeflogen und appellirt an den Hausherrn um Geld, Schlichtung, Schiedsgericht. Beide – sonst die besten Menschen – sind giftig, aufgebracht, gehetzt – Beide werden ungerecht gegeneinander und gehen im besten Falle erkältet auseinander.
Fast als hätte der Genremaler Heinrich Zille (1858–1929) hier seinen Pinsel geschwungen, zeichnet der Journalist – fraglos überspitzt – typische Facetten des Großstadtkolorits seiner Zeit. Eine strikte Klassentrennung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft, wie es dem Gartenlaubenkolumnisten vorschwebte, war kaum realisierbar. Vor allem Bürgersöhne und Arbeitersöhne, von den Bürgereltern als „Gassenjungen“ geschmäht, trafen sich zum Spielen im Hinterhof und auf der Straße. Gemeinsam besuchten sie Jahrmärkte, ergötzten sich an Moritatensängern und säumten bei Militärparaden die Straßen. Innerhalb der Kinderhierarchie übernahmen die selbstbewussten und erfahrenen Unterschichtenkinder häufig die Führung und bestimmten den Umgangston. Bürgersöhne zeigten sich fasziniert und akzeptierten sie als Anführer verbotener Unternehmungen. Selbst wenn Bürgereltern diese Fraternisierung zwischen Beletage und Hinterhof wenig goutierten – verhindern konnten sie sie kaum. Doch je älter die Jungen wurden, je mehr sie durch die urbürgerliche Bildungsinstitution des Gymnasiums auch zeitlich eingebunden waren, desto mehr gingen auch die Kinder auf Distanz. „Klassenkämpfe“ im Kleinen, ausgetragen zwischen Gymnasiasten und „Gassenjungen“, klärten die Fronten. So wenig man der Arbeiterschaft im Alltag aus dem Weg gehen konnte oder wollte, so präsent war sie in der bürgerlichen Öffentlichkeit. In zunächst noch malerischen Genreszenen der ersten Jahrhunderthälfte wurde das „einfache“ Leben der Unterschichten idyllisiert, in Mitleid heischenden Kinderbüchern verklärt und nicht zuletzt in der neu aufkommenden Gattung des Sozialromans dramatisiert. In Schwarz-Weiß-Manier wurde darin in zumeist einfach gestrickten Geschichten mit so sprechenden Titeln wie „Schloss und Fabrik“, „Schaurige Bilder“, „Sklaven der Arbeit“ das Elend der Arbeiterschaft gezeichnet, aus dem es Einzelnen mit der Hilfe wohltätiger Bürgerinnen und Bürger gelang, sich durch Fleiß und Bescheidenheit zu befreien.
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Bürgertum zwischen den Klassen
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Louise Otto-Peters, zwei Jahre bevor sie während der 1848er Revolution für die Rechte der Frauen auf die Barrikaden ging, war eine sehr erfolgreiche Vertreterin dieser Gattung, auch wenn ihr die Zensur immer wieder einen dicken Strich durch ihr Manuskript machte. Die Gegenüberstellung zwischen der gütigen Unternehmerstochter Pauline und zwei Fabrikarbeiterinnen war typisch für die Arbeiterbilder in Bürgerköpfen:
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Arbeiterwohnung aus: Louise Otto-Peters: Schloss und Fabrik, Leipzig 1996 (1. Aufl., Zwickau 1846), S. 118 f. Der Druck auf eine verrostete, feuchte Türklinke öffnete die armselige Kammer, in welcher die Frau wohnte, welche man in der Fabrik nicht anders als ‚die große Lise‘ nannte. Auf einem Haufen von verfaulten Moos und Stroh, das ein alter Fetzen von grobem Zeug von vielen Schlitzen und Löchern nur wenig überdeckte, lagen zwei wimmernde Kinder, ein Knabe von etwa zehn und ein Mädchen von sieben Jahren, in einem anderen Winkel hockten noch zwei kleine Mädchen, die etwa fünf und vier Jahre zählen mochten. Alle diese Kinder sahen bleich und abgezehrt aus, und ihre Augen glotzten stumpf und blöde vor sich hin; durch den matten Schein der düster brennenden kleinen Öllampe wenig beleuchtet, ward ihr Ansehen noch unheimlicher, und sie glichen in den schmutzigen Lumpen, in welche sie gehüllt waren, mit den struppigen Haaren, die ungekämmt in die ausdruckslosen Gesichte hereinhingen, eher unheimlichen Kobolden als lebenden Menschenkindern. Ein Tisch, auf welchem das rauchende Öllämpchen unter einigen anderen halb zerbrochenen und berußten irdenen Geräten stand, und daneben zwei alte hölzerne Stühle mit zerschlitztem Leder beschlagen und eine alte Lade, das war der ganze Hausrat einer Familie. Zwei Frauen standen in dieser Stube; die eine war hager, aber von riesenhafter Größe. Sie hatte mit einem bunten Tuch um den Kopf die schwarzen Haare aufgebunden; ihr Gesicht war bleich und starr, aus ihren Augen und dem Zucken um den welken Mund sprach ein verwilderter Ausdruck. Es war die lange Lise, die Mutter dieser vier Kinder. … Pauline [die Unternehmertochter] war nun zwar schon an das Rohe und Abschreckende bei manchen dieser Proletarier gewöhnt, aber sie erschrak doch wieder, als die lange Lise sich rasch nach ihr umdrehte und mit zorniger Stimme heftig fragte: ‚Was gibt’s?‘
sozialpolitische Maßnahmen
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Die Botschaft dieser sentimental getönten Romane war eindeutig: Die Verhältnisse sind zwar bedauerlich, doch dann, und nur dann verbesserungsfähig, wenn sich die Arbeiterschaft dem Bürgertum und seiner Wertewelt annähert. Zeigte sich die Arbeiterschaft strebsam, fleißig und diszipliniert und noch dazu bereit, sich erziehen und bilden zu lassen, stand ihnen der Weg zumindest in die unteren Ränge der bürgerlichen Gesellschaft offen. Sozialpolitische Maßnahmen sollten diesen Weg bahnen. Am Rande der Berliner Gewerbeausstellung erfolgte am 9. Oktober 1844 die Gründung des „Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen“, ein Zusammenschluss von zunächst vierzehn Unternehmern und acht höheren Beamten. Seiner Satzung entsprechend sollte es die Pflicht der dort versammelten Bürger sein, keine kurzfristigen finanziellen Unterstützungen, sondern die langfristige Verbesserung der Arbeitersituation herbeizuführen. Der Berliner Verein, der bald Filiationen vor allem im industrialisierten Rheinland bekam, wurde vornehmlich durch die Gründung von Spar-, Pensions-, Kranken- und Unterstützungskassen sowie in der Fortbildung von Schülern und Lehrlingen
Zwischen Abwehr und Wohltätigkeit: Bürgertum und Arbeiter aktiv. Dank des nicht unerheblichen Jahresbeitrags von 4 Talern blieb der Verein fest in bürgerlicher Hand. Selbst wenn sich einige Radikaldemokraten und Frühsozialisten hineinschlichen und zur Verschleppung der Genehmigung der Statuten führten: Das gemäßigt liberale und durchaus staatsloyale Bildungs- und Besitzbürgertum behielt im Centralverein die Oberhand. Doch klassenharmonisierende Stimmen, wie sie der Centralverein anschlug, waren nur die eine Seite. Vor allem diejenigen Bürger, die sich im Berufsleben direkt mit Arbeitern konfrontiert sahen, schlugen andere, deutlich autoritäre Töne an. Das „Herr-im-Haus“-Prinzip, ein gesamteuropäisch verbreiteter Unternehmensstil, nährte die Vorstellung, viele Unternehmer hätten fast wie absolute Monarchen über ihre Arbeiterschaft geherrscht. Die Unternehmer selbst unterstrichen eher das patriarchalische Element ihres Führungsgebarens, stilisierten sich zum „pater familias“ eines zur Großfamilie verklärten Unternehmens. Mit diesem Bild, das den Fabrikherrn mit dem Hausherrn gleichsetzte, ließ sich das Wirtschaftsbürgertum eng mit dem bürgerlichen Wertekodex verschränken. Bitter nötig war eine solche Imagepolitur allemal. Vor allem während der Weberaufstände in den hungrigen vierziger Jahren hatte sich ein äußerst negativ besetztes Unternehmerbild entwickelt. Jetzt hieß es, dem skrupelosen „Geldsack“ das Bild des verantwortungsvollen und väterlichen Unternehmers entgegenzusetzen. Doch auch dieser Patriarchalismus war ambivalent, Sozialpolitik wurde dabei häufig mit Sozialdisziplinierung verknüpft. Der Schwerindustrielle Alfred Krupp (1812–1882) war nur einer von vielen Wirtschaftsbürgern, der seiner Arbeiterschaft gegenüber wie ein kleiner König auftrat. Er führte, früher als der Staat, Frühformen betrieblicher Sozialpolitik ein, ließ Arbeiterwohnungen, Krankenhäuser, Kindergärten und Sportstätten auf dem Werkgelände bauen und sorgte dafür, dass die Arbeiter gleichsam von der „Wiege bis zur Bahre“ unter seinen Fittichen standen. Damit reagierte er einerseits durchaus auf das verbreitete Arbeiterelend und half es zu lindern. Andererseits führte seine fürsorgliche Belagerung dazu, dass der Arm des Unternehmers auch weit in das Privatleben seiner Arbeiterschaft hineinragte. Diese musste mit harten Sanktionen rechnen, wenn sie sich politisch außerhalb des Krupp genehmen Parteienspektrums engagierte oder „unbotmäßiges“ Verhalten an den Tag legte. Das Gängelband, das viele bürgerliche Unternehmer des 19. Jahrhunderts ihren Arbeitern anlegten, wurde in den Arbeits- und Fabrikordnungen schriftlich fixiert. In Deutschland wurden nach Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes im Jahr 1891 Arbeitsordnungen in Fabriken mit mehr als 20 Arbeitern obligatorisch. Eine Mischung aus patriarchalisch-traditionellen und modernen-innovativen Elementen zeichnete einen Großteil dieser Texte aus. Da wurden Arbeitsbeginn und -ende festgelegt und eine strenge Ahndung mangelnder Pünktlichkeit angedroht, da wurden Verhaltensmaßregeln innerhalb und außerhalb der Fabrik verankert, da wurden die Arbeiter aber auch aufgefordert, eigene Ideen zur Verbesserung der Produktion einzubringen. Ungleich umfangreicher fielen die Pflichten als die Rechte der Arbeiter aus. Diese Arbeitsordnungen regelten nicht nur das Miteinander von Arbeitern und Unternehmer, sie spiegelten darüber hinaus weniger eine wachsende Macht der Unternehmer als vielmehr ihre zunehmende Ohnmacht bei den fast verzweifelten Versuchen wider, die Arbeiter nach
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„Herr-im-HausPrinzip“
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wachsendes Selbstbewusstsein der Arbeiter
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den Maßgaben des bürgerlichen Wertekanons zu „erziehen“. Gewohnheitsrechte hatten sich eingespielt, Klassensolidarität hatte sich in Streiks bewährt. Generell war das Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft gewachsen. Im wilhelminischen Kaiserreich war dies kaum mehr zu übersehen. Auf zwei Gemälden, die im 19. Jahrhundert für Aufsehen sorgten, treten uns Arbeiter sehr unterschiedlich entgegen. Auf der einen Seite das im Zuge des Weberaufstandes entstandene Bild Karl Wilhelm von Hübners von 1844, das ins Innere des Kontors eines Textilkaufmanns führt und dem Bürgertum den Spiegel des hässlichen Kapitalisten vorführte. Dieses auch in der Presse der Zeit verbreitete Zerrbild geriet zum Sinnbild entarteter Bürgerlichkeit, eines wirtschaftsbürgerlichen Gebarens, gegen das der bürgerliche Diskurs zum Rundumschlag ausholte. Der wohlgenährte Verleger auf Hübners Gemälde zeigt sich in Imperatorenpose, vor dem Hintergrund eines prachtvollen Ambientes stützt er sich auf einen Stapel Stoffballen als Inbegriff seiner Macht. Die verzweifelt flehenden, vor Schwäche fast zusammenbrechenden Arbeiter würdigt er keines Blickes. In einigen Städten wurde Hübners Komposition als „lebendes Bild“, einer beliebten Form bürgerlicher Unterhaltung, zu Spendenzwecken in Szene gesetzt. Ganz anders dagegen ein Bild, das gut vier Jahrzehnte später für Furore sorgte. Auf Robert Koehlers überlebensgroßem Gemälde „Der Streik“ von 1886 stehen sich wieder Unternehmer und Arbeiterschaft gegenüber. Doch diesmal erscheint der schmächtig wirkende Unternehmer, der von einer kräftigen-kämpferischen, offenbar zur Gewalt bereiten Arbeiterschaft zur Aussprache gedrängt wird, in der deutlich schwächeren Position. Was zeitgenössische Maler auf die Leinwand brachten, fand auch in zahlreichen Arbeitervereinen, Arbeiterparteien, Gewerkschaften und Genossenschaften seinen Niederschlag. Das Bürgertum verfolgte diese Entwicklung mit Sorge. Auf die „soziale Frage“, wie das Bürgertum die diffuse Gemengelage der aus der Industrialisierung erwachsenen Probleme in und mit der Arbeiterschaft nannte, galt es Antworten zu finden. Diese sahen durchaus vielschichtig aus. Zunächst lag es nahe, dass das Bürgertum eben die Institution für den Verbürgerlichungsprozess wählte, die sich bereits in den eigenen Reihen bewährt hatte. Hatte das Bürgertum den Verein als Forum erkannt, bürgerliche Werte weiterzutragen, so erschien ihm nun diese Kommunikationsform durchaus geeignet, erzieherisch-zivilisierend auch auf die Arbeiterschaft einzuwirken. Dieser Gestus überwog auch in den Arbeiterbildungsvereinen, die seit den 1820er Jahren häufig auf Initiative liberaler, sozial gesonnener Bürger aus der Taufe gehoben worden waren. Bürger blieben hier die führende Minderheit gegenüber der Mehrheit aus Handwerkern und Arbeitern. Hauptzweck dieser Vereine war es, so stand es in den Satzungen, die „sittliche und geistige Bildung“ der Mitglieder zu fördern. Was „Bildung“ hieß, bestimmten die Bürger in der Leitungsriege. Literarische, wissenschaftliche und fachbezogene Vortragsabende, gemeinsames Singen und Turnen, Unterricht in grundlegenden Fertigkeiten und berufliche Fortbildung bestimmten das Vereinsleben. Das hierarchische Gefälle in den Vereinen war evident: Es ging um einen Verbürgerlichungsprozess, in dem die Rollen ungleichgewichtig verteilt waren. Für Bürger waren die Arbeiter „Noch-Nicht-Bürger“, mit fortschreitendem Jahrhundert aber zunehmend nur noch „Nicht-Bürger“.
Zwischen Abwehr und Wohltätigkeit: Bürgertum und Arbeiter
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Häufig aber bewirkten diese Vereine genau das, was die bürgerlichen Erzieher verhindern wollten. Gerade diese zunächst unter bürgerlicher Ägide aktiven Arbeiterbildungsvereine waren es, die sich letztlich zu einem entscheidenden Fundament der Arbeiterbewegung mauserten. Im Zuge der nach 1848 vorangetriebenen Fundamentalpolitisierung distanzierten sich diese Vereine von der bürgerlichen Leitung, Sozialdemokraten rückten an die Spitze. Und das Bürgertum ging mehr und mehr auf Distanz. Die Angst vor der erdrückenden und wütenden Masse der Arbeiterschaft machte sich breit. Zerrbilder von streikenden Arbeitern bevölkerten die Familienzeitschriften. Die Welt der Arbeiter erschien nun in ihrer Andersartigkeit nicht mehr als mitleiderregend, sondern als unheimlich und bedrohlich. Streikwellen begleiteten die Reichsgründungsjahre und zogen die Klassengrenzen zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft sehr scharf. Die „Socialdemokratie“ wurde zum Bürgerschreck. „Socialdemokratie“ – „ein plötzlich auftauchendes Gespenst“ aus: Die Socialdemokratie und die Schule, in: Die Gartenlaube 25, 1878.
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‚So kann es nicht bleiben; es muß etwas gethan werden!‘ In allen Orten und Gegenden, in den verschiedensten Parteien und Classen unseres Vaterlandes war dieser Nothruf seit einiger Zeit das vorherrschende Stichwort des Tages geworden. Immer bestimmter erhob er sich in den Reihen der Conservativen wie der Liberalen, und immer dringender und angstvoller tönte er neuerdings selbst aus jener schwerfälligen Masse sogenannter friedlicher Bürger, die endlich gleichfalls aus ihrer Ruhe aufgescheucht und in Bewegung gerathen waren ob der gemeinsamen Gefahren, mit denen die sogenannte Socialdemokratie die Sicherheit unseres Daseins, das Glück unserer Zukunft bedroht. … Möge einmal der Versuch gemacht und ein socialdemokratischer Agitator herbeigerufen werden, der sein Sprüchlein gut auswendig kann und das erforderliche freche Mundwerk besitzt! Stelle man demselben Leute gegenüber, von denen es feststeht, daß sie eine vorzügliche ‚allgemeine Bildung‘ besitzen – vielleicht aus der Gattung der Universitätsprofessoren oder intelligenten Künstler – und es wird, natürlich immer mit Ausnahme Einzelner, jene traurige Hülflosigkeit alsbald zu Tage kommen. … Dem Auge des Bürgers erscheint die Socialdemokratie wie ein plötzlich auftauchendes Gespenst, wie etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes, das zum ersten Male die Hand nach seinen wohlerworbenen Gütern ausstreckt. … Die Nothwehr, von der wir sprechen, ist vielmehr ein entschlossenes, thatkräftiges Auftreten des Bürgerthums, jener großen Mittelclasse, welche in hervorragender Weise den modernen Staat auf ihrem breiten Rücken trägt. Von dem Augenblicke an, wo unser noch gesundes und kräftiges Bürgerthum in den Kampf eintritt, steht eine Gewalt auf, vor deren Uebermacht diejenige des Socialdemokratismus weichen muß.
Nur mit der entwaffnend wirkenden „allgemeinen Bildung“ des Bürgertums, so die hier artikulierte Hoffnung, könne man die Sozialdemokraten in ihre Schranken weisen. Denn von Seiten der Arbeitsbewegung, so der Chor von Bürgerstimmen unterschiedlicher politischer Couleur, lauerte die Gefahr. Ihr zu begegnen war auch das Ziel der 180 Männer aus dem Wirtschaftsund Bildungsbürgertum, darunter 23 Universitätsprofessoren, die im Sommer 1872 zusammenkamen, um einen Aufruf zur einer „privaten Besprechung“ der sozialen Fragen am 6./7. Oktober in Eisenach zu verfassen. Dieses Treffen geriet gleichsam zur Keimzelle des späteren „Vereins für Socialpolitik“.
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„Verein für Socialpolitik“ Der „Verein für Socialpolitik“ wurde im Jahr 1873 gegründet. Seine Ziele richteten sich einerseits gegen die Politik des Laissez-faire in der Sozialpolitik und andererseits gegen die sozialrevolutionären Ideen des aufkommenden Sozialismus. Die Gründer des Vereins, für die sich bald die Bezeichnung „Kathedersozialisten" einbürgerte, wollten nach den Worten des langjährigen Vorsitzenden Gustav Schmoller (1890–1917) „auf der Grundlage der bestehenden Ordnung die unteren Klassen soweit heben, bilden und versöhnen, dass sie in Harmonie und Frieden sich in den Organismus einfügen“. Entwickelt wurden diese Ideen in den „Schriften des Vereins für Socialpolitik“, in denen bekannte Vertreter aus Wirtschaft, Politik und Kultur veröffentlichten.
Als in der Phase der Hochindustrialisierung Vertreter des Wirtschaftsbürgertums das Ruder in die Hand nahmen und damit, wie einige Bildungsbürger argwöhnten, vor allem ihren eigenen Interessen frönten, wurde deutlich, dass die verschärfte Klassengrenze auch innerbürgerliche Grenzlinien vertiefte. Bei allen Annäherungen zwischen den beiden Fraktionen des Bürgertums, die sich im Kaiserreich abzeichneten: In der Beantwortung der „sozialen Frage“ schieden sich die Bürgergeister. Die „Gebildeten“, wie es der linksliberale Volkswirtschaftslehrer Lujo Brentano in einem Vortrag von 1890 im Leipziger Verein deutscher Studenten beschwor, wären besonders prädestiniert, „fern von den streitenden Interessen“ als Vermittler zwischen Kapital und Arbeit aufzutreten. In der Tat rekrutierten sich die Träger der Sozialreform nun primär aus dem Bildungsbürgertum. Um der Selbstverpflichtung zu neutralem und regulierendem Eingreifen nachkommen zu können, war ein wesentlicher Aspekt ihrer Arbeit, sich durch Enqueten und Fallstudien ein Bild der herrschenden Umstände in der Arbeiterschaft zu verschaffen. Volkswirte starteten Umfragen unter Dienstmädchen und Hausfrauen, Soziologen beschäftigten sich mit der Lage der Landarbeiter, Pfarrer schmuggelten sich als Arbeiter in Betriebe ein.
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Rollentausch: Bürger als Fabrikarbeiter aus: Paul Göhre: Drei Monate Frabrikarbeiter und Handwerksmeister. Eine praktische Studie, Leipzig 1906 (1. Aufl. 1891), S. 1 f. Anfang Juni des vorigen Jahres hängte ich meinen Kandidatenrock an den Nagel und wurde Fabrikarbeiter. … Hier in Chemnitz, dem Mittelpunkte der ausgedehnten sächsischen Großindustrie, habe ich fast drei Monate unerkannt als einfacher Fabrikarbeiter und beinahe ohne jeden Verkehr mit meinesgleichen gelebt, habe in einer großen Maschinenfabrik mit den Leuten täglich elf Stunden gearbeitet, mit ihnen gegessen und getrunken, als einer der ihrigen unter ihnen gewohnt, die Abende mit ihnen verbracht, mich die Sonntage mit ihnen vergnügt und so ein reiches Material zur Beurteilung der Arbeiterverhältnisse gesammelt. … Seit Jahren für das Studium der sozialen Frage … erwärmt, war es vor allem eines, das mich bisher einen klaren Blick, ein sichres Urteil, einen festen Haltepunkt zu gewinnen immer wieder verhinderte: die zu geringe Kenntnis der Wirklichkeit, der tatsächlichen Lage derer, um derentwillen wir eine soziale, eine Arbeiterfrage haben. Zwar gibt es eine reiche Literatur. Aber wer verbürgte mir die Richtigkeit der gegebenen Darstellungen? Wo ist die Wahrheit? Bei dem Optimisten, der die Lage der Arbeiter als durchaus nicht so erbarmungswürdig schildert, oder bei dem Pessimisten, der alles Schwarz in Schwarz sieht und die Zukunft nur als Revolution? In den sozialdemokratischen Schriften, die, so scharf und bedeutungsvoll
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Der „neue Mittelstand“: Bürgertum und Angestellte
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ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen auch ist, doch für nichts weniger als unparteiisch und sachlich gelten und, fast alle Agitationsschriften, jedenfalls wissenschaftlichen Wert nicht beanspruchen können? In den weniger zahlreichen Äußerungen von Arbeitgebern, die in dieser Angelegenheit ebenso Partei sind wie die Arbeiter selbst?
Allen ging es darum, ungeachtet der emotionalen Grundierung vieler Berichte, eine Diskussionsplattform für eine wissenschaftlich fundierte Sozialpolitik und damit die Grundlage der Sozialgesetzgebung zu schaffen. Neben der institutionalisierten Sozialpolitik gab es bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts vielfältige Formen privat organisierter, vornehmlich vom Bürgertum getragener Wohltätigkeit. Diese vermochte die eingeschränkte und bald überforderte kirchliche und kommunale Sozialfürsorge nicht zu ersetzen, wohl aber merklich zu entlasten. Wie bunt und reichhaltig die vorwiegend lokal verankerten Hilfsvereine gegen Ende des Jahrhunderts waren, zeigt eine zeitgenössische Aufstellung für Berlin von 1894: Allein 38 verschiedene Vereine zur Fürsorge für Kranke und Arme im allgemeinen, 23 Erziehungs- und Ausbildungsvereine für Kinder und Jugendliche, 6 für Erwachsene und schließlich noch 36 Vereine für diverse gemeinnützige Zwecke waren dort verzeichnet. Die Ziele solcher Gründungen waren vielschichtig. Liest man die häufig programmatischen Satzungen, ging es um die Linderung sozialer Not, die „Hebung“ der unteren Volksschichten durch Beratung und Aufklärung, um materielle Zuwendungen, um konkrete Bildung. Eine zentrale Rolle übernahmen Bürgerinnen in dieser Privatwohltätigkeit. Von den 38 Berliner Vereinen allein waren mindestens 24 reine Frauenvereine. Da viele der Aktivitäten der Privatorganisationen sich direkt an die Familien richteten, gleichsam von Bürgerin zu Arbeiterin und damit von Frau zu Frau bürgerliche Werte vermittelt wurden, galt dieses öffentliche Wirken durchaus dem herrschenden Weiblichkeitsideal konform. Bürgerstimmen, die die Überheblichkeit der oktroyierten Wohltätigkeit durchschauten und die Vorstellung bürgerlicher Überlegenheit gegenüber der mangelnden Zivilität der Arbeiterschaft hinterfragten, ließen sich eher selten vernehmen. Anstoß daran, dass in vielen dieser Aktivitäten der bürgerliche Wertekanon geradezu apodiktisch vertreten wurde und damit Kernelemente des bürgerlichen Programms wie Toleranz und Anerkennung des anderen in Vergessenheit gerieten, nahmen wenige.
3. Der „neue Mittelstand“: Bürgertum und Angestellte Am Ende des 19. Jahrhunderts sah sich das Bürgertum mit einer „neuen“, mit rund 2,4 Prozent Bevölkerungsanteil eher kleinen „Mittelschicht“ konfrontiert, die sich ihrerseits dezidiert von der Arbeiterschaft absetzte und bürgerliche Ambitionen hegte. Alltägliche Berufserfahrungen nährten diesen Wunsch nach Annäherung. In vielem ähnelten die Tätigkeiten der jetzt aufkommenden Angestelltenschaft dem Zuschnitt bürgerlicher Professio-
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VIII. Angestellte zwischen den Klassen
5 Gründe für einen besonderen Angestelltenstatus
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nen: Vorwiegend waren sie in kaufmännischen, verwaltungsmäßigen, arbeitsvorbereitenden, kontrollierenden und koordinierenden Funktionen zu finden. Ähnlich wie die meisten Bürger arbeiteten sie nicht körperlich, sondern außerhalb der Produktionsstätten, in speziellen Büros, in Handelsunternehmungen, Banken und in der Verwaltung. Gegenüber der Arbeiterschaft konnten sie eine Reihe von Privilegien für sich in Anspruch nehmen: Sie erhielten in der Regel anstelle des häufig leistungsabhängigen Lohns ein festes Gehalt, was ihren Verdienst auf der Basis längerer Zeitperioden berechenbarer und sie generell weniger abhängig von Marktschwankungen machte. Nicht selten waren sie am Gewinn des Unternehmens durch Prämienzahlungen direkt beteiligt. Ihr Arbeitsalltag war deutlich kürzer und unterstand nicht der Stechuhr, auch ein Recht auf Urlaub wurde üblich. Größere Aufstiegschancen und eine höhere Arbeitsplatzsicherheit erhöhten überdies die Attraktivität der Angestelltenstellung. All diese Vorteile, die die Angestellten gegenüber der Arbeiterschaft auszeichneten, erhöhten ihr Selbstwertgefühl. Ein eigenes Angestelltenbewusstsein bildete sich heraus. Die „Kragenlinie“ (Jürgen Kocka) markierte auch nach außen den Kontrast: Angestellte, meist in sauberer Umgebung tätig, trugen wie die Unternehmer weiße Hemden im Unterschied zu den blauen Kragen der Arbeitsblusen der Arbeiterschaft. Ein Blick in zeitgenössische Kontore hätte nicht auf Anhieb verraten, wer der Arbeitgeber, wer der Angestellte war. Häufig im direkten Kontakt mit den Unternehmern, für die gerade die frühen Angestellten primär tätig waren, erhielten sie den Eindruck, ein Stück weit an deren Macht zu partizipieren. Fast auf Augenhöhe wussten sie um das Vertrauen ihrer Arbeitgeber, unbedingte Loyalität war die erwartete Gegenleistung. Diese Treue zum Arbeitgeber wurde durch die lange übliche Bezeichnung „Privatbeamter“ noch akzentuiert. Wie die Staatsdiener sich die Interessen des Staates zu eigen machen sollten, hatten auch die Privatbeamten sich dem Unternehmen zu verpflichten. Zumindest in den höheren Rängen der Angestelltenhierarchie waren Qualifikationen gefragt, die die mentale Nähe zur Beamtenschaft weiter forcierte. Bereits seit den 1820er Jahren zeichnete sich im deutschen Reich der Ausbau eines staatlichen gewerblich-technischen Schulwesens ab. Realgymnasien, Oberrealschulen und Realschulen kamen als alternative Ausbildungsstätten zum Gymnasium dazu. Die Angestellten selbst, unabhängig davon, ob sie eine dieser Bildungsstätten durchlaufen hatten, stilisierten ihre Tätigkeit bewusst als „geistig“, im Kontrast zur „körperlichen“ Arbeit der Lohnarbeiterschaft. Warum zeigten sich das Bürgertum und namentlich das Wirtschaftsbürgertum so interessiert daran, den Angestellten einen Sonderstatus gegenüber der Arbeiterschaft zu gewährleisten? Mindestens fünf Gründe sprachen dafür, diese kleine, doch wachsende Schar von Arbeitnehmern zu hofieren: Zum einen waren Angestellte und ihr spezialisiertes Know-How aufgrund der veränderten strukturellen Bedingungen der Unternehmensleitung gefragt. Die Doppelfunktion der kapitalistischen Unternehmen, einerseits Güter herzustellen und andererseits sie auf dem Markt zu veräußern, machte es nötig, zwischen einer technischen und einer kaufmännischen Abteilung zu differenzieren. Eine zunehmende Verschriftlichung der Unternehmensabläufe und -kommunikationen und generell anwachsende Verwaltungsauf-
Der „neue Mittelstand“: Bürgertum und Angestellte gaben öffneten Berufsfelder, die die Unternehmensleitung an kompetente Angestellte delegieren konnte und wollte. Zum zweiten beseelte die Unternehmer die berechtigte Hoffnung, dass der privilegierte Sonderstatus der Angestellten ihre Bereitschaft erhöhte, lange und treu dem Unternehmer die Stange zu halten. Ein fester Angestelltenstamm konnte in Zeiten einer zunehmend mobilen Arbeiterschaft zur Sicherung des Unternehmens und zur Hebung des Betriebsklimas erheblich beitragen. So etwas wie, modern gesprochen, eine corporate identity glaubte man vor allem in dem Kreis der Privatbeamten erzeugen zu können. Schließlich waren die Angestellten häufig Träger von Betriebsgeheimnissen, die eine auch emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber opportun machte. Zum dritten waren die Angestelltentätigkeiten in der ersten Phase ihrer Entstehung noch nicht in ein Kollektiv eingebunden. Jeder Angestellte war für seinen ureigenen Bereich zuständig, was ihn einerseits schwerer ersetzbar machte, ihm andererseits aber auch die Entwicklung und Durchsetzung von kollektiven Interessen erschwerte. Angestellte waren lange deutlich weniger politisiert als die Arbeiter, zeigten entsprechend weniger Protestpotenzial. Zum vierten vertraten die Privatbeamten durch ihre bessere Schulbildung, ihren Familienhintergrund und ihre Umgangsformen das Unternehmen gegenüber etablierten Kunden adäquat nach außen, waren auch sozial akzeptabel, konnten mal zu einem Geschäftsessen mitgenommen oder selbstständig zu Verhandlungen geschickt werden. Die Prokuristen, wie es die Begriffsgeschichte (italienisch „prokura“: Vollmacht) schon sagte, waren auserkoren, von Zeit zu Zeit für die Belange des Unternehmens „Sorge zu tragen“, den Unternehmer zu vertreten. Last but not least erhoffte man sich von der Angestelltenschaft auch eine Pufferfunktion zwischen den Klassen. Gleichsam als Scharnier zwischen Unternehmer und Arbeitern sollten die Privatbeamten vermitteln, sollten Brücken bilden, um die immer sperrigere Kommunikation zu erleichtern. Als jedoch gegen Ende des Jahrhunderts die Schar der Angestellten immer mehr wuchs, auch ihre Arbeitsabläufe zunehmend schematisiert und damit kontrollierbar wurden, wuchs die Gefahr, den diversen Vorteilen verlustig zu gehen. Doch je mehr sich nicht nur die Arbeitsverhältnisse, sondern vor allem auch die ökonomische Situation vieler unterer und mittlerer Angestellter an die Situation der besser gestellten Arbeiter annäherte, desto vehementer pochten die Angestellten auf ihre überkommenen Privilegien. Um diese zu wahren, gründeten sie 1881 den „Deutschen Privat-Beamten Verein“. Als Höhepunkt ihrer Bemühungen um den Statuserhalt konnten sie 1911 ein ureigenes „Angestelltenversicherungsgesetz“ (AVG) erkämpfen. Wirtschaftliche Veränderungen seit den 1870er Jahren im Verein mit einer Ausdehnung des tertiären Sektors brachten vermehrten Bedarf an kaufmännischen Arbeitskräften. Es war schon eine äußerst heterogene Gruppe gewesen, die sich am Jahrhundertende auf die Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft begab. Spätestens seit der Jahrhundertwende kam jetzt noch ein wachsendes Heer von weiblichen Angestellten hinzu. Galten die männlichen Angestellten der ersten Stunden als loyale Stützen der Unternehmer, wurden der weiblichen Angestelltenschaft vornehmlich die schematisierten Arbeiten des Kopierens, Registrierens und Postablegens überlassen. Bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, die Einführung der
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weibliche Angestellte
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Bürgertum zwischen den Klassen
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Angestelltenkultur
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Schreibmaschine für die vermeintlich besonders fingerfertigen Frauen tat ihr Übriges, zeichnete sich eine Feminisierung des Kontors ab. Hatte die Berufsstatistik von 1907 noch 55.100 weibliche Angestellte verzeichnet, war ihre Zahl 1916 bereits auf das Dreifache gestiegen. Mit einem Sturm der Entrüstung reagierte zunächst die männliche Angestelltenschaft auf die weibliche Konkurrenz. Doch schon bald merkte man, dass man hier mit Kanonen auf Spatzen schoss: Da die Frauen in Angestelltenpositionen vornehmlich auf den niederen, wenig attraktiven Stellungen unterkamen, blieben die besseren Posten für die Männer frei und verhinderten eine weitere Proletarisierung. Auch das Bürgertum verstand die anschwellende Masse der Sekretärinnen, Verkäuferinnen und Telefonistinnen kaum als Konkurrentinnen auf einem sich ausdehnenden weiblichen Arbeitsmarkt. Den bevölkerten in der Regel nicht die Töchter des Bildungsund Wirtschaftsbürgertums, sondern junge Frauen aus dem Handwerker-, Kleinhandel- und niedrigen Beamtenmilieu, also eher Angehörige des Kleinbürgertums, das das Bürgertum schon in seiner Konstituierungsphase nicht mehr zu seinesgleichen gezählt hatte. Zwar nahm, zumindest in der zeitgenössischen Wahrnehmung, die Quote der unverheiratet bleibenden Frauen im Bürgertum in den Augen der Zeitgenossen erschreckende Formen an, geriet gar zu einer drängenden „Frauenfrage“, so dass eine grundsätzliche Ablehnung weiblicher Erwerbstätigkeit auch in bürgerlichen Kreisen nicht mehr opportun schien. Doch die jungen Bürgerinnen, die den „heiligen Stand der Ehe“ mehr oder minder freiwillig verschmähten, besuchten eher die jetzt verbreiteten Lehrerinnenseminare und dann, mit der Studienzulassung für Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch die Universitäten, um sich auf einen akademischen Beruf vorzubereiten. Die „Tippmamsells“, „Ladenmädchen“ und „Fräulein vom Amt“ irritierten das Bürgertum eher durch ein öffentlich zur Schau gestelltes neues Frauenbild. Wenn auch mit beschränkten materiellen Mitteln ausgestattet, konnten sie, auch ohne den Mann an ihrer Seite, auf eigenen Füßen stehen und selbstständig und selbstbewusst als Konsumentin auftreten. Und das taten sie. Vor allem auf ihr Konto ging die Herausbildung einer besonderen Form einer Angestelltenkultur, die das Bürgertum als Bedrohung seiner Hochkultur mit Argusaugen verfolgte. Weibliche Angestellte wurden zum Sinnbild aller Schrecken der kaum mehr zu bändigenden Moderne. Sie verkörperten den vom Bürgertum verachteten Massenkonsum, sie wurden zu Negativheldinnen der anonymen, der Unmoral anheimfallenden Großstadt. In den Kaufhäusern, deren verlockende Form der Warenpräsentation schon am Jahrhundertende wortreich dämonisiert worden war, stießen dann die jungen Verkäuferinnen als willfährige Handlangerinnen des Warenhausbesitzers auf unschuldige Bürgerfrauen, verführten sie zu unschicklichem, unmäßigem Konsum, im schlimmsten Falle gar zur „Stehlsucht“. Nicht nur unter Medizinern wurde europaweit die Kleptomanie zum Thema, wobei die nicht selten bürgerlichen Täterinnen aller Schuld enthoben wurden, unterlagen sie doch lediglich den unlauteren Verführungskünsten der Verkäuferinnen. Diese verkörperten nicht nur hinter der Ladentheke einen neuen, gänzlich unbürgerlichen Habitus, der vom Bürgertum als extrovertiert, dem Weiblichkeitsideal zuwiderlaufend gegeißelt wurde. Die weiblichen Ange-
Der „neue Mittelstand“: Bürgertum und Angestellte
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stellten trugen nicht nur die Röcke und Haare kürzer, schminkten sich greller und bevölkerten öffentliche Räume wie Cafés und Tanzsäle, in die sich Bürgertöchter ohne männliche Begleitung nicht wagen durften. Diese jungen Frauen, so lautete die immer wiederkehrende Klage, nutzten ihre Freizeit und die dabei verausgabten Mittel nicht zur Selbst- und Weiterbildung, sondern lediglich für kurzlebige Vergnügungen. Gerade weil diese neuen, kleinbürgerlichen Schichten so demonstrativ konsumierten, sich so stark über die Auswahl ihrer Konsumgüter und die Performanz ihrer Konsummuster definierten, forderten sie das Bürgertum heraus. Nicht zuletzt auch durch die Wahl ihrer beliebtesten Freizeitbeschäftigung, die den bürgerlichen Ansprüchen widerstrebte. „Kleine Ladenmädchen“, wie Siegfried Kracauer 1928 in einer Artikelserie in der „Frankfurter Zeitung“ schrieb, gingen „ins Kino“, Bürgertöchter dagegen weiterhin ins Theater, Konzert und in die Oper. Das „Kino“, von den Zeitgenossen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ureigenes Metier der Angestelltenschaft betrachtet, förderte, so bürgerliche Kritiker, lediglich den oberflächlichen Zuschauer, nicht den bildungsbeflissenen Bürger. Bürgerliche Kino-Aversion aus: Hans Siemsen: Die Filmerei, in: Die Weltbühne, 27. Januar 1921, Nr. 4, 17. Jg., S. 101.
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Vor etwa neun oder zehn Jahren … schrieb ich meinen ersten Aufsatz übers Kino. Kein Mensch schrieb damals übers Kino, wenigstens kein ernst zu nehmender Mensch. Wenn ein neuer Film von Asta Nielsen herauskam, so nannte man das nicht ‚Premiere‘, weder Kaiser Wilhelm noch der Kronprinz waren zugegen, und auch der Kultusminister hielt sich fern. … Unter ‚Gebildeten‘ galt es nicht für fein. Man ging ‚wohl mal‘, aber am liebsten im Dunkeln hin und sprach im übrigen nicht davon. Und die reformerischen Kreise, die sich mit der ‚Veredlung‘ des Kinos zu beschäftigen grade anfingen (es waren so etwa die Dürer-Bünde und Goethe-Gesellschaften), kamen zu einem ganz negativen Resultat. Sie hoben die Hände gen Himmel und jammerten über die Verderbtheit der Welt und die gute alte Zeit, wo es keine Kinos gegeben, sie sahen im Film ein Kind des Teufels oder einen unverbesserlichen Feind der Kultur, und ihre Veredlung bestand darin, daß sie nach der Zensur riefen.
Ähnlich wie die Bilderorgien der höfischen Zeremonien des Adels des 17. und 18. Jahrhunderts oder die bunten Jahrmarktsspektakel der Unterschichten des 19. Jahrhunderts erschienen die leinwandgebannten Angestellten als Träger einer illiteraten und visuellen und damit in bürgerlichen Augen minderwertigen Kultur. Zugänglich für jedermann wurde der Plot der Filme, an denen sie sich delektierten, als allzu simpel verurteilt, rief er doch nicht, wie seriöse Romanciers, das Bedürfnis einer intensiven Selbstreflexion hervor, mit dem das Bürgertum sein zeitweises Eintauchen in fiktionale Welten legitimierte. Hier, dies machen die kinofeindlichen Diskurse deutlich, sah man die bürgerliche Hochkultur zur Disposition gestellt. In den Bürgerdiskursen über den Film spürt man das Ringen um die exklusive Kulturhoheit. Die Angst vor einer Massenkultur, verkörpert durch die Angestelltenschaft, war unüberhörbar.
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IX. Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen Es gehört zu den Eigenarten von Bürgertum und Bürgerlichkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, sich zu suchen und vor allem auch immer wieder sich selbst in Zweifel zu ziehen. Dafür schuf es Foren, dafür hielt es Argumentationsarsenale bereit. Das Bürgertum erzeugte sich seine Bürgerkritik gleich mit. Und diese schwoll, so janusköpfig wie das Bürgertum in vielerlei Hinsicht auftrat, gegen Ende des Jahrhunderts immer mehr an. Einem Bürgertum, das sich jetzt wieder exklusiver gab, Toleranz eher kleinschrieb und pervertierte Ideologien in die Welt brachte, musste sich jetzt aus den eigenen Reihen, von den Töchtern, Söhnen und jüdischen Klassengenossen an das utopische Programm der bürgerlichen Gesellschaft erinnern lassen. Und die Reaktionen waren sehr unterschiedlich: Erschrocken zeigte man sich über die Töchter, gelassen betrachtete man die Alternativsuche der Söhne, verbissen reagierte man auf die jüdischen Mitbürger mit einem immer schärferen Antisemitismus.
1. Rebellische Töchter: Bürgerliche Frauenbewegung
bürgerliche Frauenvereine
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Kritik aus den eigenen Reihen kam in der zweiten Jahrhunderthälfte zunächst von einer am wenigsten erwarteten Seite: Die Töchter des Bürgertums, zu guten und genügsamen Hausfrauen, Ehefrauen und Müttern erzogen, probten den Aufstand. Schon im Zuge der Revolution von 1848 hatten einige für mehr Bildung und Rechte ihre Stimme erhoben. Erste Frauenvereine wurden ins Leben gerufen, erste Frauenzeitungen folgten auf dem Fuße. Doch breite Resonanz ernteten diese Bürgerfrauen erst wirklich seit den 1860er Jahren. Dabei machten die kämpferischen Bürgerinnen nicht mehr, aber auch nicht weniger, als das vollmundige Programm der bürgerlichen Gesellschaft, das Chancengleichheit versprach und alte Ungerechtigkeiten aus der Welt schaffen wollte, beim Wort zu nehmen. Als große Teile des Bürgertums die hehren Ideale aus den Augen zu verlieren schienen, posaunten ihre Töchter, Tanten und Schwestern sie lautstark wieder heraus. Es entbehrt nicht der Ironie, dass es gerade die Töchter des Bürgertums waren, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts gegen den Lebensentwurf ihrer Mütter und Großmütter wandten und die bürgerliche Utopie auch für sich einklagten. Einmal mehr erwies sich hier die Janusköpfigkeit des Bürgertums, das gleichzeitig einerseits als Bewahrer des alten Frauenideals auftrat, andererseits aber auch Foren und Argumente schuf, mit denen es hinterfragt werden konnte. 1865 konstituierte sich in Leipzig unter dem Vorsitz von Louise Otto-Peters (1819–1895) der „Allgemeine Deutsche Frauenverein“ (ADF). Sie und ihre Mitstreiterinnen griffen jetzt ihr ursprüngliches, bereits im Zuge der Revolution formuliertes Ziel nach Bildungs- und Erwerbsberechtigung für bürgerliche Frauen erneut auf. Wohlweislich wahrten sie, nachdem ihnen die
Rebellische Töchter: Bürgerliche Frauenbewegung
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Nähe zur demokratisch-liberalen Bewegung 1848/49 den Garaus gemacht hatte, Distanz zu politischen Parteien und Verbänden. Noch galt das für Frauen restriktive Vereinsgesetz, das Frauen die Teilnahme an politischen Vereinen und Versammlungen bei Strafe untersagte. Doch ihre Nähe zu liberalen Positionen war ein offenes Geheimnis und bestimmte ihre Stoßrichtung. Ziel des Leipziger Vereins war es, Frauen geistig weiterzubilden und ihnen das Recht auf einen Beruf zu erstreiten. In den ersten Versammlungen stand die Situation der „proletarischen Schwestern“ auf dem Programm, eher beiläufig kam die Forderung nach einer höheren Schulbildung, die Zulassung zum Universitätsstudium und zu akademischen Berufen aufs Tapet. Ohne dass die Bürgerfrauen es explizit aussprachen: Offensichtlich bedienten sie sich einer nicht ungeschickten Strategie, indem sie die „soziale Frage“, das brisante Thema der Zeit, zur Hauptaufgabe erklärten. Im Gegenzug für ihren Einsatz für den Erhalt der Bürgergesellschaft forderten sie gleiche Rechte wie ihre Brüder und Männer. Der ADF blieb nicht allein. 1869 schlossen sich 17 Frauenvereine aus Berlin, Braunschweig, Bremen, Breslau, Kassel, Karlsruhe, Darmstadt, Hamburg, Mainz und Rostock zu einem „Verband deutscher Frauenbildungsund Erwerbsvereine“ zusammen. Die Initiative war von Seiten des seit 1866 in Berlin bestehenden „Vereins zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ ausgegangen, der nach seinem Gründer und Vorsitzenden „Lette-Verein“ genannt wurde. Der Jurist und Sozialpolitiker Wilhelm Adolf Lette (1799–1868), zeitweilig auch Präsident des „Zentralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“, hatte 1865 eine Denkschrift „Über die Erwerbsquellen für das weibliche Geschlecht“ verfasst, die für viel Aufruhr gesorgt hatte. Unter dem Protektorat der preußischen Kronprinzessin gründete er bald darauf einen Verein, dem sofort 300 Frauen und Männer „der intelligentesten Gesellschaftsklassen Berlins“ beitraten. Die Stellenvermittlung, die der Verein ins Leben rief, war ausschließlich bürgerlichen Frauen vorbehalten. Die Schülerinnenzahlen, die die Handels-, Gewerbe- und Zeichenschulen des Lette-Vereins besuchten, stiegen von gerade einmal 28 im Jahr 1866 auf immerhin 1.043 im Jahr 1878. Vor allem Töchter von Beamten, Lehrern, Pastoren und Kaufleuten bereiteten sich hier auf eine bislang für Bürgerinnen verpönte Berufstätigkeit vor. Warum der Lette-Verein und sein Vormarsch für weibliche Berufstätigkeit jetzt auf ein so großes Echo stießen, lässt sich unter anderem mit der veränderten Struktur der bürgerlichen Haushalte erklären. Ende des 19. Jahrhunderts hatten sie sich zu reinen Konsumsphären entwickelt. Waren kamen großenteils gebrauchsfertig ins Haus, so dass zwar noch genügend für Hausfrau und Dienstmädchen zu tun blieb, aber kaum für ganze Töchterscharen oder gar noch unverheiratete Schwestern, Cousinen oder Schwägerinnen. Sie mit durchzuziehen, wollten und konnten sich viele Bürgerfamilien schlichtweg nicht mehr leisten. Überdies stieg durch verlängerte Ausbildungszeiten der Bürgersöhne das Heiratsalter weiter an, was auch die unproduktive Wartezeit der Töchter noch mehr in die Länge zog. Die Bürgertöchter selbst, die verunglimpften „alten Jungfern“ in Gestalt mancher Tanten vor Augen, hatten dank einer besseren Schulbildung und ersten vorbildhaften Vorkämpferinnen ambitiösere Zukunftsansprüche.
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Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen
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Erwerbsmöglichkeiten für Bürgerinnen
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Unter den Bürgertöchtern gärte es, zur ersten Eruption kam es, als Jenny Hirsch, eine Nachfolgerin Lettes, John Stuart Mills „The Subjection of Women“ ins Deutsche übersetzte und einer breiten bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich machte. Fast einem Erdbeben gleich, so erinnert sich die Frauenrechtlerin Helene Lange (1848–1930), brach sich damit eine prinzipielle Erörterung der Stellung der Frau im neu gegründeten Kaiserreich Bahn. Doch auch die gegnerischen Stimmen waren nicht gerade leise. Durchaus anerkannte Ärzte griffen zu Zollstock und Waage, um das geringere Hirngewicht von Frauen gegen ihre bessere Ausbildung ins Feld zu führen, Pädagogen sahen die Mutterpflichten vernachlässigt, Theologen die Familie in Gefahr. Doch dem Chor antifeministischer Stimmen boten resolute Feministinnen Contra. Hedwig Dohm (1831–1919), die kämpferische Großmutter von Katia Mann, gab eine Reihe von ebenso scharfsinnigen wie spitzzüngigen Gegenpamphleten heraus, die die Argumente der bürgerlichen Männerwelt der Lächerlichkeit preisgaben. „Von der Weisheit, die das simpelste Knabenhirn nicht sprengt, wird auch ein Mädchenkopf nicht aus den Fugen gehen“, konterte sie auf die Gegner der verbesserten Mädchenbildung. Ihre Mitkämpferinnen dankten mit donnerndem Applaus. Erste Erfolge stellen sich ein: Nach und nach wurde es nun auch für Bürgertöchter üblicher, zumindest zeitweise einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Weitgehend akzeptiert war zunächst der Lehrerinnenberuf, 1896 gab es in Preußen immerhin 14.600 fest angestellte Lehrerinnen, von denen 10.000 an Volksschulen, die anderen an privaten und öffentlichen höheren Schulen – dann zumeist als Handarbeits- oder Musiklehrerin – unterrichteten. Ausgebildet wurden sie auf besonderen Lehrerinnenseminaren, nachdem sie die zehnklassige höhere Töchterschule besucht hatten. Seit den 1860er Jahren konnten diese nun endlich einen verbindlichen Lehrplan vorweisen, doch langfristig blieb das Fundament, das dort vermittelt wurde, wenig befriedigend. Frauenbewegte Zeitgenossinnen wie Gertrud Bäumer lästerten über drei Lehrerinnentypen – das arme Fräulein mit ein paar Töchterschulkenntnissen, die Anstandsdame, die mit Vorsicht zum Unterrichten herangelassen wurde, und die derbe, harmlose Spieltante mit urwüchsigem Muttertalent – der die Schülerschar ausgeliefert wäre. Frauen, die selber die „Ausbildung“ durchlaufen hatten, die Oldenburger Kaufmannstochter Helene Lange gehörte dazu, wussten sehr wohl, warum sie hier auf Verbesserung drängten. Im Oktober 1887 verfasste sie im Verein mit fünf Frauen aus dem liberalen Bürgertum eine Petition, die sie an den preußischen Unterrichtsminister und das preußische Abgeordnetenhaus adressierte. Darin plädierte sie für einen größeren Einfluss von weiblichen Lehrkräften in den öffentlichen höheren Mädchenschulen und eine Verwissenschaftlichung der Lehrerinnenausbildung. Geharnischt reagierte Lange damit auch auf Vorstellungen ihrer männlichen Kollegen, wie sie etwa 1872 auf einer Weimarer Lehrerkonferenz durchaus ernsthaft geäußert worden waren. In der Abschlussdenkschrift sprach man sich da vor allem für die Ausweitung der höheren Mädchenschulen aus, „damit der deutsche Mann nicht durch die geistige Kurzsichtigkeit und Engherzigkeit seiner Frau“ gelangweilt würde. Auch wenn einige Professoren, wie Lange mit Belustigung registrierte, die umfangreiche Begleitschrift zur Petition, die unter dem Namen „Die gelbe
Rebellische Töchter: Bürgerliche Frauenbewegung Broschüre“ in die Geschichte eingegangen ist, bereits als Forderung nach dem Frauenstudium interpretierten und entsprechend verschreckt reagierten: Davon war bei Lange, die eher eine Politik der kleinen Schritte verfolgte, noch nicht die Rede. Ihr ging es zunächst um die höhere Schulausbildung, die sie auch mit Hilfe einer überregionalen Frauenberufsorganisation weiter vorantreiben wollte. 1890 gründete sie zusammen mit 85 Frauen den „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein“ (ADLV), der bald zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der bürgerlichen Frauenbewegung avancierte. Bereits ein Jahr nach der Gründung zählte der Verein mehr als 3.000 Mitglieder, 1897 schon mehr als 10.000. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges war die Hälfte aller Lehrerinnen im ADLV organisiert. Eine besonders heiß umkämpfte Männerdomäne war und blieb die Zulassung von Frauen zum Studium. „Überhaupt das Frauenstudium …“, ließ Kurt Tucholsky den Helden seines 1912 erschienenen Romans „Rheinsberg“ ironisch argwöhnen und damit anklingen, was viele – vor allem männliche – Bürger davon dachten. Schließlich stand damit eine jahrhundertealte Tradition, die die Universität als reine Männerwelt etabliert hatte, mit eigenen Ritualen und Regeln zur Disposition. Der Ort, an dem, neben dem Gymnasium und dem Militär, die Männlichkeit als Habitus erfunden wurde und sich Männlichkeit pur entfalten konnte, drohte seine Funktion als Männlichkeitsschmiede zu verlieren. Das Ende des lustigen Studentenlebens schien gekommen, das Ende von Burschenherrlichkeit mit Saufgelagen und Fechtduellen, deren Folgen sich in vielen bildungsbürgerlichen Männergesichtern lebenslang abzeichneten. Es schien auch das Ende eines gewissen Moratoriums, einer gewissen Auszeit aus bürgerlichen Zwängen, unter denen die Bürgersöhne des 19. Jahrhunderts sozialisiert worden waren. Erstmals den familialen Fittichen entkommen, waren die Jahre des Studiums Jahre ungewohnter Freiheit, nur ab und an durch elterliche Eingriffe gestört. Und es waren Jahre der Freiheit nicht nur von täglicher elterlicher Kontrolle, sondern auch der Freiheit vom Korsett bürgerlicher Umgangsformen. Das war der Hintergrund einer Fülle von Schriften und Skandalen, die sich rund um die Versuche von Bürgertöchtern, in die Hörsäle vorzudringen, rankten. Franziska Tiburtius (1843–1927), Deutschlands erste approbierte Ärztin, wusste ein Lied davon zu singen. Als Gasthörerin an der Zürcher Universität wurde sie beim ersten Betreten des Hörsaals lautstark ausgepfiffen. Die bald folgenden, ersten tastenden Begegnungen zwischen Bürgertöchtern und Bürgersöhnen in der Universität hatten ihren ganz eigenen Charme, wie Franziska am 29. Dezember 1871 ihrem Bruder schrieb: Flirt im Präpariersaal aus: Franziska Tiburtius: Erinnerungen einer Achtzigjährigen, Berlin 1925, S. 134 f.
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Frauenstudium
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Heute hatte ich ein ganz niedliches Erlebnis im Präpariersaal. … Mein Partner war ein junger Schweizer Student, wir haben uns ganz schön vertragen, ab und zu ein Streifchen erzählt, und als ich wohl besser als er mit dem Analysieren der Nerven Bescheid wußte, meinte er: ‚Ja, die Damen haben halt einen großen Vorzug, sie brauchen nicht in die Kneipe zu gehen, können immer studieren.‘ Und nun höre, was weiter geschah: als wir fertig waren und das Drum und Dran des Präparersaales abgestreift hatten, trat er sehr fein zu mir, überreichte mir seine Karte: Elias Hafter, stud. med. – sprach von dem großen Vergnügen, das er gehabt, mit mir zusam-
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Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen
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men zu arbeiten, sprach die Hoffnung aus, daß es noch öfter geschehen möge usw. So was ist im Präpariersaal wohl noch nicht dagewesen; aber es schadet doch eigentlich nicht, wenn ab und zu der Salon ein wenig in den Präpaniersaal hineinlichtert. Natürlich hätte der gute Junge nicht gewagt, höflich zu sein, wenn andere Studenten in der Nähe gewesen wären. … Von der Petition, die ein Teil der Studenten eingereicht haben soll gegen die weitere Zulassung von Frauen, ist es augenblicklich still. Vielleicht beruhigen sich die Gemüter während der Ferien.
Nein, das taten sie nicht. Das Frauenstudium blieb weiterhin Thema äußerst kontroverser Diskussionen. Angeheizt wurden sie erneut, als 1897 ein Professor einer kleinen Gruppe von Gasthörerinnen barsch die Hörsaaltür wies. Der Historiker Heinrich von Treitschke, schon als geifernder Antisemit bekannt geworden, errang sich damit noch den traurigen Ruf des eifernden Antifeministen. Immerhin gab seine Engstirnigkeit den Anstoß einer von dem Privatdozenten Arthur Kirchhoff in Gang gesetzten Studie. Grundlage war eine Umfrage unter „hervorragenden Universitätsprofessoren“, die sich dazu äußern sollten, inwieweit sie Frauen die „Befähigung zum Studium und Beruf“ zusprechen würden. Die meisten der Befragten reagierten reserviert. Selbst liberale Männer der Wissenschaft wie der Physiker Max Planck wollten zwar den Frauen grundsätzlich das Studium nicht versagen, es aber immer nur als „Ausnahme“ betrachtet wissen. „Im allgemeinen“, so Planck, „kann man nicht stark genug betonen, dass die Natur selbst den Frauen ihren Beruf als Mutter und Hausfrau vorgeschrieben hat, und dass Naturgesetze unter keinen Umständen ohne schwere Schädigungen ignoriert werden können.“ Und selbst liberale Satireblätter wie der „Simplicissimus“ bliesen ins gleiche Horn, wenn sie immer wieder Karikaturen von unbedarften Studentinnen brachten, die ihrer weiblichen Leserschaft das Lachen gefrieren ließen. Dennoch: Das Thema war in der Welt und die Stimmen der Befürworter häuften sich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts öffnete sich die Alma Mater auch für Frauen. 1899/1900 machte Baden den Anfang, 1903 folgte Bayern, Württemberg 1904, 1906 dann auch Sachsen, Preußen schließlich 1908, das Schlusslicht bildete Mecklenburg-Schwerin 1909. Nun konnten Bürgertöchter, erstrebten sie den Bildungsbürgerinnenstatus über den Lehrerinnenberuf hinaus, durchaus akademische Würden erringen. Zur „Frau Doktor“ konnten sie nicht mehr nur durch Heirat, sondern auch durch eine eigene Promotion werden. Jetzt waren die Bürgertöchter nicht mehr aufzuhalten: Bereits im ersten Semester studierten allein in Preußen 1.132 Studentinnen, bis zum Ersten Weltkrieg stieg ihre Zahl um fast das Dreifache, auf 4.053 an. Damit waren unter den rund 60.000 Studierenden im Kaiserreich knapp 7% Frauen. Ein wichtiges Bollwerk hatten die Bürgertöchter damit erstürmt. Nun galt es, den nächsten Schritt zu tun. Die Forderung nach politischer Partizipation war zuvor von der Frauenbewegung nicht explizit gestellt worden, nur beherzte Einzelkämpferinnen wie Hedwig Dohm gingen in ihren Schriften weiter. „Menschenrechte haben kein Geschlecht“, lautete ihre Quintessenz, die die meisten Bürger, unabhängig von ihrem Geschlecht, als überzogen abtaten. Allein die SPD trat in ihrem Erfurter Programm von 1891 für das Frauenwahlrecht ein, nicht ohne Vorbehalte von Seiten der Basis. Wenn Clara Zetkin in ihren Beiträgen in der Zeitschrift „Die Gleichheit“ vom Frau-
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Wandernde Söhne: Die bürgerliche Jugendbewegung
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enwahlrecht als „Waffe“ gegen die „bürgerliche Gesellschaft“ schrieb, fand dies zunächst wenig Resonanz. Von bürgerlicher Seite wagte sich, wie Gisela Bock festgestellt hat, erstmals Helene Lange 1894 in öffentlichen Reden an das „heiße Eisen“ heran, 1902 gründeten Anita Augsburg und Lida Gustava Heymann in Hamburg den „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“, der 1903 in den „Deutschen Verband für Frauenstimmrecht“ umbenannt wurde und dem 1906 etwa 1.500 vornehmlich bürgerliche Frauen und Männer angehörten. An die Stelle des preußischen Vereinsgesetzes, das Frauen die Beteiligung an politischen Vereinen grundsätzlich untersagt hatte, trat 1908 das Reichsvereinsgesetz und mit ihm entstanden eine Reihe weiterer Frauenstimmrechtsvereine in Deutschland; im März 1916 schlossen sich viele davon zum „Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht“ zusammen. Im Zuge der Novemberrevolution von 1918 war auch dieser Kampf der Frauen von Erfolg gekrönt: Frauen wurde das Wahlrecht zugesprochen, in der ersten Wahl 1919 machten rund 89 Prozent von ihnen davon auch Gebrauch. Immerhin 41 Frauen, viele von ihnen Mitglieder der alten Frauenbewegung, und damit 9,6% weibliche Abgeordnete zogen in die Weimarer Nationalversammlung ein.
2. Wandernde Söhne: Die bürgerliche Jugendbewegung Auch die Bürgersöhne gingen in Opposition. Als eine „vom Alter gekränkte Jugend“ beschrieb Hans Blüher (1888–1955), damals 24 Jahre alt, die Anhängerschaft einer sozialen Bewegung, für die er mit seinem gleichnamigen, 1912 erschienenen Buch die Bezeichnung „Jugendbewegung“ populär machte. Jugend, eine durch verlängerte Schul- und Ausbildungszeiten prolongierte Lebensphase, wurde nun zu einem zum Mythos verklärten Schlüsselbegriff um die Jahrhundertwende, zum Inbegriff eines noch ungebrochenen Elans und einer hoffnungsvollen Zukunft. Ausgangsort der Jugendbewegung war ein Gymnasium im Berliner Stadtteil Steglitz. Schülergruppen, die freiwilligen Stenographieunterricht bei dem Lehrer Heinrich Hoffmann nahmen, begannen unter nur wenig älteren „Führern“ regelmäßig gemeinsam auf Wanderschaft zu gehen. Dies wirkte offenbar ansteckend: In Windeseile entwickelte sich eine Bewegung, die sich über das ganze Reich ausbreitete. 1901 wurde der „Wandervogel – Ausschuss für Schülerfahrten“ gegründet. Die Namensgebung entsprang einer spontanen Eingebung einer Berliner Gruppierung: Auf dem Friedhof im Stadtteil Dahlem fand sie eine Grabinschrift mit dem Vers: „Wer hat Euch Wandervögeln die Wissenschaft geschenkt, daß ihr auf Land und Meeren nie die falschen Flügel lenkt.“ Zu den Gründervätern des „Ausschusses für Schülerfahrten“, die im Steglitzer Ratskeller zusammenkamen, gehörten angesehene und in zahlreichen Verbänden aktive Schriftsteller sowie Ärzte, Pädagogen, Ingenieure und Studenten. Diese Mischung macht es deutlich: Hier kamen zwei Generationen zusammen, formierte sich eine Interessengemeinschaft aus Elternschaft, Schule und Schülern, die dem Nimbus des Oppositionellen, der
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Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen
IX. Motive des Wandervogels
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vor allem von Seiten ehemals Jugendbewegter gepflegt wurde, entgegenstand. Zwei Jahre später beschrieb der zur Mitarbeit gewonnene Pädagoge und Schriftsteller Ludwig Gurlitt in seinem Bericht an das Preußische Kultusministerium den „Zweck“ der Vereinigung mit folgenden Worten:
Wanderfahrten aus: Ludwig Gurlitt, Bericht an das Kultusministerium, zit. in: Winfried Mogge: Jugendbewegung und Wandervogel, in: Kai Bucholz u. a. (Hg.): Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd. II, Darmstadt 2001, S. 307–310, S. 308. In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wekken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen … Fasse ich meine gesamten Beobachtungen zusammen, so erkenne ich in diesen Veranstaltungen eine aus unserer Jugend selbst herauswachsende Bewegung, die die lebhafteste Aufmerksamkeit aller um die Gesundung unseres Volkes besorgten Männer verdient. Den an diesem ‚Wandervogel‘ ist alles gesund.
Das gemeinsame Wandern wirkte darum so attraktiv, weil es dazu verhalf, den alltäglichen Sozialkontrollen und Leistungszwängen von Elternhaus und Schule kurzzeitig zu entfliehen. Das bürgerliche Elternhaus mit seinen starren Konventionen geriet zum Zerrspiegel, gegen den sich die Jungen absetzen wollten. Ganz bewusst kreierten sie einen eigentümlichen, programmatisch asketischen Lebensstil, eine eigene subkulturelle Ästhetik. Die Kleidung, Kluft genannt, war schlicht und praktisch, gekocht wurde im Freien, übernachtet in der Scheune eines Bauern oder allenfalls in einfachen Dorfgasthöfen. Die Idee zum Leitbild war den gymnasialen Geschichtslehrbüchern entnommen: Es war der mittelalterliche Scholar, der durch die Lande zog. Man bezeichnete sich als „fahrende Schüler“ oder „Kunden“, nannte die Führer „Bachanten“ und „Oberbachanten“. Der eigene Stil der „Fahrt“ wurde nicht zuletzt in bewusster Abgrenzung gegen die im Kaiserreich verstärkt aufkommenden Wander- und Touristenvereine entwickelt. Ihre Unternehmungen sollten wenig geplant sein, allein von der Improvisation leben. Untermalt wurden diese Ausflüge mit Gitarrenklängen. Die „Klampfen“ wurden, mit bunten Bändern geschmückt, bei der Wanderschaft geschultert und zu ihrer Begleitung Volkslieder gesungen. Hans Breuer, einer der Führer der ersten Stunde, sammelte alte Volkslieder aus dem 15. bis 18. Jahrhundert und gab sie 1909 im „Zupfgeigenhansel“ heraus. Programmatische Liedtexte wie „Aus grauer Städte Mauern“ oder „Wir wollen zu Land ausfahren“ unterstrichen die großstadtkritische und agrarromantische Stoßrichtung. Im Volkslied, so warb man für dieses Kompendium, fände man noch echte, ursprüngliche Gedanken und Gefühle, die nicht durch die moderne Zivilisation korrumpiert worden wären. Das Buch wurde ein Bestseller. Aufgenommen als Mitglied wurde nur, wer in die Gruppe zu passen schien. Eine Schlüsselfrage bezüglich der Mitgliedschaft war die Aufnahme
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Verblendete Bürger: Bürgertum und Antisemitismus von weiblichen Mitgliedern. Der raue Fahrtenstil des Wandervogels mit seinen bewusst hochgeschraubten Anforderungen an die körperliche Leistungsfähigkeit ließ im Rahmen der Jugendbewegung einen neuen Männlichkeitsmythos entstehen, der für die Beteiligung von Mädchen nicht eben günstig war. Zwar erfasste die Wanderbewegung in Grenzen auch junge Mädchen. Sie unternahmen in Gruppen romantische Fußmärsche in die Natur, ebenso in einem eigenen, einfachen Habit wie die jungen Männer. Zu einer Gemeinschaftsbildung unter den wandernden Mädchen oder gar zur Ausbildung gemischter Gruppen kam es jedoch nur in beschränktem Maß. Gemeinsame Fahrten wurden mit dem Argument abgelehnt, dass dadurch „die Buben verweichlichen“, die Mädchen dagegen „verbengeln und verwildern“ könnten. Von den tradierten Geschlechtsstereotypen wollte man offenbar – trotz aller grundsätzlichen Bereitschaft, mit den Traditionen der Eltern zu brechen – nicht Abschied nehmen. Das landläufige Klischee jedoch, dass diese Jugend gegen ihre Sozialisationsagenturen protestiert habe und autoritäre Väter und Lehrer vom Sockel stoßen wollte, trifft nur bedingt ins Schwarze. Der Wandervogel entstand an einem der liberalsten Gymnasien des damaligen Deutschland, und seine Mitglieder kamen aus relativ liberalen, vornehmlich bildungsbürgerlichen Elternhäusern. In einer solchen Atmosphäre konnten sensible Gesellschaftsdeutungen und argumentative Kritikbereitschaft gedeihen, ein strenger Gegenwind der Erziehungsinstanzen blies dagegen eher schwach. Der Wandervogel war von daher weniger eine Oppositions- als eine Suchbewegung. Es ging den rund 100.000 jungen Männern, die sich bis zum Ersten Weltkrieg im Wandervogel organisierten, um eine auch eigenverantwortliche Identitätsfindung auf dem Hintergrund eines fundamentalen kulturellen Wandels und immer unverbindlicheren Lebenshorizonten. Die Prinzipien, die dabei hochgehalten wurden, waren weit weniger unpolitisch als behauptet. Das Modell von Führer und Gefolgschaft, der elitäre Dünkel, die anti-demokratische Grundhaltung, die Suche nach dem „neuen Menschen“, Agrarromantik, Modernisierungsfeindschaft und nicht zuletzt die Verehrung des „deutschen Volkstums“ und der „klassenlosen Volksgemeinschaft“ bildeten ein Ideenbündel, das zumindest anfällig für eine nationalsozialistische Ideologie machte.
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liberaler Ursprung
3. Verblendete Bürger: Bürgertum und Antisemitismus Auch antisemitische Strömungen zeichneten sich im Wandervogel vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als vielen jungen Juden der Beitritt verwehrt wurde, ab. Doch schon im Kaiserreich bekamen jüdische Bürger die zunehmenden Exklusionen und Perversionen der bürgerlichen Gesellschaft schmerzlich zu spüren. Die Euphorie der Nationalstaatsgründung begann sich langsam zu verflüchtigten, erst recht, nachdem der Gründerkrach von 1873 auch das Bürgertum die negativen Folgen der Modernisierung spüren ließ. Die Schuldigen waren schnell ausgemacht. Wie so oft in der Geschichte wurden die Juden zu Sündenböcken diffamiert. Immer häufiger ar-
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Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen
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tikulierte sich jetzt offener Antisemitismus. Die Berliner Kaufmannsgattin Helene Eyck, die 22 Jahre ihres Lebens Tagebuch führte, vermerkte in den 1890er Jahren die wachsende Zahl antisemitischer Ausfälle, unter denen vor allem ihre heranwachsenden Söhne auf dem Gymnasium litten:
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Antisemitismus im Klassenzimmer aus: Helene Eyck: Tagebuch, 1876–1898, Privatarchiv Eyck, Calgary, Alberta, Eintrag vom 6. März 1892. Ernstchen ist für uns immer der Mittelpunkt … Wahrscheinlich besucht er schon von Ostern ab die Schule, in die ich ihn nur sehr ungern schicke, da dort augenblicklich ein unbeschreiblicher Antisemitismus herrscht, unter dem die Knaben der mittleren Klassen, zu denen Erich gehört, sehr zu leiden haben, denn nicht allein die Mitschüler sind von unglaublicher Frechheit, sondern der Ordinarius der 3b war so wenig rücksichtsvoll einen Knaben, der in der Abwehr sich des Wortes ‚Goi‘ bediente, schärfer zu bestrafen, als die christlichen Schüler, die die unglaublichsten Beleidigungen ausgesprochen, sonder er meinte quasi, die jüdischen Schüler könnten ja Gott danken, ‚dass sie durch die Emanzipation überhaupt als Deutsche und Preussen aufgenommen seien!‘ So gesprochen im Jahre des Heils 1892, fin de siècle! Würde eine solche Stimmung nicht künstlich von Oben gross gezogen, sie würde nicht bestehen können! Freilich in einer Zeit, in der der Kaiser sich zu Reden herbei lässt wie er sie Ende Februar im märkischen Landtag gehalten, kann man den merkwürdigsten und gefährlichsten Dingen entgegen sehen!
Antisemitismus im Kaiserreich
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In der Tat trug die chauvinistische Rhetorik Wilhelms II. wesentlich dazu bei, Hass gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger zu schüren. Auf dem Jahresbankett des brandenburgischen Provinziallandtages vom 24.2.1892 hatte er alle, die mit seiner Regierungsform nicht einverstanden waren, als „mißvergnügte Nörgler“ abgekanzelt, die „lieber den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schüttelten“ und sich „auf das schleunigste entzögen“. Es war, und damit bekam diese Form des Antisemitismus eine neue Dimension, eine Judenfeindschaft, die junge und alte Bürgerinnen und Bürger traf, mit denen man gesellschaftlich verkehrte, mit denen man im gleichen Verein tagte, mit denen man gemeinsam die Schulbank drückte. Im Prozess der „Verbürgerlichung der Juden“ hatten sie eine weitgehend rechtliche und politische Gleichstellung erlangt, die meisten jüdischen Bürger fühlten sich als vollwertiger Teil der Gesellschaft des Kaiserreichs. Viele waren weitgehend akkulturiert, wenn auch nicht vollständig assimiliert. Doch von dem übermächtigen Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Kultur des Kaiserreichs, den die Antisemiten ihnen unterstellten, konnte keine Rede sein. Neu war auch der pseudo-wissenschaftliche Anstrich, mit dem man die Judenfeindschaft versah. 1879 brachte der Journalist Wilhelm Marr den Begriff „Antisemitismus“ erstmals in Umlauf. Seinen Verfechtern stand bald eine Flut von abstrusen Schriften als vermeintlich rationale Argumentationshilfe zur Verfügung, aufgeladen mit rassentheoretischen und völkischen Ideologien. Eine besonders unrühmliche Rolle übernahm dabei der Schriftsteller und Kulturphilosoph Houston Stewart Chamberlain. Der gebürtige Engländer und Schwiegersohn Richard Wagners schuf mit seinem 1899 erstmals erschienenen „Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“ ein Machwerk,
Verblendete Bürger: Bürgertum und Antisemitismus in dem die abendländische Geschichte auf den Nenner des Kampfes zwischen der arisch-germanischen und der jüdischen Rasse gebracht wurde. Schnell avancierte es zum Kultbuch weiter Teile des Bürgertums. Kaiserliches Wohlwollen, die Berliner Hausfrau wies darauf hin, war ihm sicher und forcierte seinen Erfolg. Diese Form des Antisemitismus, dies hat Volker Ullrich zu Recht betont, war von Beginn an eng mit dem zunehmend illiberalen Nationalismus verknüpft. In den Ausführungen des Hof- und Dompredigers Adolf Stöcker (1835–1909) wurden gebetsmühlenartig Vorstellungen verbreitet, die Juden seien eine Gefahr für die fragile, noch junge deutsche Nation. Stöcker war der erste, der den Antisemitismus institutionalisierte und zur Massenmobilisierung instrumentalisierte. 1878 gründete er die „Christlich-Soziale Partei“ (CSP), die nicht zuletzt aufgrund ihrer antisemitischen Propaganda regen Zulauf vor allem aus dem gebildeten Bürgertum hatte. Vor allem unter den Studenten stießen die antisemitischen Tiraden eines Stöcker und seiner Parteigänger auf offene Ohren. Dies umso mehr, als im Herbst 1879 ein von ihnen verehrter Professor, der Historiker Heinrich von Treitschke, unverhohlen offen antisemitische Ansichten vertrat. Am 15. November 1879 veröffentlichte Treitschke in den von ihm herausgegebenen „Preußischen Jahrbüchern“ einen Aufsatz mit dem Titel „Unsere Aussichten“. Im ersten Drittel seiner Ausführungen resümierte er die außen- und innenpolitischen Erfolge des Deutschen Reiches. Erst aus einer auch „inneren Reichsgründung“ könne ein „gekräftigtes Nationalgefühl“ erwachsen, lautete sein Diktum. „Innere Reichsfeinde“ gälte es deshalb zu bekämpfen. Wen er darunter verstand, erläuterte er dann auf den letzten fünf Seiten seines Pamphlets. Die „nationale Sonderexistenz“ der Juden bedrohe eben diese nationale Einheit, ihre vermeintlich fehlende Assimilationsbereitschaft deutete er als Undank gegenüber einer gewährten Emanzipation. Diese wollte er zwar nicht zurückgenommen wissen, doch verstand er sie nicht als Folge unveräußerlicher Menschenrechte, sondern als Gnadengeschenk der preußischen Monarchie, die ihrerseits Ansprüche an die Beschenkten stellen dürfe. Dazu gehöre die Unterordnung der Juden unter eine deutsch-christliche „Leitkultur“. Am Schluss der Schmähschrift stand der verhängnisvolle Satz: „Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinaus, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuths mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück“. Die Studenten applaudierten laut – und blind. Doch das Gros von Treitsches Berliner Kollegen hielt vor solcher antisemitischen Hetze entsetzt den Atem an. Eindringlich mahnte der Althistoriker Theodor Mommsen vor dem „Wahn … der jetzt die Massen erfaßt“ und in Treitschke seinen „rechte[n] Prophet[en]“ gefunden habe. Mommsen wusste sehr wohl um den immensen Einfluss seines Kollegen. Hier schrieb nicht irgendwer, hier schrieb einer der angesehensten Gelehrten seiner Zeit, überdies Reichstagsabgeordneter seit 1871. Durch dessen Feder, diese verhängnisvolle Folge sah Mommsen glasklar, wurde der Antisemitismus in seinen radikalsten Auswüchsen salonfähig. Mommsens düstere Ahnungen bestätigten sich bald: In weiten Kreisen der Studentenschaft, die sich zu dieser Zeit noch fast ausschließlich aus bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Kreisen rekrutierte, stießen Treitschkes Ausfälle auf große Zustimmung. Studenten waren es auch, die sich seit dem
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leise Gegenstimmen
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Bürgerliche Herausforderungen und Verwerfungen
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Sommer 1880 für eine Antisemitenpetition stark machten, die ein Einwanderungsverbot für Juden erwirken wollte. Überdies sollten jüdische Bürger aus allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen und ihre Tätigkeit im Schulund Justizwesen erheblich eingeschränkt werden. An einigen norddeutschen Universitäten unterzeichneten 30 bis 50 Prozent aller Immatrikulierten diese Petition. Weitere, vor allem von jungen Bürgern getragene Aktionen folgten. Im August 1881 trafen sich 600 Studenten und 200 Sympathisanten am Fuße des sagenumwobenen Kyffhäuser am Südrand des Harzes. Bewusst wollte die Veranstaltung an die Tradition des Wartburgfestes von 1817 anknüpfen. Doch die Töne, die dort angeschlagen wurden, klangen deutlich anders. Schon bei der Zusammenkunft zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die deutsche Nation das große Thema gewesen. Jetzt trug der propagierte Nationalismus ausschließlich aggressive, chauvinistische und antisemitische Züge. Die Kyffhäuserbewegung war nur ein besonders lautes Fanal einer ideologischen Tendenzwende unter den Studenten. 1896 folgten die Burschenschaften dem Beispiel der Vereine Deutscher Studenten und nahmen keine jüdischen Mitglieder mehr auf. Die Begründungen, die die Studenten für diese fatale Haltung vorbrachten, glichen denjenigen, die auch andere Vertreter des Bürgertums bemühten, um die Exklusion ihrer jüdischen Mitbürger zu rechtfertigen. Wie schon im Wirtschaftsbürgertum mit Blick auf jüdische Unternehmer und Bankiers Konkurrenzängste geschürt wurden, sahen ihre Söhne auf dem Hintergrund einer in der Öffentlichkeit beschworenen Akademikerschwemme in ihren jüdischen Kommilitonen lästige Mitstreiter um hochrangige Positionen. Dass namentlich in der Studentenschaft und damit unter der jungen Generation des Bürgertums der Antisemitismus ein so großes Echo fand, leistete seiner weiteren Verbreitung und Radikalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend Vorschub. Schließlich waren es künftige Professoren und Studienräte, Juristen und Geistliche, Mediziner und Ingenieure, die so entscheidend von dem antisemitischen Denken der Zeit geprägt wurden und es an künftige Generationen weitergaben. Auch im Alltag machte es sich bald bemerkbar, wie tief eingegraben antisemitische Vorstellungen bereits waren. In Vereinen und Stammtischrunden wehte jüdischen Mitbürgern plötzlich unverhohlene Verachtung entgegen, populäre Schriftsteller und Zeichner wie Wilhelm Busch trugen durch ihre Spottverse dazu bei, stigmatisierende Klischees festzuschreiben. So hieß es in Buschs „Frommen Helene“ von 1872: „Und der Jud, mit krummer Ferse, krummer Nas’ und krummer Hos’, schlängelt sich zur hohen Börse, tiefverderbt und seelenlos.“ Die Nordseeinsel Borkum, die im Kaiserreich zu einem der beliebtesten Orte aufrückte, an dem das städtische Bürgertum seine Sommerfrische genoss, prahlte bereits 1903 damit, „judenfrei“ zu sein und fügte seinem allabendlich vom Kurorchester intonierten „Borkumlied“ eine Strophe hinzu, in der sämtliche anti-jüdischen Stereotype versammelt waren: „… Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muß hinaus! Der muß hinaus! Hinaus!“ In diesem lautstarken Antisemitismus gerieten Gegenstimmen leicht in Gefahr, übertönt zu werden. Immerhin protestierten im November 1880
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Verblendete Bürger: Bürgertum und Antisemitismus
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75 Repräsentanten des deutschen Geisteslebens dagegen, „dass in unerwarteter und tief beschämender Weise … der Racenhaß und der Fanatismus des Mittelalters wieder ins Leben gerufen und gegen unsre jüdischen Mitbürger gerichtet“ werde. Rund zehn Jahre später, 1890, als die Antisemitenparteien immer mehr Aufwind bekamen, gründeten liberale Politiker und Gelehrte den „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, dem neben dem Historiker Mommsen, Philosophen, Juristen, Publizisten und Politiker angehörten. Wöchentlich brachten sie die „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, kurz „Abwehrblätter“ heraus. Am 1. Oktober 1891 hieß es darin: Verein zur Abwehr des Antisemitismus aus „Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, 1.10.1891.
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Mit den Waffen der Wahrheit und Thatsachen wollen wir unsere Gegner bekämpfen und ihren, nach unserer festen Überzeugung für das Vaterland verderblichen Bestrebungen entgegentreten. … Für die Beseitigung dieser Bestimmungen, welche ein Resultat hundertjähriger Kulturarbeit und der mühsamen Entwicklung unseres öffentlichen Lebens in Deutschland sind, setzen die Antisemiten ihre ganze agitatorische Kraft ein. Wir aber wollen dafür sorgen, daß der kulturfeindliche Plan von vornherein zurückgewiesen werde. Das ist die Pflicht aller auf dem Boden unserer Verfassung und unserer Rechtszustände stehenden Männer und Parteien.
Immer wieder prangerte der Verein Verwaltungswillkür und Diskriminierungen gegenüber jüdischen Mitbürgern an, nicht ohne jedoch gleichzeitig eine bestimmte Assimilationserwartung zu formulieren. Auf Vernunft und Überzeugung setzend, blieb die Reichweite der Aufklärungsarbeit des Vereins freilich begrenzt. Und wie reagierte das jüdische Bürgertum auf den anschwellenden Antisemitismus im Kaiserreich? Zunächst eher irritiert als aufgeschreckt. Schließlich fühlten sich die meisten durchaus als Teil der bürgerlichen Gesellschaft, viele standen politisch dem Liberalismus nahe, hofften auf den Einfluss liberaler Bürger und hielten den zunehmenden Antisemitismus für eine zwar gefährliche, aber doch vorübergehende Erscheinung. Ihre Alltagserfahrungen stellten ihre Geduld jedoch auf eine harte Probe. Immer wieder wurden sie mit Ansichten konfrontiert, die sie als „nicht-zugehörig“ abkanzelten. Viele jüdische Bürger, die an eine bloße Episode glaubten, zogen sich zurück und taten alles, um in der Öffentlichkeit keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der erfolgreiche Warenhausbesitzer Georg Wertheim, der sich vor seiner Vermählung gemeinsam mit seiner Braut taufen ließ und der sich in Berlin in vielfacher Hinsicht auf dem Gebiet der Wohltätigkeit engagierte, lehnte es 1912 sogar ab, den in wirtschaftsbürgerlichen Kreisen so beliebten, ehrenvollen Titel eines Kommerzienrates anzunehmen. Er fürchtete, mit dieser Ehrung Neid und Missgunst zu wecken und die antisemitische Presse erneut auf den Plan zu rufen. Andere reagierten mit einer wieder stärkeren Hinwendung zur jüdischen Tradition; eine kleine Minderheit schloss sich der zionistischen Bewegung an. Als Anfang der 1890er Jahre die antisemitische Welle einen Höhepunkt erreichte, sah sich auch die Mehrheit der assimilierten Juden zur organisier-
Reaktionen jüdischer Bürger
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ten Abwehr gezwungen. 1893 wurde der „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ gegründet, der sich rasch zur größten jüdischen Interessenvertretung in Deutschland entwickelte. Hauptziel des Vereins war es, die antisemitische Agitation zu bekämpfen und den Grundsatz der Gleichberechtigung und das Ende der Benachteiligung im Staatsdienst zu erreichen. Auch wenn der Verein kleine Erfolge verzeichnen konnte und letztlich der Einfluss der Antisemitenparteien zumindest auf politisch-parlamentarischer Ebene sank, blieb der Antisemitismus, an dessen Verbreitung und Radikalisierung das Bürgertum einen wesentlichen Anteil hatte, ein virulenter Sprengstoff in der Gesellschaft, dessen verheerende Folgen dann wenige Jahrzehnte später zu Tage traten.
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X. Bürgertum international In Meyers Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1896 war unter dem Stichwort „Reisen“ zu lesen: Grenzüberschreitende Vergnügungsreisen aus: Meyers Konversations-Lexikon, 5. Aufl. Leipzig u. Wien 1896, S. 606–609, Zit. S. 608.
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In neuester Zeit … haben sich die Vergnügungsreisen auf außerordentliche Entfernungen ausgedehnt. Gefördert wird diese Neigung durch Unternehmer, wie Cook and Son in London und Stangens Reisebüreau in Berlin, welche den Reisenden Fahrkarten für alle möglichen Eisenbahn- und Dampferlinien, Koupons für die Benutzung von Hotels zusammenstellen und … Gesellschaftsreisen veranstalten, bei denen Reisende unter Leitung eines kundigen Führers die verschiedensten Länder besuchen und sogar Reisen um die Erde machen. Die erste solche Reise fand 1878–79 unter Leitung von K. Stangen statt, der in seinem Buche: ‚Eine Reise um die Erde‘ (Berl. 1880) wichtige Fingerzeige für die Ausführung solcher Reisen gibt.
Noch vier Jahre zuvor hatte sich der Autor zu der Behauptung verstiegen, dass „eine Reise um den ganzen Erdball und in die entlegensten Winkel desselben zu den alltäglichen Vorkommnissen“ gehöre. Damit übertrieb er sicherlich, doch die Tendenz war nicht ganz falsch. Der bürgerliche Lebenszuschnitt im langen 19. Jahrhundert war gleichzeitig national gestimmt und international orientiert: Man reiste, man las, man lauschte, man schaute, man kaufte, man verkaufte zunehmend grenzüberschreitend. Schon kleine Bürgerinnen und Bürger lebten in dem Bewusstsein, nicht nur Teil ihrer überschaubaren bürgerlichen Welt, sondern gleichzeitig auch Weltbürgerinnen und -bürger zu sein. Mentale und reale Grenzüberschreitungen waren an der Tagesordnung.
1. Grenzenlose Bürgerkultur: Europäische Gemeinsamkeiten Vieles spricht dafür, von einem europäischen Bürgertum zu sprechen. Eine Reihe von Aspekten, die hier vor allem mit Blick auf das deutsche Bürgertum skizziert wurden, lässt sich durchaus auf weite Teile des europäischen, wenn auch vornehmlich westeuropäischen Bürgertums übertragen. So teilte das europäische Bürgertum in seiner Entstehungsphase die soziale Frontstellung zunächst gegenüber dem Adel, später dann stärker gegenüber einer überall entstehenden Lohnarbeiterschaft. Auch die vorn genannten Berufsgruppen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Professionalisierung durchliefen und sich unter dem Dach des Bürgertums vereinten, lassen sich grenzübergreifend finden. Und nicht zuletzt Grundzüge einer gemeinsamen bürgerlichen Kultur, verwandte Vorstellungen von Bürgerlichkeit, zeigten sich europaweit ähn-
europäische Gemeinsamkeiten
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Bürgertum international
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lich ausgeprägt. Die Hochschätzung von Arbeit und Leistung, von Vernunft und Disziplin, von Bildung und Hochkultur sowie das bürgerliche Familienideal mit seiner dualen Geschlechterordnung teilten Bürgerinnen und Bürger unabhängig davon, ob sie in Manchester, in Paris, in Amsterdam, in Mailand, in Bremen oder in Uppsala zu Hause waren. Den Zeitgenossen waren diese Übereinstimmungen wohl bewusst. Die englische Pfarrerstochter und spätere Schriftstellerin Charlotte Brontë vermerkte in einem Brief an ihren Vater vom 7. Juni 1851 nach dem Besuch der Londoner Weltausstellung bei aller Vielfalt der Eindrücke die großen Ähnlichkeiten der Exponate: Englische und belgische Aussteller zeigten fast die gleichen Maschinen, bildhauerische Akte aus Amerika glichen den nackten Amazonen aus Deutschland.
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Eindrücke von der Londoner Weltausstellung aus: Brief von Charlotte Brontë an ihren Vater vom 7. Juni 1851, in: Clement Shorter: The Brontës. Life and Letters, Bd. 2, New York 1969, S. 215 f. Yesterday I went for the second time to the Crystal Palace. We remained in it about three hours, and I must say I was more struck with it on this occasion than at my first visit. … Its grandeur does not consist in one thing, but in the unique assemblage of all things. Whatever human industry has created, you find there, from the great compartments filled with railway engines and boilers, with millmachinery in full work, with splendid carriages of all kinds, with harness of every description – to the glass-covered and velvet-spread stands loaded with the most gorgeous work of the goldsmith and silversmith, and the carefully guarded caskets full of real diamonds and pearls worth hundreds of thousands of pounds. It may be called a bazaar or a fair, but it is such a bazaar or fair as Eastern genii might have created. It seems as if magic only could have gathered this mass of wealth from all the ends of the earth. … The multitude filling the great aisles seems ruled and subdued by some invisible influence.
mobile Bürgerlichkeit
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Trotz der Fülle und Vielfalt der Exponate, so der Eindruck der Pfarrerstochter, schien die Ausstellung wie aus einem Guss, als Ausdruck einer Welt. Wie sich schon der Handel seit Jahrhunderten auf eine miteinander verflochtene Weltwirtschaft hinbewegte, verbreiteten sich auch Ideen – der Neuhumanismus war ein gemeineuropäisches Phänomen – Erfindungen und Werke der bildenden Kunst und der Musik mühelos über nationale Grenzen hinweg. Italienische Opern und Opernensembles reisten quer durch ganz Europa, dicht gefolgt von französischen und deutschen und boten dem europäischen Publikum ein ähnliches Repertoire. Erklären lässt sich die Vielzahl europäischer Ähnlichkeiten nicht zuletzt mit der gemeinsamen Wurzel der Aufklärung und der städtischen Orientierung des Bürgertums. Vornehmlich in europäischen Städten, deren Urbanisierung im 19. Jahrhundert im Eiltempo voranschritt, bildeten sich die Foren bürgerlicher Öffentlichkeit, in denen die Ideen aufgeklärter Meisterdenker Verbreitung fanden und sich eine bürgerliche Kultur entfalten konnte. Eine Reihe der Vereine, die zu dieser Zeit entstanden, verstanden sich ausdrücklich als international, boten durchreisenden Vereinsbrüdern neben Kost und Logis auch intellektuellen Austausch auf hohem Niveau.
Grenzenlose Bürgerkultur: Europäische Gemeinsamkeiten
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So wie die Gedanken der Aufklärung auf Wanderschaft gingen und über die Studierstunden hinaus international wirkten, war auch das europäische Bürgertum im 19. Jahrhundert zunehmend in Bewegung. Räumliche Mobilität korrespondierte dabei im Idealfall mit mentaler Offenheit. In vielen Bereichen war man durchaus bereit, miteinander zu kommunizieren und voneinander zu lernen. Da reisten englische Delegationen nach Preußen, um das dortige Schulsystem in Augenschein zu nehmen, Alexis de Tocqueville schiffte sich zusammen mit seinem Freund Gustave de Beaumont mit Ziel New York in Le Havre ein, um eine Denkschrift über das amerikanische Gefängniswesen zu schreiben und kam als glühender Demokrat zurück, Prince Albert von England lud 1851 die Welt nach London zur ersten großen Weltausstellung, und frauenbewegte Bürgerinnen tauschten ihre Erfahrungen in ihrem Kampf um Gleichberechtigung schon früh auf internationalen Treffen aus. Wissenschaftler wie Alexander von Humboldt und Künstler wie Mozart, Clara Schumann oder Jenny Lind waren ein Großteil ihres Lebens unterwegs. Doch auch im „ganz normalen Bürgertum“ wurde es üblich, immer häufiger auf Reisen zu gehen. Die Eisenbahn und ein sich rasch erweiterndes Streckennetz machten es möglich. Bewusst gegen den auch schon Jahrhunderte zuvor üblichen Reiseverkehr gerichtet, war der Zweck bürgerlicher Bildungsreisen die Erweiterung des eigenen Horizonts durch Kontakte mit Bürgerinnen und Bürgern anderer Länder. Hämisch kommentierte man die adelsübliche „Kavalierstour“, bei der der junge Adelige, blind für die Eigenarten des bereisten Landes, auch in der Ferne im eigenen Kokon befangen blieb. Das Bürgertum hingegen wollte, inspiriert durch die boomende Reiseliteratur, nicht selten auf den Spuren des italienreisenden Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe vornehmlich an europäischen Kulturstätten seine Wissbegierde stillen und dort unter Seinesgleichen ins Gespräch kommen. Rechtfertigen konnte man diese Unterbrechungen des Arbeitsalltags immer auch damit, dass man neue Kräfte für künftiges Schaffen sammelte. Medizinisch geschulte Standesgenossen gaben ihr professionelles Geleit. Mit Empfehlungen der Ärzteschaft im Rücken begaben sich Bürgerinnen und Bürger einige Wochen im Jahr ins Seebad oder in die „Sommerfrische“ – häufig auch im nachbarlichen Ausland. In mondänen Kurbädern traf sich ein elitärer, bürgerlich-adelig gemischter, gesamteuropäisch geprägter Zirkel, um sich in gepflegter Atmosphäre von den Anstrengungen der bürgerlichen Leistungsgesellschaft zu erholen. Schon aus solchen sporadischen Rendezvous konnten sich dauernde Freundschaften bilden, die durch regelmäßigen Briefverkehr gepflegt wurden, so manche Ehe bahnte sich auf der Kurpromenade an. Das europäische Bürgertum verstand sich selbst als Schrittmacher der Modernisierung und schaute dabei auch gerne, wie Zeitgenossen anderer Nationen sich dieser Herausforderung stellten. Man wollte nicht nur voneinander lernen und bei Betrachtung der anderen sich seiner eigenen Position vergewissern, sondern durchaus auch ganz handfest voneinander profitieren. Neben den Bereichen der Politik, Kunst und Wissenschaft war es vor allem die Wirtschaft, die ein immer stärker internationales Gepräge bekam. So gehörte es zum üblichen Ausbildungsweg eines Unternehmersoh-
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nes, dass er, ehe er den Betrieb vom Vater übernahm, bei einem ausländischen Geschäftsfreund einen Teil seiner Lehrjahre verbrachte. Dass er dabei die Tochter des Hauses als Braut heimführte und damit die Familienbande gehörig ausdehnte, kam nicht nur in Romanen von Thomas Mann vor. Damit wurden grenzüberschreitende Netzwerke geknüpft und internationale Märkte geöffnet. Schon für die Pioniere der Industrialisierung stand es außer Frage, dass man seine Geschäftskontakte über den nationalen Rahmen hinweg aufspannte und durch Auslandsfilialen absicherte. Vor allem in der Frühphase des Kapitalismus waren es vor allem Familienmitglieder, die als vertraute Geschäftspartner geschickt an Schlüsselstellen des europäischen Marktes platziert wurden. Durch eine die Transportrevolution begleitende Revolution der Kommunikationstechnologien konnte man sich schnell miteinander in Verbindung setzen und Geschäftsstrategien, selbst über tausende von Kilometern hinweg, austauschen. Ein Schrittmacher dieser Entwicklung war Werner von Siemens (1816–1892).
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Werner von Siemens als früher „global player“ aus: Illustrierte Zeitung, 8.12.1866. Die Lande, wo die Göttin der Erfindung geboren ist, wo namentlich die praktische Anwendung den Entdeckungen der Wissenschaft auf dem Fuße folgt, hat ein Deutscher eine der großartigsten Telegraphenkabel-Fabriken der Welt angelegt. Nicht blos unterseeische und Landkabel, nicht blos Telegraphir-Apparate aller Art gehen aus der Siemens’schen Fabrik in Woolwich hervor, sondern die Anstalt ist zugleich ein wissenschaftliches Laboratorium, eine Stätte fortwährender Experimente und sinnreicher Erfindungen. Die Kabel, die aus diesem Hause auf Themsedampfer verladen und in alle Weltgegenden verschifft worden sind, verbinden St. Petersburg mit Kronstadt, Frankreich mit Korsika und Algier; sie laufen für den Pascha von Aegypten über das Nilbett hin; sie arbeiten in Indien wie in Brasilien und am La Plata, am Cap und in der Türkei wie in Spanien. Sie zählen zusammen 6000 Seemeilen Länge, bilden also ein gutes Stück des Gürtels, den Puck um die Erde zu legen verhieß. Und dieses Gürtelstück ist in dem kurzen Zeitraume seit der Gründung der Fabrik, nämlich seit 1859, geflochten worden; ein Beweis von dem hohen Rufe, dessen sich der Name Siemens in aller Herren Länder erfreut. … Daß der Gründer der Fabrik in den wissenschaftlichen Kreisen Englands einen klangvollen Namen hat, dürfen wir als bekannt voraussetzen. Wenn gebildete Engländer sich von dem alten Glauben, daß der Deutsche ein wesentlich unpraktischer Philosoph sei, loszusagen anfangen, hat man es großentheils Männern wie Siemens zu verdanken.
Neben den Absatzmärkten war auch der Kunstmarkt europäisch geprägt. Werke von Goethe, Shakespeare und Dante versammelten sich in allen Bücherschränken, schon die Kinder hatten gemeinsame literarische Helden. Mit dem Aufkommen autonomer Künstler, die an einem grenzüberschreitenden Absatz ihres Werkes interessiert sein mussten, schauten zumindest einige Bürger, motiviert durch weitblickende Kunstkenner, bei ihren Ankäufen über den nationalen Tellerrand. Das europäische Bürgertum schöpfte bei der Konzeption seines Lebensentwurfs nicht nur aus einer gemeinsamen Tradition, sondern war auch in vielfacher Hinsicht – familiär, beruflich oder geschäftlich – miteinander verwoben.
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Exkurs: Ein „Defizit an Bürgerlichkeit“? Die These vom „deutschen Sonderweg“
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2. Exkurs: Ein „Defizit an Bürgerlichkeit“? Die These vom „deutschen Sonderweg“ Doch diese vielfältigen Berührungspunkte, die ständige Tuchfühlung, der man – gewollt oder unfreiwillig – ausgesetzt war, bedeutete nicht, dass sich innerhalb des europäischen Bürgertums nicht auch Eigenarten ausprägten, ja sie nach einem vergleichenden Blick auf das „Fremde“, das „Andere“ sogar stolz gepflegt wurden. Vor allem dem deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts wurde nachgesagt, im westeuropäischen Vergleich einen „Sonderweg“ in die Moderne beschritten zu haben. Die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs und damit einer besonderen politisch-kulturellen Entwicklung, die sich in Deutschland im Kontrast zu anderen europäischen, vor allem westeuropäischen Ländern vollzogen habe, begann sich bereits in den Nachwehen der Französischen Revolution unter Teilen des deutschen Bildungsbürgertums zu verbreiten. Die Bilder der Gräuel im Kopf, die aufgrund der schon guten Kommunikationswege über die Grenzen Frankreichs Verbreitung gefunden hatten, vertrat das deutsche Bürgertum eine dezidierte Anti-Haltung gegenüber revolutionären Eruptionen, die sich nach der in vieler Hinsicht gescheiterten Revolution von 1848 weiter erhärtete. In den Augen bürgerlicher Meinungsführer gerieten die international beobachtbaren revolutionären Erfahrungen zum Ausweis für die historische Notwendigkeit, ja Überlegenheit von „Reformen von oben“. Diese Meinung hielt sich beharrlich. Nicht nur deutsche Historiker, auch Publizisten und Literaten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sahen in dem deutschen monarchisch-konstitutionellen System einen Verfassungstyp, der dem westlichen Parlamentarismus überlegen war. Zugleich hoben sie die Besonderheit des deutschen Geisteslebens gegenüber dem der westeuropäischen Nationen hervor, feierten den Idealismus und die Romantik als besondere deutsche Errungenschaften. Für sie galten diese Eigenarten der deutschen Geschichte, die sie mit der geographischen, konfessionellen und historisch gewachsenen Lage in der Mitte Europas erklärten, als wohlfeile Abweichungen von westeuropäischen Entwicklungen, als Ausgangsbedingungen für einen „besseren“ Weg in die Moderne. Sie präferierten den starken Beamtenstaat gegenüber dem westlichen Parlamentarismus, das preußische Dienstethos gegenüber dem westlichen Glückseligkeitsanspruch, „deutsche Kultur“ gegenüber der „westlichen Zivilisation“, den früh entwickelten Sozialstaat gegenüber dem wirtschaftsliberalen Laisser-faire im Westen. Eine gänzlich andere Interpretation der deutschen Geschichte vertraten spätestens seit den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts vor allem Wissenschaftler, die in den Dreißigerjahren aus Deutschland geflohen oder vertrieben worden waren und häufig in England oder in den USA Aufnahme gefunden hatten. Hatten bereits Friedrich Engels, Max Weber und Thorstein Veblen um die Jahrhundertwende eine kritische Version der Sonderwegthese verfochten, waren es jetzt Wissenschaftler wie Ernst Fraenkel, Hans Rosenberg und dann auch George Mosse und Fritz Stern, die diesen Faden
positive Deutung
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Ergebnisse komparativer Betrachtungen
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der Kritik aufgriffen und weiterspannen. Was vorher als Ausdruck der Überlegenheit gedeutet worden war, erschien ihnen nun auf dem Hintergrund der verheerenden deutschen Entwicklung und ihrer eigenen Emigrationserfahrung als verhängnisvolle Vorstufen eines Sonderwegs in den Abgrund. Auch wenn die Verfechter der negativen „Sonderweg-These“ unterschiedliche Ansätze und Akzentuierungen vertraten, stand doch für sie eine grundlegende Frage im Zentrum: Aus welchen Gründen konnte es in Deutschland im Unterschied zu vergleichbar hochentwickelten Ländern des Westens in der langen Krisenphase nach dem Ersten Weltkrieg zum Sieg einer rechten totalitären Bewegung, zur Perversion durch den Nationalsozialismus und damit zur „deutschen Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) kommen? Ohne dass die kurzfristigen Faktoren mentaler und wirtschaftlicher Depressionen nach dem Ersten Weltkrieg für den Zusammenbruch der Weimarer Republik außer Acht gelassen wurden, schaute die Forschung auf der Suche nach Antworten auf diese Schlüsselfrage nun mit größerer Intensität ins „lange 19. Jahrhundert“ zurück. Damit geriet beinahe zwangsläufig auch das das Jahrhundert so prägende Bürgertum ins Visier. Seine relative Schwäche, die mithalf, alte Eliten, konservative Traditionen und nicht zuletzt den Obrigkeitsstaat zu stärken, hätten mit dazu beigetragen, dem Nationalsozialismus den Weg zu ebnen. Diese Vorstellung eines vergleichsweisen schwachen deutschen Bürgertums machte seine Untersuchung zu einem florierenden Forschungszweig in der deutschen Historiographie. Der vermeintlich abweichende Weg musste ausgeschritten und im historischen Vergleich vermessen werden. Die bislang vorliegenden Ergebnisse zwingen zumindest zur Relativierung der „Sonderweg-These“. Zum einen zeigte sich das deutsche Bürgertum in vielen Bereichen durchaus nicht schwach, wie wir in den vorherigen Kapiteln gesehen haben: Es waren Bürgerinnen und Bürger, die als rege Mitglieder das Vereinsleben prägten, öffentliche Feste als Foren ihrer Wert- und Ordnungsvorstellungen nutzten, als Mäzene bei der Kunst- und Künstlerförderung mitwirkten und als Publizisten und Literaten weitgehend die Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts mitbestimmten. Nicht zuletzt die bürgerliche Vorstellung von der idealen Familie, auf Neigung gegründet und durch Liebe verbunden, als Raum der Muße, Bildung und Geborgenheit und als Schlüsselstelle bürgerlicher Kultur besaß Ausstrahlungskraft weit über die Kreise des Bürgertums hinaus. Zumindest auf kommunaler und kultureller Ebene zeigte sich das deutsche Bürgertum keineswegs nur traditionsverhaftet, sondern durchaus auch innovativ und einflussreich. Hier wirkte es häufig sogar als Motor von Entscheidungen, als Impulsgeber der Modernisierung und Förderer der Moderne. Zum zweiten wurde auch die These, dass die „Feudalisierung“ oder auch „Aristokratisierung“ des deutschen Bürgertums ein Signum besonderer deutscher Unterordnungsbereitschaft unter vorbürgerliche Eliten und Maßstäbe gewesen sei, relativiert. Die komparatistische Forschung hat ergeben, dass Tendenzen zur Symbiose zwischen Teilen des reich werdenden Großbürgertums und Teilen des Adels keine deutsche Besonderheit darstellten. Heiratsbeziehungen zwischen Großbürgern und Adeligen, Nobilitierungen angesehener Bürger, die Imitation adliger Wohn-, Freizeit- und Selbstdarstellungsformen aber auch die Verbürgerlichung des Lebens von Adligen etwa
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in Bezug auf Bildung, Berufstätigkeit und Familienform hat es auch anderswo in Europa gegeben, zum Teil stärker als in Deutschland. Hinzu kam, dass die scheinbare Nachahmung adeliger Lebensführung häufig auch eine bürgerliche Anverwandlung erfuhr. Wenn ein Alfred Krupp sich mit seiner „Villa Hügel“ ein Schloss baute, wollte er damit vor allem demonstrieren, was er durch eigene Leistung erreicht hatte und überdies potenziellen Geschäftspartnern seine wirtschaftliche Potenz und Kreditwürdigkeit vor Augen führen. Wenn Bürgerfrauen dem Adelsusus folgten und für ihre Kinder nannies anstellten, nutzten nicht wenige die dadurch gewonnene Freizeit, um bürgerlichen Aufgaben nachzukommen: Als Aktivistinnen der Frauenbewegung nahmen sie das universelle Versprechen der bürgerlichen Utopie beim Wort, als treibende Kräfte wohltätigen Engagements trugen sie zur Realisierung der Zivilgesellschaft bei. Von einer Schwäche und einer besonders ausgeprägten „Feudalisierung“ lässt sich mit Blick auf das deutsche Bürgertum demnach nicht mehr uneingeschränkt sprechen. Doch eine Besonderheit im gesamteuropäischen Vergleich bleibt: Die Stärke der Beamtenschaft, die namentlich in der Konstituierungsphase des Bürgertums eine Schlüsselrolle übernahm und weiter mächtig blieb, beförderte eine bürokratische Durchfärbung der deutschen Gesellschaft. Hinzu kam eine verbreitete Skepsis gegenüber Parteienstaat und Parlamentarismus. „Obrigkeitshörigkeit“ und „Untertanengesinnung“ waren Schlüsselbegriffe, um die Mentalität vor allem des wilhelminischen Bürgertums zu umschreiben. Mit dem buckelnden Opportunisten Diederich Heßling setzte Heinrich Mann in seinem 1918 erschienenen Roman „Der Untertan“ dieser Geisteshaltung ein satirisches Denkmal. Und eng damit verknüpft: Die mangelnde Zivilität, die sich in einer sozialen Militarisierung vor allem im Wilhelminischen Kaiserreich artikulierte, ist bislang deutlich weniger entkräftet worden – der vorne vorgestellte „Reserveoffizier“ lässt grüßen. Dennoch ist das Bürgertum in der Diskussion um den „Sonderweg“ etwas aus dem Schussfeld geraten. Dass in Deutschland – und nur in Deutschland – im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts drei fundamentale Entwicklungsprobleme gleichzeitig nach Lösung drängten, wird als wichtige Erklärung ins Feld geführt: zum ersten die Bildung des Nationalstaats, zum zweiten die Entscheidung der Verfassungsfrage und zum dritten die „soziale Frage“ als Folge der bereits begonnenen und nun immer mehr an Kraft und Tempo gewinnenden Industrialisierung. Mit der zeitlichen Überschneidung und der gegenseitigen Beeinflussung dieser drei Krisen hingen ihre unvollkommenen Lösungen zusammen, für die zwar auch das Bürgertum – aber nicht allein – die Verantwortung trug. Überdies: Am Beispiel der Sonderweg-Debatte wird deutlich, wie sehr die Ergebnisse eines Vergleichs von der Wahl der Vergleichspartner abhängen. Sofern man nicht nur mit dem Westen vergleicht, sondern zudem die osteuropäischen Entwicklungen in den Blick nimmt, ändert sich das Bild. Dann treten nicht die Grenzen, sondern umgekehrt die Stärken deutscher Bürgerlichkeit hervor. Dass die These vom „deutschen Sonderweg“ namentlich auch in der Bürgertumsforschung mittlerweile keineswegs mehr so forschungsleitend im Zentrum steht, wie noch in den 1980er und 1990er Jahren, ist auch mit neuen Fragen und Ansätzen in der Historiographie verbunden. Das Sonder-
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weg-Konzept entstand auf der Grundlage der Lebenserfahrungen und Erkenntnisinteressen von westorientierten Historikern, die, wie Jürgen Kocka schreibt, „die Last ihrer Vergangenheit mit den Chancen ihrer Zukunft kompatibel machen“ wollten. Als Antwort auf jene Frage und als Teil dieses Zusammenhangs hat die „Sonderweg-These“ weiterhin Sinn, wenngleich in inhaltlich modifizierter Form. Die Deutungsfigur des „Sonderwegs“ kann also nicht generell als „historisch überholt“ diskreditiert werden. Doch auch ihre Grenzen dürfen nicht aus den Augen geraten. Heute noch die Sonderwegthese zum roten Faden einer deutschen Nationalgeschichte zu nehmen, würde kaum noch einem Historiker in den Sinn kommen.
3. Welt-Bürger-Visionen: Phantasten und Imperialisten
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Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, beflügelt durch erweiterte Verkehrs- und Kommunikationswege, durch Reiseliteratur und Weltausstellungen, entwickelte sich in weiten Teilen des europäischen Bürgertums ein „globales“ Bewusstsein. Die Welt rückte zusehends zusammen, Begriffe wie „Weltpolitik“ und „Weltwirtschaft“ kursierten nicht nur auf höchster Regierungsebene, sondern auch im bürgerlichen Verein oder am häuslichen Mittagstisch. Der Begriff „Globetrotter“ fand Eingang auch in deutsche Wörterbücher. Kolonialwarenläden schossen wie Pilze aus dem Boden. Beteiligung an Debatten über Auswanderungsgesetze oder Protektionismus, über die vermeintlich um sich greifende „Amerikanisierung“ oder die „Gelbe Gefahr“ verweisen auf ein bereits im 19. Jahrhundert entwickeltes Bewusstsein, das weit über eine bloße Nabelschau hinauswies und selbst bis in die Kinderstuben vordrang: Puppenhäuser erhielten Zimmer im japanischen Stil, ein Globus oder die Weltkarte schmückten die Stuben der Bürgersöhne. Liebig-Sammelbilder mit exotischen Motiven kamen auf, Karl May stand hoch im Kurs. Gemeineuropäisch, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, waren auch koloniale Bestrebungen, der „Wettkampf“ um Weltmacht. Hatten die Deutschen vor den 1870er Jahren von Kolonien „nur geträumt“ (Susanne Zantop) und sich gerne von Schriftstellern in ferne Länder entführen lassen, wurde aus der „Kolonialschwärmerei“ seit den 1880er Jahren konkrete Kolonialpolitik. Und wie so vieles im 19. Jahrhundert war auch die Kolonialpolitik ein bürgerliches Projekt. Das gilt sowohl für Verfechter und Träger als auch für die Motive und Mittel dieser Politikvariante. Zunächst waren es vor allem Wirtschaftsbürger, die sich hier engagierten. Bereits seit den 1850er Jahren hatten hanseatische Firmen vor allem in der polynesischen Inselwelt versucht, buchstäblich „Land zu gewinnen“. 1877 waren 87% des Exports von und 79% des Imports nach Samoa und Tonga in deutscher Hand. Eingeführt wurden vor allem Textilien, Eisenwaren, Waffen und Munition. Exportwaren nach Europa waren Kokosöl, Baumwolle, Perlmutt und Schildplatt. Doch diese Unternehmungen waren nicht ohne Risiko, zumal einige Unternehmen im Kaiserreich zwar sehr schnell prosperierten, jedoch in der
Welt-Bürger-Visionen: Phantasten und Imperialisten Regel noch wenig abgesichert agierten. Ende der ersten Depression 1879 geriet das große Hamburger Handelshaus Godefroy, das auf den Samoa-Inseln im Südpazifik die Spitzenposition unter den westlichen Firmen gewonnen hatte, nicht zuletzt wegen der heimischen Tiefkonjunktur unter Druck. Staatliche Intervention war gefragt, am 27. April 1880 stand die so genannte „Samoa-Vorlage“ auf der Tagesordnung des Reichstages. Mit Reichsmitteln sollte das Handelsunternehmen saniert werden. Die Chancen dafür standen nicht schlecht. Grundsätzlich hatte sich stimmungsmäßig der Wind gedreht, Kolonien galten nicht mehr als Hirngespinste weniger, sondern waren zum tagespolitischen Thema geworden. Überdies beanspruchte die Unternehmerfamilie Godefroy eine Schlüsselstelle im Wirtschaftsgefüge des Kaiserreichs. Mit der Zusage der Unterstützung war der Damm gebrochen, Bismarck, bislang alles andere als ein Anhänger der Kolonialpolitik, schwenkte nun um. Das Jahr 1884 markierte dann die entscheidende Zäsur in der vorher eher zurückhaltenden Kolonialpolitik des Kaiserreichs. In schneller Abfolge stellte Reichkanzler Otto von Bismarck nun mehrere Besitzungen deutscher Kaufleute unter den Schutz des deutschen Reiches. Den Anfang machten die Ländereien des Bremer Kaufmanns Adolf Lüderitz an der Bucht von Angara Pequena im April 1884, die als „Deutsch-Südwestafrika“ unter den Schutz des deutschen Reiches gestellt wurden. Im Juli folgte Togoland sowie die Besitzungen von Adolph Woermann in Kamerun, im Februar 1885 das von Carl Peters und dessen „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ erworbene ostafrikanische Gebiet. Im April desselben Jahres erwarben die Brüder Clemens und Gustav Denhardt schließlich noch Wituland. Mit der Übernahme von pazifischen Gebieten, Nord-Neuguinea (Kaiser-Wilhelms-Land) und der davor gelegenen Inselgruppe (Bismarck-Archipel) im Mai 1885 war die erste Phase deutscher Kolonialpolitik abgeschlossen. In dieser Phase ging es Bismarck primär darum, privaten Unternehmen durch staatliche Schutzbriefe den Handel und die Verwaltung der jeweiligen „Deutschen Schutzgebiete“ zu übertragen. Staatliche Interventionen sollten auf ein Minimum beschränkt bleiben. Doch dieser Vorsatz musste bereits nach wenigen Jahren aufgegeben werden. Die Schutzgebiete brauchten finanzielle Unterstützung, häufig ersuchte man auch um militärische Sicherung vor Aufständen der indigenen Bevölkerung. Sehr bald sah man sich gezwungen, alle Kolonien direkt und formal der staatlichen Verwaltung des Deutschen Reiches zu unterstellen. An ihrer Spitze standen nun Gouverneure, unterstützt durch Beamte und Sekretäre. Dazu kamen Schutztruppen, militärisch organisierte Polizeitruppen und eigene Schutzgebietsgerichte. Die oberste Leitung der „Schutzgebiete“ lag zwischen 1890 und 1907 in den Händen der Kolonialabteilung, die dem Reichskanzler unterstand. 1907 wurde ein Reichskolonialamt mit einem Staatsekretär an der Spitze geschaffen. Deutsche Kolonien im Kaiserreich Deutsch-Neuguinea (1885–1914), erworben durch Otto Finsch (1839–1917) Deutsch-Ostafrika (1885–1919), erworben durch Carl Peters (1856–1918) Deutsch-Südwestafrika (1884–1918), erworben durch Franz Adolf Eduard Lüderitz (1834–1895)
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Deutsch-Witu (1885–1890), erworben durch die Gebrüder Clemens Andreas (1852–1929) und Gustav Denhardt (1856–1917) Kiautschou (1898–1914) Kamerun (1884–1919), erworben durch Dr. Gustav Nachtigal (1834–1885) Samoa (1899–1919) Togoland (1884–1919), erworben durch Dr. Gustav Nachtigal
Die Motive der Protagonisten der Kolonialisierung, durch die Bank bürgerlicher Herkunft –, Peters und Nachtigal waren Pfarrerssöhne, die anderen kamen aus Kaufmannsfamilien – waren auf den ersten Blick primär ökonomisch begründet. Die Hoffnung auf unermessliche Absatzmärkte und die Ausweitung des Marktes nach Übersee war zumindest in der Frühphase groß. Deutsche Wirtschaftsbürger als verspätete Durchstarter im Industrialisierungsprozess glaubten überdies, die schon vertraute Rivalität im europäischen Staatensystem nun auch im globalen Maßstab fortsetzen zu müssen, um nicht erneut den Anschluss zu verlieren. Doch: Auch wenn einzelne Wirtschaftsbürger in Übersee ihr Glück machen konnten, erwiesen sich die Kolonien doch langfristig als wenig profitabel, ja eher als Verlustgeschäfte. Dass dennoch an einer Kolonialpolitik festgehalten wurde, ja die Frage nach deutschen Kolonien sogar im Laufe des Kaiserreichs immer stärker auf die Diskursarena drängte, hing mit einem ganzen Motivbündel zusammen: Zum einen glaubte man mit ihrer Hilfe, der „sozialen Frage“, einer besorgniserregenden Begleiterscheinung der rasanten Industrialisierung, Herr werden zu können. Mögen bei Bismarcks Stimmungswechsel Intentionen mitgeschwungen haben, durch außenpolitische Erfolge das bröckelnde Charisma zu restaurieren, von innenpolitischen Krisenherden abzulenken und bürgerliche Wähler zurückzugewinnen, kurz: „Sozialimperalismus“ (HansUlrich Wehler) zu betreiben, sahen einige Bürger ganz konkret die Kolonien als Auffangbecken heimischer Probleme. Die demographische Entwicklung beschwor Ängste vor einer Überbevölkerung herauf, die durch ein Umlenken potenzieller Auswanderungsströme in deutsche Kolonien kanalisiert werden sollte. „Bedarf Deutschland der Kolonien“ lautete, als rhetorische Frage formuliert, eine Abhandlung von Friedrich Fabri (1824–1891) aus dem Jahr 1879, die ganz offensichtlich den Nerv der Zeit traf. Der Pfarrerssohn Fabri, Inspektor der Afrika-Mission, wollte seine Broschüre ausdrücklich als politisch-ökonomische Betrachtung verstanden wissen. Wie viele seiner Zeitgenossen sah er Überbevölkerung, Überproduktion und Kapitalüberschuss als Ursache der wirtschaftlichen Krise, Kolonien dagegen als Allheilmittel. Es war kein Zufall und erst recht kein Einzelfall, dass sich hier ein Geistlicher als politisch-ökonomischer Krisenmanager versuchte. Im Prozess der Kolonialisierung trat eine Reihe von Bürgern auf den Plan, die sich als Missionare in mehrfacher Hinsicht verstanden, indem sie wirtschaftliche, politische und christliche Motive miteinander vermengten. Die häufige Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung trog demnach nicht: Zwischen Eroberern, Ausbeutern und Missionaren klar zu unterscheiden, widersprach ihrer Alltagserfahrung: Für viele schien das Christentum eine ideologische und rituelle Begleiterscheinung des westlichen Imperialismus zu sein.
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Und in der Tat spielten vor Ort bildungs- und wirtschaftsbürgerliche Kräfte zusammen. Missionare nahmen, nicht zuletzt als Dolmetscher oder Vermittler, an den Verhandlungen teil und ebneten damit, so zumindest sahen sie es selbst, den Weg zur Verständigung mit den Unterhändlern, schufen erst die Basis des Vertrauens. Ihr Anteil am Zustandekommen der Schutzverträge war nicht selten maßgeblich, häufig fungierten sie als diplomatischere Türöffner für die mit den einheimischen Gepflogenheiten noch wenig vertrauten Kaufleute. Einen Widerspruch zu ihrem christlichen Auftrag sahen dabei die wenigsten. Für den Hereromissionar Carl Hugo Hahn war die Aufforderung der Rheinischen Missionsgesellschaft, Handel und Mission strikt zu trennen, 1873 sogar der Grund, seinem Arbeitgeber die Gefolgschaft zu kündigen. Ohnehin stellte diese Haltung der Missionsgesellschaft eine Ausnahme dar; in der Regel begrüßten die Missionsleitungen euphorisch jede Schutzbriefübernahme des Deutschen Reiches, zeigten sich in Glückwunschtelegrammen begeistert, dass nun auch Deutschland „endlich an der großen Weltherrschaft Europas“ seinen angemessenen Anteil nähme. Auf welcher Seite die vermittelnden Missionare in der Regel standen, wenn sie die Verhandlungen begleiteten, lässt sich unschwer ahnen. Ob sie wirklich immer alles oder auch alles korrekt übersetzten, ist nicht nachweisbar. Dass aber zumeist die Kolonialherren ihre Verhandlungspartner übervorteilten, haben die wenigsten verhindert. Schließlich teilten beide ein Überlegenheitsgefühl, verstanden Kolonialismus als Zivilisationsmission. Die „Erziehung des Negers zur Arbeit“, lautete der gemeinsame, selbst erteilte Auftrag. Ein Auftrag, mit klar zugewiesenen Kompetenzen: Sollte durch die staatliche Seite der physische Gehorsam erzwungen werden, sollte die „seelische Unterwürfigkeit“ allein mit Hilfe der Mission erwirkt werden. Die Erziehung zur Arbeit, die man sich auch in den Kolonien auf die Fahne schrieb, entsprach dem bürgerlichen Lebenskonzept: Schließlich galt Arbeit als essentieller Kern der Subjekt-Bildung und als Motor der Moderne. Wie schon die Bürgerkinder früh an ein diszipliniertes Leben nach dem Stundenplan gewöhnt wurden, infantilisierte man die einheimische Bevölkerung, um damit den erzieherischen Zugriff zu rechtfertigen. Doch anders als die kleinen Bürgerinnen und Bürger, die für die Partizipation an der bürgerlichen Gesellschaft vorbereitet wurden, sollte bei aller kulturellen Mission die scharfe Grenze zwischen Kolonialherren und kolonialen „Subjekten“ niemals überschritten werden. Diese Vorstellung brach sich vor Ort in den Kolonien durch immer brutalere Rücksichtslosigkeiten und Herrenmenschenattitüden Bahn. Immer chauvinistischere und rassistischere Töne bestimmten nun auch die Kolonialdiskurse des Kaiserreichs. Für das Bildungsbürgertum bedeutete der Übergang zur „Weltpolitik“ und zur Kolonialexpansion eine fast natürliche Fortsetzung seines Reichsnationalismus und seiner von einem Überlegenheitsgestus getragenen Weltmachtaspirationen. Das war ein Ziel, für das sich auch das Gros der Öffentlichkeit begeistern ließ, die Befriedung des nationalen Geltungsbewusstseins ließ sich als Integrationsideologie trefflich nutzen. Doch so ganz neu waren diese Töne nicht, Weltmachtsträume waren bereits im Vormärz zu hören gewesen:
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Frühe Weltmachtphantasien aus: Richard Wagner: Ansprache vom 15. Juni 1848 im Dresdner Vaterlandsverein, zit. in: Gisela Graichen u. Horst Gründer: Deutsche Kolonien. Traum und Trauma, Berlin 2007, S. 33. Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren, da und dort ein junges Deutschland gründen, es mit den Ergebnissen unseres Ringens und Strebens befruchten, die edelsten, gottähnlichen Kinder zeugen und erziehen: wir wollen es besser machen als die Spanier, denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus, anders als die Engländer, denen sie ein Krämerkasten wurde. Wir wollen es deutsch und herrlich machen: vom Aufgang bis zum Niedergang soll die Sonne ein schönes, freies Deutschland sehen und an den Grenzen der Tochterlande soll, wie an denen des Mutterlandes, kein zertretenes unfreies Volk wohnen, die Strahlen deutscher Freiheit und deutscher Milde sollen den Kosaken und Franzosen, den Buschmann und Chinesen erwärmen und verklären.
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Doch im Kaiserreich fanden solche Vorstellungen in eigenen Vereinen, der bürgerlichen Ausdrucksform par excellence, nun institutionellen Rückhalt und halfen, die Politik unter Druck zu setzen. Es erstaunt wenig, dass der Aufbruch des deutschen Imperialismus seit dem Ende der 1870er Jahre auch Vereine im Schlepptau hatte, in denen ein „Nationalismus“ hochgehalten wurde, der weit über die Grenzen des von Bismarck noch 1871 für „saturiert“ erklärten deutschen Reiches hinausstrebte. Geographische Gesellschaften waren im Gefolge der Entdeckungsreisen ins Innere Afrikas schon in den 1860er Jahren entstanden. Im „Centralverein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland“ (1878), im „Westdeutschen Verein für Kolonisation und Export“ (1881) und dem „Deutschen Kolonialverein“ (1882) waren neben Exportinteressen, Auswanderungsregulierung und sozialintegrativen Motiven immer auch Weltmachtphantasien unüberhörbar. Das Ansehen der Nation und die Selbstbehauptung im Konkurrenzkampf der europäischen Mächte wurden in den seit den 1880er Jahren aus der Taufe gehobenen Kolonialvereinen zu den treibenden Kräften. Mit seinem Schlagwort vom „Platz an der Sonne“ brachte Bernhard von Bülow, zunächst Staatssekretär des Auswärtigen, seit 1900 Reichskanzler, diese Ambitionen auf den Punkt. Die Klientel dieser Vereine deckte das bunte Spektrum des Bürgertums in seiner ganzen Breite ab: Erfolgreiche Geschäftsleute und Schriftsteller, Geistliche und höhere Beamte, Juristen und Bankiers waren hier versammelt, wobei in dieser Phase eher die Bildungsbürger dominierten. Während der „Kolonialverein“ von 1882, der schon bei seiner Gründung rund 12.400 Mitglieder zählte, primär bürgerlich geprägt war, kam in seiner Konkurrenzinstitution, der „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ von 1884 eher eine kleinbürgerlich geprägte Klientel zusammen; die knapp 4.500 Mitglieder bildeten vor allem eine Unterstützungslobby für Carl Peters Afrika-Unternehmungen. Ende 1887 fusionierten beide zur „Deutschen Kolonialgesellschaft“, die von anfangs 14.483 Mitgliedern auf rund 43.000 vor dem Ersten Weltkrieg anwuchs. 41% ließen sich dem Wirtschaftsbürgertum zurechnen, 39% dem Bildungsbürgertum. Zentrales Sprachrohr war die Wochenschrift „Deutsche Kolonialzeitung“, die nicht müde wurde, die Überwindung der deutschen Bescheidenheit zu proklamieren.
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Das war auch der Tenor des 1893 gegründeten „Alldeutschen Verbandes“, der sich zwar nicht ausschließlich als Kolonialverband verstand, aber nicht zuletzt auch die Weltgeltung des deutschen Reiches großschrieb. Auch dies war ein Bürgerprojekt: Gut die Hälfte aller leitenden Positionen hatten Lehrer und höhere Beamte, Rechtsanwälte und Ärzte inne. Die Unternehmerschaft war dagegen mit rund 20% eher schwach vertreten. Wie bereits in den Kolonialvereinen spielte sich im „Alldeutschen Verein“ die Stimmung der bildungsbürgerlichen Meinungsmacher der Zeit wider: der zu einer „Säkularreligion“ (Hans-Ulrich Wehler) gesteigerte Nationalismus, diffuse Ängste vor einer hereinbrechenden Flut von „Fremdvölkischen“ und „Reichsfeinden“ und nicht zuletzt die vehemente Forderung nach Ausdehnung deutscher Kultur durch imperialistische Bestrebungen. Auch dem „Deutschen Flottenverein“ (DFV) ging es darum, „Weltpolitik“ zu betreiben. Ohne eine mächtige Flotte, so die Ansicht der Männer, die am 30. April 1898 in Berlin zur Gründung des Vereins zusammenkamen, ließ sich dies nicht realisieren. Es waren vor allem Repräsentanten wirtschaftlicher Interessen aus der Schwerindustrie, den Werften und den Banken, die sich hierfür, der Unterstützung Wilhelms II. gewiss, stark machten. Begleitet von einer enormen Propagandakampagne sollte das Ziel des Vereins populär gemacht werden. Durchaus mit großem Erfolg: Schon Ende 1898 verfügte der Verein über 78.650 Mitglieder, wobei die Vereine, die sich dem Flottenverein als korporative Mitglieder anschlossen, nicht mitgerechnet waren. Bis 1913 erhöhte sich die Mitgliederquote auf über 1 Million, darunter 333.500 individuelle und 790.000 Vereine als korporative Mitglieder. Doch wenn die Kolonialbefürworter zumeist Bürger waren, so kamen auch die Kritiker primär aus bürgerlichen Reihen. Mit viel Verve demaskierten sie die vermeintlich hehren Ziele der Kolonialherren, blutige Auseinandersetzungen und skandalträchtige Auftritte von einigen Kolonialherren, die sich jetzt in den Kolonien häuften, gaben ihnen gute Argumente.
Die Schattenseiten „ernsten Kulturarbeit“ aus: Franz Giesebrecht: „Kolonialgreuel“. Kulturhistorische Studie, in: Neue Deutsche Rundschau 6, 1895, S. 143–157, Zitat, S. 153.
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Kolonisation ist also eine wunderschöne Sache und ‚des Schweisses der Edlen wert‘. Was kann es auch Erhabeneres geben auf dem Erdenrund, als ‚im Dienste der Menschheit‘ den armen, unzivilisierten Wilden die Segnungen der Kultur zu bringen und der europäischen Gesittung den Weg zu bereiten!? – Eine famose Phrasenbrühe! – Das Rezept zu derselben ist in dem humanitären Kochbuche der Kulturköche zu finden. Wirft man dann noch die hohe, heilige Mission des Christentumes, welche die in Götzenanbetung versunkenen Heiden mit dem Evangelium zu beglücken sich Mühe giebt, in denselben Topf hinein, dann erhält man als Resultat ein Mixtum compositum, an dem sich die heidnischen Wilden und wilden Heiden schon lange den Magen verdorben haben. Ja, gewiss! Die ernste Kulturarbeit ernster Kulturträger verdient in der That die allerhöchste Anerkennung. Aber leider sind diese ‚ernsten Kulturträger‘ dünn gesät unter den Kolonisatoren, und der ‚Schweiß der Edlen‘ perlt nicht auf jedermanns Stirn. Die ‚ernste Kulturarbeit‘ spielte stets das Aschenbrödel unter den Aufgaben, welche die kolonisierenden Nationen zu lösen bestrebt waren. Reine, selbstlose Motive gaben selten den Anlass zu kolonisatorischen Bestrebungen …
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Doch so hoch die Wellen des Kolonialdiskurses im Kaiserreich auch schwappten: Der Kolonialismus war in der deutschen Geschichte eine vergleichsweise kurze und wenig erfolgreiche Episode. Nur ein Bruchteil von deutschen Bürgerinnen und Bürgern entschied sich, in die Kolonien auszuwandern, um dort, „deutsche Kultur“ zu verbreiten. Dennoch: Vor allem in der heimischen Öffentlichkeit wurde man nicht müde, die auslandsdeutschen Siedlungen dort als bürgerliche Enklaven zu idealisieren, in denen traditionelle Werte, abgeschirmt von den Verwerfungen der Moderne, weiterleben könnten. Begeistert berichteten Reisende, dass man dort den bürgerlichen Lebensstil besonders kultivierte: weiß getünchte Häuser mit blütenweißen Gardinen vor den Fenstern, Biedermeiermöbel, das tägliche Ritual des Kaffeekränzchens, bestickte Tischtücher, die Pflege der deutschen Sprache – all dies zusammengenommen galt als Ensemble einer bewahrenswerten Kultur, die „zu Hause“ selbst immer mehr bedroht schien. Gleichsam als Zeitreise zurück in eine bessere deutsche Geschichte, in eine Blütezeit des Bürgertums, wurden Reisen in die Kolonien stilisiert.
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Ausblick „Bald kommt die Zeit, wo wieder der Geist entscheidet. … So viele Jahrhunderte hat die Familie sich bewährt. Wo bleiben nachher die Geisterlein: Sie werden vom Winde verweht!“ Mit dieser bürgerstolzen Durchhalteparole mitten im totalen Krieg gemahnte ein Sanitätsoffizier am 1. September 1943 seine Frau, den Mut nicht sinken zu lassen. In den mehr als 2000 Briefen, die das Ehepaar seit Kriegsbeginn wechselte, scheint das unverkennbare Bemühen auf, allen widrigen Umständen zum Trotz die bürgerliche Wertewelt aufrechtzuerhalten: Es geht um Erziehung und Leistung der vier Söhne, um Kindstaufen und Geburtstagsfeiern, um Lektüreempfehlungen und Konzertbesuche, künftige Kunsterwerbungen und angemessene Verkehrskreise bis hin zur Stilisierung des Krieges zur Bildungsreise. Selbst in Diktatur und Krieg, davon zeugen eine Vielzahl ähnlicher Quellen, konnten Restbestände eines Bürgertums und einer habituellen Bürgerlichkeit offenbar überwintern. Dies widerspricht der Annahme, dass mit dem dezidiert anti-bürgerlichen nationalsozialistischen Regime der endgültige Niedergang von Bürgertum und Bürgerlichkeit besiegelt wurde, ein Niedergang, der schon im Kaiserreich seine Schatten vorauswarf, als der bürgerlichen Gesellschaft widerstrebende Vorstellungen von Intoleranz und Illiberalität immer mehr Raum gewannen. In der vom Bürgertum so ungeliebten Republik von Weimar, in den Augen vieler Bürger gekennzeichnet von einer unverdienten Kriegsniederlage und drohender Deklassierungsfurcht, verstärkten sich diese Tendenzen weiter. Nicht zum Kampf für die Republik trat jetzt das Gros des Bürgertums an, sondern als Störenfried demokratischer Bestrebungen und Beschwörer einer vermeintlich goldenen Ära der Monarchie. In der nationalsozialistischen Diktatur, so anti-bürgerlich sie sich gab und so hämisch man von Bürgerseite über die unkultivierten Machthaber die Nase rümpfte, stellte das Bürgertum keineswegs nur Zuschauer, Mitläufer oder auch Opfer, sondern vielfach auch verantwortliche Täter. Neben der Mehrheit der Ärzte, Juristen und Architekten halfen auch Vertreter des Wirtschaftsbürgertums zum Teil entscheidend mit, dem Nationalsozialimus und seinen mörderischen Zielen zum Sieg zu verhelfen. Überall in der unmenschlichen Machtmaschinerie findet man Bürger reibungslos eingepasst, manche sogar an ihren direkten Schaltstellen. Wo blieben die Freiheitsrechte, für die das Bürgertum rund hundert Jahre zuvor noch auf die Barrikaden gegangen war? Was wurde aus dem Rechtsstaat, für den man gekämpft hatte? Die so stolze Bürgergesellschaft schien am Ende und mit ihr das sie tragende Bürgertum. Gute Argumente auf der einen Seite, um in den Schwanengesang auf das Bürgertum einzustimmen. Die Diagnose des „verdienten Exitus“ (Hans-Ulrich Wehler) drängt sich geradezu auf. Auf der anderen Seite verweisen soziologische und zögerlich auch historische Forschungen in jüngster Zeit darauf, dass auch die Gesellschaft nach 1945 noch bürgerliche Züge trug und trägt. Gleichsam wie ein „Phönix aus der Asche“ sei, so Hans-Ulrich Wehler, das Bürgertum wieder auferstanden,
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Ausblick hätte schnell wieder Fuß gefasst an entscheidenden Positionen in Wirtschaft, Politik und Kultur. Vor allem weite Teile des Wirtschaftsbürgertums konsolidierten sich sehr bald, schufen und genossen die Wirtschaftswundergesellschaft der 1950er Jahre. Auch vertraute, bürgerlich geprägte Interessenverbände kamen, das hat Hannes Siegrist gezeigt, schnell wieder zum Zug. Soziologische Studien wie die von Michael Hartmann betonen die bürgerliche Kontinuität bei der Rekrutierung von Managern. Die geschlossenen Heiratsmärkte vor allem unter Akademikern und Akademikerinnen hat der Soziologe Hans-Peter Blossfeld wiederholt nachweisen können. Und schließlich: Mit Blick auf die Gesellschaft kann man mit Jürgen Kocka konstatieren, dass die im 18. Jahrhundert entworfene Utopie heute näher denn je gerückt ist.
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„Voranschreitende Verbürgerlichung“ Ende des 20. Jahrhunderts aus: Jürgen Kocka: Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9–10, 2008, S. 3–8, S. 8. Man kann die vergangenen fünfzig bis sechzig Jahre deutscher Geschichte – zunächst nur im Westen, seit 1990 im ganzen Land – als eine Geschichte schrittweise voranschreitender Verbürgerlichung verstehen: Schrittweise wurde die deutsche Wirklichkeit so verändert, dass sie dem Modell einer bürgerlichen Gesellschaft – heute spricht man lieber von Bürger- oder Zivilgesellschaft – allmählich näherkam und stärker entsprach, mehr und näher als jemals zuvor in der deutschen Geschichte. Dazu gehören als Rahmenbedingungen einerseits des parlamentarisch-demokratischen Rechts- und Verfassungsstaats; andererseits eine funktionierende Marktwirtschaft mit Privateigentum und relativ autonomen ‚Tarifpartnern‘; dazu gehört schließlich der kräftig ausgebaute Sozialstaat … In diesem Rahmen hat sich … eine leistungskräftige Bürgergesellschaft entwickelt, mit, (a) lebhafter und zensurfreier Öffentlichkeit, (b) mit zahlreichen streitenden und kooperierenden Gruppen und Organisationen, (c) mit viel bürgerschaftlichem Engagement zwischen Staat und Markt (Vereine, Stiftungen, Nachbarschaftsinitiativen, NGOs, Netzwerke) und (d) mit einer Kultur, in der bürgerliche Werte wie Freiheit, Selbständigkeit, Kritik, Leistungsorientierung, Respekt für Wissenschaft und Kunst sowie Verantwortung für das Gemeinwohl eine Rolle spielen.
Selbstkritische Erinnerungen, die namentlich an die Zeiten fern aller Bürgerlichkeit, an die beiden deutschen Diktaturen gemahnten, befestigten diesen Weg. Ganz offensichtlich hatte man aus der Geschichte gelernt und dabei die Vorzüge der bürgerlichen Gesellschaft wieder entdeckt. Dass die Ideale der Zivilgesellschaft, so der heute gebräuchlichere Begriff, nun jedoch nicht mehr nur von einer kleinen bürgerlichen Minderheit der Gesellschaft hochgehalten und getragen wurden, ist sicherlich ein Unterschied, der die Zeitgeschichte von der Geschichte des langen 19. Jahrhunderts abhebt (auch wenn man nicht vergessen sollte, dass bereits im Kaiserreich viele andere Schichten diesem Ideal, zum Teil sogar konsequenter anhingen als das Bürgertum). Dennoch: Im Laufe des 20. Jahrhunderts war eine Trennung von Bürgertum und Bürgerlichkeit, von Sozialformation und damit verbundener Kultur eher möglich als im Jahrhundert zuvor. Doch heißt das gleichzeitig, dass mit der Diffusion bürgerlicher Werte auch das Bürgertum von der Bildfläche verschwand, dass wir es im 20. und
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Ausblick 21. Jahrhundert eher, wie Soziologen wie Heinz Bude und Paul Kaiser vermuten, mit einer „Bürgergesellschaft ohne Bürgertum“ zu tun haben? Zumindest wäre ein klares „ja“ auf diese Frage vorschnell, stehen doch die entscheidenden empirischen Studien noch aus. Zu Recht hat Klaus Tenfelde dafür plädiert, gezielt in Institutionen, die von jeher als Stätten bürgerlicher Kulturmuster und Praktiken galten, auf Spurensuche zu gehen. Erste Hypothesen lassen sich wagen, soziologische Studien stützen sie: Bei allem klassenübergreifenden Vereinsleben und bürgergesellschaftlichen Engagement, die bald nach Kriegsende zur Entfaltung kamen, scheint sich in einigen Bereichen dieser Öffentlichkeit weiterhin eine Affinität zwischen Zivilgesellschaft und einer spezifischen bürgerlichen Gruppierung gehalten zu haben. Die Vermutung liegt nahe und erste Auswertungen bestätigen es, dass sich in den zahlreichen Kunstvereinen, Berufsverbänden und Service-Clubs eine geschlossene, exklusive Klientel traf. Ärzte, Rechtsanwälte und Unternehmer blieben lange im Tennis- und Golfverein unter sich, auf dem Fußballplatz waren sie indessen weniger zu finden. Auch in den frühen Bürgerbewegungen, in denen sich dem Namen nach alle Staatsbürger unter dem Banner eines gemeinsamen Interesses vereinten, gab vornehmlich eine bildungsbürgerliche Klientel, dem Erbe der Gemeinwohlorientierung verpflichtet, den Ton an. Neben Vereinen und anderen zivilgesellschaftlichen Engagements wurde Bürgerlichkeit vor allem in der Familie geprägt und an die folgende Generation weitergegeben. Zu Recht hat die Bürgertumsforschung in der bürgerlichen Familie eine wesentliche Säule des Bürgertums erkannt. Zu Unrecht werden jedoch im Gegenzug Veränderungen der Familienstruktur, die mit neuen Vorstellungen von partnerschaftlichen Beziehungen, elterlicher Verantwortung und ehelicher Dauer verbunden waren und sich vor allem seit den späten 1960er Jahren markant abzeichneten, die Verantwortung für ein vermeintliches Ende des Bürgertums übertragen. Nimmt man den universalistischen Anspruch der Utopie der bürgerlichen Gesellschaft ernst, so dürfte mit einer gleichberechtigteren Teilhabe von Bürgerinnen an allen Offerten der Bürgergesellschaft doch eher ein weiterer Schritt hin zum idealen Programm als ein endgültiger Abschied einhergegangen sein. Bei genauerem Hinsehen wird man überdies das Veränderungspotenzial der Institution der Familie geringer einschätzen müssen als lange Zeit angenommen. Schon Helmut Schelsky konstatierte Mitte der Fünfzigerjahre mit Erstaunen die Beharrungskraft familiärer Traditionen in den von ihm untersuchten Familien, die sich so gar nicht seiner Wandlungstheorie und seiner Idee der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ fügen wollten. Innerfamiliale Arbeitsteilung verlief auch in der DDR-Gesellschaft, die für sich die Gleichberechtigung der Frauen in Anspruch nahm, weitgehend nach eingefahrenen Mustern. Aktuelle familienpolitische Maßnahmen, die der bereits in den Fünfzigerjahren aufkommenden Rede von den „neuen Vätern“ konkrete Form geben wollen, riefen noch jüngst vehemente Diskussionen hervor, die verdeutlichen, wie lebendig traditionelle Familienideale noch heute in den Köpfen vieler sind. Bürgerlichkeit stellt sich nach wie vor primär durch die familiäre Erziehung her. Hier werden zivilgesellschaftliche Werte geprägt und verinnerlicht und damit verbundene distinktive Verhaltensnormen und unverkrampfte Umgangsformen, der „Habitus“ des souveränen Auftretens
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Ausblick und das Wissen um die „kleinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) von kleinauf erlernt. Vieles spricht demnach dafür, sich wirklich auf Spurensuche nach Bürgertum und Bürgerlichkeit auch im 20. Jahrhundert zu begeben. Doch dabei kann es nicht darum gehen, die lange Kontinuitätslinie einfach weiter in die Zeitgeschichte hinein zu verlängern. Zumindest für die Geschichte des deutschen Bürgertums, selbstzerstörerisch wie es in der ersten Jahrhunderthälfte auftrat, verbietet sich dies. Was sind die grundlegenden Veränderungen? Zunächst: Ein wesentlicher Teil des deutschen Bürgertums, der nicht zuletzt die bürgerliche Kultur entscheidend mitgeprägt hatte, fehlte. Mit der Vertreibung und Ermordung jüdischer Bürgerinnen und Bürger hatte das deutsche Bürgertum nicht nur Millionen von Mitbürgern das Leben genommen, sondern seiner eigenen Kultur einen Teil seiner Seele. Zum zweiten: Krieg, Nachkriegszeit und deutsche Teilung nahmen großen Teilen des Bürgertums die unabdingbare materielle Basis. Die DDR kappte weitgehend alle Möglichkeiten bürgerlicher Selbstständigkeit und beförderte damit das Ende des ostdeutschen Wirtschaftsbürgertums. Dennoch konnten sich bildungsbürgerliche Enklaven, wie Christoph Klessmann, Ralph Jessen und Thomas Großbölting eindrucksvoll gezeigt haben, durchaus halten, zum Teil mit Unterstützung des SED-Regimes, das durch „Einzelverträge“ zur hohen akademischen Selbstrekrutierung beitrug. Bei aller Diffamierung des „Bürgerlichen“ bediente sich die „Elite“ im „Arbeiter- und Bauern-Staat“ aus Mangel eigener kultureller Modelle einer bürgerlichen Attitüde. Ungeachtet dessen war das Bürgertum, ohnehin stets eine soziale Minderheit, in Ostdeutschland auf ein Minimum reduziert. Zum dritten: Die Feindbilder, die sich das Bürgertum im 19. Jahrhundert im Prozess der Selbstvergewisserung und Fremdabgrenzung mit dem Adel und später der Arbeiter- und Angestelltenschaft schuf, haben ihre scharfen Konturen verloren. Auch wenn die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) nie realisiert wurde und namentlich in jüngster Zeit durchaus wieder Züge einer Klassengesellschaft aufscheinen, sind die Gegner weniger fassbar. Umso so stärker wachsen unter diesem „Nivellierungsdruck“ (Hartmut Kaelble) Distinktionsbedürfnisse und -angebote. „Haben“, so fragte Andreas Schulz, „bürgerliche Lebens-, Umgangs- und Ausdrucksformen nicht in erster Linie im verfeinerten, ‚kultivierten‘ Konsum von Gütern des täglichen Bedarfs, von Kunst und Wissenschaft, Reisen und Freizeitsport überlebt?“ Eine rhetorische Frage, die durchaus plausibel erscheint. Kennzeichen für ein solches spezifisches Konsummuster war und ist eine demonstrative Souveränität im Umgang mit einer immer bunteren Warenwelt: Zurückhaltender und selektiver Medienkonsum, kulturbesetzte Freizeitaktivitäten, Festhalten an solider wenn auch kostspieliger „Qualitätsware“, Rückbesinnung auf handwerkliche Wertarbeit, gesundheitsbewusste Lebensmittelwahl wie allgemein ein „politisch korrekter“ Lebensmittelgenuss (Stichwort: „bio“ und „fair trade“) sind Chiffren bürgerlicher Distanzierung in einer sich durchsetzenden Massenkonsumgesellschaft. Die immer weitere Verfeinerung der Unterschiede ist gefragt und, damit verknüpft, ein exklusives Herrschaftswissen adäquater Praxis. Dazu gehört viertens nach wie vor die besondere Bedeutung von Bildung im Lebenshaushalt. Zum einen wurde sie spezialisierter. Der humanistisch
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Ausblick gebildete Universalgelehrte, Paradebürger des 19. Jahrhunderts, geriet zum schmerzlich vermissten Auslaufmodell. Zum anderen wurde sie, zumindest mit der Bildungsreform in den Siebzigerjahren deutlich weniger exklusiv: Zunächst bürgerliche Frauen, später dann auch unterbürgerliche Schichten profitierten eine Zeitlang von einer Öffnung der Bildungschancen. Doch Phasen zurückgehender Exklusivität wechselten mit Phasen erneuter bürgerlicher Vormacht. Überdies begegnete eine sich als „bürgerlich“ verstehende Gesellschaftsschicht der Öffnung der Tore des öffentlichen Bildungswesens, indem sie für ihre Nachkommen neue, wiederum exklusive Bildungswege etablierte, Privatschulen boomen. Und fünftens und letztens: Die bereits im Kaiserreich zunehmende internationale Kommunikation, die in der Wilhelminischen Zeit jedoch so unglücklich gepaart war mit einem sich radikalisierenden Nationalismus, hat nach 1945 andere Dimensionen angenommen. Mit den Erfahrungen der beiden Weltkriege im Rücken wurden grenzübergreifende Kontakte bewusst gesucht und ausschließlich positiv bewertet. Neben staatlichen und kommunalen Engagements zur „Völkerverständigung“, nahm auch auf bürgergesellschaftlicher Ebene die Internationalität zu: Vereine und ServiceClubs verzeichneten in ihren Mitgliederlisten bewusst die Sprachkompetenzen und pflegten mit Partnerklubs im Ausland einen eifrigen Austausch. So wie die Gesellschaft Schritt für Schritt verbürgerlichte, so bekam das Bürgertum, noch forciert durch einen virulenten „Anti-Amerikanismus“, einen noch markanteren europäischen Anstrich und Zuschnitt als schon im 19. Jahrhundert. „Internationalität“ wurde nun ausdrücklich in den Wertehimmel aufgenommen. Phönix aus der Asche oder Ende des Bürgertums – dies sind die beiden Kontroversen, die sich um das Bürgertum des 20. Jahrhunderts ranken. Folgt man nicht der christlichen Vorstellung, die Phönix als Sinnbild einer Auferstehung verstand oder der spätantiken Idee, nach der er, von Feinden verwundet, sich immer wieder erholte, sondern der im Hellenismus gängigen Vorstellung, hat Hans-Ulrich Wehler diese Metapher sehr treffend gewählt. Danach baut sich Phönix am Ende seines mehrere Jahrhunderte währenden Lebens das Nest selbst, in dem er verbrennt. Nach Verlöschen der Flammen bleibt ein Ei zurück, aus dem nach kurzer Zeit ein „neuer“ Phönix mit ähnlichem Gefieder schlüpft. In welchen Farben dies leuchtete, bleibt der Phantasie der Legende überlassen. Was ein „neues“ Bürgertum ausmachte und ausmacht, müssen künftige Forschungen erschließen.
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Personenegister
Ariès, Philippe 33 Aristoteles 5 Augsburg, Anita 113 Augustinus 5 f., 12 Avenarius, Ferdinand 60 Bamberger, Ludwig 59 Badarzewska-Baranowska, Thekla von 62 Bäumer, Gertrud 110 Beaumont, Gustave de 123 Beethoven, Ludwig van 70 Binding, Rudolf G. 86 f. Bismarck, Otto von 55, 57 f., 78, 93, 129 f., 132 Blossfeld, Hans-Peter 136 Blüher, Hans 113 Bock, Gisela 113 Bourdieu, Pierre 46, 138 Brentano, Lujo 102 Bretschneider, Karl G. 73 Breuer, Hans 114 Brontë, Charlotte 122 Büchmann, Georg 61 Bude, Heinz 137 Bülow, Bernhard von 132 Busch, Wilhelm 37, 118 Cervantes, Miguel de 61 Chamberlain, Houston Stewart 116 Chopin, Frédéric 62 Conze, Werner 2 Cooper, James Fenimore 61 Dante 61, 124 Defoe, Daniel 61 Denhardt, Clemens Andreas 129 f. Denhardt, Gustav 129 f. Detmold, Johann Hermann 64 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 61 Dohm, Christian Wilhelm von 22, 79 Dohm, Hedwig 110, 112 Eley, Geoff 17 Elias, Norbert 70 Engels, Friedrich 125 Eyck, Helene 30 f., 116 Fabri, Friedrich 130 Ferguson, Adam 12 f.
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Fichte, Johann Gottlieb 26 Finsch, Otto 129 Fitger, Arthur 69 Fontane, Emilie 31 f. Fontane, Theodor 31 f., 64, 90 Fraenkel, Ernst 125 Fraser, Nancy 17 Frevert, Ute 94, 96 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 43 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 44, 49 Fürstenberg, Carl 89 Gade, Nils 62 Gall, Lothar 2 Gay, Peter 29 Giesebrecht, Franz 133 Goethe, Johann, Wolfgang von 49, 61, 73, 123 f. Gogh, Vincent van 66 Göhre, Paul 102 f. Großbölting, Thomas 138 Gurlitt, Ludwig 114 Habermas, Jürgen 15, 17 Hahn, Carl Hugo 131 Hanslick, Eduard 62 f. Hardenberg, Karl August von 9 Harnack, Adolf 75 f. Hartmann, Michael 136 Heimpel, Hermann 64 f. Heine, Heinrich 72 Herder, Johann Gottfried 25 f., 61 Herz, Henriette 19 Heymann, Gustava 113 Hirsch, Henriette 80 Hirsch, Jenny 110 Hoetger, Bernhard 68 Hoffmann, E. T. A. 67 Hoffmann, Heinrich 35, 61 Hübner, Karl-Wilhelm von 100 Humboldt, Alexander von 123 Humboldt, Wilhelm von 9 f., 33 Humboldt, Caroline von 33 Jacob, Margret 16 Janz, Oliver 75 Jessen, Ralph 138
Personenegister Jókai, Maurus 50 Kaelble, Hartmut 138 Kaiser, Paul 137 Kant, Immanuel 12 Kaplan, Marian A. 80 Kardorff, Wilhelm von 66 Keil, Ernst 16 f. Kirchhoff, Arthur 112 Klessmann, Christoph 138 Kocka, Jürgen 1 f., 4, 28, 37, 104, 128, 136 Koehler, Robert 100 Kollwitz, Käthe 66 Konrád, György 50 Koselleck, Reinhart 2, 18, 53 Kracauer, Siegfried 107 Krupp, Alfred 93, 99, 127 Landes, Joan 17 Lange, Helene 26, 110 f., 113 Langewiesche, Dieter 54 Lässig, Simone 80 Lembach, Franz von 65 Lepsius, Rainer M. 2 Lette, Wilhelm Adolf 109 Lind, Jenny 123 Lindau, Paul 51 Lüderitz, Franz Adolf Eduard 129 Lundgreen, Peter 2 Mager, Wolfgang 2 Mann, Heinrich 95, 127 Mann, Katia 110 Mann, Thomas 124 Marr, Wilhelm 116 May, Karl 128 Meinecke, Friedrich 126 Melanchthon, Philip 73 Mendelssohn, Moses 22 Mendelssohn Bartholdy, Felix 62 Mergel, Thomas 78 Mill, John Stuart 110 Modersohn-Becker, Paula 68 f. Moliére 61 Mommsen, Theodor 117, 119 Mosse, Georg 125 Mosse, Rudolf 47 Mozart, Wolfgang Amadeus 21, 70, 123 Müller, Franz Lorenz 52 Nachtigal, Gustav 130 Nicolai, Christoph Friedrich Wilhelm 78 Nielsen, Asta 107 Nipperdey, Thomas 37, 77
Nolte, Paul 91 Nord, Philip 16 Otto-Peters, Luise 98, 108 Pauli, Gustav 66 Peters, Carl 129 f., 132 Petöfi, Sándor 50 Pichler, Caroline 18 f. Pius IX. 78 Planck, Max 112 Requate, Jörg 17 Riehl, Wilhelm Heinrich 12, 30 Roselius, Ludwig 68 Rosen, Kathinka von 40 f. Rosenberg, Hans 125 Rotteck, Karl von 20 Rousseau, Jean-Jacques 33 Ryan, Mary 17 Sauer, Anna Maria 27 Schell, Hermann 77 Schelsky, Helmut 137 f. Schiller, Friedrich 21, 60 f., 63 Schmoller, Gustav 102 Schopenhauer, Arthur 37 Schreiner, Klaus 2 Schulz, Andreas 138 Schumann, Clara 123 Schumann, Georg 62 Schwab, Gustav 61 Seidel, Ina 86 Shakespeare, William 61, 124 Siedler, Wolf Jobst 1 Siegrist, Hannes 136 Siemens, Werner von 51, 93, 124 Siemsen, Hans 107 Stäel, Anne Louise Germaine de 18 f. Stein, Friedrich Karl Freiherr vom und zum 9 Stern, Fritz 125 Stillich, Oscar 39 Stinnes, Hugo 87 Stöcker, Adolf 117 Strousberg, Bethel Henry 83 Swift, Jonathan 61 Tenfelde, Klaus 137 Thalberg, Sigismund 62 Tiburtius, Franziska 111 f. Tocqueville, Alexis de 123 Treitschke, Heinrich von 37, 112, 117 Troeltsch, Ernst 74 Tucholsky, Kurt 111
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Personenegister Ullrich, Volker 117 Valentin, Veit 53 Varnhagen von Ense, Karl 21 Varnhagen, Rahel 19 Veblen, Thorstein 83, 125 Vinnen, Karl 66 Virchow, Rudolf 53, 78 Volkov, Shulamit 22 Wagner, Richard 116, 132 Weber, Carl Maria von 70 ff. Weber, Marianne 36 Weber, Max 45, 62, 73, 76, 96, 125 Weber, Max M. von 72 Weber-Kellermann, Ingeborg 29
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Wehler, Hans-Ulrich 2, 130, 133, 135, 139 Welcker, Carl Theodor 20 Wellmer, Meta 36 Wermuth, Adolf 47 Werner, Anton von 65 Wertheim, Georg 119 Wilhelm I., König von Preußen und Dt. Kaiser 56 f., 68 Wilhelm II., König von Preußen und Dt. Kaiser 66, 93, 116, 133 Woermann, Adolph 129 Zantop, Susanne 128 Zetkin, Clara 112 Zille, Heinrich 97