Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert [2 ed.] 9783428585823, 9783428185825

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Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert [2 ed.]
 9783428585823, 9783428185825

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DER STAAT ZEITSCHRIFT FÜR STAATSLEHRE UND VERFASSUNGSGESCHICHTE, DEUTSCHES UND EUROPÄISCHES ÖFFENTLICHES RECHT

Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde Gerhard Oestreich Helmut Quaritsch Roman Schnur Werner Weber Hans J. Wolff

Beiheft 1

Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert 2., unveränderte Auflage

Duncker & Humblot

Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert

BEIHEFTE ZU „DER STAAT“ Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde Gerhard Oestreich Helmut Quaritsch Roman Schnur Werner Weber Hans J. Wolff

Heft 1

Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert

Herausgegeben von Ernst-Wolfgang Böckenförde

2., unveränderte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Books on Demand Printed in Germany ISSN 0720-6828 ISBN 978-3-428-18582-5 (Print) ISBN 978-3-428-58582-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

INHALTSVERZEICHNIS

Richard Dietrich: Einleitung. Über Probleme verfassungsgeschichtlicher unserer Zeit

Forschung

in

7

Hans Gangl: Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat Problemskizze

i m 19. Jahrhundert.

Eine

23

Adolf M. Birke: Die Souveränität des viktorianischen Parlaments u n d die moderne Parlamentarismuskritik

59

Hans Boldt: Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie. Eine Auseinandersetzung m i t Ernst Rudolf Huber Günther

75

Engelbert:

Der Konstitutionalismus i n den deutschen Kleinstaaten

103

ANSCHRIFTEN DER MITARBEITER

Prof. Dr. Richard Dietrich,

1 B e r l i n 19, Heerstraße 132

Prof. Dr. Hans Gangl, A-8010 Graz, Universitätsplatz 3 Ass. Prof. Dr. Adolf Birke, 1 B e r l i n 33, F U Berlin, Friedrich-Meinecke-Institut Prof. Dr. Hans Boldt, 6903 Neckargemünd, Waldstraße Dr. Günther Engelbert, 493 Detmold 1, Gartenstraße 20

EINLEITUNG ÜBER PROBLEME VERFASSUNGSGESCHICHTLICHER FORSCHUNG I N UNSERER ZEIT Inmemoriam Heinrich Heff ter, 17. 5.1903 - 13.1.1975 Von Richard Dietrich, Berlin Die Veranstaltung einer Sektion „Verfassungsgeschichte" durch den 30. Deutschen Historikertag i n Braunschweig entsprach dem allgemein empfundenen Bedürfnis, neben der i n den letzten Jahren besonders stark i n den Vordergrund getretenen Sozialgeschichte auch der Verfassungsgeschichte wieder den ihr zukommenden Raum zu gewähren. Die Verfassungsgeschichte ist bekanntlich seit Otto Hintze zu einem eigenständigen Zweig unserer Wissenschaft geworden. Hintze schwebte dabei als Ziel eine umfassende Erforschung und Darstellung des inneren Lebens der Staaten vor, wobei er Verfassung und Verwaltung immer i n ihrer Verbindung mit deren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu sehen suchte. Eine solche Auffassung von Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte bedingt aber auch eine enge Zusammenarbeit von Historikern, Staats- und Verwaltungsrechtlern, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern, ja auch Staatstheoretikern, zumindest jedoch ein gegenseitiges Nehmen und Geben, ein Verarbeiten der Ergebnisse der Nachbarwissenschaften und deren Einordnung i n eine Gesamtschau der Probleme unter dem Blickwinkel der eigenen Disziplin. Ein Name wie der Gustav Schmollers als Haupt der jüngeren historischen Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre m i t seinem großen Publikationsunternehmen der Acta Borussica mag hier als Beispiel stehen. Eine solche Aufgabe, wie sie Hintze gestellt hat, läßt sich eben nur lösen, wenn der Sachverstand der einzelnen Wissenschaften zusammenkommt, wenn ihre jeweiligen Methoden für das zur Behandlung stehende Problem nutzbar gemacht und i n eine historisch-methodisch orientierte Gesamtschau integriert werden. Wie Hintzes eigene Forschungen ebenso wie die Beiträge der bedeutenden Staatsrechtslehrer jener Epoche — ich erinnere hier nur an Namen wie Laband, Triepel oder Binding — zeigen, kann ein solches Herangehen an ein bestimmtes Problem von den jeweils verschiedensten Ansatzpunkten her von größtem Nutzen für jede einzelne dieser Wissenschaften sein. Fritz Härtung hat i n seiner Weiterführung der Hintzeschen Ansätze sodann den Aufgabenkreis der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte

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erneut etwas verengt, indem er zugunsten einer rein historischen Betrachtungsweise ihrer einzelnen Gebiete die Verbindungen zu den Nachbardisziplinen wieder etwas vernachlässigte. Andererseits kam er aber vielleicht gerade dadurch zu einer weiteren methodischen Verfeinerung und Vertiefung dieses Zweiges unserer Wissenschaft. Aufgabe einer modernen Verf assungs- und Verwaltungsgeschichte muß es nun nach meiner Uberzeugung sein, jene fallen gelassenen Fäden wieder aufzunehmen und neu zu knüpfen. I n diesem Sinne möchte ich den gegenwärtigen Versuch verstanden wissen, zunächst einmal wenigstens Historiker und Juristen wieder an einen Tisch zu bringen und ihr Gespräch wieder anzuknüpfen. Daher kam ich dazu, m i t den Herren Gangl und Boldt einer- und Birke und Engelbert andererseits die eine wie die andere Betrachtungsweise am Problem des Konstitutionalismus zum Versuch einer solchen Gesamtschau eines der wichtigsten verfassungsgeschichtlichen Probleme des 19. Jahrhunderts zusammenzuführen. Zugleich sollte dabei auch der Versuch gemacht werden, erste Ansätze zur Verwirklichung eines weiteren Anliegens sowohl Hintzes wie Hartungs zu finden, nämlich zu einer vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte. Diesem Ziel diente einmal der Vortrag von Herrn Gangl, indem mit i h m ein österreichischer Staatsrechtslehrer gebeten wurde, zu Fragen der deutschen Verfassungsgeschichte Stellung zu nehmen, dann aber auch der Vortrag von Herrn Birke über Probleme der englischen Verfassungsgeschichte, die bei uns viel zu lange vernachlässigt und unter den Nachwirkungen liberaler Positionen des preußischen Verfassungskonflikts (erinnert sei nur an den Einfluß von Gneist) mißverstanden worden ist. Ich bin m i r darüber klar, daß der in diesem Vortrag immer wieder anklingende sozialgeschichtliche Ansatz dringend noch der Vertiefung bedarf. Aber auch die Thematik des Vortrages von Engelbert, der darauf hinweist, daß das Problem des Konstitutionalismus nicht etwa nur ein solches der Groß- und Mittelstaaten war, sondern gerade auch in den mehr ständestaatlich-patriarchalischen Verhältnissen der deutschen Kleinstaaten eine eigenartige Rolle spielte, w i r d ohne sozialgeschichtliche Fragestellungen, die dann i n das verfassungsgeschichtliche Gesamtbild eingehen müssen, auf die Dauer nicht zu behandeln sein. Hier liegen noch echte Desiderata für eine verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Forschung vor. Schließlich nimmt der Vortrag von Boldt das staatsrechtlich-theoretische Element auf und liefert nun i n der Tat einen überzeugenden Versuch, die Auseinandersetzung m i t Fragestellungen einer rein juristisch-theoretischen Betrachtungsweise am Beispiel Ernst Rudolf Hubers i n Angriff zu nehmen. Leider war es nicht möglich, den einleitenden Vortrag von Adam Wandruszka, dessen Aufgabe es gewesen war, das Problem des Konstitutionalismus i n den allgemeinen Zusammenhang der europäischen Verfas-

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sungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu stellen, i n diese Sammlung aufzunehmen. Die folgenden einleitenden Bemerkungen über Inhalt und Aufgabe einer modernen Verfassungsgeschichte mögen dafür als Ersatz dienen, wenn auch ihr fragmentarischer Charakter es verbietet, ins einzelne gehende Nachweise zu bringen. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte war stets geneigt, i m Konstitutionalismus den speziellen deutschen Beitrag zur europäischen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts zu sehen. Das ist i n gewissem Sinne auf jeden Fall richtig, aber nur dann, wenn man sich dessen bewußt bleibt, daß auch diese deutsche Entwicklung i m Gesamtzusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte gestanden hat, allerdings jedoch m i t ihrer starken Betonung des monarchischen Prinzips eine besondere Note in die Partitur dieses europäischen Konzerts hineingebracht hat. Der Gesamtkomplex „Konstitutionalismus" muß unter verschiedenen Aspekten untersucht werden. Einer der wichtigsten unter ihnen ist zweifellos der geistesgeschichtlich-theoretische, besonders i m Hinblick auf die Untersuchung seiner „Ahnenreihe". Einige Andeutungen müssen hier, wie überhaupt, genügen. Der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts ist ein K i n d der französischen Revolution und deren Uberwinder zugleich. Die konstitutionellen Verfassungen Europas sind dabei nichts einheitliches, sondern nach Entstehung und Inhalt durchaus verschieden. Den Konstitutionalismus als K i n d der Revolution zu bezeichnen, bedeutet, daß der Ausgangspunkt der Untersuchungen über seine Herkunft zunächst einmal die französische Revolution zu sein hat. Es kann i n diesem Zusammenhang natürlich nicht der Ort sein, ins einzelne gehende Untersuchungen der politischen und sozialen Geschichte der Republik und des Kaiserreichs als Voraussetzung einer solchen Betrachtung anzustellen, wohl aber ist es wichtig, sich der ideologischen Zusammenhänge bewußt zu sein und dabei auch vor allem die Wirkungen der vorrevolutionären kritischen Theorien gegen den Absolutismus unter dem Ancien Régime auf das politische Denken des 19. Jahrhunderts sich zu vergegenwärtigen. Sowohl Montesquieus Theorien wie das Denken Rousseaus, vor allem aber auch die Theoretiker der Menschen- und Bürgerrechte und des Staatsvertrages überhaupt leben i n den theoretischen Systemen des konstitutionellen Denkens weiter. Aber auch die Revolution selbst ist i n ihrer Wirkung nach wie vor i n ihnen lebendig, vor allem die Verfassung von 1791 als erstes Musterbeispiel einer konstitutionellen Verfassung. Solche an sich selbstverständlichen Feststellungen werfen aber zugleich wieder verschiedene Probleme auf. Da ist zunächst der staatsrechtliche Aspekt, unter dem konstitutionelle Verfassungen unter verschiedenen Gesichtspunkten rubriziert werden müssen:

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1. Eine konstitutionelle Verfassung kann sowohl auf Vereinbarung wie auf Oktroyierung zurückgehen. 2. Eine konstitutionelle Verfassung kann auf verschiedenen Gegebenheiten beruhen: entweder auf der Volkssouveränität oder auf einer Weiterentwicklung altständischer Verhältnisse oder aber auf dem monarchischen Prinzip. Und 3. Eine konstitutionelle Verfassung kann inhaltlich durchaus verschieden sein, nicht nur nach Ursprung und Gegebenheiten, sondern auch nach ihrer inneren Struktur: sie kann ebenso Verfassung eines Einheitsstaates wie auch eines föderativen Staates sein und i n diesem Falle wiederum eines Staatenbundes wie eines Bundesstaats. Solche Unterscheidungen sind keine historischen, aber schon gar nicht juristische Spitzfindigkeiten. Zwar w i r d man zugeben müssen, daß diese Formen in der geschichtlichen Wirklichkeit kaum je i n „Reinkultur" vorkommen, aber eben diese Unterschiede spiegeln den Facettenreichtum der Gestaltungsmöglichkeiten i m einzelnen wider. Nach den eben gegebenen Kriterien könnte man etwa folgenden Einteilungsversuch machen: Zu den vereinbarten Verfassungen hätte man zu rechnen die französische Constitution von 1791, die Verfassungen des Deutschen Reiches von 1849 und 1867/71, die preußische Verfassung von 1849. Als oktroyierte Verfassungen erscheinen dann die französische Charte Constitutionelle von 1814 und die Juliverfassung von 1830, die bayerische und württembergische Verfassung von 1816 und 1820, die Verfassungen Preußens und Österreichs von 1850. A u f dem Boden der Volkssouveränität beruhen die französische Verfassung von 1791, die spanische Cortesverfassung von 1811, die belgische Verfassung von 1831, die Reichsverfassung von 1849 und die sardinische Verfassung von 1849 sowie ihre Weiterbildung als italienische Verfassung von 1861. Eine Weiterbildung altständischer Verhältnisse haben w i r sowohl i n der württembergischen Verfassung wie i n denen Hannovers und Sachsens von 1831. Die gleichen, eben genannten Verfassungen beruhen aber zugleich auch auf dem monarchischen Prinzip, wie das überhaupt von allen, nicht unmittelbar aus Revolutionen hervorgegangenen Verfassungen der deutschen Einzelstaaten gilt. Als konstitutionelle Verfassungen von Einheitsstaaten haben zu gelten die französische, die belgische und die sardinisch-italienische Verfassung, genau so aber die Preußens und Österreichs, die Bayerns und der anderen deutschen Bundesstaaten. Konstitutionelle Verfassungen föderativen Charakters stellen schließlich die deutsche Bundesakte und die schweizerische Verfassung von 1815 als solche von Staatenbünden, die Reichsverfassung von 1849, die Verfassung der Erfurter Union von 1850, die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 und die des Deutschen Reichs von 1871, aber auch die Re vidierte Verfassung der Schweiz als

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solche von Bundesstaaten dar. Natürlich ergeben sich zahlreiche weitere Möglichkeiten der Subsumierung je nach den verschiedenen Gesichtspunkten und ihren Überkreuzungen, aber diese Beispiele mögen genügen. Die Benennung der beiden deutschen Verfassungen als „UnionsVerfassung" bzw. als solche des „Norddeutschen Bundes" zeigt nun noch eine weitere Besonderheit der deutschen Entwicklung an. Bei beiden handelt es sich zwar um vereinbarte Verfassungen unter Wahrung des monarchischen Prinzips, aber zugleich um Verfassungsbündnisse bisher souveräner Staaten. Das bedeutet aber, daß eine Vereinbarung nicht nur zwischen Regierung und Volksvertretung stattgefunden hat, sondern vorher schon eine solche unter den „Bundesgenossen". Dadurch aber entsteht für die deutsche Verfassungsgeschichte i m Rahmen dieser Bundesstaaten das Problem ihrer inneren, föderativen Organisation, oder anders ausgedrückt, i n Fortsetzung und Veränderung des die Geschichte des Deutschen Bundes charakterisierenden Dualismus der beiden Großmächte Preußen und Österreich neben den Gleichgewichtsbestrebungen der Mittelstaaten des sog. Dritten Deutschland nunmehr die Problematik des Hegemonialprinzips. Die machtpolitische Überlegenheit Preußens über seine „Bundesgenossen" und der Versuch einer hegemonialen Lösung der Verfassungsfrage i n bundesstaatlichen Formen charakterisieren die deutsche Verfassungsgeschichte i n der Epoche des Bismarck-Reiches. Spätestens an dieser Stelle, und dies wäre ein weiterer Aspekt des Problems, entsteht die Frage, was eigentlich ein konstitutioneller Staat sei? Man kann versuchen, diese Frage vom Begriff „Constitution", also schriftlich fixierte Verfassung, her zu lösen. Aber dabei würde sich sehr schnell herausstellen, daß „Constitution" ein Oberbegriff ist, unter dem sich sehr viel subsumieren läßt. Ein „konstitutioneller Staat" ist zweifellos nicht schlechthin als „Verfassungsstaat" zu definieren. Eine negative Abgrenzung ließe sich schon dadurch erreichen, daß man verschiedene Staaten ausscheidet, etwa England, die Schweiz oder die Vereinigten Staaten. Die Schweiz und die Vereinigten Staaten sind zwar auch Verfassungsstaaten, aber Republiken auf der Basis der Volkssouveränität; England ist zwar desgleichen ein Verfassungsstaat, aber eine parlamentarische Monarchie, zudem ohne schriftlich fixierte Verfassung, deren politisches Leben sich auf der Basis mehrerer „constitutional laws", also Grundgesetze, und auf der des Gewohnheitsrechts regelt. I m Gegensatz zu Härtung, der diese Unterscheidung als obsolet erklärt, hat schon Hintze darauf hingewiesen, daß für das Verständnis politischer Organisationsformen das Gegensatzpaar konstitutionelle und parlamentarische Monarchie außerordentlich bedeutsam sei. » Eine Konstitution i m Sinne der konstitutionellen Monarchie setzt einen Gegenpol voraus: das sog. „monarchische Prinzip". Der Begriff ist ent-

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standen aus der Gegenwirkung gegen die Ideen der französischen Revolution i n einer langen Entwicklungsreihe von Burke über Gentz, de Maistre, Lamennais, Chateaubriand, Bonald, Haller, Baader bis hin zu Friedrich Julius Stahl. Er gehört also i n die Ideenwelt der Restauration. Konstitutionelle Monarchie bedeutet i n diesem Sinne Beschränkung der monarchischen Gewalt durch eine Volksvertretung, die zwar an der Feststellung des Budgets beteiligt ist (Budgetrecht) ebenso wie an der Gesetzgebung (Legislative), aber nicht an der Bildung der Regierung, da es keine parlamentarische Ministerverantwortlichkeit gibt, und nicht an der „Exekutive", da diese zu den Prärogativen der Krone gehört. Als drittes Charakteristikum gehört dazu die Wahrung der Unabhängigkeit der Judikative als „Dritter Gewalt". Grundsätzlich gilt aber trotz dieser Beschränkungen seiner plenitudo potestatis der Herrscher als, wie es der Artikel 57 der Wiener Schlußakte von 1820 ausdrücklich festhält, „von Gottes Gnaden", d. h. ausgestattet m i t der summa potestas, der „Souveränität" aus eigenem, göttlichen Recht. Sprechendster Ausdruck dafür sind Kommando- und Befehlsgewalt über die Streitkräfte. Diese Unterscheidung w i r d nun i m deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts bewußt bewahrt. Die konstitutionelle Monarchie w i r d begrifflich scharf abgegrenzt gegen die parlamentarische Monarchie i n England, Belgien oder Frankreich, die auf dem Grundsatz basiere: „le roi règne, mais i l ne gouverne pas." Diese Abgrenzung gegen die parlamentarische Monarchie kann i m positiven Sinne erfolgen, wie etwa bei Stahl 1 , oder i n kritischer Distanz, wie etwa bei Georg Jellinek 2 , oder i n betont positiver Wendung etwa bei Treitschke 3 und i n ausgesprochen kritisch-negativem Sinne etwa bei Robert v. Mohl 4 . Die Besonderheit der deutschen Entwicklung des konstitutionellen Systems auf dem Boden des monarchischen Prinzips und i n einem föderativen Aufbau des Gesamtstaats hat nun eine umfangreiche staatsrechtliche Literatur hervorgebracht, die jeweils mehr die unitarische (Laband), die bundesstaatliche (Anschütz) oder gar vermeintlich staatenbündische Lösung (v. Seydel) herausgearbeitet hat 5 . Diese Besonderheit der deut1

Friedrich Julius Stahl, Das monarchische Prinzip, 1845. Georg Jellinek, Regierung u n d Parlament i n Deutschland. Vorträge der Gehe-Stiftung, Bd. 1, Dresden 1909. 3 Heinrich v. Treitschke, Das konstitutionelle K ö n i g t u m i n Deutschland, i n : Historisch-politische Aufsätze, Bd. 3 u n d i n : Politik, Bd. I I , § 17. 4 Robert v. Mohl, Geschichte u n d L i t e r a t u r der Staatswissenschaften, Bd. I, 1855 und der Aufsatz: Uber die verschiedenen Auffassungen des repräsentativen Systems i n England, Frankreich u n d Deutschland (1845), wiederabgedruckt in: Staatsrecht, Völkerrecht, Politik, Bd. 1,1860. 5 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., 4 Bde., T ü bingen 1911 - 14; Georg Meyer, Deutsches Staatsrecht, 6. Aufl., hrsg. v. G. A n schütz, Leipzig 1904; Max υ. Seydel, Die Verfassungsurkunde f ü r das Deutsche 2

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sehen Entwicklung ist auch i m Ausland gesehen und betont worden, wobei man den deutschen Verhältnissen gern jeden „echten" Konstitutionalismus abgesprochen hat, da sie eben auf dem monarchischen Prinzip und nicht auf dem der Volkssouveränität beruhten. Ein Beispiel dafür ist der belgische Staatsrechtler O. Orban 6 , der die Unterscheidung von „monarchie tempérée" und „monarchie constitutionelle" einführt, wobei Preußen als Prototyp der ersteren, Belgien und England als „monarchies vraiment légals" als Prototypen der letzteren angesehen werden. Die gleiche Unterscheidung t r i f f t i n Frankreich etwa B. Mirkine-Guetzéwitch 7 , wenn er vom deutschen politischen System als von einer „conception fausse du constitutionalisme" spricht. Ähnlich, wenn auch ein wenig differenzierter, urteilte man i n England, wenn etwa J. Marriott 8 grundsätzlich nicht bestreiten w i l l , daß es die Möglichkeit gäbe, innerhalb des Terminus „constitutional king" begriffliche Unterschiede zu machen. Für unsere Zwecke ist jedenfalls daran festzuhalten, daß die entscheidenden Merkmale des konstitutionellen Systems i m 19. und 20. Jahrhundert die folgenden sind: 1. Die Staatsform ist monarchisch ; 2. Die Monarchie ist durch eine Verfassung beschränkt; 3. Diese Begrenzung findet ihren Ausdruck i n der M i t w i r k u n g gewählter Repräsentanten des Volks. Diese drei Prinzipien sind wiederum i n sich variabel je nach der politischen Ausgangslage. Sie können sich einmal erstrecken vom Festhalten am monarchischen Prinzip bis (fast) hin zur Verwirklichung des Parlamentarismus und sie können zum anderen reichen von der oktroyierten Verfassung bis hin zur vereinbarten Verfassung. Damit ist aber noch lange nicht alles gesagt. Eine Reihe wichtiger weiterer Aspekte des Problems treten noch hinzu. Eine der entscheidenden Besonderheiten der Verwirklichung des konstitutionellen Systems i n Deutschland ist der föderative Aufbau des deutschen Gesamtstaats. Das bedeutet zunächst einmal, daß der Konstitutionalismus verwirklicht w i r d auf zwei Ebenen: in den Einzelstaaten 9 sowohl wie i m Gesamtstaat. Wenn man einmal absieht von der außerordentlichen Vielfalt der Verhältnisse i n den deutschen Kleinstaaten, über die hier der Beitrag von Günther Reich, Freiburg 1897, Constitutionelle u n d parlamentarische Regierung, i n : Hirths Annalen 1887; Neudruck i n : Staatsrechtliche u n d politische A b h a n d l u n gen, 1893. 6 O. Orban, Droit constitutionel de la Belgique, 2 Bde., 1905/08 (Bd. I). 7 B. Mirkine-Guetzéwitch i n Revue d'histoire moderne 6/1931. 8 J. Marriott, The mechanisme of modern state, Bd. 1,1927. 0 Wenn man von der einigermaßen skurrilen Tatsache absieht, daß das Reich ein B u n d von deutschen Fürsten u n d freien Städten, also von Republiken, war.

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Engelbert handelt 1 0 , so ist auch die Spannweite konstitutioneller Regelungen innerhalb des Kreises Preußens und der Mittelstaaten außerordentlich groß 11 . Von den sich am Vorbild der Charte constitutionelle orientierenden frühen süddeutschen Verfassungen der Jahre 1816 bis 1820 reicht die Skala über die m i t den alten Ständen vereinbarten und zahlreiche ständestaatliche Elemente bewahrenden Verfassungen von Sachsen und Hannover des Jahres 1831 bis hin zu der, wenn auch ursprünglich am belgischen Vorbild orientierten, durch die Revision aber das monarchische Prinzip am stärksten herausarbeitenden preußischen Verfassung von 1850. Zwei deutsche Bundesstaaten sind bis 1918 sogar überhaupt ohne moderne Verfassungen ausgekommen und haben den Ständestaat des 18. Jahrhunderts konserviert: die beiden Großherzogtümer Mecklenburg. Auch das gehört zur Vielfalt der deutschen Verhältnisse. Das eigentliche Moment jedoch, das die Kompliziertheit des deutschen Konstitutionalismus ausmacht, ist die bundesstaatliche Konstruktion des Reichs. Die Lösungen, die dafür jeweils von der Paulskirche, dem Erfurter Parlament, i n der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der des Deutschen Reiches gefunden worden sind, unterscheiden sich ganz erheblich und zwar i n einem Rahmen, der von mehr unitarisch (Frankfurt) zu mehr bundesstaatlich (Verfassung von 1871) bezeichnet wird. Aber das eigentliche Problem, das sich der verfassungsgeschichtlichen Forschung in diesem Zusammenhang stellt, ist weniger das der verfassungsrechtlichen Organisationsform, so wichtig diese auch ist, als das des Funktionierens dieses komplizierten Mechanismus. Ich selbst arbeite daran für die Bismarckzeit seit etwa vierzig Jahren 1 2 . Zahlreiche Einzelstudien sind diesem Thema i n den letzten Jahren gewidmet worden, meist unter dem Aspekt der Rolle eines Einzelstaats i m Bundesrat 13 , oder der der bundesstaatlichen Organisation, wobei interessanterweise gerade von juristischer Seite aus Probleme wie das der Gewaltenteilung oder das der parlamentarischen Kontrolle aufgeworfen worden sind. Die wichtigste Frage i n diesem Zusammenhang ist die nach der Natur dieses Bundesstaats, d. h. nach der Führungsrolle Preußens, denn die Thesen, die Hans 10

I n diesem Bande S. 103 ff. Vgl. dazu den Beitrag von Gangl i n diesem Bande, S. 23 ff., insb. 36 ff. 12 Ich hoffe, diese Forschungen n u n endlich abschließen zu können. F ü r jetzt muß ich noch auf meine Aufsätze verweisen, u. a. : „Preußen u n d Deutschland i m 19. Jahrhundert", i n : Preußen, Epochen u n d Probleme seiner Geschichte, ed. Richard Dietrich, B e r l i n 1964; „Das Jahr 1866 u n d das D r i t t e Deutschland", in: Europa und der Norddeutsche Bund, ed. Richard Dietrich, B e r l i n 1968; „Der Norddeutsche Bund", i n : Der unbekannte deutsche Staat, ed. Cécile L o w e n thal-Hensel, B e r l i n 1970; „Die deutschen Mittelstaaten u n d die Reichsgründung", i n : A n t i k e u n d Universalgeschichte, Festschrift Hans Erich Stier, M ü n ster 1972; „Das Reich, Preußen u n d die Einzelstaaten bis zur Entlassung Bismarcks", i n : Aus Theorie u n d Praxis der Geschichtswissenschaft, Festschrift für Hans Herzfeld, B e r l i n 1972 (Veröffentlichungen der Historischen K o m m i s sion zu Berlin, Bd. 37). 13 Vgl. dazu die Anmerkungen 16 - 18 u n d 21 meines letztzitierten Aufsatzes. 11

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Goldschmidt dazu aufgestellt hat, bedürfen dringend der Uberprüfung und der Revision 14 . Aber dieser Fragenkomplex hat auch noch eine weitere Seite, die bisher viel zu wenig berücksichtigt worden ist, nämlich die Rückwirkung dieses Systems auf die inneren Verhältnisse der Einzelstaaten, nicht nur finanziell i n bezug auf die Praxis der Matrikalarumlagen, sondern vor allem auch personell i n bezug auf die Regierung und Verwaltung der Bundesstaaten. Die wenigsten der kleineren Staaten waren nämlich auf die Dauer i n der Lage, i n Rücksicht auf den Gang ihrer inneren Verwaltung und Gesetzgebung, eine ständige Vertretung in Berlin zu unterhalten oder auch nur ihren leitenden Ministerialbeamten für die Sessionen des Bundesrates abzustellen, geschweige denn ihren leitenden Minister für die sog. Ministertagungen nach Berlin zu entsenden. Von einer M i t w i r k u n g der Bundesstaaten an Gesetzgebung und Verwaltung des Reichs über den Bundesrat, wie die Verfassung sie vorsah, konnte unter dem System der sich aus diesen Schwierigkeiten heraus entwickelnden gegenseitigen Substitutionen bei den kleinen Staaten kaum mehr die Rede sein. Das gehört, i m großen Rahmen gesehen, zu dem Problem des Verhältnisses von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit, zumal die tatsächlich zustandegekommenen Änderungen des Verfassungstextes viel weniger wichtig waren als die durch die Gesetzgebung des Reiches bewirkten de facto-Weiterbildungen der Verfassung. Das Gleiche gilt übrigens von der Verschiebung der Gewichte zwischen Regierung und Reichstag von der Bismarckschen Konzeption weg zu einer stillen, stetigen, aber spürbaren Wendung i n die Richtung einer parlamentarischen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers, ja zuletzt der Reichsregierung. Was damit alles an Einzelproblemen verbunden ist, kann hier nicht erörtert werden: Reichstagswahlrecht und seine Effektivität (Stichwahlsystem), Verhältnis der einzelstaatlichen Wahlrechte zur sozialen Wirklichkeit des Industriezeitalters von der Ausgestaltung des Wahlrechts selbst bis zum Problem der sog. „Wahlkreisgeographie", Selbstverständnis und Staatsverständnis der einzelnen politisch-sozialen Gruppen und deren Wandlungen, usw. usw., ein weites Brachland für Forschungen, dessen Erschließung gerade erst begonnen hat. Ein weiterer Aspekt, unter dem das konstitutionelle Problem zu untersuchen ist, wäre die Frage, ob i n i h m seiner Natur nach Verfassungskonflikte nicht geradezu institutionell angelegt seien 15 . Diese Frage stellt sich, wenn man die Inkompatibilität ins Auge faßt, die i m Grunde zwischen dem Festhalten am monarchischen Prinzip und der Notwendigkeit der M i t w i r k u n g der „Untertanen" am Gesetzgebungsverfahren und i n 14 Hans Goldschmidt, Das Reich u n d Preußen i m K a m p f u m die F ü h r u n g von Bismarck bis 1918, B e r l i n 1931. 15 Vgl. hier den Beitrag von Hans Boldt, S. 75 ff.

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der Etatgestaltung durch gewählte parlamentarische Körperschaften besteht. Der preußische Verfassungskonflikt ist nur der bekannteste von vielen. Erinnert sei hier zum Beispiel an den württembergischen Konflikt 1816 bis 1819, den hannoverschen 1834/37 oder die verschiedenen kurhessischen Verfassungskämpfe. Was hingegen bisher kaum Beachtung gefunden hat, ist die Tatsache, daß es auch und gerade in den mehr patriarchalischen Verhältnissen der Kleinstaaten immer wieder Konflikte zwischen Regierung und Volksvertretung gegeben hat, so etwa i n Waldeck, in Anhalt, i n Schwarzburg, die sich meist an der nicht vollzogenen Trennung von Domanium und Staatsvermögen und den sich daraus ergebenden finanziellen Folgen entzündeten. Schließlich sei noch auf einen Aspekt des konstitutionellen Staats verwiesen, der sich aus dem Verhältnis von Regierung, Verwaltung und Selbstverwaltung ergibt. I n meiner Abhandlung über „Verfassung und Verwaltung" Berlins und der Mark Brandenburg 1 6 habe ich i m Rahmen Preußens einige Seiten desselben behandelt. Es handelt sich dabei darum, daß auch i m 19. Jahrhundert der Staat m i t seiner Verwaltung dem „Parkinsonschen Gesetz" unterlag, zumal auch die konstitutionelle Monarchie Verwaltung handhabte nach dem Grundsatz: „Alles für das Volk, möglichst nichts durch das Volk." Dieser Sachverhalt zeigt sich etwa darin, daß das Reich, sei es i n Erfüllung eines Verfassungsauftrages — ζ. B. i n der Errichtung des Bundesoberhandelsgerichts und dessen späterem Ausbau zum Reichsgericht —, sei es aus tatsächlicher sachlicher Notwendigkeit i n Erfüllung i h m übertragener Aufgaben — ζ. B. durch die Errichtung der Reichsämter des Innern, der Justiz, des Reichsschatzamtes usw. —, sei es i n Ausnützung und Ausdehnung i h m übertragener Aufsichtsaufgaben und dann teilweise etwas an der Verfassung vorbei — ζ. B. i n der Errichtung des Reichseisenbahnamtes, die zu einem Verfassungskonflikt zwischen dem Reich und Sachsen führte — bestehende Behörden ausbaute oder neue schuf. Damit veränderte es zugleich das föderative Beziehungsgeflecht zwischen sich selbst und den Einzelstaaten und zwischen diesen untereinander. Das gleiche gilt von den Bundesstaaten i n ihrem Inneren selbst. Heinrich Heffter 1 7 hat i n seiner klassischen Darstellung der deutschen Selbstverwaltung i m 19. Jahrhundert diesen Prozeß von der Seite der Selbstverwaltung her untersucht. Sein Werk hat bisher leider keine Nachfolge gefunden, obwohl es i m Rahmen der einzelnen deutschen Staaten durchaus noch weiterer Untersuchungen bedürfte. Das 19. Jahrhundert ist ja nicht nur das Jahrhundert der konstitutionellen Verfassungen, sondern ihnen folgten fast überall, und zwar 16 I n : Geschichte von Brandenburg u n d Berlin, Bd. 3: B e r l i n u n d die Provinz Brandenburg i m 19. u n d 20. Jahrhundert, ed. Hans Herzfeld, B e r l i n 1968 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 25). 17 Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung i m 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950.

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i n kürzerem oder längerem zeitlichen Abstand auch Reformen der Staatsverwaltung. Sie betrafen einmal deren organisatorischen Aufbau, zum anderen die Abgrenzung der verschiedenen Verwaltungsstufen (Ministerien, Provinzialbehörden, Regierungsbezirke und Kreise) in ihren Kompetenzen untereinander und gegenüber der lokalen Selbstverwaltung von den Provinzen bis zu den Gemeinden. Die preußischen Verhältnisse sind dabei, vor allem dank Heffter, i n sachlicher Beziehung und i m Hinblick auf ihre ideellen Grundlagen, relativ gut beleuchtet. Aber auch für die Mittelstaaten, die bis hinab zu Hessen, an der Dreistufigkeit staatlicher Verwaltung festhielten, gilt das gleiche 18 . Auch hier scheinen mir neben einer Untersuchung der hinter den Schemata der Organisation stehenden technischen und rechtlichen An- und Absichten Untersuchungen darüber nötig zu sein, wie weit auch die Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen eine Rolle dabei gespielt hat. Gerade wenn man sich an die Diskussionen der letzten Jahre über die Verwaltungsreformen der einzelnen Bundesländer erinnert, drängt sich die Frage auf, nach welchen Kriterien eigentlich der konstitutionelle Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts bei der Bemessung der Leistungsfähigkeit (und der „Bürgernähe") der einzelnen Instanzen der staatlichen Verwaltung, aber auch der gemeindlichen und der bezirklichen Selbstverwaltung oder bei der Schaffung kreisfreier Städte vorgegangen ist; gerade i n letzter Beziehung sind offensichtlich ganz verschiedene Maßstäbe angelegt worden, wenn man an die zahlreichen kreisfreien Kleinstädte Bayerns i m Unterschied zu der bei ungefähr 20 000 Einwohnern liegenden Untergrenze i n Preußen und den meisten anderen Bundesstaaten denkt. Daß gerade i n diesem Bereich auch für Preußen noch manche Forschungsdesiderata bestehen, möge durch ein einziges Beispiel erläutert werden: seit Fritz Hartungs unter den damaligen Verhältnissen notwendigerweise fragmentarisch gebliebenen Studien ist ζ. B. die Institution des preußischen Oberpräsidenten noch nicht ernsthaft wieder von der Forschung aufgegriffen worden 1 9 . Die Themenstellung der Braunschweiger Sektion bringt es mit sich, daß diese einführenden Bemerkungen sich auf einen zeitlich und sachlich eng begrenzten Forschungsraum beschränken müssen. Immerhin zeigt sich dabei schon zweierlei: einmal, daß es auch auf diesem begrenzten Gebiet 18 Ich darf dabei auf meinen Aufsatz über „Die Verwaltungsreform i n Sachsen 1869 - 1873" verweisen (in: N A S G 61/1940). Sachsen hat ζ. B. noch zu Beginn unseres Jahrhunderts die Zahl der Mittelinstanzen (Kreishauptmannschaften) von vier auf fünf erhöht durch die Abspaltung der Kreishauptmannschaft Chemnitz von der Kreishauptmannschaft Zwickau m i t der Begründung, daß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung dieses Gebiets eine solche Neuordnung notwendig mache. 19 Fritz Härtung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, 3. Teil. Der Oberpräsident. Neudruck i n : Staatsbildende Kräfte der Neuzeit, B e r l i n 1961.

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noch eine Fülle von Problemen gibt, die der notwendigen Bearbeitung durch Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, aber auch durch die Rechtswissenschaft, zugleich jedoch auch durch die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und durch die politische Ideengeschichte harren. Zum andern zeigt sich, daß selbst ein scheinbar so i n sich selbst abgrenzbarer und abgegrenzter Problembereich nicht behandelt werden kann, ohne daß man stets auf andere Fragenkomplexe stößt. Die gerade i n der deutschen Verfassungsgeschichte bedeutsame Verbindung von Konstitutionalismus und Föderalismus ist dafür ein einleuchtendes Beispiel. So ist es wohl auch kaum zufällig, daß auf dem nächsten Historikertag sich eine Sektion mit der Problematik des Föderalismus i n der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigen wird.

Es steht mir als Neuhistoriker nicht zu, zu Problemen der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Verfassungsgeschichte das Wort zu ergreifen. Aber eine Bemerkung kann ich m i r nicht versagen: Wenn es jetzt gelungen ist, auf zwei Historikertagen nacheinander jeweils eine Sektion für Probleme der Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, und zwar i n Zusammenarbeit m i t Staatsrechtlern, zu etablieren, so sollte dies eine Tradition zu begründen helfen. Eine solche Sektion „Verfassungsgeschichte" dürfte i n Zukunft nicht mehr fehlen. Sie sollte sich jedoch auch der frühen Neuzeit annehmen. Auf der einen Seite bedürfen die zahlreichen Probleme des absoluten Staates immer wieder erneuter kritischer Erforschung, ja müßten überhaupt erst einmal i n Angriff genommen werden. Ein Beispiel: ist eigentlich die These Hartungs vom fortschreitenden Verfall der Reichsgewalt i n dieser Form haltbar? Die A n sätze zur Wiederherstellung einer starken kaiserlichen Zentralgewalt i m Reich, etwa bei K a r l V., bei Ferdinand II. und III., aber auch noch bei Joseph II., werden zwar von der politischen Geschichtsschreibung immer wieder gewürdigt, aber eine spezifische verfassungsgeschichtliche Behandlung ist ihnen noch nicht zuteil geworden. Wie stark ζ. B. auch hier das föderative Problem hineinspielt, zeigt der merkwürdige Versuch Karls V. mit seinem „Reichsbund". Aber auch eine andere Arbeitshypothese Hartungs für die frühe Neuzeit scheint m i r fragwürdig, nämlich seine Auffassung, daß der Historiker sich um die Reichsstaatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts nicht zu kümmern brauche und sich lieber der Entwicklung der Institutionen zuwenden solle. Ist es nicht i m Gegenteil gerade so, daß die Arbeiten von Männern wie Pütter oder Moser uns als Ariadnefäden dienen können durch die oft verwirrende Vielfalt der Institutionen und ihre Veränderungen? Ist es nicht vielmehr gerade so, daß die staatstheoretischen Auseinandersetzungen von Männern wie Lampadius oder Conring i n der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts uns Erkenntnismöglichkeiten vermitteln können über die Tendenzen der

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inneren Entwicklung des Reichs und die Begründungen, m i t denen man sie bekämpfte oder zu fördern versuchte 20 ? Aber auch die ständegeschichtliche Entwicklung bedarf einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Das gilt einmal für das Reich selbst, für das i n jüngster Zeit Organisation und Wirksamkeit der Reichskreise stärkere Beachtung gefunden haben 21 . Aber auch die ständische Entwicklung innerhalb der Territorien bietet noch zahlreiche Ansatzpunkte für Einzeluntersuchungen und zusammenfassende Darstellungen, nicht zuletzt auch unter dem interessanten Aspekt des Weiterlebens ständischer Formen auch unter einer absolutistischen Regierung. Auch hier ein Beispiel als Hinweis: Herbert Helbigs großangelegte Darstellung des wettinischen Ständestaats schließt 1485 ab 2 2 . Für die Neuzeit existieren nur die beiden Werke von Schlechte und Schmidt über die Reformen Kursachsens nach dem Siebenjährigen Krieg und über diejenigen i m Restkönigreich nach der Amputation von 181523. Dazwischen und für die spätere Zeit ist tabula rasa. Aber gerade diese beiden Untersuchungen zeigen mit aller Deutlichkeit das Weiterleben ständischer Institutionen nicht nur i m absoluten Staat, sondern auch in der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts. Walter Grubes Schilderung der Geschichte des württembergischen Landtags zeigt für diesen Staat mutatis mutandis ähnliches 24 . Schließlich, und dafür gibt gerade dieses Werk von Grube guten Anlaß zum Nachdenken: auch i n den deutschen Territorien hat es ja während des und unter dem Absolutismus weiterwirkende ständische Oppositionsbewegungen gegeben. Ihre Motive, ihre Abläufe, ihre Verbindungen untereinander, sind ebenfalls ein noch weitgehend nicht bestellter Acker, dessen wissenschaftliche Bearbeitung reiche Ernte verspricht. Wie groß auch hier die Spannweite ist, w i r d durch den Hinweis auf die erfolgreiche Durchsetzung einer ständischen Verfassung gegen absolutistische Bestrebungen etwa i n Mecklenburg oder i n Hannover deutlich. Auch hier sollte man sich jedoch hüten, die deutsche Entwicklung als gegenüber der gesamten europäischen ganz andersartig verlaufen auszugeben. Schon Hintze hatte i n seinen berühmten Abhandlungen zur vergleichenden Verfassungsgeschichte, aber auch i n der zur Verfassungs20 Ich habe einen solchen Versuch unternommen für Jacob Lampadius i n meinem diesem gewidmeten Beitrag i n der Festgabe für Fritz Härtung: Forschungen zu Staat u n d Verfassung, ed. Richard Dietrich und Gerhard Oestreich, Berlin 1958. 21 Für die zahlreichen Arbeiten auf diesem Gebiet verweise ich hier als Beispiel auf die Untersuchungen von Heinz-Günther Borck, Der schwäbische Reichskreis, Stuttgart 1970. 22 Herbert Heibig, Der wettinische Ständestaat, Münster - K ö l n 1955. 23 Horst Schlechte, Die Staatsreform i n Kursachsen 1762 - 1763, B e r l i n 1958; Gerhard Schmidt, Die Staatsreform i n Sachsen i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Weimar 1966. 24 Walter Grube, Der Stuttgarter Landtag 1457 - 1957, Stuttgart 1957.



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geschichte Polens 25 , immer wieder auf die Gemeinsamkeiten i n der Verfassungsentwicklung der europäischen Staaten hingewiesen, sei es generell für Staatenbildung und Verfassungsentwicklung, sei es für die Feudalverfassung oder die Ständeverfassung als Verfassungstypen, sei es für die Repräsentativverfassungen oder für den monarchischen Konstitutionalismus. Der Beitrag von Birke in diesem Bande 2 6 zeigt ja auch, wie wenig es berechtigt ist, selbst England i m Zeitalter des Konstitutionalismus eine völlig eigenständige Sonderentwicklung zuzuweisen. Für den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts hat Klaus Malettke 2 7 denselben Nachweis für Frankreich i n eindrucksvoller Weise für das Weiterleben einer ständischen Opposition unter der Decke des Absolutismus geführt und ihm folgt in etwas anderer Weise Lutz Lehmann i n seinen Untersuchungen über Mably und Rousseau 28 . Ein anderes Gebiet der Verfassungsgeschichte bietet sich wegen der räumlichen Begrenztheit seines Forschungsobjektes, mit dem jedoch ein besonders hoher Erkenntniswert verbunden ist, geradezu für eine interdisziplinäre Bearbeitung an: die moderne Stadtgeschichtsforschung. Hier sind, auf begrenztem räumlichem Gebiet und daher überschaubar, Probleme der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, der Wirtschaftsund Sozialgeschichte so eng und untrennbar miteinander verflochten wie sonst kaum noch einmal. Erinnert sei i n diesem Zusammenhang an die exemplarische Arbeit, die der österreichische Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung auf seinen Symposien i n Linz, Villach und Wien geleistet hat und weiter zu leisten beabsichtigt, indem er seine Studien vom frühen Mittelalter bis i n unsere Zeit hinein auszudehnen gedenkt 29 . Aber auch auf die Arbeit des Deutschen Instituts für Urbanistik und auf die i m vergangenen Jahr neugegründete „Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege" sei i n diesem Zusammenhang ausdrücklich verwiesen 30 . Auch hier werden Probleme i n Angriff genommen, an denen die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte nicht vorbeigehen können. 25 Wieder abgedruckt i n : Otto Hintze, Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, 2. Aufl., ed. Gerhard Oestreich, Göttingen 1962. 26 Hier S. 59 ff. 27 Diese Untersuchungen erscheinen demnächst voraussichtlich i n der Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 28 Diese Untersuchungen erscheinen i n allernächster Zeit als 1. Band der Schriftenreihe „Verfassungsgeschichte", ed. Richard Dietrich u. a., Peter Lang Verlag, Frankfurt. 29 Diese Symposien u n d ihre Vorträge sind herausgegeben von Wilhelm Rausch, Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas, bisher drei Bände, Linz 1963 - 1974; die Reihe w i r d fortgesetzt. 30 I m ersten Band dieser Zeitschrift, 1974, erschien ζ. B. der ausgezeichnete Beitrag von Rainer Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft, die Verfassungskonflikte i n den Reichsstädten des 17. u n d 18. Jahrhunderts.

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Schließlich sei noch auf ein letztes Moment verwiesen. Bisher war immer die Rede von den innereuropäischen Verflechtungen, Beziehungen und Einflüssen, die die verfassungsgeschichtliche Forschung i m Auge zu behalten habe, wenn sie nicht Gefahr laufen wolle, allzu sehr zu einer „nationalen" Disziplin zu werden. Eine Verflechtung jedoch scheint m i r bisher immer zu kurz gekommen zu sein und wäre trotzdem größerer Aufmerksamkeit wert: die Ausstrahlung der europäischen Verfassungsentwicklungen in außereuropäische Kontinente und ihre Anverwandlungen dort an die örtlich jeweils gegebenen Verhältnisse. I m Zuge der „Entkolonialisierung" scheint sich die europäische Forschung weitgehend dieser „kolonialistischen" Vergangenheit zu schämen. Aber sehen w i r einmal ab von der Verbreitung englischen Verfassungsdenkens und der i h m entsprechenden Institutionen i m Bereich des British Empire, von den genugsam untersuchten Wechselbeziehungen zwischen Nordamerika und Europa, so gibt es ζ. B. erstaunlicherweise immer noch keine Verfassungsgeschichte Lateinamerikas, die einmal die spanischen, portugiesischen und französischen Einflüsse auf die Verfassungsentwicklung dieses Subkontinents i m einzelnen untersuchte. Das gleiche wäre noch zu leisten für die französische Ausgestaltung der Verhältnisse etwa Indochinas, die niederländische etwa Indonesiens, aber auch für die Rezeption des deutschen konstitutionellen Denkens i n Asien, vor allem in Japan, während für die Europäisierung der Verfassungs- und Verwaltungszustände Afrikas die Dinge etwas besser liegen.

Versucht man, sich die Vielfalt der Probleme zu vergegenwärtigen, die vor einer modernen Verfassungsgeschichtsforschung stehen, so ergibt sich fast zwangsläufig der Wunsch nach einer engeren Zusammenarbeit der verschiedenen Wissenschaften, die sich m i t Verfassungsgeschichte und Verwaltungsgeschichte beschäftigen, also i n erster Linie der Historiker und Juristen. Daß man Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler, aber auch Vertreter der heute nicht so sehr gefragten Ideengeschichte dabei nicht entbehren kann, sondern von Fall zu Fall w i r d m i t heranziehen müssen, dürfte nach dem Gesagten nicht noch einmal besonders betont werden müssen. Es wäre i n der Tat zu überlegen, ob man nicht aus diesem ersten Versuch einer solchen interdisziplinären Zusammenarbeit auf dem Braunschweiger Historikertag, dem i n Mannheim ein weiterer folgen wird, die Konsequenz zu ziehen haben wird, zu einer Institutionalisierung dieser Zusammenarbeit, wie immer man sich eine solche auch vorzustellen haben würde, zu kommen. Ein Organ dafür wäre ja i n der Zeitschrift „Der Staat" schon vorhanden. Ich danke den Herausgebern und dem Verlag i n diesem Zusammenhang ausdrücklich dafür, daß sie die Möglichkeit, die Referate dieser Sektion i n einem Beiheft des „Staat" zu veröffentlichen, gegeben haben, da auf diese Weise

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die Gelegenheit geschaffen ist, die dort gehaltenen Vorträge geschlossen zur Diskussion zu stellen. Ich habe diese Ausführungen Heinrich Heffter gewidmet. Ausführlichen Gesprächen mit ihm verdanke ich die ersten Anregungen sowohl zur Gestaltung des Programms dieser Sektion wie zur Auswahl der Redner. Die Publikation dieser Vorträge zu erleben, ist i h m nicht mehr vergönnt gewesen. Die Widmung soll nun wenigstens posthum i h m meinen Dank für seine freundschaftlichen Anregungen und Ratschläge zum Ausdruck bringen.

DER DEUTSCHE W E G Z U M V E R F A S S U N G S S T A A T I M 19. J A H R H U N D E R T * Eine Problemskizze V o n Hans Gangl, Graz

I. W e r seine wissenschaftlichen B e m ü h u n g e n der E n t w i c k l u n g des k o n s t i t u t i o n e l l e n Systems i n D e u t s c h l a n d z u w e n d e t , sieht sich e i n e m a u ß e r o r d e n t l i c h b r e i t g e f ä c h e r t e n T h e m a gegenüber, das die F o r s c h u n g s i n t e r essen s o w o h l verfassungsgeschichtlich i n t e r e s s i e r t e r H i s t o r i k e r w i e staatsrechtsgeschichtlich o r i e n t i e r t e r J u r i s t e n — u n d n i c h t z u l e t z t auch die A u f m e r k s a m k e i t der nach 1945 w i e d e r e r s t a n d e n e n deutschen P o l i t o l o g i e f ü r sich beanspruchen d a r f 1 . Es kennzeichnet ganz a l l g e m e i n die D i s z i p l i n der Verfassungsgeschichte, daß sie z u m O r t der B e g e g n u n g v o n verschied e n a r t i g e n — u n d g l e i c h z e i t i g doch ä h n l i c h g e l a g e r t e n — Forschungs* Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete u n d thematisch eingeengte Wiedergabe des Referates, das der Verfasser unter dem T i t e l „Der K o n s t i t u tionalismus i n der deutschen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts" auf dem 30. Historikertag i n Braunschweig (1974) i n Thesenform gehalten hat. 1 Bei der Ausarbeitung dieses Themas wurden an allgemeingeschichtlichen Darstellungen insbes. herangezogen: Werner Näf, Die Epochen der neueren Geschichte, 2. Aufl., Bd. 2, München 1970; Franz Schnabel, Deutsche Geschichte i m neunzehnten Jahrhundert, Bd. 2, 2. Aufl., Freiburg i. Br. 1949 (im folg. zit. nach der Ausg. der Herder-Bücherei, Bd. 205, Freiburg i. Br. 1964); Hajo Holborn, Deutsche Geschichte i n der Neuzeit, Bd. 2, München u. Wien 1970; Theodor Schieder, Vom Deutschen B u n d zum Deutschen Reich, i n : Bruno Gebhardt, Handbuch der Deutschen Geschichte, 9. Aufl., hrsg. v. Herbert Grundmann, Bd. 3, Stuttgart 1970, S. 97 - 220; Alexander Scharff, Deutscher B u n d u n d deutsche Verfassungsbewegung 1815 - 1848, i n : Deutsche Geschichte i m Uberblick, hrsg. v. Peter Rassow, 3. Aufl., hrsg. v. Theodor Schieffer, Stuttgart 1973, S. 395 - 432; ders., Revolution und Reichsgründungsversuche 1848 - 1851, a.a.O., S. 433 - 56. Hinsichtlich der deutschen Verfassungsgeschichte seien genannt: aus der Sicht des Historikers Fritz Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl., Stuttgart 1969 (im folg. zit. nach der 7. Aufl., Stuttgart 1950) u n d aus der Sicht des Juristen: die bisher umfassendste Darstellung bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1 - 3, 2. Aufl., Stuttgart 1967 - 70 (im folg. zit. nach der 1. Aufl., Stuttgart 1957 - 63), Bd. 4, Stuttgart 1969; i n der Form eines G r u n d risses: Ernst Forsthoff, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl., Stuttgart usw. 1972, und als Neuerscheinung der letzten Jahre: Otto Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, F r a n k f u r t a. M. 1970. Besonders hingewiesen sei noch auf den von Ernst-Wolfgang Böckenförde hrsg. Sammelband: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 -1918), K ö l n 1972 (darin vor allem: Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie

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absichten geworden ist 2 . I n ganz besonderem Maße aber läßt sich dies dort feststellen, wo es sich, wie i m vorliegenden Fall, um ein Erkennen und Verstehen von geschichtlichen Vorgängen des 19. Jahrhunderts handelt, das sich uns i n der Rückschau als ein Jahrhundert der Geschichte i m Sinne der „Entdeckung der geschichtlichen Welt" (Karl Muhs) und der Vorherrschaft der historisierenden Betrachtung i n den Geisteswissenschaften darstellt. I n der Einleitung zu seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" sprach Jacob Burckhardt von der „Befähigung des 19. Jahrhunderts für das historische Studium" und Friedrich Meinecke nannte das Aufkommen des Historismus „eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat". I n Frankreich verkündete Chateaubriand i n der „Préface" zu seinen „Etudes historiques" (1831): „Tout prend aujourd'hui la forme de l'histoire, polémique, théâtre, roman, poésie", und Augustin Thierry , der nach Heinz-Otto Sieburg „bedeutendste Repräsentant französischer Historiographie i m Zeitalter der Restauration und des Julikönigtums" fand i n seinen „ D i x ans d'études historiques" (1834) dafür die einprägsame Formulierung: „L'histoire sera le cachet du X I X e siècle et l u i donnera son nom". Das 19. Jahrhundert trägt zugleich auch das Siegel eines „juristischen Jahrhunderts" (Franz Schnabel) und i m besonderen eines zum Staat hingewendeten Jahrhunderts, i n welchem „Fragen der Verfassung und der Rechtsgestaltung eine zentrale, seinen Charakter i m ganzen bestimmende Bedeutung gewonnen haben" 3 . Es war wie kein anderes ein Jahrhundert der Verfassungsfragen, der Verfassungsschöpfung und Verfassungsi m 19. Jahrhundert, S. 146 - 70). Darstellungen der österreichischen Verfassungsgeschichte finden sich bei Ernst C. Hellbling, österreichische Verfassungsund Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., Wien u. New Y o r k 1974, u n d Friedrich Walter, österreichische Verfassungs- u n d Verwaltungsgeschichte von 1500 1955, aus dem Nachlaß hrsg. v. A d a m Wandruszka, Wien usw. 1972. E r w ä h n t seien schließlich die Lehrbücher der Allgemeinen Staatslehre von Herbert Krüger (Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966; i m folg. zit. nach der 1. Aufl., Stuttgart 1964) u n d Roman Herzog (Allgemeine Staatslehre, F r a n k furt a. M. 1971) sowie der Verfassungslehre von Carl Schmitt (Verfassungslehre, 5. unveränd. Aufl., B e r l i n u. München 1970), Ferdinand A. Hermens (Verfassungslehre, 2. Aufl., K ö l n u. Opladen 1968; i m folg. zit. nach der 1. Aufl., F r a n k furt a. M. u. Bonn 1964) u n d Karl Loewenstein (Verfassungslehre, 2. Aufl., T ü bingen 1969; i m folg. zit. nach der 1. Aufl., Tübingen 1959). 2 Die neuere Verfassungsgeschichte zu einem selbständigen Zweig der historischen Wissenschaft erhoben zu haben, w a r das Verdienst von Otto Hintze (1861 - 1940). Z u r Aufgabe der allgemeinen Verfassungsgeschichte vgl. dessen Antrittsrede i n der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften v o m 2. J u l i 1914 (Sitzungsberichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Jg. 1914, 2. Hbbd., B e r l i n 1914, S. 744-7). Eine ausgezeichnete Übersicht bei Fritz Härtung, Zur Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung i n Deutschland, wiederabgedr. i n : ders., Staatsbildende K r ä f t e der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, B e r l i n 1961, S. 431 - 69. 3 Böckenförde, Einführung — Verfassungsprobleme u n d Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, i n : Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 bis 1918), S. 13.

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kämpfe, aber auch ein Jahrhundert des Verfassungsglaubens. „ F ü r die großen Völker Europas vollzog sich die neue Staatsbildung seit 1789, die Revolution von 1848 stellte die neuen Kräfte auf die Probe, das Jahr 1871 Schloß die Periode des nationalstaatlichen Werdens vorläufig ab 4 ." Auch das öffentliche Denken hat sich — i n Deutschland mehr als i n anderen Ländern — auf das Problem des Staates konzentriert. Schon für die ältere deutsche Staatslehre hat nach Hans Maier zu gelten, daß sie „anders als die westliche Staatsräson- und Naturrechtslehre i n hohem Maße aus dem Staat heraus denkt; der Staat ist ihr vorgegebene, undiskutierte Ordnungsform" 5 . Das 19. Jahrhundert hat schließlich mit der Stimme Deutschlands gesprochen. „Deutsches Wesen und 19. Jahrhundert gehören zusammen. Eines ist ohne das andere nicht zu verstehen", so formuliert Helmuth Plessner 6 unter Hinweis auf die „an Größe und revolutionärer Gefährlichkeit" herausragenden Gestalten von Kant, Hegel, Marx und Nietzsche. Aber die von Deutschland ausgehende prägende Wirkung betraf nicht allein die Welt des Geistes, auch i m Konzert der Nationen mußte nach 1871 m i t der Existenz und dem Behauptungswillen des deutschen Nationalstaates gerechnet werden. Nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges bemerkte Disraeli i m englischen Unterhaus, die „germanische Revolution" sei „ein größeres politisches Ereignis als die französische des letzten Jahrhunderts"; denn „Europas Gleichgewicht ist völlig zerstört und das Land, welches am meisten unter der Wirkung dieses großen Wechsels zu leiden h a t . . . ist England" 7 . Nichts könnte i n diesem Jahrhundert, i n welchem ein Ranke auf den „Genius Europas" vertraute und i n dem w i r heute das letzte europäozentrische Jahrhundert erkennen, die Verlagerung des politischen Schwerpunkts nach Berlin deutlicher markieren als die drei großen Kongresse von 1815,1856 und 1878, die nacheinander Metternich, Napoleon III. und Bismarck zu Hauptfiguren der europäischen Geschichte erhoben.

II. Nachdem so das 19. Jahrhundert als „geschichtliches", „juristisches" und „deutsches" Jahrhundert charakterisiert worden ist 8 , soll mit der 4

Schnabel, a.a.O., S. 19. Hans Maier, Ältere deutsche Staatslehre u n d westliche politische T r a d i tion, Tübingen 1966, S. 18. Dazu von demselben Verfasser: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft), Neuwied a. Rh. u. B e r l i n 1966. 6 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959, S. 73. 7 Zit. bei Werner Richter, Bismarck, F r a n k f u r t a. M. 1962, S. 266 f. Vgl. auch den 1897 i n Paris abgefaßten Bericht des amerikanischen Historikers Henry Adams (zit nach Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. u n d 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1958, S. 481): „Das Z e n t r u m der Weltbewegung liegt, meiner Meinung nach, nicht i n Rußland u n d nicht bei uns, sondern i n Deutschland . . 5

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hier gebotenen Kürze auf die Frage nach der Aktualität des vorliegenden Themas eingegangen werden. Dabei soll Ansatzpunkt zu ihrer Beantwortung die i m Jubiläumsband der „Historischen Zeitschrift" (1959) enthaltene Feststellung sein, daß die Geschichte ihre Fragen unter den geistigen Antrieben und Geboten der Gegenwart zu stellen pflegt. Daß es nun gerade i n dem zu Ende gehenden 20. Jahrhundert starke geistige Antriebe und Gebote gibt, die auf eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem 19. Jahrhundert hindrängen, ist nicht zuletzt eine Folge des immer deutlicher hervortretenden Gesamtbildes von diesem Jahrhundert, zu dem unser Verhältnis durch eine „eigentümliche Polarität von Bedingtheit und Distanz" gekennzeichnet erscheint 9 . M i t der heute herrschenden A u f fassung vom 19. Jahrhundert als einer „Epoche des Übergangs" eng verknüpft ist die i m Zeichen einer „offenen Geschichte" (Theodor Schieder) sich vollziehende Erneuerung des deutschen Geschichtsdenkens. Auf dem 20. Deutschen Historikertag i n München (1949) hatte Gerhard Ritter i n seinem unvergessenen Eröffnungsvortrag mit beschwörenden Worten zu einer Abkehr vom Geist nationaler Selbstüberhebung und zu einer „illusionsfreien Nüchternheit" als der „unentbehrlichen Voraussetzung aller politisch-historischen Wahrheitserkenntnis" aufgerufen 10 . Freilich war die Notwendigkeit dazu schon wesentlich früher gesehen worden, wie es beispielhaft die geistige Entwicklung eines Meinecke sichtbar werden läßt. Hatte dieser noch 1908 i n „Weltbürgertum und Nationalstaat" i n der immer reineren Ausbildung des nationalstaatlichen Gedankens eine wohltätige Befreiungstat gesehen, so war seine i n der Z w i schenkriegszeit erschienene „Idee der Staatsräson" (1924) bereits von der Einsicht i n die „Dämonie der Macht" getragen. Damit ist der Bruch m i t dem nationalliberalen Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts vollzogen, dem dann später i n der Altersschrift „Schaffender Spiegel" (1948) unter dem Eindruck der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges eine endgültige Absage erteilt werden sollte. Was hier an K r i t i k an dem 1871 von Bismarck aus der Taufe gehobenen deutschen Nationalstaat zutage tritt, versteht sich nicht nur aus dem Gefühl schwerer Bedrückung heraus, die die Katastrophenjahre zusammen mit der auf „ihren wohl tiefsten Punkt" (Fritz Härtung) angekommenen deutschen Verfassungsentwicklung als Erbe hinterließen, sondern ebenso aus dem geistigen K l i m a der i m westlichen Bereich allgemein gewordenen Infragestellung des modernen Nationalstaates überhaupt, der durch umfassendere politische Einheiten 8 Daß auch andere Gesichtspunkte i n die Wesensbestimmung des 19. Jahrhunderts einbezogen werden können, sei hier ausdrücklich festgehalten. 9 Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, i n : Geschichte, hrsg. v. Waldemar Besson, Frankfurt a. M. 1961, S. 205. 10 Gerhard Ritter, Gegenwärtige Lage u n d Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 170, 1950, S. 1 - 22. Vgl. auch ders., Wissenschaftliche Historie einst und jetzt, a.a.O., Bd. 202, 1966, S. 574 - 602.

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wenn auch nicht abgelöst, so doch zumindest in seiner Bedeutung relativiert worden ist 1 1 . Doch darf dabei nicht verkannt werden, daß es i n einem viel höheren Maße das politische Denken ist, das mit Hinweis auf die Entwicklung zu supranationalen und internationalen Zusammenschlüssen dem herkömmlichen Nationalstaat die „raison d'être" abspricht und nach innen i n einer „Euphorie des Sozialen" (Wilhelm Henke) die Gesellschaft zum „Generalnenner aller sozialen Probleme menschlichen Zusammenlebens" (Schieder) emporhebt, als die politische Praxis, die gerade i n Zeiten der Krise — die Vorgänge innerhalb der Europäischen Gemeinschaften beweisen dies nur zu gut — den Rückzug auf eine nationalstaatliche, ja gelegentlich nationalegoistische Position anzutreten pflegt. Für den Verfassungsjuristen hingegen w i r d der Aktualitätsbezug eher i n dem Umstand liegen, daß das Postulat des Konstitutionalismus: „Verfassung als Eindämmung der politischen Macht" i m 20. Jahrhundert mit neuer Leidenschaft aufgenommen worden ist. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs von totalitären Herrschaftssystemen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges forderten die „machtmüde gewordenen Völker" eine Wiederherstellung des Verfassungsstaates. A n der rechtlichen Verfassung sollte sich „jene fatale Eigengesetzlichkeit der ungehemmten, unbegrenzten, unkontrollierten Macht" brechen, u m Werner Kägis Worte zu übernehmen 12 . Durch die Rechtsverfassung sollte eine Verstetigung des Machtaufbaues, eine „rationalisation du pouvoir", eine Objektivierung der Herrschaft herbeigeführt werden. Freilich kann eine Verfas11 Gleich vorzüglich i n der Information wie i n der Zurückweisung der vehementen Angriffe auf das überlieferte Geschichtsbild, die „ i m Grunde n u r die Apologie durch eine Polemik ersetzten": Elisabeth Fehrenbach, Die Reichsgründung i n der deutschen Geschichtsschreibung, i n : Reichsgründung 1870/71, hrsg. v. Theodor Schieder u n d Ernst Deuerlein, Stuttgart 1970, S. 259 - 90. A b zulehnen hingegen wegen der Oberflächlichkeit des Urteils u n d der i n der deutschen Historie bisher unbekannten Sprache ist Golo Manns „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" (einschlägige Zitate daraus bei Fehrenbach, a.a.O., S. 286). E i n verzerrtes Geschichtsbild liegt auch der sonst so wertvollen „Verfassungslehre" Loewensteins zugrunde, i n der das Bismarcksche Reich als autoritäres Regime klassifiziert w i r d , wobei es dann bei dessen Analyse zu einander widersprechenden Aussagen kommt, indem zuerst das autoritäre Regime durch das Vorhandensein einer Ideologie gekennzeichnet w i r d (S. 53), während an einer späteren Stelle gerade das Fehlen jeglicher ideologischer Verbrämung als typisches M e r k m a l einer autoritären Verfassung angeführt w i r d (S. 146). M i t einigem Staunen v e r n i m m t auch der Leser, daß der deutschen Tradition „jede Bezugnahme auf Grundrechte zu allen Zeiten fremd w a r " (a.a.O.). Wohltuend hebt sich davon ab die ausgewogene Beurteilung des Kaiserreichs bei Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, K ö l n u. Opladen 1961, S. 86 f. — Hinsichtlich der „Zukunftsfragen des souveränen Staates" sei verwiesen auf zwei Beiträge von Theodor Schieder und Gerhard Leibholz i n dem von Hans Hubert Hofmann hrsg. Sammelband „Die Entstehung des modernen souveränen Staates" (Köln u. Berlin 1967, S. 357 - 85). 12 Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, S. 48.

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sung nur dann „begrenzende Ordnung" sein, wenn sie sich an vor- und überstaatlichen Werten, d. h. aber an einem materiellen Prinzip orientiert. Sobald nämlich die Verfassung, wie etwa bei Hans Kelsen, rein formal als die oberste „Verfahrensnorm der Rechtserzeugung" definiert w i r d 1 3 , bietet sie sich geradezu als willfähriges Instrument der jeweiligen politischen Machthaber an. Nicht von ungefähr kam es daher, daß man sich nach 1945 i m Bereich der späteren Bundesrepublik Deutschland auf einen materiellen Verfassungsbegriff besann, auf eine materielle Staatslehre, auf die Lehre von der Verfassung als einem Wertsystem und einer Wertordnung, i n deren Mittelpunkt der Mensch mit seiner Freiheit steht 14 . Aber nicht nur über die erwähnte „Renaissance des Verfassungsgedankens" findet der Staatsrechtslehrer von heute den Weg zurück zum liberalen Verfassungssystem des 19. Jahrhunderts; auch beim Studium gegenwärtig geltender Verfassungen findet er Beispiele dafür, daß nach dem Zusammenbruch der monarchischen Staaten nach 1918 eine Anzahl verfassungsrechtlicher Einrichtungen der konstitutionellen Monarchie i n das republikanische Staatsrecht übernommen worden sind. Hierher gehört die i m deutschen wie auch i m französischen staatsrechtlichen Schrifttum vertretene Auffassung von der Identität der Rechtsstellung des konstitutionellen Monarchen mit der des Präsidenten einer Republik, was die Verwendung des Constant'schen Begriffes des „pouvoir neutre" zur Kennzeichnung des Präsidentenamtes vielfach als zulässig erscheinen ließ 1 5 . Nicht unerwähnt bleiben soll auch die eigentümliche Wiederbelebung vergangener Staatsanschauungen i n der Fünften Republik de Gaulles, die, in der Verfassungsurkunde als gemischt parlamentarischpräsidentielles System bestimmt, i n der politischen Praxis bis zu einem gewissen Grade eine „Rückkehr zum monarchischen Konstitutionalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts" bedeutet hatte 1 6 . 13 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, B e r l i n usw. 1925, S. 234 u. 249 ff. Gegen die Verdrängung des materiellen Verfassungsbegriffs durch den formellen m i t treffenden Argumenten Kägi, a.a.O., S. 60 - 2. 14 Vgl, dazu etwa Hans Peters, Entwicklungstendenzen der Demokratie i n Deutschland seit 1949, i n : Demokratie u n d Rechtsstaat. Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, bes. S. 231 - 6. Über den i m Vergleich zur bundesdeutschen Verfassungsordnung mehr formellen Charakter der österreichischen Bundesverfassung siehe Hans Spanner, Aufgaben u n d Stil der deutschen u n d der österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, i n : Hundert Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit — Fünfzig Jahre Verfassungsgerichtshof i n Österreich, hrsg. von Felix Ermacora, Hans Klecatsky, René Marcie, Wien usw. 1968, bes. S. 160 f. 15 Dazu Kimminich, a.a.O., S. 328 f. 16 Carl J. Friedrich, Die neue französische Verfassung i n politischer u n d historischer Sicht, wiederabgedr. i n : ders., Zur Theorie u n d P o l i t i k der V e r fassungsordnung, Heidelberg 1963, S. 188. Ebenso Peter Zürn (Die republikanische Monarchie, München 1965, S. 267) i n seiner abschließenden Charakterisierung des Regierungssystems der V. Republik.

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III. Obwohl den bisherigen Ausführungen eine bestimmte Vorstellung vom Konstitutionalismus zugrunde gelegt wurde, kann doch nicht darauf verzichtet werden, diesen auf die Möglichkeiten seiner begrifflichen Erfassung hin näher zu untersuchen. I n seinem grundlegenden Werk „Der Verfassungsstaat der Neuzeit" hat Carl J. Friedrich für ihn die folgende Definition zu geben versucht: „Der Konstitutionalismus schafft durch Gewaltenteilung (Aufteilung der Macht) ein System wirksamer Beschränkungen für das Handeln der Regierung. Er unterwirft sozusagen den ,Staat' der Verfassung 17 ." I m Mittelpunkt dieses KonstitutionalismusBegriffes steht demnach die bereits erwähnte Idee der Machteinschränkung, die als Ausfluß sowohl der mittelalterlichen Naturrechtslehre wie der christlichen Lehre von der Persönlichkeit i n dem Zeitpunkt zur bestimmenden Macht für die politische Entwicklung wurde — zur „idéeforce", wie die Franzosen mit Alfred Fouillée sagen —, als das aufstrebende Bürgertum darin eine Möglichkeit sah, sich die Teilnahme an der Staatsmacht zu erkämpfen 18 . Was von Friedrich unter Konstitutionalismus verstanden w i r d — und hier zeigt sich die Besonderheit des angloamerikanischen Sprachgebrauchs —, ist die Theorie bzw. der Entwicklungsprozeß der rechtsstaatlichen Verfassung, wie ihn übrigens auch Loewenstein vor Augen hat, wenn er die Geschichte des Konstitutionalismus gleichsetzt mit der „Suche des politischen Menschen nach der Begrenzung der von den Machtträgern ausgeübten absoluten Macht" oder mit dem „Bemühen, an die Stelle der blinden Unterwerfung unter die Faktizität der bestehenden Obrigkeit eine geistige, moralische oder ethische Rechtfertigung der Autorität zu setzen" 19 . Konstitutionalismus, i n diesem weiteren Sinne verstanden, ist daher mit dem gegenwärtig noch keineswegs abgeschlossenen Prozeß des Entstehens neuer Verfassungen gleichzusetzen, die einem neuen oder neu aufzubauenden staatlichen Sein als rechtliche Grundlage dienen sollen, insbesondere mit der Aufgabe, eine demokratische Ordnung zu schaffen und zu garantieren, Mängel früherer Verfassungen zu vermeiden und neben der Rechtssicherheit auch die wirtschaftliche und soziale Sicherheit zu gewährleisten 20 . Von diesem umfassenden Gesichtspunkt ausgehend, 17 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, B e r l i n usw. 1953, S. 26. H i n sichtlich einer vollständigen Analyse des Konstitutionalismus, a.a.O., S. 135 ff. 18 Die Idee der Machteinschränkung ist eng verknüpft m i t der dem Liberalismus eigenen Machtskepsis. Vgl. dazu die klassische Formulierung bei Montesquieu (De l'Esprit des Lois, L i v r e X I , chap. 4), der es „eine ewige Erfahrung" nannte, daß „jeder, der Macht hat, zu ihrem Mißbrauch neigt". 19 Loewenstein, a.a.O., S. 128. Dahinter steht die grundlegende Zweiteilung aller politischen Systeme i n „Konstitutionalismus" u n d „ A u t o k r a t i e " (a.a.O., S. 26 - 9). 20 Diese F u n k t i o n der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstandenen Verfassungen betont Spanner, Die Rolle der Verfassung i m gegenwärtigen

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unterscheidet der französische Staatsrechtslehrer André Hauriou vier große Etappen der konstitutionellen Bewegung („quatre grandes vagues de constitutionnalisation"): als erste die, die durch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Französische Revolution von 1789 ausgelöst wurde, sodann als zweite die i m Zusammenhang m i t den französischen Revolutionen von 1830 und 1848 entstandenen Verfassungen, während die dritte und vierte Etappe die jeweils nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg einsetzenden Bemühungen zur schriftlichen Fixierung der rechtlichen Grundordnung des Staates umschließen 21 . Der Verfassungshistoriker hingegen legt dem Begriff des Konstitutionalismus einen engeren Sinn zugrunde: er kennt ihn als Bezeichnung einer am Ausgang des 18. Jahrhunderts einsetzenden und dann i m 19. Jahrhundert zum Höhepunkt gelangenden politischen Bewegung, der sog. „Verfassungsbewegung", als das gebildete Bürgertum sich gegen die absolute königliche Macht erhob und diese durch Aufteilung der Herrschaftsbefugnisse auf Monarch und Parlament zu beschränken suchte. Als institutionell verfestigtes Ergebnis der konstitutionellen Bewegung entstand damals die konstitutionelle Monarchie, für die i m deutschen Raum die preußische Verfassung von 1850 als Hauptmodell zu gelten hat 2 2 . IV. Als Epochenbegriff verstanden, nahm das 19. Jahrhundert seinen Anfang i n den zeitlich noch dem vorausgehenden Säkulum zugehörenden Revolutionen Amerikas und Frankreichs 23 . Noch weiter zurück lag eine große geistige Revolution, von Paul Hazard die „Krise des europäischen Bewußtseins" genannt 24 , die aus Franzosen, die wie Bossuet dachten, Franzosen machte, die Voltaire folgten. Von der amerikanischen Revolupolitischen u n d sozialen Leben, i n : österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, N.F. Bd. 7,1956, S. 9. 21 André Hauriou, Droit constitutionnel et institutions politiques, 5e éd., Paris 1972, S. 72 - 6. Uber die Hauptetappen der Ausbreitung des Konstitutionalismus i m 18. und 19. Jahrhundert auch Friedrich, a.a.O., S. 32. 22 Da nur eine Skizze der Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates beabsichtigt ist, erscheint eine Beschränkung der Darstellung auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zulässig. Nach den verfassungsrechtlichen Auswirkungen der Revolution von 1848 i n Österreich und Preußen vollzieht sich nämlich der politische K a m p f auf dem Boden der Verfassung: „Nicht mehr die Existenz, sondern der Charakter des Verfassungsstaates stehen zur Debatte" (Thomas Ellwein, Das Erbe der Monarchie i n der deutschen Staatskrise, München 1954, S. 101). Das bedeutet i m einzelnen, daß sowohl die österreichische Dezemberverfassung von 1867 als auch die Bismarcksche Reichsverfassung nicht mehr i n den Rahmen unserer Untersuchung fallen. 23 Zur Problematik des Epochenbegriffes „19. Jahrhundert" s. Hiller von Gaertringen, a.a.O., S. 203 - 6. 24 Paul Hazard, Die Krise des europäischen Geistes (1680 - 1715). Aus dem Franz. übertr. v. H. Wegener, H a m b u r g 1939.

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tion schrieb Fritz Valjavec, daß sich damals, ausgelöst durch die Vermietung von Truppen an England durch deutsche Fürsten, zum ersten Mal i n der deutschen Geschichte eine geschlossene K r i t i k des Bürgertums und der Gebildeten am Tun des absolutistischen Kleinstaates herausgebildet habe: „Eine Feindschaft bestimmter Gesellschaftsschichten gegen die bestehende soziale und politische Ordnung ist von da an unverkennbar vorhanden 25 ." Der entscheidende Anstoß sollte aber doch von der Französischen Revolution kommen, von der Werner Näf einmal meinte, sie sei ein Ereignis von so allgemeiner Bedeutung, daß der Stand jedes europäischen Staates um 1815 durch sein Verhältnis zu ihr bestimmt werden müsse 26 . M i t den beiden i n Rede stehenden Revolutionen läßt auch Wilhelm Mommsen, einer der besten Kenner des 19. Jahrhunderts, eine neue Zeit der europäischen Geschichte beginnen: „Sie haben zwar die monarchische Staatsform, die seit Jahrhunderten auf dem Festlande herrschte, nicht beseitigen und auch den Absolutismus und sein politisches Erbe keineswegs austilgen können. Aber die überkommenen politischen Anschauungen wurden doch jetzt überall fragwürdig und standen seit 1789 i n der Abwehr gegen neue politische Ideen 27 ." Monarchie und Volkssouveränität hießen die neuen politischen Mächte, deren gegenseitiger Kampf, „ m i t welchem alle anderen Gegensätze zusammenhängen", sich nach Ranke als die leitende Idee des 19. Jahrhunderts dargestellt hat 2 8 . I n seiner Einführung zum Sammelband „Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1918)" hat Böckenförde mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts nicht ausschließlich als die Geschichte des konstitutionellen Verfassungsproblems angesehen werden dürfe, sondern daß es daneben auch ein nationales und ein soziales Verfassungsproblem gebe, die erst i n ihrem Zusammenwirken die Kräfte bezeichnen, die Verfassungsgeschehen und Verfassungsentwicklung in Deutschland bestimmen 29 . Was Frankreich betraf, so waren dort schon zur Zeit der Großen Revolution der nationale und der konstitutionelle Gedanke eine unauflösliche Verbindung miteinander 25 Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen i n Deutschland 1770 - 1815, Wien 1951, S. 109. Vgl. dazu neuerdings R. R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas von 1760 bis zur Französischen Revolution, F r a n k f u r t a. M. 1970, sowie Horst Dippel, Deutschland und die amerikanische Revolution. Sozialgeschichtliche Untersuchung zum politischen Bewußtsein i m ausgehenden 18. Jahrhundert, K ö l n 1972. 26 Werner Näf, a.a.O., S. 139. 27 Wilhelm Mommsen, Größe u n d Versagen des deutschen Bürgertums. E i n Beitrag zur Geschichte der Jahre 1848 - 1849, Stuttgart 1949, S. 15. 28 Leopold von Ranke, Uber die Epochen der neueren Geschichte. Historischkritische Ausgabe, hrsg. v. Theodor Schieder und H e l m u t Berding. Aus Werk und Nachlaß, Bd. 2, München 1971, S. 441 (zit. nach Werner Boldt, K o n s t i t u tionelle Monarchie oder parlamentarische Demokratie, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 216,1973, S. 622). 29 Böckenförde, a.a.O., S. 15.

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eingegangen, was den geistigen Boden für die „Menschen- und Bürgerrechte" und später für die Verfassung von 1791 abgeben sollte. Nicht nur die Sorge um die menschliche Freiheit, sondern auch das Streben nach nationaler Einheit machte das Wesen der „unsterblichen Prinzipien" von 1789 aus, die über die Kampfschrift von Sieyès „Qu'est-ce que le TiersEtat" den Weg i n eine politisch interessierte Öffentlichkeit fanden 30 . I n seiner „Deutschen Geschichte i m 19. Jahrhundert" hat Schnabel gezeigt, daß diese auf Einheit und Freiheit gerichteten Forderungen i m Grunde durch den Gedanken der Autonomie bestimmt waren, der „freien Entwicklung des Bürgers wie der Nation, der Einzelperson wie der nationalen Persönlichkeit" 31 . Das moderne Nationalbewußtsein konnte erst geboren werden, nachdem die Freiheitsidee die Bindung an die kleineren Lebenskreise gelockert und dadurch eine Aufnahmebereitschaft für das Erleben einer umfassenderen Gemeinschaft hergestellt hatte. Von da an w i r d — i n Frankreich — die Staatseinheit nicht mehr bloß „von oben" geschaffen, sondern auch „von unten" ideell erfaßt. Ein berühmt gewordener Satz aus Meineckes „Weltbürgertum und Nationalstaat" veranschaulicht das Wesen dieses „nationbildenden Individualismus": „Die Nation trank gleichsam das Blut der freien Persönlichkeiten, um sich selbst zur Persönlichkeit zu erheben 32 ." Von Frankreich ausgehend, haben sich die nationale und die konstitutionelle Bewegung zu einer universalen Strömung säkularen Charakters ausgeweitet. Was sich damals an Kräften des Fortschritts, von Metternich „le parti du mouvement" genannt, gegen das offizielle Europa der Fürsten und Regierungen erhob, war bei aller länderweisen Verschiedenheit doch durch eine innere Verwandtschaft verbunden: „es handelt sich um einen gleichartig angelegten, als mächtiger Grundstrom die Tiefe durchfließenden Prozeß", dem eines zugrunde lag: „der Aufstieg des Bürgertums, der bürgerlichen Denkweise, der bürgerlichen Wirtschaft, des bürgerlichen Staates" 33 . Die Stärke der konstitutionellen Bewegung schlug sich nieder i n einem „Universalismus der geschriebenen Verfassung", denn „überall i m Gefolge der siegreichen Trikolore wuchsen Verfassungen aus der nationalen Erde" 3 4 . Nachdem sich auch die autoritäre Herrschaft Napoleons I. der verfassungsstaatlichen Form bedient hatte, griff die Technik der geschriebenen Verfassung auf die kontinentale Monarchie über. 30 Max Imboden (Die politischen Systeme, Basel u. Stuttgart 1962, S. 100) spricht i m Hinblick auf den Verfassungsstaat von der „ i n der Geschichte einmaligen Synthese von Liberalismus u n d Nationalismus". Vgl. dazu auch die den „Prinzipien von 1789" gewidmeten Ausführungen meines Buches „ V e r fassungsfragen der Fünften Republik" (Graz 1964, S. 84 - 115). 31 Schnabel a.a.O., S. 121. 32 Meinecke, Weltbürgertum u n d Nationalstaat, 7. Aufl., München u. B e r l i n 1928, S. 9. 33 Näf, a.a.O., S. 180. 34 Loewenstein, a.a.O., S. 137.

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I n einer interessanten Studie „Über die Verbreitung der politischen Ideologien" hat Loewenstein den Versuch unternommen, diesen Siegeszug des Verfassungsstaates i n den größeren Zusammenhang eines ideengeschichtlichen Prozesses zu stellen 35 . Dabei sei von der Grundtatsache auszugehen, daß „politische Systeme und die ihnen funktionsgemäßen Einrichtungen sich vorwiegend vermittels der ihnen entsprechenden politischen Ideologien von ihrem Ursprungsland i n eine fremde Umgebung übertragen und verpflanzen" 36 . Gerade der Verfassungsgedanke biete nun ein aufschlußreiches Beispiel dafür, wie eine politische Ideologie sich verbreitet und die ihr gemäßen Einrichtungen schafft. Die i n der Geschichte der Neuzeit ohne Beispiel dastehende Zirkulation der konstitutionellen Idee wäre jedoch nicht möglich gewesen, hätte es nicht am Beginn der Neuzeit die Erfindung der Buchdruckerkunst, die maritimen Entdeckungen und die religiösen Reformbewegungen gegeben, die — wie auch die i m 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung — dazu beigetragen haben, daß „die bisher ideologisch stationäre westliche Staatsgesellschaft in Fluß geriet und bei aller individuellen Gespaltenheit zu einer abendländischen Gesamtgesellschaft zusammenwuchs" 37 . I m Falle der „transnationalen Zirkulation" könne nun zwischen den beiden Formen der „Konvergenz" und der „Imitation" unterschieden werden, wobei diese sich als Kommunikationsvorgang i n folgender Weise schematisieren lasse: „Man nahm eine Ideologie und ihre Einrichtungen, die sich anderswo bewährt hatten oder zu bewähren schienen, für das eigene Land auf, und alles, was man dabei zu t u n hatte, war, die Verfassung zu kopieren oder bestenfalls national abzuwandeln 38 ." Freilich mußte die fremde Ideologie, sollte sie i n dem neuen Milieu die Chance zu ihrer Durchsetzung erhalten, eine „transnational ähnliche Situation" vorfinden. Die Übernahme des französischen Verfassungsvorbildes konnte daher nur dort erfolgversprechend sein, wo es eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der geschichtlichen Vergangenheit (absolute Monarchie) und des aufklärerischen Glaubens an die Allgemeingültigkeit der neuen politischen Maximen gab 39 . 35 Loewenstein, Über die Verbreitung der politischen Ideologien, wiederabgedr. i n : ders., Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 271 - 88. 38 Loewenstein, a.a.O., S. 271. 37 Loewenstein, a.a.O., S. 278. 38 Loewenstein, a.a.O., S. 280. 39 Vgl. dazu Näf, a.a.O., S. 187 - 91. Der Glaube an die Vorbildlichkeit des französischen — und später des englischen (über diese Umorientierung Schnabel, a.a.O., S. 232) — Verfassungslebens w a r i n Deutschland auf die liberalen Staatsdenker (ζ. B. Dahlmann) beschränkt, während die konservativen Kreise, wie etwa Stahl, sich an die historisierende Betrachtung Burkes hielten, wonach die englische Verfassung aus den Besonderheiten des englischen Lebens erwachsen sei u n d daher nicht ohne weiteres auf kontinentale Verhältnisse übertragen werden könne (nach Burkes berühmter Formulierung ist die V e r fassung nicht ein Produkt menschlicher W i l l k ü r , sondern „a vestment which accomodates itself to the body"). Vergleichbar damit der Widerstand gegen die

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So ist es i n der Rückschau m ö g l i c h g e w o r d e n , e i n i g e n V e r f a s s u n g e n des 18., aber v o r a l l e m des 19. J a h r h u n d e r t s die F u n k t i o n eines „ M o d e l l s " zuzusprechen, sie k u r z als „ M o d e l l v e r f a s s u n g e n " z u bezeichnen, die sich d a n n m i t d e n v o n i h n e n „ a b g e l e i t e t e n V e r f a s s u n g e n " z u sog. „ V e r f a s sungskreisen" zusammenschließen lassen 4 0 . G e n a n n t seien zuerst — w e n n auch z e i t l i c h n i c h t a n erster Stelle steh e n d — die v o n Lorenz von Stein so bezeichneten napoleonischen „Staatsordnungen", n ä m l i c h die K o n s u l a t s v e r f a s s u n g v o n 1799 u n d die z u i h r e r w e i t e r e n A u s g e s t a l t u n g erlassenen „ S e n a t s k o n s u i t e " v o n 1802 u n d 1804, v o n denen e i n maßgeblicher E i n f l u ß n i c h t n u r a u f die napoleonischen Grundgesetze i n H o l l a n d , I t a l i e n u n d S p a n i e n ausging, s o n d e r n auch auf d e n S c h e i n k o n s t i t u t i o n a l i s m u s d e r napoleonischen V a s a l l e n s t a a t e n i n Deutschland, v o r a l l e m auf die V e r f a s s u n g f ü r das K ö n i g r e i c h W e s t f a l e n v o n 1807. A u c h die v o m G r a f e n Montgelas entworfene und von K ö n i g Maximilian I. Joseph erlassene bayerische V e r f a s s u n g v o n 1808 bedeutete eine äußerliche A n p a s s u n g a n das französische V o r b i l d 4 1 . E i n e n a u ß e r o r d e n t l i c h e n E i n f l u ß auf andere N a t i o n e n , die gerade i m B e g r i f f e standen, v o n i h r e m „ p o u v o i r c o n s t i t u a n t " G e b r a u c h z u machen, ü b t e n a t u r g e m ä ß die französische Verfassung von 1791 aus. N i c h t n u r der Verpflanzung der englischen Institutionen nach Frankreich zur Zeit der Restauration, namentlich bei Royer-Collard, dem Haupt der sog. „ D o k t r i n ä r e " : „Wenn i h r unsere französische Charte durch das englische Regierungssystem ersetzen wollt, dann gebt uns doch auch die physische u n d moralische Verfassung Englands, dann macht doch, daß die Geschichte Englands auch die unsrige ist, dann führt doch auch eine mächtige u n d geachtete Aristokratie i n unser politisches Kräftespiel ein" (zit. bei Joseph Barthélémy , L'introduction du régime parlementaire en France sous Louis X V I I I et Charles X , Paris 1904, S. 17). Noch schärfer i m Ausdruck der Engländer Disraeli während der Periode des Bürgerkönigtums, der „die bloße Übernahme einer Regierungsform seitens Frankreichs, die man aus Höflichkeit die englische Verfassung nennt", unter die „größten Torheiten des menschlichen Verhaltens" gezählt wissen w i l l (Benjamin Disraeli, Vindications of the English Constitution, London 1836; zit. bei Ernst Fraenkel, Historische Vorbelastungen des deutschen Parlamentarismus, wiederabgedr. i n : ders., Deutschland u n d die westlichen Demokratien, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 15). 40 Vgl. dazu Conrad Bornhak, Genealogie der Verfassungen, Breslau 1935. Loewenstein (Verfassungslehre, S. 145) spricht von „Verfassungsfamilien", w o bei die gemeinsame ursprüngliche Verfassung („Mutter-Verfassung") durchaus nicht immer eine wirkliche Neuschöpfung darstellen müsse. Übernommen wurde diese Klassifizierung auch von Ion Contiades, Verfassungsgesetzliche Staatsstrukturbestimmungen, Stuttgart usw. 1967, S. 13 - 7. 41 Uber den „Schein-Konstitutionalismus" der napoleonischen Vasallenstaaten vgl. Huber, a.a.O., Bd. 1, S. 88 - 90. Dazu neuerdings Helmut Berding, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik i m Königreich Westfalen 1807 - 1813, Göttingen u. Zürich 1973. I n weit höherem Maße als Westfalen durfte aber i m Hinblick auf den Fortschritt der Reformen das Großherzogtum Berg den T i t e l eines napoleonischen Musterstaates für sich i n Anspruch nehmen. Zur bayerischen Verfassungsentwicklung unter Montgelas vgl. Hub er, a.a.O., S. 319 - 21, sowie Eberhard Weis, Montgelas 1759 - 1799. Zwischen Revolution und Reform, München 1971.

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Umstand, daß sie die erste geschriebene Verfassung auf dem europäischen Kontinent darstellte, mußte ihr ein außergewöhnliches Prestige verleihen; auch die i n ihr zustande gekommene Verbindung der Idee der Nationalsouveränität mit der Einrichtung einer königlichen Exekutive („démocratie royale") trug dazu bei, sie i n den für eine Rezeption des Konstitutionalismus reif gewordenen Ländern als ein Dokument des Fortschritts erscheinen zu lassen. A n ihr orientierte sich dann die spanische Verfassung von 1812 („Verfassung von Cadiz"), die insbesondere nach ihrer erneuten Proklamierung i m Jahre 1820 das Vorbild einer Reihe frühkonstitutioneller europäischer und außereuropäischer Verfassungen bildete 42 . Als Modellverfassung hat ferner die französische „Charte constitutionnelle " von 1814 mit dem von ihr proklamierten „monarchischen Prinzip" zu gelten. M i t der Unterscheidung zwischen der Substanz der staatlichen Gewalt, die dem Monarchen als dem Oberhaupt des Staates zukomme, und der Ausübung dieser souveränen und ungeteilten Gewalt durch die verfassungsmäßig zuständigen Organe und i n den verfassungsmäßig vorgesehenen Formen hatte man eine Formel gefunden, deren sich wenige Jahre später deutsche Verfassunggeber bedienen sollten, um die zu schaffende konstitutionelle Ordnung „ m i t den Forderungen der Fürstensouveränität in Einklang zu bringen", die es vor allen revolutionären Überflutungen zu schützen galt 4 3 . Die näheren Beziehungen der süddeutschen Staaten zu Frankreich sowie ihre besondere Aufgeschlossenheit für die neuen politischen Ideen des Westens waren der Grund, daß die dortigen Verfassungen als erste sich an der französischen Charte und damit am monarchischen Prinzip orientierten 4 4 . Zum Leitbild einer wahrhaft konstitutionellen Verfassung wurde dann von der liberalen Bewegung — auch in Deutschland — die aus der französischen Julirevolution von 1830 hervorgegangene „revidierte" Charte erhoben, die unter weitgehender Beibehaltung der Verfassungsstrukturen von 1814 m i t der Wiedereinführung des revolutionären Prinzips der Nationalsouveränität für die Monarchie eine neue geistige Grundlage geschaffen hatte. 42 Die spanische Verfassung sollte vor allem i n der italienischen Revolution von 1820 eine bedeutende Rolle spielen. Siehe dazu Juan Ferrando Badia, Die spanische Verfassung von 1812 u n d Europa, i n : Der Staat, Bd. 2, 1963, S.153 - 80. 43 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 5. Neudruck, B e r l i n 1929, S. 469. 44 Uber die französischen Verfassungsdokumente von 1814 u n d 1830 insbes. Paul Bastid, Les institutions politiques de la monarchie parlementaire française (1814 - 1848), Paris 1954. Hier auch (S. 33 - 8) über den Einfluß der englischen Institutionen. Man darf allerdings nicht übersehen, daß sich Frankreich i n den Jahren 1814 bis 1848 nur auf verfassungsrechtlichem Gebiet dem englischen Einfluß öffnete, dagegen i m Bereich der Verwaltung die Institutionen des Ersten Kaiserreiches beibehielt. Dem Werk von Bastid verdankt vieles meine Studie: Die Verfassungsentwicklung i n Frankreich 1814- 1830, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 202,1966, S. 265 - 308.



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Obwohl i n vielen ihrer Bestimmungen nur ein Spiegelbild der Charte von 1830, ist doch die belgische Verfassung von 1831 zum Ausgangspunkt eines weiteren Verfassungskreises geworden 45 . Durch Zuweisung der wesentlichen Befugnisse an das Parlament sowie durch Beschränkung des „Königs der Belgier" auf eine reine Organstellung 46 hat sie einen neuen Staatstypus inauguriert, der für viele Nationen vorbildlich werden sollte: die parlamentarische Monarchie. A m bedeutendsten war der Einfluß der belgischen Verfassung i m Jahre 1848, als das liberale Bürgertum als Träger der Revolutionen i n Italien, Deutschland und Ungarn i n i h r die ideale Grundlage für einen i m Geiste der Freiheit organisierten Staatsaufbau erblickte. Auf ihre Grundsätze berief sich nicht nur die italienische Verfassung von 1848 („Statuto Albertino"); sie war auch das Modell der verfassunggebenden Arbeiten i n der Frankfurter Paulskirche für eine deutsche Reichsverfassung, in Wien für eine österreichische und i n Berlin für eine preußische Verfassung 47 .

V. Wie sehr auch der deutsche Konstitutionalismus — und die vorstehenden Ausführungen haben dies zu zeigen versucht — sich i m Sog der westlichen Verfassungsmodelle befinden mochte und wie sehr auch die deutschen Publizisten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vollauf damit beschäftigt waren, das vom westlichen Ausland her einströmende politische Gedankengut den Erfordernissen des monarchischen Prinzips anzupassen48, so wäre es doch nichtsdestoweniger eine Verzeichnung der wirklichen Verhältnisse, wollte man m i t Bornhak von einem „Zeitalter der Rezeption fremden Rechtes" sprechen, das „sich der einstigen Rezeption römisch-kanonischen Rechts i m Beginn der Neuzeit würdig an die 45 Eine gute Zusammenfassung bei John Gilissen, Die belgische Verfassung von 1831 — i h r Ursprung u n d i h r Einfluß, i n : Beiträge zur deutschen u n d belgischen Verfassungsgeschichte i m 19. Jahrhundert, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1967, S. 38 - 69. Loewenstein sieht i n i h r den „Wendepunkt, welcher zur heutigen Version der Monarchie i n Übereinstimmung m i t demokratischem Konstitutionalismus führte" (a.a.O., S. 138). 46 Vgl. A r t . 78 : „Der K ö n i g hat keine anderen Befugnisse als die, welche i h m die Verfassung u n d die auf G r u n d der Verfassung erlassenen besonderen Gesetze ausdrücklich verleihen." Uber die Entstehung dieses A r t i k e l s : Gilissen, a.a.O., S. 57 f. 47 Als Bundesstaats-Modell für die schweizerische Bundesverfassung von 1848/74, die Verfassung der Frankfurter Paulskirche und später die Verfassungen des Norddeutschen Bundes u n d des Deutschen Reiches ist überdies auf die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 hinzuweisen. I n diesem Zusammenhang wichtig: Rudolf Uliner, Die Idee des Föderalismus i m Jahrzehnt der deutschen Einigungskriege. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung des Modells der amerikanischen Verfassung für das deutsche politische Denken, Lübeck u. H a m b u r g 1965. 48 Für die sog. „politischen Professoren" w i r d dies behauptet von Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation i m deutschen Vormärz, Neuwied u. Berlin 1968, S. 271.

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Seite stellt" 4 9 . Ohne die führende Rolle der angelsächsischen Nationen bei der Entwicklung des Verfassungsstaates i n Abrede zu stellen oder die von Frankreich und Belgien ausgehenden unmittelbaren Einflüsse auf den deutschen Konstitutionalismus i n ihrer Bedeutung zu schmälern, muß dieser doch auch als ein Produkt des deutschen Geisteslebens angesehen werden. „Die deutsche klassische Literatur, Kant, Schiller, Humboldt und Fichte, der deutsche philosophische Idealismus, die Läuterung des Freiheitsbegriffes, die Entdeckung der Individualität, der Grundsatz sittlicher Verantwortung und der Selbstbestimmung der Persönlichkeit — alles das ist Voraussetzung deutscher politischer Ideenbildung geworden. Dazu kamen die Antriebe der preußischen Reformzeit, das aufrüttelnde Miterleben der deutschen und europäischen Befreiung, die Anregungen der Romantik, die über Zusammenbruch und Umwandlung wirksam bleibende Tradition des Reichsgedankens 50 ." Daneben drängten die besonderen politischen und sozialen Verhältnisse die deutsche konstitutionelle Bewegung i n eine dem Westen gegenüber selbständige Richtung. Von Bedeutung war hier neben dem Weiterleben von altständisch-dualistischen Anschauungen, wie ζ. B. i n Württemberg, vor allem der Umstand, daß — i m Gegensatz zu England und Frankreich — das deutsche Bürgertum einer immer noch i n sich gefestigten aristokratischen Gesellschaft gegenüberstand, die mit dem Monarchen, dem monarchisch gesinnten Beamtentum und vielfach auch dem grundbesitzenden Adel als Hauptstützen den Forderungen nach Volkssouveränität und nationaler Autonomie nachhaltigen Widerstand zu leisten vermochte 51 . Das ist die Ausgangssituation für die Herausbildung eines besonderen Verfassungstypus, der als deutsche konstitutionelle Monarchie i n die Literatur eingegangen ist. So durchzieht auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung m i t dem deutschen Konstitutionalismus wie ein Leitmotiv die Vorstellung von einem zur Richtlinie genommenen Geschichtsverlauf i m europäischen Westen und einer als Abweichung davon empfundenen Entwicklung i n Deutschland. Gerade das 19. Jahrhundert sei durch eine maximale Distanz und Differenz des deutschen politischen Denkens zum Westen gekennzeichnet. Das ist die Meinung, wie sie die Mehrheit der deutschen Historiker teilt, die sich aus den verschiedensten Anlässen heraus m i t der nationalen Entwicklung Deutschlands beschäftigt haben. Man kann dabei 49

Bornhak, a.a.O., Vorwort, S. V I . Scharff, Deutscher B u n d u n d deutsche Verfassungsbewegung 1815 - 1848, a.a.O., S. 400. 51 Das entscheidende Hemmnis für die Ausbildung einer repräsentativstaatlichen Verfassung französischen oder englischen Typs i n den deutschen Staaten u m 1815 sieht Brandt (a.a.O., S. 33 - 7) i n dem damaligen politisch-sozialen E n t wicklungsstadium gelegen, das durch ein ethnisches Nationalverständnis, eine sozialständische Gesellschaftsstruktur u n d das Vorhandensein einer k a u m jemals ernstlich bedrohten monarchischen A u t o r i t ä t gekennzeichnet war. 50

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auf Meinecke verweisen, der i n seiner — bereits erwähnten — „Idee der Staatsräson" auf den geistig-kulturellen Gegensatz zwischen Deutschland und Westeuropa Bezug nimmt, oder auf Ernst Troeltsch , bei dem das Thema „Deutscher Geist und Westeuropa" an zentraler Stelle seiner K u l turphilosophie steht 52 . Nachdem schon 1911 Hintze das zähe Festhalten Deutschlands am monarchischen Prinzip mit dem bekannten Gesetz des englischen Historikers Seeley von der außenpolitischen Bedingtheit der inneren Freiheit erklärt hatte 5 3 , verdichtet sich nach der Katastrophe von 1918/19 die Auffassung, wonach die deutsche Geschichte die Züge eines schicksalhaften Geschehens trage, i n welchem den geographischen Grundlagen die Rolle von determinierenden Faktoren zukomme. Hermann Onckens „Lebensgesetz der geographischen Mittellage" 5 4 ist dieser Sicht unterworfen, aber auch i n den beiden großen Gesamtdarstellungen über die Reichsgründung aus der Zeit nach 1918 von Erich Mareks („Der Aufstieg des Reiches", 1936) und Heinrich von Srbik („Deutsche Einheit", 1935 - 42) ist das österreichisch-preußische Problem m i t der so bezeichneten „geopolitischen Schicksalslage" verknüpft. Desgleichen w i r d von Meinecke i n der nach dem Zweiten Weltkrieg neuaufgelegten Schrift „Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte" die Ansicht vertreten, daß Deutschlands Weg zum einheitlichen Machtstaat durch das „Schicksal" vorgezeichnet gewesen sei: „Es war die geopolitische Lage Deutschlands inmitten Europas, die uns die Alternative aufzwang, entweder Depressionsgebiet zu bleiben oder Machtstaat zu werden" 5 5 . Auch Gerhard Ritters wohlbedachtes Buch „Europa und die deutsche Frage" (1948) hat die mit der Reformation einsetzende unterschiedliche Entwicklung des politischen Denkens i n Deutschland und Westeuropa zum Gegenstand. Diese kritische Besinnung auf die eigene Vergangenheit w i r d schärfer i m Ton bei Helmuth Plessner, der den Gedanken der verzögerten Entwicklung Deutschlands zum nationalen Industriestaat zum Leitfaden seines Buches „Die verspätete Nation" gemacht hat 5 6 . Die 52 Ernst Troeltsch , Deutscher Geist u n d Westeuropa. Gesammelte k u l t u r philosophische Aufsätze u n d Reden, hrsg. von Hans Baron, Tübingen 1925. Dazu G. M. Schwarz, Deutschland u n d Westeuropa bei Ernst Troeltsch, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 191,1960, S. 510 - 47. 53 Otto Hintze, Das monarchische Prinzip u n d die konstitutionelle Verfassung, wiederabgedr. i n : ders., Staat u n d Verfassung. Gesammelte A b h a n d lungen zur Allgemeinen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1962, S. 366. 54 Hermann Oncken, Der Sinn der deutschen Geschichte, wiederabgedr. i n : ders., Nation u n d Geschichte. Reden u n d Aufsätze 1919 - 1935, B e r l i n 1935, S. 19 ff. 55 Meinecke, V o m geschichtlichen Sinn u n d vom Sinn der Geschichte, 5. Aufl., Stuttgart 1951, S. 126. Nähere Nachweise bei Fehrenbach, a.a.O., S. 277 - 81. 56 Plessner , a.a.O. Z u m Thema schreibt der Verfasser: „ W i r sind, m i t Nietzsche — und nicht n u r m i t i h m — zu reden, die Zuspätgekommenen, u n d w i r holen als Nation die geschichtliche Verzögerung nicht ein. Aber diese V e r spätung ist nicht n u r eine Ungunst des Geschicks, sondern wie jedes Versagtsein i m Äußeren auch eine schöpferische Möglichkeit u n d ein A p p e l l an die inneren K r ä f t e " (a.a.O., S. 11).

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Sprache des Anklägers führt schließlich Georg Lukâcs, der, ein geistvoller Interpret des historischen Materialismus, i n einem alles Denken durchdringenden Irrationalismus das eigentliche Charakteristikum der deutschen Entwicklung sieht 57 . Der hier angeschnittene und für die deutsche konstitutionelle Entwicklung überaus bedeutsame Problemkreis der deutschen „Sonderentwicklung" i m Sinne einer deutsch-westeuropäischen Entfremdung läßt sich, wie uns scheint, i n drei Einzelfragen aufgliedern, über die i m folgenden ein knapper Überblick gegeben werden soll. 1. Der Einfluß der Französischen Revolution auf Deutschland. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die Revolution von 1789 an ihrem Beginn i n Deutschland, vor allem bei den gebildeten jüngeren Schichten, weitgehend auf Sympathie, teilweise sogar auf begeisterte Zustimmung gestoßen ist 5 8 . Zahlreich waren die Pilger der Freiheit, die damals nach Paris kamen, um dort die Erscheinung der Revolution zu studieren. Dabei zeigt es sich, daß die Liberalen unter ihnen, ein Reinhard und besonders ein Oelsner, rasch Anschluß an die Girondisten fanden, deren Sturz sie dann mit Abscheu erfüllte. Aber es ist doch vielfach nur eine „rein literarische Revolutionsbegeisterung" (Naujoks), aus der praktische Lehren zu ziehen man nicht bereit ist. Die „deutschen Girondisten", so schreibt Jacques Droz, „hatten mehr Interesse am Triumph der Aufklärung als an der Emanzipation eines Volkes, das von oben bis unten eine hundertjährige Sklaverei abschüttelte und seine eigene Souveränität begründete 59 ." Von der neuentzündeten Freiheitsidee zuerst mitgerissen und später von ihr enttäuscht, waren auch zahlreiche Rheinländer, die sich zu sog. „patriotischen Klubs" zusammengeschlossen hatten und dort für den Gedanken der Revolution warben: allen voran der Mainzer Georg Forster, der Anfang 1793 durch den „rheinisch-deutschen Nationalkonvent" die Einverleibung des Gebietes von Landau bis Bingen i n den französischen Staatsverband proklamieren ließ. Eine, wie er meinte, für 57 Georg Lukâcs, Die Zerstörung der Vernunft, 3 Bde., Darmstadt u n d Neuwied 1973. 58 Hiezu eine gute Übersicht (mit Lit.-Angaben) bei Eberhard Naujoks, Die Französische Revolution u n d Europa 1789 - 1799, Stuttgart usw. 1969. F ü r dieses Thema sehr ergiebig auch alle Darstellungen über die Entstehung des Konservativismus: außer Valjavec (a.a.O.) aus neuester Zeit vor allem Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus i n Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770 - 1806. Aus dem Engl, von J. Zischler, F r a n k f u r t a. M. 1973 (bes. S. 502 ff.). Aus französischer Sicht: Jacques Droz, L'Allemagne et la Révolution française, Paris 1949 (als knappe deutschsprachige Zusammenfassung u. d. T. „Deutschland u n d die Französische Revolution", Wiesbaden 1955). Z u m Revolutionsdenken des 19. Jahrhunderts vgl. Schieder, Das Problem der Revolution i m 19. J a h r h u n dert, i n : ders., Staat und Gesellschaft i m Wandel unserer Zeit, 3. Aufl., München 1974, S. 11-57. 59 Droz, Deutschland und die Französische Revolution, S. 11.

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das Volk vorteilhafte Vereinigung mit Frankreich schwebte auch Joseph Görres vor, als er zusammen m i t Gleichgesinnten eine cisrhenanische Republik unter dem Protektorat von Hoche zu gründen suchte. Desgleichen hatten in der Donaumonarchie — gerade i n den kurzen Jahren der leopoldinischen Regierung von 1790 bis 1792 — revolutionäre Ideen unter den höchsten Männern des Staates Anhänger gefunden. Sie traten dann zutage in der sog. „Jakobinerverschwörung" von 1794, deren Häupter, wie Ernst Wangermann nachgewiesen hat, fast durchweg einstige Vertraute und Mitarbeiter des Kaisers gewesen sind, die nach dem Tod ihres Protektors führerlos geworden waren 6 0 . Aufgeschlossen für das Zeitgeschehen war nicht zuletzt der aus Sachsen stammende und seit 1762 i n österreichischem Staatsdienst stehende Karl Graf von Zinzendorf, der, ein Günstling des für seine einseitige Vorliebe für Frankreich bekannten Fürsten Kaunitz, i n seinen ungemein ausführlichen Tagebucheintragungen immer wieder die welthistorische Bedeutung der Französischen Revolution hervorgehoben hat 6 1 . Für die weitere Entwicklung entscheidend war jedoch der Umstand, daß unter dem Eindruck der Terrorherrschaft der Jakobiner die innerhalb der Gebildeten bestehende Welle der Zustimmung — der breiten Masse der Bevölkerung fehlte ohnehin jeder Ehrgeiz, es dem Dritten Stande Frankreichs nachzumachen und „ u n tout" zu werden 6 2 — sehr bald den Gefühlen von Abneigung und Haß wich. Dazu kam noch eines: i n Deutschland wäre, wie Eberhard Naujoks zu Recht betont, „trotz Justus Moser und anderer konservativer Autoren keine geistige Front gegen die Revolution so rasch geschaffen worden, wenn nicht Friedrich Gentz als Ubersetzer der „Reflections" von Burke den Weg geebnet hätte" 6 3 . Ein über 1848 hinaus fortwirkender „Revolutionspessimismus", wie Schieder ihn nennt 6 4 , gewinnt nun an Boden. Keineswegs auf die A n hänger der Gegenrevolution beschränkt, ergreift er auch die bürgerlichliberale Intelligenz und entfremdet sie den westlichen Ideen. Wie sehr bei den Kräften des Fortschritts ein aktiver Revolutionswille fehlte und wie 60 Ernst Wangermann, Von Joseph I I . zu den Jakobinerprozessen. Ins D e u t sche übertr. von Stephan Kiss, Wien usw. 1966. Uber dieses Thema auch Denis Silagi, Jakobiner i n der Habsburger Monarchie, Wien u. München 1962. 81 Erika Weinzierl-Fischer, Der Absolutismus i n Österreich 1740- 1848, i n : Die Entwicklung der Verfassung Österreichs v o m Mittelalter bis zur Gegenwart, hrsg. v o m I n s t i t u t für Österreichkunde, 2. Aufl., Wien 1970, S. 61 f. Z u r Person des Staatskanzlers Kaunitz, dem von 1753 bis 1793 die Leitung der österreichischen Außenpolitik anvertraut war, vgl. Alexander Novotny, Staatskanzler Kaunitz als geistige Persönlichkeit, Wien 1947. 62 Diese Formulierung von Droz (L'Allemagne et la Révolution française) ist übernommen von Härtung, Der aufgeklärte Absolutismus, wiederabgedr. i n : ders., Staatsbildende K r ä f t e der Neuzeit, B e r l i n 1961, S. 169. 63 Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution, übers, von Friedrich Gentz, 2 Teile, B e r l i n 1793 - 4. Das Zitat stammt von Naujoks, a.a.O., S. 76. 64 Schieder, a.a.O., S. 15.

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sehr die Liberalen angesichts ihres Mißtrauens i n die Zulässigkeit revolutionären Handelns eigentlich immer „Revolutionäre wider Willen" waren, kann man in Dahlmanns „Politik" (1835) nachlesen: „Auch die aufs beste ausgehende Revolution ist eine schwere Krise, die Gewissen verwirrend, die innere Sicherheit unterbrechend und nicht minder alle Staatsverträge gefährdend 65 ." So mußte die auf ein Zusammenwirken mit den alten Mächten angewiesene Verfassungsbewegung von Beginn an ihre Forderungen auf ein gewisses Maß an politischer Mitbestimmung beschränken, während sich für die Restauration die Revolutionsfurcht als ein geeignetes Mittel zur Begründung ihrer geistigen und politischen Herrschaft darstellte. 2. Der aufgeklärte Absolutismus. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges konnte es nicht ausbleiben, daß das „alte und peinvolle Rätsel Deutschland und Europa" erneut — und i n verstärktem Maße — i n das Blickfeld des Historikers geriet. M i t der Preisgabe der früheren Haltung einer selbstsicheren Distanzierung gegenüber den Ideen und politischen Lebensformen des Westens mußte auch das Phänomen der Revolution neu überdacht werden. Waren vordem, sieht man von der marxistischen Lehre ab, alle geistigen Anstrengungen und Argumente auf die Abwehr revolutionären Geschehens gerichtet, so w i r d nunmehr die Revolution als ein für die Entwicklung von Volk und Staat unentbehrliches Agens hingestellt. „Die Verfemung des deutschen Namens hat i n dem Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise der deutschen Entwicklung ihre erste und wahrscheinlich wichtigste Wurzel", meint Rudolf Stadelmann 66, und verdeutlicht dies m i t dem Hinweis auf das Schicksals]ahr 1848: „Das Scheitern der 48er Bewegung war um so verhängnisvoller für die politische Entwicklung der Deutschen, als durch den Rückschlag, der nach jeder Revolution erfolgen muß . . . die inneren Gegensätze verschärft und vergiftet wurden und jener Weg der vernünftigen Reform von oben, den w i r als die Lieblingsidee der Deutschen kennengelernt haben, nun ganz und gar verrammelt wurde . . . Das Gift einer unausgetragenen, verschleppten Krise kreist von 1850 ab i m Körper des deutschen Volkes. Es war die typische Krankheit des ,Landes ohne Revolution' 6 7 ." Warum sich nun Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts der revolutionären Bewegung verschlossen hat, erkläre sich i m wesentlichen aus βδ Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik, auf den G r u n d u n d das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Bd. 1, Göttingen 1835, S. 180. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Schieder, V o m Deutschen B u n d zum Deutschen Reich, a.a.O., S. 137. 68 Rudolf Stadelmann, Deutschland u n d die westeuropäischen Revolutionen, wiederabgedr. i n : ders., Deutschland u n d Westeuropa, Schloß Laupheim ( W ü r t temberg) 1948, S. 14. 07 Stadelmann, a.a.O., S. 30 f.

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„der bodenständigen politischen Errungenschaft, um die das Ausland gerade i m 18. Jahrhundert die mitteleuropäische Staatenwelt sichtlich beneidete: dem aufgeklärten Absolutismus" 6 8 . Während i n Frankreich, das neben England und den Niederlanden zu den räumlichen Schwerpunkten der Aufklärung zählte, die Reformpläne Turgots (Edikt vom Februar 1776) am Widerstand der privilegierten Stände und des Hofes zerbrachen und der Geist der Aufklärung vor dem Geist des herrschenden Systems zurückweichen mußte 6 9 , hat sich i n Deutschland als eigentümliche Leistung des deutschen Geistes eine Sonderform des Spätabsolutismus entwickelt, die i m Staat Friedrichs des Großen und Josephs IL, den beiden Voltairianern auf dem Thron, ihre vorbildliche Ausprägung gefunden hat. So gelangt Stadelmann zu der, wie es scheint, paradoxen Feststellung, daß nicht die deutsche Reaktion, sondern der deutsche Fortschritt es war, der Deutschland gegenüber dem Westen zurückgeworfen und damit die Deutschen aus der Gemeinschaft der westeuropäischen Ideale ausgeschlossen hat. Auch Werner Conze vertritt die Meinung, daß bei einer solchen Verbindung monarchischen Staatsdienertums mit dem aufgeklärten Zeitgeist „eine Revolution der gegen den Staat aufstehenden Gesellschaft i m Namen der Vernunft nicht möglich war und nicht befürchtet zu werden brauchte" 70 . A u f die gegen die Idee der Revolution immunisierende Rolle der Aufklärung hatte übrigens schon der preußische Minister Graf von Hertzberg hingewiesen, als er 1789 i n einem Vortrag vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften eine Revolutionsgefahr für Preußen mit der Begründung ausschloß, daß der preußische Staat aufgeklärt sei und sich auf dem Wege des Fortschritts befände 71 . Vom Geist der Aufklärung durchdrungen war auch das am 1. Juni 1794 i n Kraft getretene „Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten", m i t dem sich die preußische Monarchie i m Ubergang vom Absolutismus zum Verfassungsstaat ihr „Grundgesetz" gegeben hatte 7 2 . Aber ein gewisser Zwiespalt wohnte dem Gesetzeswerk von Anfang an inne und zog seiner Wirksamkeit Grenzen: War es auf der einen Seite vor allem durch die Aufnahme eines Grundrechtskataloges, der freilich unter dem Druck der reaktionären Bewegung hinter den ur68

Stadelmann, a.a.O., S. 22. Über die Diskrepanz zwischen der von den Physiokraten entwickelten Theorie des aufgeklärten Absolutismus und der entsprechenden Staatspraxis, vor allem zur Zeit Ludwigs X V I . , „der alles eher als ein aufgeklärter Despot war", vgl. Härtung, a.a.O., S. 155 - 60. 70 Werner Conze, Das Spannungsfeld von Staat u n d Gesellschaft i m V o r märz, in: Staat und Gesellschaft i m deutschen Vormärz 1815 - 1848, hrsg. v. Werner Conze, Stuttgart 1962, S. 215. 71 Siehe dazu Hermann Conrad, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794, K ö l n u. Opladen 1958. Der Hinweis auf diesen bemerkenswerten Vortrag findet sich hier auf S. 52 (Diskussionsbeitrag Scheuner). 72 Conrad, a.a.O., S. 29. 69

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sprünglichen Plänen seiner Verfasser zurückbleiben mußte, dem Gedanken des Fortschritts verpflichtet 73 , so wies es auf der anderen Seite i n die Vergangenheit zurück, da es ja die ständische Gesellschaftsordnung i n einem Augenblick rechtlich zu fixieren suchte, als diese i n Frankreich durch die legislatorischen Maßnahmen der Nationalversammlung zusammenzubrechen begann. I n Österreich hatte der französische Kultureinfluß — nach Zurückdrängung der Bindungen an Italien und Spanien — i n den Jahrzehnten von 1750 bis 1770 seinen Höhepunkt erreicht 74 . Es waren berühmte Namen, die das literarische Interesse der gebildeten Schichten damals auf sich zogen: Voltaire und die Enzyklopädisten, die Materialisten Holbach und Helvetius und nicht zuletzt — neben Jean-Jacques Rousseau — der als Verfechter einer konstitutionellen Regierungsform berühmt gewordene Montesquieu, dessen „Esprit des Lois" auf Betreiben van Swietens schon 1752 durch die Zensur freigegeben worden war. Aber auch das unablässige Bemühen Maria Theresias und Josephs II. zur Schaffung eines Wohlfahrtsstaates hatte den Anregungen französischer Aufklärer vieles zu verdanken. „So sind es", wie Hans Wagner abschließend feststellt, „die Fremden selbst gewesen, die Österreich instandgesetzt haben, den Stürmen der großen Revolution von innen her Widerstand zu leisten" 7 5 . 3. Das Verhältnis der Deutschen zur Politik. Das „Zuspätkommen" Deutschlands i n der nationalen wie i n der Verfassungsfrage w i r d i n der Literatur sehr häufig m i t dem Hinweis auf die politische Unbegabtheit und Unreife des deutschen Volkes begründet. Dynastisches Gefühl, obrigkeitsstaatliches Denken und die alte Gewohnheit des Gehorsams sollen den revolutionären Umbruch und damit die von der Logik der Institutionen geforderte und von den westlichen Nationen vorgelebte Entwicklung zu einer in Freiheit organisierten politischen Form i m 19. Jahrhundert verhindert haben. Nicht einzugehen ist i n diesem Zusammenhang auf die gelegentlich anzutreffende Behauptung vom „unpolitischen Charakter" der Deutschen schlechthin; sie muß so lange als unbewiesen gelten, als nicht klargestellt ist, was unter dem so weitmaschigen Begriff des 73 Ein gutes Beispiel für die geistige K o m m u n i k a t i o n i n der damaligen Zeit und gleichzeitig für die „transnationale Verbreitung" (Loewenstein) einer Ideologie ist der für die Aufklärungsphilosophie wesentliche Gedanke der Toleranz. I m „Traité sur la tolérance" (1763) Voltaires entwickelt, sollte er i m Toleranzpatent Josephs II. (1781), i m E d i k t Ludwigs XVI. (1787) u n d bald darauf auch i m „Allgemeinen Landrecht" (1794) seinen rechtlichen Ausdruck erhalten. 74 I n Form eines Überblicks : Hans Wagner, Der Höhepunkt des französischen Kultureinflusses i n Österreich i n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, i n : Österreich i n Geschichte u n d Literatur, Jg. 5,1961, S. 507 - 17. 75 Wagner, a.a.O., S. 515. Auch Josephs Bruder Leopold II. w a r aufgeklärter Absolutist, ja sein „Glaubensbekenntnis" v o m 25. Januar 1790 läßt i h n sogar als Anhänger des Konstitutionalismus erscheinen. Vgl. dazu Adam Wandruszka, Leopold II., Bd. 2, Wien u. München 1965, S. 213 - 9.

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„Politischen" i n seiner Beziehung zu dem ebenso vieldeutigen Begriff des „Volkscharakters" zu verstehen ist 7 6 . Aufmerksamkeit verdient hingegen jene differenziertere Stellungnahme, die die deutsche „Sonderart" entweder an einem bestimmten Bezugspunkt erfaßt oder sie aber als das Ergebnis geschichtlicher Einwirkungen i n einer bestimmten Epoche erklärt. Berichte von Ausländern sind, wenn nicht nationalistische Motive sie verzerren, hier von besonderem Wert. Das gilt ohne Zweifel von Madame de Staël , die mit ihrem Buch „De l'Allemagne" (1813) das Deutschlandbild der französischen Historiographie i n maßgeblicher Weise beeinflußt hat. Aus ihrer Beobachtung des geistigen Deutschland, dieser „patrie de la pensée", wie sie es nennt, nimmt sie den Eindruck mit, daß die Deutschen „die größte Gedankenkühnheit mit dem untertänigsten Charakter vereinen... Die Gebildeten Deutschlands machen einander mit größter Lebhaftigkeit das Gebiet der Theorien streitig und dulden i n diesem Bereich keine Fessel, ziemlich gern aber überlassen sie hierfür den irdischen Machthabern die ganze Wirklichkeit des Lebens. Diese Wirklichkeit, die sie so geringschätzen, findet jedoch Besitzer, die dann Störung und Zwang selbst i m Reich der Phantasie verbreiten" 7 7 . Diese i n Frankreich damals offenbar geläufige Meinung ist auch an jener Stelle der „Mémoires d'outre-tombe" nachzulesen, wo Chateaubriand i m Zusammenhang m i t der Niederlegung der Kaiserwürde durch Franz II. i m Jahre 1806 die politische und religiöse Zersplitterung Deutschlands beschreibt. Zu Beginn der Französischen Revolution habe es i n Deutschland eine Vielzahl von souveränen Fürsten gegeben, die alle hineingezogen waren i n den Machtkampf, den zwei große Monarchien miteinander austrugen: auf der einen Seite Österreich, das eine Schöpfung der Zeit, auf der anderen Preußen, das die Schöpfung eines einzigen Mannes war. „Deutschland träumte von der politischen Einheit, aber, um zur Freiheit zu gelangen, fehlte ihm die politische Erziehung 7 8 ." Aber auch die Deutschen selbst waren stets i m Zweifel über ihre politischen Fähigkeiten. Das zeigt schon die i m 16. Jahrhundert entstandene Figur des „Deutschen Michel", die, wie Fritz Stern i n einer Studie über den unpolitischen Zug des deutschen Lebensstils ausführt, i m 19. Jahrhundert zur verbreiteten und beliebten Karikatur des typischen Deutschen geworden ist, den eine überaus große Gutmütigkeit und politische Unreife auszeichnen sollen 79 . Das kommt ferner zum Ausdruck i n der 78 Kritisch zum Begriff des „Nationalcharakters" u. a. Carl J. Friedrich u n d Max Weber (siehe die Zitate bei Hermens, a.a.O., S. 80 f., bzw. S. 325). 77 Zit. bei Maier, Ältere deutsche Staatslehre u n d westliche politische T r a d i tion, S. 22. Dazu auch Heinz- Otto Sieburg, Deutschland u n d Frankreich i n der Geschichtsschreibung des neunzehnten Jahrhunderts, Wiesbaden 1954, S. 42 bis 54 (bes. S. 44 ff.). 78 François-René de Chateaubriand, Mémoires d'outre-tombe, 3« éd. t. I e r , Paris 1957, S. 752 („Bibliothèque de la Pléiade"). 79 Fritz Stern, Die politischen Folgen des unpolitischen Deutschen, i n : Das kaiserliche Deutschland. P o l i t i k u n d Gesellschaft 1870 - 1918, hrsg. v. Michael

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deutschen Idee von der Freiheit, i n der „etwas von dem besonderen deutschen Geiste und der besonderen deutschen Geschichte steckt", wie Troeltsch i n einem während des Ersten Weltkrieges erschienenen Aufsatz nachzuweisen sucht 80 . Auch dort, wo der Freiheitsbegriff nicht als geistige Freiheit, als Unabhängigkeit der Person auftritt, sondern als Teilnahme des Individuums an der Bildung des Staatswillens, w i r d die i m deutschen Idealismus wurzelnde deutsche Freiheit „immer eine andere sein als die der westlichen Nationen". „ W i r haben aus alten Zeiten her eine andere Vorstellung von dem Verhältnis des Ganzen und des Einzelnen und sehen in den Rechten vor allem die Pflichten. Die freie Selbsteinordnung und Hingabe i n Unterordnung und Selbsttätigkeit zugleich: das ist i n dieser Hinsicht der Kern unserer Freiheitsidee 81 ." Zwar seien die Parlamente notwendig und die Wahlrechte wie die Mitarbeit der Völker an den Regierungen unentbehrlich für die Erziehung zu politischer Reife, aber das alles läßt Troeltsch nicht als „die Freiheit" gelten, „die w i r meinen", sondern kommt vielmehr zum Ergebnis: „Die deutsche Freiheit w i r d nie eine rein politische sein, sie w i r d immer mit dem idealistischen Pflichtgedanken und dem romantischen Individualitätsgedanken verbunden bleiben 82 ." Daß man die Freiheit vom Staat besitzen könne, ohne die andere, die Freiheit zum Staat, zu haben oder auch nur zu wollen, ist für die Verfasser des „Allgemeinen Landrechts" eine Selbstverständlichkeit gewesen. Für das Wohlergehen eines Volkes erforderlich sei nur die bürgerliche Freiheit, die man i n Monarchien wie i n Republiken vorfinden könne. Niemand habe Grund, sich über den Mangel an politischer Freiheit zu beklagen, solange er die bürgerliche Freiheit genieße. „Wer also in einer Monarchie lebt, worin die bürgerliche Freiheit gehandhabt wird, w i r d kein Verlangen tragen, ein Republikaner zu werden 8 3 ." Die Bereitschaft des Bürgers, sich von politischen Aufgaben entlasten zu lassen, sofern er dadurch nur um so besser dem Ideal der Humanität und — in einer späteren Phase — der Wirtschaft 8 4 dienen konnte, traf sich m i t dem Willen des aufgeklärten Monarchen, die Reform von Staat und Gesellschaft als gouvernementale Reform nach der Devise „Alles für und nichts durch das V o l k " durchführen zu lassen. Stürmer, Düsseldorf 1970, S. 168 - 86. s. a. Bernd Grote, Der deutsche Michel. Ein Beitrag zur publizistischen Bedeutung der Nationalfiguren, D o r t m u n d 1967. 80 Troeltsch, Der metaphysische u n d religiöse Geist der deutschen K u l t u r , wiederabgedr. i n : ders., Deutscher Geist u n d Westeuropa, S. 59 - 79. 81 Troeltsch, a.a.O., S. 78. 82 Troeltsch, a.a.O., S. 79. 83 Ernst Ferdinand Klein, Freiheit u n d Eigentum, abgehandelt i n acht Gesprächen über die Beschlüsse der französischen Nationalversammlung, B e r l i n u. Stettin 1790, S. 163 f. (zit. bei Conrad, a.a.O., S. 42). 84 Vgl. die Ablehnung des parlamentarischen Regierungssystems für Deutschland durch Hintze (Das Verfassungsleben der heutigen Kulturstaaten, a.a.O., S. 403 - 5) m i t dem Argument, daß sich Deutschland angesichts der H i n w e n dung aller seiner nationalen Kräfte auf die Wirtschaft nicht den L u x u s von Berufsparlamentariern leisten könne.

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Der Unterschied zu den französischen Liberalen ist auffällig, vor allem zu Benjamin Constant , der i n einer glänzenden Analyse des Freiheitsbegriffes die „Freiheit der Gegenwart" der „Freiheit des Altertums" gegenüberstellte 85 . Ist die erstere „das Hecht, nur den Gesetzen unterworfen zu sein, weder verhaftet noch eingesperrt noch getötet noch auf irgend eine A r t durch die W i l l k ü r eines oder mehrerer Menschen mißhandelt werden zu können", so soll die letztere darin bestehen, „gemeinsam, jedoch unmittelbar, verschiedene Teile der ganzen Souveränität auszuüben, auf öffentlichem Platz über Krieg und Frieden zu beraten .. ." 8 6 . Obwohl für Constant die persönliche Unabhängigkeit „das allererste Bedürfnis der modernen Menschen" ist, von denen man folglich nie verlangen dürfe, daß sie es zugunsten der politischen Freiheit opfern, ist er sich über deren Bedeutung doch keinesfalls i m unklaren: „Die politische Freiheit gewährt der persönlichen Freiheit Schutz; die politische Freiheit ist deshalb unentbehrlich 87 ." Die persönliche Freiheit ist also dort am besten gesichert, wo der einzelne Mitträger der Staatsgewalt ist, oder anders ausgedrückt: wo das Volk als Ganzes Träger der Staatsgewalt ist, d. h. in der Demokratie. M i t dem Vorwurf, Geist und Politik geschieden zu haben und damit letzten Endes „unpolitisch" gewesen zu sein, hatte sich auch der deutsche Liberalismus seit jeher auseinanderzusetzen gehabt. Es sei dem deutschen Liberalismus nie gelungen, sein Freiheitsideal zur Macht i n ein rechtes Verhältnis zu bringen, meint Ellwein 88, und Härtung erklärt die schwierige Ausgangslage der deutschen Liberalen m i t der weitgehend ungebrochenen Machtstellung der Fürsten, die zusammen m i t der von ihnen abhängigen Regierung das Parlament i n eine untergeordnete Stellung zu drängen vermochten, womit den konstitutionellen Forderungen von allem Anfang an eine klare Grenze gezogen war. „Der deutsche Konstitutionalismus ist also negativ, auf Abwehr, nicht auf eigene Erlangung der Macht eingestellt 8 9 "— anders als in Frankreich, wo eine ideell stärker abgesicherte und sozial besser fundierte liberale Bewegung sich auf die Übernahme der Staatsmacht vorbereiten konnte. Dazu kam noch die jenseits des Rheins bestehende gegenseitige Durchdringung von Geist und Politik, die Heine und Börne als die wertvollste Erfahrung ihrer 85 Benjamin Constant, De la liberté des anciens comparée à celle des modernes, Paris 1819 (im folg. zit. nach der von Walter Lüthi eingel. u. übertr. Ausg. „Uber die Freiheit", Basel 1946). 86 Constant, a.a.O., S. 29 u. 30. 87 Constant, a.a.O., S. 52. Auch Prévost-Paradol („La France nouvelle") und Laboulaye („Le p a r t i libéral, son programme et son avenir") betonten die i n der Staatspraxis bestehende Notwendigkeit des Zusammenspiels dieser beiden Freiheitsideen. 88 Ellwein, a.a.O., S. 33. 89 Härtung, Die Entwicklung der Konstitutionellen Monarchie i n Europa, wiederabgedr. i n : ders., V o l k u n d Staat i n der deutschen Geschichte, Leipzig 1940, S. 208.

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Emigrations jähre empfanden und nach der sie i n Deutschland, Humboldt vielleicht als einzigen ausgenommen, vergeblich gesucht hatten 9 0 . Das dürfte — zusammen mit den kleinstaatlichen Verhältnissen, i n denen die politische Kannegießerei gedeihte — auch die Ursache dafür gewesen sein, daß Deutschland i n den für seine politische Entwicklung entscheidenden Jahrzehnten keinen m i t Montesquieu, Rousseau oder Constant vergleichbaren politischen Denkertypus hervorgebracht hat. „ I m Vergleich zu den französischen Publizisten waren die deutschen ganz unselbständig", schrieb Schnabel i n seiner „Deutschen Geschichte"; „aber sie wirkten", wie er sogleich hinzufügte, „ i n ihrem Vaterlande als geistige Revolutionäre 91 ." Gemeint sind damit die sog. „politischen Professoren" oder „politischen Historiker", die, angefangen m i t Rotteck und Weicker i m Süden und Dahlmann i m Norden Deutschlands, „durch ihre Kenntnisse, ihre Tatkraft und das Feuer der Beredsamkeit die Führung der Nation erlangten" 9 2 und der deutschen Intelligenz zu einer politischen Autorität verhalfen, die i m Jahre 1848 ihren Höhepunkt erreichen sollte. Es ist nun dem deutschen Liberalismus zum Schicksal geworden, daß er sich i m weiteren Verlauf der Entwicklung m i t einer Persönlichkeit vom Format Bismarcks auseinanderzusetzen hatte, wobei er i n einem Bündnis mit diesem die Rolle des schwächeren Partners, i n einem Kampf mit ihm aber die des besiegten Gegners zu spielen gezwungen war. Das blieb nicht ohne Einfluß auf sein Wesen. Man pflegt hier vom Eintreten des Liberalismus aus seiner „idealistischen" i n eine „realistische" Phase zu sprechen, von seiner zunehmenden Anpassung an die realen Verhältnisse und dem damit verbundenen Verzicht auf eine ideelle „Uberhöhung" des politischen Handelns. Es ist dies ein Weg, der, unter dem Eindruck des Revolutionserlebnisses von 1848 angetreten, über 1866 und 1870/71 zu einer Kapitulation der Nationalliberalen vor der erfolgreichen Machtpolitik des Kanzlers führte und den Rochaus „Grundsätze der Realp o l i t i k " 9 3 und Baumgartens nach Königgrätz veröffentlichte „Selbstkritik des Liberalismus" 9 4 als literarische Meilensteine begleiteten. 90 Friedrich C. Seil, Die Tragödie des deutschen Liberalismus, Stuttgart 1953, S. 99. Vgl. dazu auch meine Studie: Chateaubriand als politischer Denker, i n : Marginalien zur poetischen Welt. Festschrift für Robert M ü h l h e r zum 60. Geburtstag, Berlin 1971, S. 161 - 95. 91 Schnabel, a.a.O., S. 223. Vgl. auch Gilbert Ziebura, Anfänge des deutschen Parlamentarismus, i n : Faktoren der politischen Entscheidung. Festgabe für Ernst Fraenkel zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Gerhard A. Ritter und Gilbert Ziebura, Berlin 1963, S. 190 - 2. Uber B e n j a m i n Constants Einfluß auf den L i beralismus des deutschen Vormärz s. Lothar Gall, B e n j a m i n Constant, Wiesbaden 1963. 92 Schnabel, a.a.O., S. 257. Den Typus des „politischen Professors" prägt nach Brandt (a.a.O., S. 271 Anm. 497) „einmal das aktive politische Engagement i n der Öffentlichkeit, zum anderen ein Lehre u n d Forschung durchdringendes politisches Selbstverständnis". 93 August Ludwig von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands, Stuttgart 1853. Dazu die Ubersicht bei

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So hat schließlich Bismarck, nachdem die Verherrlichung, ja zuweilen sogar mythische Verklärung der „Großen Deutschen" i n einen Aufstand gegen alle historische Größe verkehrt worden war, die K r i t i k derer auf sich gezogen, die — auf der rastlosen Suche nach der „intellektuellen fons et origo malorum Germanicorum" 9 5 — i n früheren Entwicklungsstufen der deutschen Geschichte „stets ein von Grund auf fehlsames, notwendig zum Scheitern verurteiltes, von Mißverständnis, Selbsttäuschung und Anmaßung bestimmtes Experiment" zu sehen gewohnt waren 9 6 . M i t der Leidenschaft des zur Politik sich berufen fühlenden — und von dieser dann brüsk zurückgestoßenen — Gelehrten ausgestattet, hat Max Weber gegen Ende des Ersten Weltkrieges Bismarck dafür verantwortlich gemacht, daß „die Nation durch seine Herrschaft seit 1878 jener positiven Mitbestimmung ihres politischen Schicksals durch ihre gewählten Vertreter entwöhnt wurde, welche allein die Schulung des politischen Urteils ermöglicht" 97 , und i n seiner während des Zweiten Weltkrieges in Zürich herausgekommenen Bismarck-Biographie hat Erich Eyck, um ein weiteres Beispiel zu zitieren, dem Kanzler vorgeworfen, durch seine Politik die Entwicklung eines deutschen Parlamentarismus verhindert und damit unabsehbaren Schaden für die Zukunft angerichtet zu haben 98 . Auf diese Weise hatte man i n die — eindeutig negativ bewertete — „Erbschaft" Bismarcks auch den angeblich zur politischen Unmündigkeit verurteilten Deutschen miteinbezogen. Vieles ist inzwischen über diese, selbst vor dem unsicheren Boden der Geschichtsmetaphysik nicht zurückschreckende, polemische Form histoKarl-Georg Faber, Realpolitik als Ideologie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken i n Deutschland, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 203, 1966, S. 1 - 45. I n dieser „realistischen" Einstellung, die übrigens auch i n der Philosophie, der L i t e r a t u r u n d den Erfahrungswissenschaften zum Durchbruch kam, glaubt Erich Angermann (Die deutsche Frage 1806 bis 1866, i n : Reichsgründung 1870/71, S. 28) den Einfluß Machiavellis und Hegels erkennen zu können. Vgl. Albert Elkan, Die Entdeckung Machiavellis i n Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 119,1919, S. 427 - 58. 94 Hermann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, i n : Preußische Jahrbücher, hrsg. von Heinrich von Treitschke, Bd. 18, B e r l i n 1866, S. 455 - 515 u. S. 575 - 628. 95 Der Ausdruck stammt von Karl Loewenstein. 96 Huber, a.a.O., Bd. 3, S. 11. 97 Max Weber, Parlament u n d Regierung i m neugeordneten Deutschland, wiederabgedr. i n : ders., Gesammelte politische Schriften, 2. Aufl., neu hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1958, S. 307. Es k o m m t einer argen V e r zeichnung von Person u n d Leistung Bismarcks gleich, wenn dessen „politisches Erbe" nur i n folgendem bestehen soll: „ E r hinterließ eine Nation ohne alle und jede politische Erziehung, tief unter dem Niveau, welches sie i n dieser Hinsicht zwanzig Jahre vorher bereits erreicht hatte. U n d vor allem eine Nation ohne allen und jeden politischen Willen... als Deckschild eigener Machtinteressen i m politischen P a r t e i k a m p f . . . daran gewöhnt, unter der F i r m a der ,monarchischen Regierung' fatalistisch über sich ergehen zu lassen, was man über sie beschloß . . . " (a.a.O.-Sperrung i m Original). 98 Erich Eyck, Bismarck. Leben u n d Werk, 3 Bde., Erlenbach - Zürich 1941 - 4.

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rischer Darstellung geschrieben worden. Die Dinge jenseits einer Atmosphäre von Anklage und Verteidigung zurechtzurücken, sind die besten Kräfte der deutschen Historie seit längerem bemüht". VI. Wenn i m folgenden der geschichtliche Verlauf der konstitutionellen Bewegung i n Deutschland skizziert werden soll, so ist dabei vom Wiener Kongreß auszugehen, dessen doppelte Aufgabe darin bestand, nicht nur die Neuordnung Europas zu vollenden und auf Dauer zu sichern, sondern auch die i m Pariser Frieden vorgesehene Verbindung der deutschen Staaten durch Abschluß eines Bundesvertrages i n eine rechtliche Form zu bringen 1 0 0 . Die Verhandlungen über die deutsche Verfassungsfrage, deren rasche Lösung dann infolge der Rückkehr Napoleons aus Elba als dringend geboten erschien, wurden zuerst i n dem engeren Kreis einer „deutschen Pentarchie" geführt, der neben Österreich und Preußen die Königreiche Bayern, Württemberg und Hannover angehörten, gingen jedoch später an das deutsche Plenum über, i n dem sämtliche deutschen Regierungen vertreten waren. Dabei war es vor allem zu einer Kontroverse darüber gekommen, ob und i n welchem Maß der Bund die Gliedstaaten zum Erlaß von Verfassungsgrundgesetzen verpflichten solle. Die mit dem Datum vom 8. Juni 1815 gefertigte Deutsche Bundesakte hatte dann diese Frage i n ihrem A r t . 13: „ I n allen Bundesstaaten w i r d eine landständische Verfassung stattfinden" einer aus mehreren Gründen j u ristisch anfechtbaren Regelung zugeführt 1 0 1 . Nicht nur handelt es sich dabei um eine materiell wie formell unbestimmte Norm, da einerseits der Begriff „Landstände" ungeklärt war, indem darunter sowohl eine Vertretungskörperschaft altständischen Stils als auch eine moderne Volksrepräsentation verstanden werden konnte, und andererseits die Verbindlichkeit der darin ausgesprochenen Verheißung durch das Fehlen jeglicher Fristbestimmung von vornherein i n Frage gestellt war; auch der Umstand, daß hier i n die Verfassungsordnung souveräner Gliedstaaten einer völkerrechtlichen Verbindung eingegriffen wurde, ließ den Art. 13, wie Wolf gang Mager zutreffend bemerkt, zu einem „Fremdkörper i m Gesamtgefüge der Bundesakte" werden 1 0 2 . 99 Damit soll natürlich kein Gesamturteil über das Werk von Eyck ausgesprochen werden. Beachtliches ist darüber u. a. von Hans Rothfels gesagt w o r den (Probleme einer Bismarck-Biographie, i n : Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945 - 1955, hrsg. von Hans H a l l mann, Darmstadt 1972, S. 45 - 72). 100 Über den Wiener Kongreß als „europäischen Friedensvollzugskongreß" u n d als „deutschen Verfassungskongreß" vgl. Huber, a.a.O., Bd. 1, S. 543 - 5. 101 Vgl. dazu den Abschnitt „Bundesverfassung u n d Landesverfassungen" bei Huber, a.a.O., Bd. 1, S. 640 - 57, u n d neuerdings Wolf gang Mager, Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15, i n : Historische Zeitschrift, Bd. 217,1974, S. 296 - 346.

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Das bisher Gesagte erlaubt bereits zwei Feststellungen hinsichtlich der künftigen deutschen Verfassungsentwicklung. Es konnte einmal kein Zweifel darüber bestehen, daß sich i n Deutschland der Übergang vom Absolutismus zum Konstitutionalismus durch eine Reform „von oben" vollziehen würde. „Die konstitutionelle Monarchie", schreibt Böckenförde, „ist hervorgegangen nicht aus einer demokratischen Revolution, sondern aus einer monarchischen Reform"; sie steht demnach „ i n ihrer äußeren politischen Erscheinung i n einer ungebrochenen geschichtlichen Kontinuität, der Kontinuität monarchischer Herrschaft", und es gehört „zu den eigentümlichen Kennzeichen der deutschen Verfassungsentwicklung, daß — i m ganzen gesehen — der monarchische Absolutismus . . . die Kraft besaß, den Abbau seiner selbst und den Ubergang i n konstitutionelle Formen von sich aus ins Werk zu setzen" 103 . Zum andern war der konstitutionellen Bewegung infolge des Fehlens eines einheitlichen deutschen Staates von Anbeginn an die Richtung auf die Einzelstaaten hingewiesen, war dem konstitutionellen Gedanken die Verflechtung mit dem Partikularismus geradezu auf gezwungen, worin Härtung „die Eigenart und die Mühseligkeit der deutschen Verfassungsentwicklung seit 1806" begründet sah 1 0 4 . Es ist i n der verfassungsgeschichtlichen Literatur üblich geworden, beim Ubergang der deutschen Länder zum konstitutionellen System drei zeitlich und kausal scharf geschiedene Etappen zu unterscheiden, drei sog. „Verfassungswellen", wie van Calker sie nennt, von denen die erste die Jahre 1816 bis 1820, die zweite die Jahre 1830 bis 1833 und die dritte die Jahre 1848 bis 1850 umfaßt 1 0 5 . Schon die erste Verfassungswelle (1816 -1820) machte es deutlich, daß die konstitutionelle Bewegung in Deutschland kein einheitlicher Vorgang gewesen ist, sondern vielmehr starke regionale Unterschiede aufzuweisen hatte. Während i n Preußen der als Abschluß der „Reformbewegung" gedachte „konstitutionelle" Teil unausgeführt blieb, sodann mehrmalige königliche Verfassungsversprechen nicht eingelöst wurden und i n Österreich Kaiser Franz I. von einer wahren „Konstitutionsphobie" besessen war, kam es, nachdem die Kleinstaaten sich an die Spitze der deutschen frühkonstitutionellen Bewegung gestellt hatten 1 0 6 , seit 1818 i n den vier 102

Mager, a.a.O., S. 297. Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen M o n archie, a.a.O., S. 149. 104 Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 169. Z u der Entstehung eines „Partikularismus" als politische Gesinnung: Schieder, Partikularismus und Nationalbewußtsein i m Denken des deutschen Vormärz, i n : Staat und Gesellschaft i m deutschen Vormärz 1815 - 1848, hrsg. v. Werner Conze, Stuttgart 1962, S. 9 - 38. 105 Wilhelm van Calker, Die Verfassungsentwicklung i n den deutschen E i n zelstaaten, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. v. Gerhard A n schütz und Richard Thoma, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 49 - 63. 103

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größeren süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden und Hessen-Darmstadt zum Erlaß von Verfassungen, die — ob „oktroyiert" oder wie in Württemberg „vereinbart" — i m großen und ganzen den allgemeinen Vorstellungen von einer „Konstitution" entsprachen 107 . Maßgebend dafür, daß damals die Herrscher der süddeutschen Staaten, die sich noch auf dem Wiener Kongreß als Gegner der Verfassungswünsche gezeigt hatten, die Initiative i n der Verfassungsfrage ergriffen, waren übrigens Erwägungen der Staatsräson gewesen. Wie Schnabel uns zeigt, „gab es für manche Fürsten genug Veranlassung, durch ein Staatsgrundgesetz die Einheit und Unteilbarkeit des Landes zu sichern und vollendete Tatsachen zu schaffen gegenüber den Mediatisierten, gegenüber den benachbarten Souveränen, gegenüber Bundestag und Großmächten" 108 , und Huber spricht von der „parlamentarisch-repräsentativen Integration" als einer Ergänzung der „administrativen Integration" 1 0 9 . I n ihrem inneren Aufbau waren diese Verfassungen durch eine Verbindung von altständischen und modernen repräsentativen Elementen gekennzeichnet, wobei ihnen als gemeinsames Vorbild die französische Charte von 1814 diente, die damals als Musterbeispiel des „monarchisch-konstitutionellen Prinzips" angesehen wurde. Die mit dem Wiener Kongreß beginnende Zeit der sog. „Restauration", deren politischer Stil von Metternich geprägt 1 1 0 und deren staatsrechtliches System von Karl Ludwig von Haller geschrieben wurde 1 1 1 , ist durch eine stärkere Herausstellung des monarchisch-legitimistischen Charakters des Bundes gegenüber der national-konstitutionellen Bewegung gekennzeichnet. Diese schärfere Kontrastierung der politischen Richtungen, die sich auch i n klareren Begriffsscheidungen niederschlägt, bleibt geschichtlich verbunden m i t dem Karlsbader Kongreß von 1819, ιοβ v g l dazu den auf dem 30. Historikertag gehaltenen Vortrag von Günther Engelbert: „Der Konstitutionalismus i n den deutschen Kleinstaaten", i n diesem Band, S. 103 ff. 107 I n dieser Hinsicht eher skeptischer Hans Boldt (Deutscher Konstitutionalismus und Bismarckreich, i n : Das kaiserliche Deutschland, S. 119), der i n den süddeutschen Verfassungen den Ausdruck von „ n u r recht reduzierten V o r stellungen von Konstitutionalismus" zu sehen vermag. Über die Institutionen des frühkonstitutionellen Staatsrechts sehr i n s t r u k t i v die Ausführungen bei Huber, a.a.O., Bd. 1, S. 336 - 50. 108 Schnabel, a.a.O., S. 105. 109 Huber, a.a.O., Bd. 1, S. 317. 110 Als „uneingeschränktes Zeugnis für die grundsätzlichen Überzeugungen Metternichs" darf man m i t Schieder (Das Problem der Revolution i m 19. J a h r hundert, a.a.O., S. 21) die Denkschrift ansehen, die der österreichische Staatsmann auf dem Troppauer Monarchenkongreß von 1820 dem Zaren Alexander I. unter dem Namen „Profession de foi" überreicht hat (abgedr. i n : Klemens Fürst von Metternich, Aus Metternichs Nachgelassenen Papieren, hrsg. von dem Sohne des Staatskanzlers Fürsten Richard Metternich-Winneburg, geordn. u. zsgest. v. Alfons von K l i n k o w s t r ö m , Bd. 3, Wien 1881, S. 399 - 420). 111 Karl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, 6 Bde., Winterthur 1816 - 34. 4*

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für den bekanntlich Friedrich Gentz als Vertrauter Metternichs eine Denkschrift „Uber den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativverfassungen" vorgelegt hatte. Während „landständische Verfassungen" dadurch bestimmt seien, daß „Mitglieder oder Abgeordnete durch sich selbst bestehender Körperschaften ein Recht der Teilnahme an der Staatsgesetzgebung . . . ausüben", seien „RepräsentativVerfassungen . . . auf dem verkehrten Begriff von einer obersten Souveränität des Volkes gegründet". Diese setzten also „das Phantom der sogenannten Volksfreiheit (d. h. der allgemeinen Willkür) . . . und den Wahn allgemeiner Gleichheit der Rechte, oder, was um nichts besser ist, allgemeine Gleichheit vor dem Rechte, an die Stelle der unvertilgbaren, von Gott selbst gestifteten Standes- und Rechtsunterschiede", die bei „landständischen Verfassungen" noch gewährleistet seien 112 . Eine Verstärkung der Bundesgewalt gegenüber den Einzelstaaten brachte die dem Ausbau der Bundesverfassung dienende Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820, die das konstitutionelle Leben der Einzelstaaten der Kompetenz des Bundes unterstellte, indem sie i n näherer Ausführung zu Art. 13 der Bundesakte für die einzelstaatliche Verfassunggebung festlegte, daß „die gesamte Staatsgewalt in dem Oberhaupt des Staates vereinigt bleiben" müsse und „der Souverän durch eine landständische Verfassung nur i n der Ausübung bestimmter Rechte an die M i t w i r k u n g der Stände gebunden werden" könne 1 1 3 . Anders ausgedrückt: Jede Verfassung, die eine Teilung der Staatsgewalt zwischen Fürst und Volksvertretung vornimmt, muß demnach als mit Art. 13 der Bundesakte nicht i n Einklang stehend angesehen werden. Damit war das monarchische Prinzip 114 als das Herzstück des deutschen Konstitutionalismus institu112 Friedrich Gentz, Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativverfassungen. Nebenbeilage zu den Karlsbader Protokollen (1819), i n : Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation, m i t eigenhändigen Anmerkungen von Johann Ludwig Klub er. Aus dessen Papieren mitgeteilt u n d erläutert von Carl Welcher, Mannheim 1844, S. 221 f. 113 A r t . 57: „Da der deutsche Bund, m i t Ausnahme der freien Städte, aus souveränen Fürsten besteht, so muß dem hierdurch gegebenen Grundbegriffe zufolge die gesamte Staatsgewalt i n dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben, u n d der Souverän k a n n durch eine landständische Verfassung n u r i n der Ausübung bestimmter Rechte an die M i t w i r k u n g der Stände gebunden werden." 114 Beispiele für die ausdrückliche Formulierung des monarchischen P r i n zips (der „Konzentration aller staatlichen Macht i n der Hand des Fürsten bei Delegation der Ausübung einzelner Rechte an eine gewählte Vertretung der Untertanen") i n frühkonstitutionellen Verfassungen bei Brandt, a.a.O., S. 44 f. Anm. 57. Daß das Eintreten für das monarchische Prinzip durch „die beinahe ideologische Verteidigung der ,Einheit u n d Unteilbarkeit' der Staatsgewalt" nahegelegt wurde, zeigt Böckenförde (Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, B e r l i n 1958, S. 112 A n m . 2) am Beispiel von Johann Christian von Aretins „Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie" (2 Bde., A l t e n burg 1824 - 8), dem „repräsentativen staatsrechtlichen K o m p e n d i u m des erwachenden politischen Liberalismus i n Deutschland".

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tionell garantiert, was dazu führte, daß dieser vom westeuropäischen Parlamentarismus ideologisch und staatsrechtlich-dogmatisch für fast ein volles Jahrhundert geschieden blieb 1 1 5 . Unmittelbar betroffen wurden davon die konstitutionell regierten deutschen Einzelstaaten insofern, als dadurch nicht nur der i n der Idee des Konstitutionalismus gelegene weitere Ausbau der Verfassungen verhindert wurde, sondern darüber hinaus sich als Folge auch eine konstitutionelle Rückbildung i m Sinne einer Abkehr von den ursprünglichen Grundsätzen einstellte 1 1 6 . Die zweite Verfassungswelle (1830 - 1833) hatte die Pariser Julirevolution des Jahres 1830 als geschichtlichen Hintergrund. Metternich sprach vom „Durchbruch eines Dammes i n Europa" und Jacob Burckhardt schätzte an der Julirevolution deren „allgemeine Bedeutung als europäische Erschütterung" viel höher ein als die „speziell politische" 1 1 7 , denn nunmehr hatte Europa die Revolution als politische und ideelle Macht wieder zu spüren bekommen. I n Deutschland war es damals, sieht man von den Vorgängen i n Braunschweig ab, nur zu lokal begrenzten Akten des Aufruhrs gegen rückständige Verwaltungseinrichtungen und veraltete Verfassungsbestimmungen gekommen. U m so bedeutsamer waren die Ausstrahlungen auf den Fortgang der 1819 zum Erlahmen gekommenen konstitutionellen Bewegung. Ähnlich wie i n der Schweiz die Kunde von der französischen Julirevolution eine große liberale Bewegung ausgelöst hatte, von der die bis 1848 währende Periode der sog. „Regeneration" getragen werden sollte, so erwachte auch i m deutschen Liberalismus neues politisches Leben. I n dem von Louis-Philippe praktizierten Regierungssystem, dem sog. „orleanistischen Parlamentarismus", glaubte 115 Das „monarchische Prinzip" dem „parlamentarischen Prinzip" der westeuropäischen Staaten gegenübergestellt zu haben, ist die wissenschaftliche Leistung von Friedrich Julius Stahl (Das Monarchische Prinzip, Heidelberg 1845) gewesen. Aber was dieser Schrift einen nachhaltigen Einfluß sicherte, w a r nicht so sehr die wissenschaftliche Beschreibung zweier verschiedener V e r fassungstypen als die daraus abgeleitete politische Forderung nach der A u f rechterhaltung des monarchischen Prinzips i n der deutschen Verfassungsentwicklung (vgl. dazu Härtung, Die Entwicklung der Konstitutionellen M o n a r chie i n Europa, S. 185). Abgesehen v o m monarchischen Prinzip erscheint für Böckenförde (Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie, a.a.O., S. 148 - 54) die deutsche konstitutionelle Monarchie noch durch die folgenden Merkmale gekennzeichnet: das Prinzip der einseitigen Verfassunggebung durch den Monarchen, das Prinzip der gemeinschaftlichen Ausübung der gesetzgebenden Gewalt durch K ö n i g u n d Volksvertretung, das Prinzip der ungeteilt beim Monarchen liegenden Regierungs- u n d Vollzugsgewalt u n d schließlich das Prinzip des Königsheeres. 116

Von seiten Metternichs ist aber nicht daran gedacht gewesen, die geschehene Verfassungsentwicklung überhaupt rückgängig zu machen, sondern was er anstrebte, w a r eher, „sie gewissermaßen einfrieren zu lassen" (Conze, Das Spannungsfeld von Staat u n d Gesellschaft i m Vormärz, a.a.O., S. 223 Anm. 29). 117 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Ausgabe Kröner, Stuttgart 1955, S. 194.

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er das eigentliche Ideal einer wahrhaft freien Regierung zu erkennen 1 1 8 . Was damals i n der Zeit eines hoffnungsvollen Aufbruchs nicht gesehen werden konnte und sich erst später i n der Erfahrung herausstellte, war die Tatsache, daß die von Thiers verkündete Maxime „Le roi règne, mais i l ne gouverne pas" eigentlich nie so recht zum politischen Leitprinzip der Julimonarchie geworden ist. Wenn Huber behauptet, daß unter der Charte von 1830 „an die Stelle der monarchischen Souveränität die Kammer-Souveränität" getreten sei und der König „sich auf die oberste Repräsentation des Staats und auf eine den gesellschaftlichen und politischen Konflikten entrückte, ausgleichende und schlichtende Gewalt, den ,pouvoir neutre et abstrait', beschränkt" sah 1 1 9 , so ist dem entgegenzuhalten, daß es der Bürgerkönig vielmehr stets verstanden hat, sich auf die Führung der Staatsgeschäfte einen entscheidenden Einfluß zu sichern 120 . Man darf eben nicht vergessen, daß die Theorien eines Benjamin Constant und eines Pellegrino Rossi, des ersten Inhabers des neugeschaffenen Lehrstuhles für Verfassungsrecht an der Sorbonne, damals über Thiers und seine berühmte Maxime triumphiert hatten. A u f die Fortbildung des Verfassungsrechts hatte die Julirevolution den größten Einfluß mittelbar dadurch, daß sie zur Gründung eines belgischen Staates führte, dessen Verfassung durch die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems für die politische und rechtliche Entwicklung Europas i m 19. Jahrhundert von weitreichender Bedeutung geworden ist. Nunmehr mußten sich dem Verfassungsgedanken auch die deutschen Regierungen beugen, die i h m bisher besonders ablehnend gegenübergestanden waren. I n Braunschweig konnte die revolutionäre Bewegung, nachdem sie den verfassungsfeindlichen Herzog schon i m September 1830 vom Throne vertrieben hatte, i n der Gewährung einer „Neuen Landschaftsordnung" (1832) einen Erfolg ihrer Aktionen sehen. Schon i m Jahr zuvor war Kurhessen den gleichen Weg mit dem Erlaß einer Verfassung gegangen, die, von dem Marburger Staatsrechtler Sylvester Jordan entworfen, den liberalen und demokratischen Prinzipien weitgehend Rechnung trug 1 2 1 . Ebenso kam es i n Sachsen 122 und 118 Das gilt vor allem für Lorenz von Stein, der m i t der Julirevolution die Geschichte der Gegenwart beginnen läßt, indem damals an die Stelle des „Scheinkonstitutionalismus" der „wahre Konstitutionalismus" getreten sei (vgl. Erich Angermann, Z w e i Typen des Ausgleichs gesellschaftlicher I n t e r essen durch die Staatsgewalt, i n : Staat u n d Gesellschaft i m deutschen V o r märz 1815 - 1848, S. 181 f.). 119 Huber, Legitimität, Legalität u n d juste milieu, i n : ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen Staatsidee, S t u t t gart 1965, S. 90 u. 93. 120 Ygi Marcel Prélot, Institutions politiques et droit constitutionnel, 4e éd., Paris 1969, S. 398: „ E n réalité . . . Louis-Philippe exerce u n gouvernement aussi jaloux que celui de Charles X , beaucoup plus actif que celui de Louis X V I I I . " 121 Hier w a r sogar die Möglichkeit einer Ministeranklage vor dem Oberappellationsgericht für den F a l l vorgesehen, daß sich Minister einer Verfas-

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Hannover, hier unter dem Einfluß des Historikers Dahlmann, zur Verwirklichung aller wesentlichen Forderungen des damaligen Konstitutionalismus. Damit waren auch die wichtigsten Mittelstaaten Norddeutschlands zu Verfassungsstaaten geworden. Nur auf die Großstaaten Preußen und Österreich blieb die Verfassungsbewegung der Dreißiger] ahre ohne erkennbaren Einfluß. Ähnlich wie es nach der ersten Verfassungsetappe der Fall gewesen war, folgte auch jetzt dem Aufschwung des Verfassungslebens der Rückschlag auf dem Fuß. Selbst als die unter dem unmittelbaren Einfluß des Re volutions jahres von 1830 stehenden verschiedenen Aufruhrbewegungen zusammengebrochen, bzw. niedergeschlagen worden waren, blieb der i n das Metternichsche System erzielte Einbruch bestehen. „Unverkennbar ist eine Wandlung der deutschen politischen Ideenwelt", schreibt Alexander Scharff: „republikanische, radikal-demokratische Gedanken strömen ein, aber sie überfluten auch die nationalen Begrenzungen und können schon zu Spannungen mit nationalpolitischen Zielsetzungen führen 1 2 3 ." Gegen eine unmittelbare Volksbewegung wie das Hambacher Fest von 1832 oder eine handstreichartig durchgeführte A k t i o n einer kleinen Gruppe von Radikalen, wie der Frankfurter Wachensturm von 1833 es war, richteten sich nun Maßnahmen des Bundes zur Erhaltung von Sicherheit und Ordnung, die auch ein allgemeines, für sämtliche Bundesstaaten geltendes Parteienverbot i n sich schlossen 124 . Hierin zeigte sich ganz deutlich, daß der Bund seinem Wesen nach „primär ein dem Stile damaliger Politik gemäßes Garantiesystem" 125 war und daß er m i t der Aufrechterhaltung einer auf ungeschmälerten monarchischen Rechten sich gründenden Ordnung innerhalb der deutschen Staaten das zu gewährleisten hatte, was — i m gesamteuropäischen Rahmen — der „Heiligen Allianz" als Ziel vorgegeben war. Dabei waren aber die Monarchen selbst nicht immer auf die „Erhaltung des Bestehenden" bedacht, wie der Staatsstreich i n Hannover von 1837 es bewies, von dem sogar ein Metternich mit dem Hinweis darauf abgeraten hatte, daß gemäß A r t . 56 der Wiener Schlußakte „die i n anerkannter Wirksamkeit bestehenden landständischen Verfassungen nur auf verfassungsmäßigem Wege wieder abgeändert werden" können 1 2 6 . sungsverletzung schuldig gemacht hatten (Hub er, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, S. 69). 122 Über die Verfassung des Königreichs Sachsen v o m 4. September 1831: Näf, Staatsverfassungen u n d Staatstypen 1830/31, i n : Moderne deutsche V e r fassungsgeschichte (1815 - 1918), S. 137 - 40. 123 Scharff, a.a.O., S. 418. 124 Text der „Zehn A r t i k e l " v o m 5. J u l i 1832 bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 120 - 2. 125 Forsthoff, a.a.O., S. 94. 126 Vgl. Rudolf Smend, Die Göttinger Sieben, wiederabgedr. i n : ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, B e r l i n 1955, S. 400.

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Die Vierzigerj ahre brachten dann i n das deutsche Ringen um Einheit und Freiheit einen schrilleren Ton. Von Thiers geförderte französische Expansionswünsche, die sich auf den Erwerb rheinischen Gebiets richteten, führten in Deutschland zu einem ungeahnten Aufschwung nationalen Selbstgefühls, der, zusammen m i t dem Ausgang des schweizerischen Sonderbundkrieges von 1847, die A x t an die Wurzel des Metternichschen Systems legen mußte. Die von Friedrich Wilhelm IV. i m gleichen Jahre i n Preußen angestrebte Lösung der Verfassungsfrage durch die Einberufung des „Vereinigten Landtages" scheiterte an dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem mit den Standesinteressen des konservativen Adels sich identifizierenden Monarchen und der auf ihren konstitutionellen Forderungen beharrenden liberalen Mehrheit. I n dieser, wie es schien, ausweglosen Lage kristallisierten sich, wie i m Offenburger Programm der südwestdeutschen Demokraten oder i m Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen, die beide i m Herbst 1847 beschlossen w u r den, festumrissene Reformbestrebungen heraus, die jedoch erst i n einer neuen Revolution, deren Funke abermals von Frankreich auf Deutschland überspringen sollte, ihre — wenigstens teilweise — Erfüllung finden konnten. Die i m deutschen Schicksals jähr 1848 einsetzende dritte Verfassungswelle (1848 - 1850) ist i n ihrer Bedeutung schon dadurch gekennzeichnet, daß nunmehr auch die beiden deutschen Großmächte Österreich und Preußen, die „beiden Herzkammern von Deutschland", wie Dahlmann sie nannte, sich zur Aufgabe des Widerstandes gegen das konstitutionelle System entschließen mußten. Durch jeweils einseitigen A k t des Monarchen erlassen wurden die österreichische Verfassung vom 25. A p r i l 1848 (sog. „Pillersdorfsche Verfassung"), die zum ersten Male die westlichen Länder der Monarchie zu einem Staate vereinigte, sowie die preußische Verfassung vom 5. Dezember 1848: beide nach dem Vorbild der belgischen Verfassung von 1831, wenn auch i n einzelnen Punkten eine Abänderung i m monarchischen Sinne vorgenommen wurde. Daneben hat sich i m Jahre 1848 das Verfassungsproblem noch auf einer höheren Ebene gestellt. Wie bereits erwähnt, konnte i m deutschen Vormärz, wo die Errichtung eines nationalen Staates m i t Reichsverfassung und Reichstag jenseits des politisch Möglichen lag, die konstitutionelle Bewegung nur i n den Einzelstaaten zum Durchbruch kommen, i n denen sie sich dann trotz der absolutistischen Politik des Bundes zu behaupten vermochte und einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des einzelstaatlichen Bewußtseins leistete 127 . Anders als i m Westen gingen also i n Deutschland konstitutionelle Freiheit und nationale Einheit verschiedene 127 I n der B i l d u n g eines einzelstaatlichen Staatsbewußtseins sieht Schieder (Vom Deutschen B u n d zum Deutschen Reich, a.a.O., S. 101) „eine notwendige Zwischenstufe von der Reichswelt des 18. Jh. zum späteren Nationalstaat des 19. Jh.".

Der deutsche Weg zum Verfassungsstaat i m 19. Jahrhundert

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Wege, bis i n der Revolution von 1848 ein sich politisch mündig fühlendes Volk den ersten, wenn auch letztlich erfolglosen, Versuch unternahm, die Ströme der konstitutionellen und der nationalen Bewegung i n ein gemeinsames Bett zu leiten. Daß dieser Versuch mißlang, hatte seine U r sache vor allem i n den großen objektiven Schwierigkeiten, die jeder einheitlichen Verfassung Deutschlands i m Wege standen; er war gescheitert „an dem Gegensatz zwischen der Idee der nationalen Einheit und dem Bestehen der Einzelstaaten, die ja nicht bloß von den Regierungen, sondern zugleich von starken partikularistischen Stimmungen der Bevölkerung getragen wurden, und an dem Gegensatz zwischen der ersehnten machtvollen Zentralgewalt und den vorhandenen beiden Großmächten mit ihrem Dualismus" 1 2 8 . Daß auch subjektives Versagen seinen Anteil daran hatte, läßt sich i m Hinblick auf die Person Friedrich Wilhelms IV., den Treitschke als „den Mann des Schicksals für Deutschland" bezeichnete, zwar nicht in Abrede stellen, muß aber doch als von nur sekundärer Bedeutung angesehen werden. Auch nach 1848/49 folgte dem Verfassungsaufbruch ein als „Neo-Absolutismus" i n die Geschichte eingegangenes, allgemein verbreitetes Vordringen autoritärer Herrschaftsformen: nicht nur i n Österreich, wo das „Silvesterpatent" von 1851 die Abkehr von den konstitutionellen Einrichtungen brachte, sondern auch i n Preußen, wo i m Verlauf des Revisionsverfahrens an den entscheidenden Punkten Abänderungen an der oktroyierten Verfassung von 1848 vorgenommen wurden: die Ersetzung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts durch das aus der preußischen Landgemeindeordnung von 1845 stammende sog. „Dreiklassenwahlrecht", die Beseitigung der absoluten Pressefreiheit, die Entbindung der Armee vom Verfassungseid sowie die Umgestaltung der Ersten Kammer in ein Herrenhaus — Abänderungen, die, wie Richard Dietrich i m Gegensatz zu Härtung bemerkt, i n die Verfassung vom 31. Januar 1850 die Züge hineingetragen haben, die „das staatliche Leben Preußens weitgehend i n einen Gegensatz zu dem der anderen deutschen Staaten bringen und Preußen den Charakter zwar einer nach außen hin konstitutionellen Monarchie, aber in Wahrheit doch eines konservativen Obrigkeitsstaates verleihen sollten" 1 2 9 . So scheint i n den Fünfziger jähren des 19. Jahrhunderts die konstitutionelle Idee einer ungewissen Zukunft entgegenzugehen: bis die Niederlage Österreichs i m oberitalienischen Krieg Kaiser Franz Joseph zu neuen konstitutionellen Anstrengungen zwingt und König Wilhelm I. i n der schweren innenpolitischen Krise von 1862 das Schicksal der preußi128

Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 183 f. Richard Dietrich, Preußen und Deutschland i m 19. Jahrhundert, i n : Preußen. Epochen u n d Probleme seiner Geschichte, hrsg. v. R. Dietrich, B e r l i n 1964, S.111. 129

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sehen Monarchie i n die starken Hände Bismarcks legt. Daß mit diesem Zeitpunkt und erst recht mit dem Ausgang des preußischen Verfassungskonflikts der entscheidende Wendepunkt i n der Entwicklung der preußisch-deutschen konstitutionellen Monarchie gekommen war und die spätere Gründung des Deutschen Reiches m i t dem Sieg über den parlamentarisch-demokratischen Gedanken i n Preußen untrennbar verbunden blieb, ist eine geschichtliche Tatsache, auf die sich die heute weitverbreitete Annahme stützt, daß damals eine für Deutschland so tragisch verlaufene Entwicklung ihren Anfang genommen habe. A u f die naheliegende Frage nach einer möglichen Alternativlösung freilich w i r d der Historiker, w i l l er sich nicht i n wirklichkeitsfremden Spekulationen verlieren, schon i m Hinblick auf die außenpolitischen Aspekte des gesamtdeutschen Problems die A n t w o r t schuldig bleiben müssen 130 .

130 Vgl. Rothfels (a.a.O., S. 64 f.), der — i m Gegensatz zu Eyck — darauf h i n weist, m i t wie wenig „westlichen" Sympathien auch die liberal-demokratisch ausgerichtete deutsche Einheitsbewegung des Jahres 1848 rechnen konnte.

DIE SOUVERÄNITÄT DES V I K T O R I A N I S C H E N PARLAMENTS UND DIE MODERNE P A R L A M E N T A R I S M U S K R I T I K * Von Adolf M. Birke, Berlin Daß der Parlamentarismus seinen geschichtlichen Höhepunkt i m 19. Jh. erlebt habe und sich seither i m Prozeß eines allmählichen Verfalls befinde, ist auch heute eine noch weitverbreitete Auffassung. Sie liegt häufig der K r i t i k an den gegenwärtigen parlamentarischen Systemen zugrunde und geht als Prämisse i n das Urteil über ihre Funktionsfähigkeit und Legitimität ein. So hat eine neuere Studie über die Entwicklung des englischen Parlaments nachgewiesen, daß ein beachtlicher Teil der jüngeren britischen Parlamentarismusdiskussion das Ideal einer klassischen Periode des Parlaments unterstellt und den heutigen Zustand als ein „Decline of Parliament" bedauert 1 . Dabei wurde zurecht vor der Gefahr gewarnt, sinnvolle Einrichtungen des gegenwärtigen Parlamentarismus als Verfallserscheinung zu kritisieren, ohne ihre gegenüber früheren Zeiten veränderten Bedingungen gründlich genug zu überprüfen. Ein aus historisierender Betrachtung gewonnenes Modell des „unverfälschten" Parlamentarismus ist nicht nur dazu angetan, systemkonformen K r i t i k e r n den Blick für tatsächlich notwendige Reformen zu verstellen. Es kann darüber hinaus leicht zur pauschalen Diskreditierung führen, wenn aus ihm die Unvereinbarkeit parlamentarischer Prinzipien m i t den Notwendigkeiten des modernen politischen Lebens gefolgert wird. Eine solche i n systemüberwindender Absicht vorgetragene K r i t i k hat i n Deutschland — anders als i n Großbritannien — neben der auf Reform gerichteten Analyse traditionell eine bedeutsame Rolle gespielt. Sie findet noch heute ihren Niederschlag i m rechten und linken A n t i parlamentarismus. * Dem vorliegenden Beitrag liegt die erweiterte Fassung eines Referats zugrunde, das auf dem 30. Deutschen Historikertag i m Oktober 1974 i n B r a u n schweig gehalten wurde. 1 Zur Gegenwartskritik am britischen Parlamentarismus vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Ronald Butt, The Power of Parliament. A n Evolutionary Study of the Functions of the House of Commons i n B r i t i s h Politics, London 21969, S. 5 - 28. Vgl. weiter u. a. Andrew Hill/Anthony Wichelow, What's Wrong w i t h Parliament? Penguin 1964; Bernard Crick, The Reform of Parliament, London 1964, ders., I n Defence of Politics, London 1962. Erhellend für die Position der K r i t i k e r : Decline of Parliament, Political Quarterly (1963), S. 233 - 239, und William A. Robson, The Reform of Government, Political Quarterly (1964), S. 193 - 211.

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I n seinem berühmten Aufsatz aus den zwanziger Jahren über „Die Soziologie der parlamentarischen Repräsentation i n England nach der großen Reform" gelangte Karl Löwenstein zu dem Ergebnis, „daß der Parlamentarismus seine größte Höhe auf der Basis eines verhältnismäßig begrenzten Wahlrechts" erlebt habe 2 . Diese Uberzeugung lag auch Carl Schmitts vehementer und einflußreicher K r i t i k am Weimarer System zugrunde. I n der Schrift über „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" 3 ging er aber einen entscheidenden Schritt weiter, indem er einen angeblich unvereinbaren Gegensatz zwischen Parlamentarismus und moderner Massendemokratie konstatierte. Unter Berufung auf frühliberale französische und englische Theoretiker beschrieb er als das „eigentliche Wesen" des Parlamentarismus die öffentliche Diskussion interessenungebundener, unabhängiger Abgeordneter um ein i m Sinne von Wahrheit verstandenes Allgemeininteresse. Der modernen Massendemokratie liege ein anderes Prinzip zugrunde. Sie versuche eine „Identität von Regierenden und Regierten" zu verwirklichen und begegne dabei dem Parlament als einer „nicht mehr begreiflichen veralteten Institution" 4 . So müßten die Vorschriften der Weimarer Verfassung über die Unabhängigkeit der Abgeordneten und die Öffentlichkeit der Parlamentssitzungen als peinliche Dekoration wirken, da i n der politischen Realität längst politische Parteien und Interessengruppen unter anderen Voraussetzungen Entscheidungen träfen. Ihnen gehe es nicht um die Richtigkeit der Politik, sondern u m Koalitionen und Kompromisse 5 . „Sind Öffentlichkeit und Diskussion i n der tatsächlichen Wirklichkeit des parlamentarischen Betriebes zu einer leeren und nichtigen Formalität geworden, so hat auch das Parlament, wie es sich i m 19. Jahrhundert entwickelt hat, seine bisherige Grundlage und seinen Sinn verloren 0 ." Die i n vielen Details berechtigte K r i t i k an den politischen Fehlentwicklungen der Weimarer Zeit wurde so von Schmitt ins Grundsätzliche gewendet und auf das Problem der angeblichen historischen Uberholtheit parlamentarischer Systeme reduziert. Demokratie und Diktatur hielt er als konsequenter Verfechter der 2 Karl Löwenstein, Z u r Soziologie der parlamentarischen Repräsentation i n England nach der großen Reform: Das Zeitalter der Parlamentssouveränität (1832 - 1867), i n : ders., Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 134. Zuerst erschienen i n : Archiv für Sozialwissenschaft u n d Sozialpolitik, 51 (1924), S.614 - 708. 3

München - Leipzig 1923, 2. Aufl. 1926 m i t einer Vorbemerkung über den Gegensatz von Parlamentarismus u n d Demokratie, die als Erwiderung auf die Besprechung von Richard Thoma i n : Archiv für Sozialwissenschaften 53 (1925), S. 212 ff. gedacht war. I m folgenden w i r d nach der 2. Aufl. zitiert. Die Vorbemerkung erschien als A r t i k e l m i t geringfügigen Veränderungen i n : Hochland, 23 (1926) I I , S. 257 - 270. 4 C. Schmitt, a.a.O., S. 21. 5 Ebd., S. 10 f. 6 Ebd., S. 63.

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Identitätstheorie dagegen durchaus für vereinbar. Jedenfalls — so meinte er — sei es demokratischer, die Willenseinheit des ohnehin nur akklamierenden Volkes durch einen Diktator zu repräsentieren als durch die Mischform des Parlaments 7 . Die angebliche Funktionsunfähigkeit klassisch liberaler Parlamentsherrschaft war auch der Ausgangspunkt für die von Gerhard Leibholz gegen Ende der Weimarer Zeit aufgestellte Theorie vom Parteienstaat. Leibholz hat seine Auffassungen bis heute wiederholt vorgetragen 8 . M i t Carl Schmitt einig i n der historischen Analyse des Parlamentarismus, bejaht er anders als dieser die Herausbildung moderner Massenparteien. Er sieht i n ihnen unentbehrliche Bestandteile des politischen Integrationsprozesses, um sie dennoch grundsätzlich von liberal-repräsentativen Institutionen zu unterscheiden 9 . Parteien sind für i h n ein „Surrogat der direkten Demokratie i m modernen Flächenstaat" 10 . Das politische Prinzip der Repräsentation sei der parteienstaatlichen Demokratie fremd. I n ihr werde der Volks- oder Gemeinwille m i t Hilfe jenes Prinzips gebildet, das auch i n der plebiszitären Demokratie zur volonté générale führe 1 1 . Die Kontinuität der Argumente gegen den Parlamentarismus von der Weimarer Zeit bis zu den veränderten Bedingungen der Bonner Demokratie ist evident 12 . Gerhard A. Ritter 13 hat auf den Zusammenhang aufmerksam gemacht, der zwischen dem einflußreichen Buch von Jürgen Habermas über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit" und den Auffassungen Carl Schmitts besteht 14 . Er hat zugleich darauf hingewiesen, daß diese Gedanken, wenn auch i n stark vergröberter Form, i n die Ideologie von Teilen der Neuen Linken eingedrungen sind. 7

Ebd. So i n : Verfassungsstaat — Verfassungsrecht, Stuttgart 1973. 9 Ebd., S. 25 f. „ I n der Tat sind i n den modernen Demokratien heute die Parteien unentbehrlich, w e i l m i t ihrer Hilfe erst die M i l l i o n e n von politisch mündig gewordenen A k t i v b ü r g e r n organisiert u n d aktionsfähig werden." „ B e i dieser mehrparteienstaatlichen Demokratie handelt es sich i n Wahrheit u m eine Form der Demokratie, die i n ihrer S t r u k t u r von der früheren liberal repräsentativen, parlamentarischen Demokratie grundsätzlich verschieden ist." 10 Ebd., S. 26. 11 Ebd., S. 59. 12 Z u m Stand der neueren Diskussion u. a. Kurt Lenk, Wie demokratisch ist der Parlamentarismus? Grundpositionen einer Kontroverse, Stuttgart 1972. Udo Bermbach (Hg.), Theorie und Praxis der direkten Demokratie. Texte u n d Materialien zur Räte-Diskussion, Opladen 1973. Das Standardwerk zu diesem Problem: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. v e r änd. Aufl., Stuttgart 1973. 13 Gerhard A. Ritter, Der Antiparlamentarismus u n d Antipluralismus der Rechts- und Linksradikalen, i n : Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 34 (1969), S. 3 - 27. 14 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 4 1969,1. Aufl. 1962. 8

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M i t völlig anderen Schlußfolgerungen, aber unter ausdrücklicher Berufung auf Carl Schmitt, beschreibt Habermas den Funktionswandel des parlamentarischen Systems 15 . Da nicht mehr — wie i m Zeitalter bürgerlicher Repräsentation — „privatisierte Einzelinteressen eine gewisse Rationalität und Effektivität öffentlicher Diskussion gestatteten" sei „an deren Stelle heute die Demonstration konkurrierender Interessen getreten" 16 . Der ehemals i m öffentlichen Räsonnement ermittelte Konsens sei dem durchgesetzten Kompromiß gewichen. Den auf diesem Wege zustandegekommenen Gesetzen lasse sich, „selbst wenn ihnen das Moment der Allgemeinheit i n vielen Fällen erhalten bleibt, das Moment der ,Wahrheit' nicht länger vindizieren" 1 7 . Habermas' K r i t i k w i r d von der Hoffnung geleitet, daß es nach Aufhebung des Antagonismus bürgerlicher Klassenherrschaft möglich sein könnte, politische Fragen zu einem allgemeinen, rationalen Konsens auszudiskutieren, Herrschaft i n Vernunft aufzulösen. Den skizzierten Positionen systemtranszendierender K r i t i k liegt eine ungeprüfte Prämisse zugrunde: die aus frühliberalen Theorien gewonnene Vorstellung eines „unverfälschten" Parlamentarismus w i r d m i t der Wirklichkeit der Parlamente der sogenannten bürgerlichen Epoche des 19. Jhs. identifiziert. Ein theoretischer Anspruch w i r d als Realanalyse ausgegeben und zur Grundlage eines geschichtlichen Vergleichs gemacht. Gemessen an diesem Vorbild muß die Realität des modernen Parlamentarismus verblassen. Zur Entwicklung tragfähiger Vergleichskriterien ist es jedoch unerläßlich, die angeblich klassische Periode selbst an diesem Anspruch zu messen. Das englische Vorbild besitzt i n diesem Zusammenhang große Bedeutung. Besonders i m deutschen politischen Denken hat sich die Vorstellung erhalten, das britische Verfassungssystem der vermeintlich „goldenen Zeit" zwischen 1832 und 1867 stelle den Parlamentarismus i n seiner wahren Gestalt dar 1 8 . Tatsächlich schienen i n der Zeit zwischen den Reformgesetzen — mit dem Schwinden des Einflusses der Krone, aber noch vor dem Wirksamwerden einer mit der Herausbildung moderner Massenparteien verbundenen strikten Fraktionsdisziplin — optimale Bedingungen für die Unabhängigkeit der Abgeordneten und für die souveräne Stellung des Parlaments zu bestehen. War hier nicht das Ideal parlamentarischer Willensbildung verwirklicht? Gab es hier nicht die öffentliche Diskussion um ein wahres Allgemeininteresse zwischen unabhängigen bürgerlichen Abgeordneten, die nicht mehr als „Exponenten eines aristokratischen Klasseninteresses" auftraten 19 ? Mochte noch 15 16 17 18

Ebd., bes. S. 224 - 226. Z u m Gesetzesbegriff Carl Schmitts, S. 94 f. Ebd., S. 197 f. Ebd., S. 198. Vgl. bes. E. Fraenkel, a.a.O., S. 55.

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vor fünfzig Jahren ein Teil der historischen Untersuchungen dazu beitragen, diesen Eindruck zu stützen, so läßt sich eine solche Aussage m i t dem heutigen Stand der Forschung nicht mehr vereinbaren. Erhebliche Skepsis ist gegenüber der These angebracht, daß die W i r kung der Wahlrechtsreform von 1832 i n der Ablösung einer „den Staatsapparat monopolisierenden Aristokratie" durch das „mündig gewordene Bürgertum" bestanden und daß ihr eine Klassenauseinandersetzung zwischen „landed" und „moneyed interest" zugrundegelegen habe 20 . Die Ausdehnung des Wahlrechts und die wichtigere Neueinteilung der Wahlkreise mit der Abschaffung einer großen Anzahl der „rotten boroughs" führten keineswegs zur Beseitigung der Disparitäten i n der parlamentarischen Repräsentation. Das Mißverhältnis von „counties" und „boroughs" und das Übergewicht des Südens gegenüber der Hauptstadt und dem Norden wurde zwar gemildert aber nicht aufgehoben. Die Zahl der Wahlberechtigten erhöhte sich nicht wesentlich. Sie stieg von 500 000 vor der Reform auf 813 000 i m Jahre 183221. Die soziale Zusammensetzung des reformierten Parlaments unterschied sich kaum vor der des alten. Quantitative Untersuchungen haben eine erstaunliche soziale Homogenität bestätigt 22 . Von 500 Parlamentsabgeordneten, die 1833 „landed interest" repräsentierten, waren es 1865 noch 400. Es verbietet sich daher, von einem bürgerlichen Parlament zu sprechen, obwohl die Richtung einer stärkeren Beteiligung des Bürgertums an der politi19 Karl Löwenstein urteilte so: „ W o h l i n keiner Periode des britischen Parlamentarismus ist die alte Idee der Nationalrepräsentation wirklichkeitsentsprechender gewesen als gerade i n dieser Zeit, wo die Abgeordneten nicht mehr Exponenten des aristokratischen Klasseninteresses u n d noch nicht Räder der Parteimaschine oder Delegierte von Klassen sind, wo sie, frei von unabweisbarem Zwang durch ihre Wähler, geschickt m i t dem Strom der öffentlichen Meinung steuernd, ihre F u n k t i o n i m Dienst der Gesamtheit wahrnehmen." K. Löwenstein, a.a.O., S. 134. 20 So K . Löwenstein, a.a.O., S. 71. 21 Zu Einzelheiten der Reform und den Auswirkungen auf die Wählerschaft und die Zusammensetzung des Parlaments vgl. besonders Norman Gash, Politics i n the Age of Peel. A Study i n the Technique of Parliamentary Representation 1830 - 1850, London 1953. Zur Zusammensetzung des Parlaments vgl. auch Llewellyn Woodward, The Age of Reform 1815 - 1870, Oxford 21962, S. 92 ( = The Oxford History of England, Bd. X I I I ) . 22 Die quantitativen Untersuchungen, die William O. Aydelotte seit M i t t e der fünfziger Jahre m i t Hilfe der E D V zur sozialen Zusammensetzung u n d zum Abstimmungsverhalten des frühviktorianischen Parlaments durchgeführt hat, haben zugleich die Revision einer Fülle gängiger Interpretationen über den Charakter des „goldenen Parlamentszeitalters" zur Folge gehabt. So hat z. B. N. Gash unter dem Einfluß der wissenschaftlichen Ergebnisse Aydelotte's i n seinem Buch: „Reaction and Reconstruction, Oxford 1965, wesentliche A u f fassungen seines früheren Werkes (Politics i n the Age of Peel, a.a.O.) modifiziert. Siehe bes. William O. Aydelotte, The House of Commons i n the 1840's, History, 39 (1954), S. 249 -262; ders., Voting Patterns i n the B r i t i s h House of Commons i n the 1840s, Comparative Studies i n Society and History 5 (1963), S. 134 - 163; ders., The Conservative and Radical Interpretations of Early V i c torian Social Legislation, Victorian Studies, 11 (1967 - 68), S. 225 - 236.

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sehen Macht angezeigt war. Sie konnte sich jedoch erst nach 1867 durchsetzen. Die politischen Auswirkungen der Reform von 1832 sind denn auch weniger i n der sozialen Zusammensetzung der Wählerschaft und der herrschenden Schicht, als vielmehr i n einer Veränderung der Gewichte des parlamentarischen Systems zu suchen. Die zunehmende Bedeutung der öffentlichen Meinung — obwohl i n ihren konkreten Auswirkungen oft schwer einschätzbar — darf dabei nicht übersehen werden. Zwar brachte die Reform keineswegs den Durchbruch zur Wahlfreiheit, aber sie markierte doch einen entscheidenden Wendepunkt auf dem Wege dorthin. Weder die Wählerschaft, noch die Abgeordneten konnten künftig i n ihrem Abstimmungsverhalten eindeutig durch den Einfluß von Kronpatronage und Korruption bestimmt werden, wie das über weite Teile des 18. Jhs. möglich war 2 3 . Damit entzog sich die Mehrheitsbildung i m Parlament dem Zugriff des Monarchen. Das Unterhaus gewann den entscheidenden Einfluß auf die Bildung und Zusammensetzung der Regierungen. Es wäre allerdings falsch, darin einen völlig neuen Vorgang sehen zu wollen. Die Reform verstärkte und etablierte lediglich Tendenzen, die lange vorhanden waren und noch weiter fortdauerten. Norman Gash hat i n seiner bedeutenden Untersuchung über „Politics i n the Age of Peel" das Fortbestehen von Korruption und Patronage und das Aufkommen neuer Formen von ,,influence" umfassend belegt 24 . Obwohl die Krone zunächst unter William IV. und der jungen Victoria fortfuhr, die Ernennung und Entlassung von Ministern und die Auflösung des Parlaments als Ausfluß königlichen Rechts zu betrachten, zeigte sich i n der politischen Praxis die Unhaltbarkeit eines solchen Vorgehens m i t zunehmender Deutlichkeit. Nach der Entlassung Melbournes i m Jahre 1834 — die auf Wunsch des Premierministers i n Übereinstimmung m i t der Vorstellung des Königs zustandekam — konnte sich das Ministerium des Tory-Führers Peel nur für kurze Zeit halten, da es keine mehrheitliche Unterstützung i m Parlament besaß. Es hatte sich gezeigt, daß entgegen den Wünschen des Königs ein Rückt r i t t erfolgen mußte, wenn das Parlament gegen die Regierung war und daß eine aus diesem Grunde vorgenommene Auflösung des Parlaments keine Änderung dieses politischen Tatbestands mehr herbeizuführen vermochte. Gleiches offenbarte sich, als wenige Jahre später (1839) Königin Victoria, nachdem sie Peel zur Regierungsbildung aufgefordert hatte, das von i h m als Zeichen des Vertrauens geforderte 23 Zur Bedeutung des Kroneeinflusses für das Funktionieren des Regierungssystems i m 18. Jh. vgl. Gerhard A. Ritter, Das britische Parlament i m 18. Jahrhundert, i n : ders., Parlament u n d Demokratie i n Großbritannien. Studien zur Entwicklung u n d S t r u k t u r des politischen Systems, Göttingen 1972, S. 87 ff. Dazu E. Neville Williams (Hg.), The Eighteenth Century Constitution 1688 t i l i 1815. Documents and Commentary, Cambridge 1960, S. 137 ff. 24 N. Gash, Politics i n the Age of Peel, a.a.O.

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Revirement des von Whig-Damen durchsetzten königlichen Haushalts verweigerte. Die Wahlen von 1841 brachten den Konservativen die eindeutige Mehrheit und Peel ein parlamentarisch gesichertes Ministerium 2 5 . Die Krone hatte als der entscheidende Integrationsfaktor parlamentarischer Mehrheiten endgültig an Gewicht verloren. Sie war genötigt, die dem Haus genehmen Regierungen zu akzeptieren und fügte sich i n diese veränderte Rolle. Damit war sie keineswegs zur politischen Wirkungslosigkeit verdammt. Die Möglichkeit einer königlichen Einflußnahme blieb besonders dann erhalten, wenn eine schwache Parteienkonstellation i m Parlament der Krone die Rolle des Schiedsrichters und Friedensstifters bei Regierungsbildungen überließ, wie die Beispiele der Aberdeen-Koalition (1852) und der Palmerston-Regierung (1855) bezeugen 20 . Aber als Ergebnis eines fundamentalen konstitutionellen Wandels schälte sich heraus, daß die formal auf den König bezogene Verantwortlichkeit der Minister faktisch auf das Parlament überging. Durch Mißtrauensvotum i m Unterhaus konnten die Regierung oder auch einzelne Minister zum Rücktritt gezwungen werden. Auch unter diesen veränderten Bedingungen blieb eine stabile parlamentarische Mehrheit Voraussetzung effektiver Regierungstätigkeit. Die daraus resultierende Notwendigkeit, neue Wege politischer Integration zu finden, begünstigte die Entwicklung politischer Parteiorganisationen. Bereits i n den dreißiger Jahren läßt sich ein Gegensatz zwischen den zwei großen Parteien feststellen, der auf den Unterschieden ihrer ideellen, interessenmäßigen und sozialen Voraussetzungen beruhte 27 . Ohne den Vergleich mit der Konsistenz und Disziplin späterer parteigeschichtlicher Entwicklungen zu wagen, weisen neuere Untersuchungen über das Abstimmungsverhalten der Parlamentsmitglieder nach, daß die Bedeutung der Parteibindung für die Abgeordneten schon zu dieser Zeit sehr viel größer war als früher angenommen 28 . Trotz aller Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Parteien gab es über eine große Anzahl wesentlicher Punkte keine bloßen Zufallsabstimmungen, die auf den persönlichen Interessen sich unabhängig gerierender Abgeordneter ba25 Z u den Vorgängen u m das 1. M i n i s t e r i u m Peel u n d die sogen. Bed Chamber Crisis und ihre Bedeutung für den konstitutionellen Wandel vgl. English Historical Documents, Bd. X I I ( = 1833- 1874, hrsg. von G. M. Young - W. D. Handcock), London 1956, S. 44 f. 26 Vgl. ebd., S. 46 f. Dazu auch H. J. Hanham, The Nineteenth Century Constitution. Documents and Commentary, Cambridge 1969, S. 30. 27 Vgl. David Close , The Formation of a T w o - P a r t y A l i g n m e n t i n the House of Commons between 1832 and 1841, EHR 84 (1969), S. 257 - 77. 28 W. Ο. Aydelotte, The House of Commons i n the 1840's, a.a.O.; ders., V o t i n g Patterns i n the B r i t i s h House of Commons i n the 1840ies, a.a.O.; ders., The Business Interests of the Gentry i n the Parliament of 1841 -47, i n : G. Kitson Clark, The M a k i n g of Victorian England, London 1962, S. 290-305; ders., Parties and Issues i n Early Victorian England, Journal of B r i t i s h Studies, 5 (1966), S. 95 - 114; ders., The Country Gentlemen and the Repeal of the Corn Laws, EHR 82 (1967), S. 47 - 60.

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siert hätten. Die beiden großen Parteien beanspruchten weite, wenn auch teilweise sich überlappende Felder i m politischen Spektrum für sich. I n so verschiedenen Bereichen wie finanziellen und religiösen Fragen, der Prügelstrafe i n der Armee oder der Reform des Bildungsund Gesundheitswesens, läßt sich ein enges Verhältnis zwischen Parteibindung und Stimmabgabe nachweisen. Dagegen bestand für das ganze Gebiet der Sozialgesetzgebung und des Poor Law keine Relation zwischen Parteizugehörigkeit und Stimmabgabe 29 . Die Tatsache, daß die Gegensätze zwischen den Parteien nicht eindeutig einem Klassenstandpunkt zugeordnet werden können, sondern i n komplexen politischen Einschätzungen lagen, mag dazu beigetragen haben, daß ihre Bedeutung in der Zeit nach 1832 lange unterschätzt worden ist. Denn das Klischee von den Konservativen als Repräsentanten der „landed interest" und des Protektionismus und den Liberalen als Partei der Industrie und des Freihandels ist eher verwirrend als erhellend. Bereits vor 1832 gab es wichtige Einrichtungen eines Parteimanagements wie Parteiführer, Einpeitscher (Whips), Parteikasse, Parteiversammlungen und sogar eine Parteipresse 30 . Sie blieben i n ihrer Wirkung i m wesentlichen auf das Parlament beschränkt. Die Reformbill leitete hier eine neue Entwicklung ein, indem sie die Parteien — wenn auch unbeabsichtigt — zu außerparlamentarischen Aktivitäten nötigte. Sie ergaben sich aus dem Umstand, daß das Gesetz keine automatische Registrierung der Wahlberechtigten vorsah. Die potentiellen Wähler mußten selbst die Initiative ergreifen, um eine Eintragung i n die Wählerlisten zu erreichen. Die vielfältigen Möglichkeiten des Mißbrauchs, denen ein schwerfälliges und unzulängliches Revisionssystem gegenüberstand, drohte die Wahlen vielerorts zu einem Vabanquespiel werden zu lassen. Diese Gefahr wurde durch die politische Apathie breiter Wählerschichten begünstigt. Daraus ergab sich für viele Kandidaten die Notwendigkeit, den Eintragungsvorgang selbst mitzukontrollieren und den Mißbrauch durch Opponenten auszuschalten. So entstanden die i m Gesetz nicht vorgesehenen Registriervereine. Sie wurden i n dem facettenreichen Spektrum lokaler Einflüsse zu einem unentbehrlichen Instrument der Stimmengewinnung 3 1 . 29 W. O. Aydelotte, Voting Patterns, a.a.O., S. 151 - 157. Dazu auch N. Gash, Reaction and Reconstruction, a.a.O., S. 217 f. Weiter D. E. D. Beales, Parliamentary Parties and the 'Independent' Member, 1810- 1860, i n : Robert Robson (Hg.), Ideas and Institutions of Victorian Britain. Essays i n honour of George Kitson Clark, London 1967, S. 7 f. A. L. Lowell, The Influence of Party upon Legislation i n England and America, A n n u a l Report of the American Historical Association for the Year 1901, Bd. I, S. 321 - 542, fand bereits i n seiner Analyse der Abstimmungslisten heraus, daß i m Jahre 1836 eine erstaunlich große A b stimmungssolidarität der Parteien bestand; niedriger zwar als 1871 aber höher als i n der Zeit zwischen 1850 u n d 1860. 30 Vgl. A. Aspinall, English Party Organization i n the Early Nineteenth Century, EHR 41 (1926), S. 389 - 411.

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Aber bis zur Reform von 1867 waren die lokalen Parteiorganisationen nicht imstande, einen entscheidenden Beitrag zur innerparteilichen W i l lensbildung zu leisten und die Entscheidungen der Parteizentrale zu beeinflussen. Diese Lücke zwischen den Wahlkreisorganisationen und der politischen Spitze wurde durch die politischen Pall M a l l Clubs ausgefüllt 3 2 . Als soziale Zentren der Parteioligarchien verbanden sie die Funktionen eines Zentralbüros mit denen einer nationalen Parteikonferenz. Wie bei anderen organisatorischen Aktivitäten waren die Konservativen mit der Gründung des Carlton (1832) den Liberalen und ihrem Reform Club (1836) um einige Schritte voraus. Der K l u b war das Zentrum der Wahlmaschinerie der jeweiligen Partei. Hier liefen die Informationen zusammen, hier wurden die politische Szenerie des Landes analysiert und die notwendigen Verbindungen der Politiker untereinander geknüpft. Nahezu alle Parlamentsabgeordneten und solche Persönlichkeiten, die besonderen Einfluß i n der Politik, Diplomatie und i m Militär ausübten, zählten zur Mitgliedschaft. Der soziale Druck dieser exklusiven Gesellschaft — mit der Sanktionsmöglichkeit des Ausschlusses — begünstigte eine konforme Entwicklung der Meinungen von M i t gliedern und Parteiführung 3 3 . Gleichzeitig mit der für die frühviktorianische Zeit typischen K l u b regierung trat der neue Typ des zentralen Parteifunktionärs i n Erscheinung, der die außerparlamentarischen Geschäfte führte 3 4 . Die Analyse der Situation der Parteien i n der Zeit nach dem ersten Reformgesetz bis zum Jahre 1846 macht deutlich, daß der Typus des „unabhängigen" Abgeordneten i m Sinne eines parteilich nicht gebundenen Parlamentsmitgliedes praktisch kaum existierte. Als „zweifelhaft" unter dem Gesichtspunkt der Parteilinie hatten nicht die zu gelten, die — wie die Radicals — am stärksten auf ihre Unabhängigkeit pochten, sondern jene, die ihren parlamentarischen Verpflichtungen nur selten und unregelmäßig nachkamen 35 . 31 Zu den Registriervereinen und ihrer Bedeutung für die Anfänge moderner Parteientwicklung siehe Alun J. Thomas, Registration and the Development of Party Organisation 1832 - 1870, History 35 (1950), S. 81 - 98. Das „canvassing" wurde als M i t t e l zur Mobilisierung der Wähler praktiziert. Die große A n zahl der ,uncontested constituencies' ist nicht so sehr ein Zeichen politischer Apathie, als vielmehr das eines Arrangements zwischen den beteiligten Parteien bzw. Kandidaten, zur Vermeidung der sehr erheblichen W a h l k a m p f kosten. 32 Zur Entstehung und Entwicklung der großen politischen Clubs siehe N. Gash, Politics i n the Age of Peel, a.a.O., S. 393 ff. 33 Zur Beschreibung der zentralen Parteimaschinerie vgl. Mosel Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, New Y o r k 1922; bes. Bd. I, S. 146 ff. 34 Die Konservativen verfügten m i t Francis Robert Bonham über einen besonders fähigen zentralen Parteifunktionär. Vgl. Norman Gash, F. R. Bonham, Conçervative »Political Secretary', 1832 - 1847, EHR 63 (1948), S. 502 - 522.



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Aber die Phase der relativen Parteienstabilität war begrenzt. Als es i m Jahre 1846 über die Frage der Kornzölle und durch das Abstimmungsbündnis der konservativen Protektionisten m i t den Whigs zum Sturz der Regierung Peel und zur Spaltung der Tories kam, brach auch die bis dahin gültige Parteienkonstellation auseinander 36 . Von nun an existierten bis zum Jahre 1859 immer mehr als zwei Parteien i m Unterhaus. Vom J u l i 1846 bis zur zweiten Reformbill 1867 gab es 8 Kabinette; zwischen 1846/52, 1858/59 und 1866/68 verfügte keine Regierung mehr über eine stabile Mehrheit i m Unterhaus 37 . Bis zur Verschmelzung der führenden Peelites (Anhänger Peels) mit den Liberalen (1859)38 und eines großen Teils ihrer Anhängerschaft mit den Konservativen, konnte keine Partei ohne Unterstützung dieser Gruppe die Regierung übernehmen. Auch später zeigte sich noch die potentielle Fragilität der Parteiverbindungen, als die liberale Reform B i l l m i t Hilfe einer dissidierenden liberalen Anti-Reform-Gruppe, den sogenannten Adullamites unter Robert Lowe, zu Fall gebracht wurde 3 9 . Die Vorgänger der Zeit nach 1846 zeigen, daß die frühen Formen der Parteiorganisation und Parteidisziplin als Integrationsmomente zur Herstellung einer stabilen parlamentarischen Mehrheit noch nicht ausreichten, um den ehemals von der Krone ausgeübten disziplinierenden Einfluß zu ersetzen. Die 'wechselnden politischen Bindungen der Faktionen des Unterhauses; brachten die Exekutive i n eine schwer kalkulierbare Abhängigkeit vom 35 Vgl. D. E. D. Beales, Parliamentary Parties and the independent' Member, a.a.O., S. 11 ff. u. 18 f. I n A n m e r k u n g zu Lewis Β. Namier, Monarchy and the Party System, Oxford 1952, stellt Beales fest, daß die Parteidisziplin dieser Jahre nicht dem Umstand zuzuschreiben war, daß Abgeordnete ihren Parlamentssitz der Partei verdankt hätten. Dazu sei der außerparlamentarische Einfluß noch zu schwach und die persönliche und ererbte Stellung der Abgeordneten zu stark gewesen. Dennoch hätten solche Parlamentsmitglieder, auch Peers, der Party W h i p gehorcht. Vgl. auch W. O. Aydelotte, V o t i n g Patterns i n the B r i t i s h House of Commons, a.a.O. 36 Zur parlamentarischen Situation i m K a m p f u m die Abschaffung der K o r n zölle vgl. W. O. Aydelotte, The Country Gentlemen and the Repeal of the Corn Laws, EHR 82 (1967), S. 47 - 6 0 ; George S. R. Kitson Clark, The Electorate and the Repeal of the Corn Laws, Transactions of the Royal Historical Society, 5. Ser., Bd. I (1951), S. 109 - 126. Z u Peels Stellung innerhalb der konservativen Partei und zur Abspaltung der Peelites vgl. Norman Gash, M r . Secretary Peel, London 1961; ders., Peel and the Party System, Transactions of the Royal Historical Society, 5. ser., Bd. I (1951), S. 47 - 6 9 ; G. S. R. Kitson Clark, Peel and the Conservative Party, London 1964; James B. Conacher, Peel and the Peelites, EHR 73 (1958), S. 431 - 452; ders., The Peelites and the Party System 1846 - 52, Newton Abbot 1972. 37 Vgl. Llewellyn Woodward, The Age of Reform 1815 - 1870, a.a.O., S. 160 f. 38 Zur Bedeutung des Jahres 1859 für die Neuformierung des britischen Parteiensystems vgl. James B. Conacher, Party Politics i n the Age of Palmerston, i n : P. Appleman, W. A. Madden, M. Wolff (Hg.), ,1859': Entering an Age of Crisis, Bloomington/Indiana 1959, S. 163 - 180; John R. Vincent, The Formation of the Liberal Party, 1857 - 1868, London 1966. 39 Vgl. James Winter, The Cave of A d u l l a m and Parliamentary Reform, EHR 81 (1966), S. 38 - 55.

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Parlament. Dieser Tatbestand ist später als Ausdruck der Parlamentssouveränität und der Unabhängigkeit der Abgeordneten interpretiert worden. Eine solche Auffassung übersieht, daß unabhängig von der politischen Labilität der Regierungen die Exekutive in der Zeit des Übergangs zur industriellen Massendemokratie durch die Ausdehnung und Komplizierung der allgemeinen Gesetzgebung und die damit eng verbundene Änderung parlamentarischer Verfahrensweisen grundsätzlich eine Machterweiterung auf Kosten des Parlaments und des „Private Member" erfuhr 4 0 . Noch zu Beginn des 19. Jhs. war das Parlament nicht i n erster Linie eine gesetzgebende Versammlung. Es begriff sich i n seiner traditionellen Rolle als „the grand inquest of the nation", das unabhängig von Parteien und Ministern alle Aspekte des nationalen Lebens zu repräsentieren hatte und alle Schwierigkeiten behandelte, die einer politischen Lösung bedurften. Sein Geschäftsgang wurde i m wesentlichen durch das Beschwerderecht (grievances of supply) und durch das Präsentationsrecht von Petitionen bestimmt. Die Geschäftsordnung begünstigte eher parlamentarische Minderheiten, als daß sie die Bildung entscheidungsfähiger Mehrheiten förderte. Die Abgeordneten besaßen — abgesehen von Steuerfragen — dasselbe Initiativrecht wie die Minister der Krone. Sie konnten durch wiederholt eingebrachte Vertagungsanträge den Geschäftsgang lahmlegen. Petitionen konnten dazu verwandt werden, über bereits abgestimmte Anträge erneut die Debatte zu eröffnen. Zu einzelnen Punkten der Tagesordnung konnten Amendments beantragt werden. Aber schon zu Beginn des Jahrhunderts — verschärft durch das Hinzukommen der irischen Abgeordneten — 4 1 ließen sich die traditionellen 40 Zur Entwicklung der parlamentarischen Geschäftsordnung bis heute u n entbehrlich Josef Redlich, Recht und Technik des Englischen Parlamentarismus, die Geschäftsordnung des House of Commons i n ihrer geschichtlichen E n t wicklung u n d gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1905. Gegenüber dem Werk Redlichs betont i n jüngerer Zeit Peter Fraser, The G r o w t h of Ministerial Control i n the Nineteenth-Century House of Commons, EHR 75 (1960), S. 444 bis 463, daß die Reformen der Verfahrensweisen nicht erst i m letzten Viertel des 19. Jhs. i h r volles Gewicht erreicht hätten, sondern daß bereits i n der Phase zwischen den beiden Reformen das „Private Member" seine Privilegien w e i t gehend verlor und daß der „Official Member" die entscheidende Position i m Haus erlangte. Vgl. auch Kurt Kluxen, Die U m f o r m u n g des parlamentarischen Regierungssystems i n Großbritannien beim Übergang zur Massendemokratie, i n : ders. (Hg.), Parlamentarismus, K ö l n - B e r l i n 21969, S. 112 - 137; bes. S. 116 ff. 41 1800 wurde die Anzahl der Parlamentsmitglieder u m 100 irische Abgeordnete erweitert. Die Zunahme der Diskussionen i m Parlament w a r beträchtlich. Anstelle der notwendigen Verlängerung der Sitzungsperiode trat jedoch de facto eine Verkürzung ein, da es den irischen Abgeordneten genehm war, erst nach Weihnachten zu erscheinen, die englischen Abgeordneten aber darauf bestanden, nicht über den Hochsommer hinaus zu tagen. Vgl. P. Fraser, The Growth of Ministerial Control, a.a.O., S. 444.

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Privilegien der „Private Members" nicht mehr mit einer effektiven Führung der Regierungsgeschäfte vereinbaren. M i t zunehmender Bedeutung der öffentlichen Meinung wuchs die Zahl der Petitionen gewaltig 4 2 . Die Wahlrechtsreform von 1832 sollte zum Katalysator jener Tendenzen werden, die auf eine Änderung der Verfahrensweisen drangen. Das Parlament stand vor der Wahl, entweder die öffentlichen Angelegenheiten zu einem Stillstand kommen zu lassen, oder ihnen durch die Beschneidung der Rechte der „Private Members" einen Vorrang einzuräumen. Der letztere Weg wurde, wenn auch nur zögernd, beschritten. „Order Days" wurden fixiert und für die Regierungsgeschäfte reserviert. Das Recht auf Einbringung von Petitionen wurde eingeschränkt und schließlich abgeschafft. Ähnliches geschah mit dem Recht auf Präsentation von Amendments. Durch die Standing Orders von 1852/53 wurde der Vorrang der Regierungsvorlagen gesetzlich festgelegt. I n zunehmendem Maße wurde das Unterhaus zu einem Instrument der Gesetzgebung umgebildet, das schließlich am Ende des Jahrhunderts von der Regierung i m Interesse der Mehrheit kontrolliert wurde 4 8 . Analog zu den Veränderungen der parlamentarischen Verfahrensweise drückte sich auch i n den administrativen Reformen ein tiefgreifender Wandel der Funktion und Struktur der Regierung aus 44 . Die neuen Formen der Gesetzgebung und die enorme Erweiterung exekutiver Tätigkeit machten den Aufbau eines fachlich qualifizierten Civil Service unumgänglich 45 . I n zunehmendem Maße wurde seit der Mitte des Jahrhunderts die Besetzung der Ämter durch Nomination und Patronage durch ein System des Wettbewerbs und des Prüfungsnachweises er42 Zwischen 1839 und 1843 betrug die Zahl der Petitionen 94 292; zwischen 1875 und 1879 wurden dagegen nurmehr 880 Petitionen eingebracht. Vgl. R. Butt, The Power of Parliament, a.a.O., S. 84. 43 Entscheidend für die M i t t e l der Mehrheitskontrolle u n d der Parteidiszip l i n waren jedoch die von Gladstone u n d Balfour zwischen 1872 u n d 1902 eingeführten Standing Orders. Besonders wichtig waren i n diesem Zusammenhang die gegen die Obstruktion der irischen Nationalisten eingeführten Möglichkeiten zur Debattenbeschränkung wie der „Closure" (1882) u n d der „ G u i l l o tine" (1887). 44 Oliver McDonagh, The Nineteenth-Century Revolution i n Government: A Reappraisal, Historical Journal 1 (1958), S. 62 - 67. Dazu Henry Parris, The Nineteenth-Century Revolution i n Government: A Reappraisal Reappraised, Historical Journal 3 (1960), S. 17 - 37. Gegen eine gewisse Uberbetonung des „Revolutionären" bei McDonagh wendet sich Valerie Cromwell , Interpretations of Nineteenth-Century Administration: A n Analysis Victorian Studies 9 (1966), S. 245 - 256. Allerdings akzeptiert auch sie, daß ein grundlegender Wandel der Exekutive stattgefunden hat. Gegen eine einseitig „konservative" oder „ r a d i kale" Interpretation des administrativen Wandels wendet sich aufgrund quantitativer Untersuchungen zu den Abstimmungen über soziale Gesetzgebung W. O. Aydelotte, The Conservative and Radical Interpretations of Early V i c torian Social Legislation, Victorian Studies 11 (1967 - 8), S. 225- 236. 45 Vgl. K . Kluxen, a.a.O., S. 119 f.

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setzt 46 . Das geschah nicht ohne Widerstände und Komplikationen 4 7 . Doch der Sachverstand einer parteineutralen staatlichen Bürokratie wurde als Mittel zur Vorbereitung und Ausführung von Gesetzen unentbehrlich. Er stabilisierte die Funktion der Regierung als Verwaltungsorgan und verwies zugleich ihr Verhältnis zum Parlament auf die eigentlich politischen Aspekte der Gesetzgebung und der Budgetkontrolle 4 8 . Ein zentrales Argument der „systemüberwindenden" Parlamentarismuskritik bezieht sich auf die angebliche Interessenungebundenheit eines nur seiner Ratio verpflichteten Abgeordneten i m „unverfälschten" Parlamentarismus. Dieses Ideal entsprach auch den Vorstellungen frühviktorianischer Liberaler und Radikaler 4 9 . Es gab kaum einen Kandidaten, der nicht von sich behauptet hätte, völlig unabhängig zu sein. Doch das Ideal war weit von der Wirklichkeit entfernt. Die vielfältigen Bindungen, denen ein Abgeordneter schon bei der Kandidatenaufstellung und der Wahl i m Geflecht lokaler und patrimonialer Einflüsse ausgesetzt war, sind bereits angedeutet, eine faktisch bestehende Parteiloyalität — zumindest i n den Jahren vor 1846 — nachgewiesen worden. Aber es gab auch genügend Raum für das „interested member", den Abgeordneten, der als Agent oder als unmittelbar Betroffener ökonomische Interessen verfolgte. Die Tatsache, daß noch um die Jahrhundertmitte ein großer Teil der Gesetzgebung, den man später eindeutig dem allgemein öffentlichen Bereich zurechnete, durch „Private Bills" geregelt wurde, mußte das Privatinteresse an der Durchsetzung einer genehmen Spezialgesetzgebung geradezu ermutigen 5 0 . Über die „Private Bills" waren i m 18. Jh. 46 Bereits während der napoleonischen Kriege hatten eine Reihe von Ausschüssen eine Reform des Geschäftsganges der Regierung empfohlen. 1817 wurde die größte Anzahl der Sinekuren abgeschafft. 1821 beseitigte Liverpool einen Teil der Patronage des First L o r d of the Treasury. Bentham u n d die p h i losophischen Radicals forderten nachdrücklich eine administrative Reform. Ihre Unterstützung w a r Reformern wie Peel u n d Graham keineswegs w i l l kommen. Die Begründung einer Karriere i n der öffentlichen V e r w a l t u n g durch offenen Wettbewerb w a r das Ziel von Sir Charles Trevelyan. Die Vorschläge des Northcote-Trevelyan-Ausschusses (1854) stießen auf harte Widerstände. Aufgrund des administrativen Versagens i m K r i m k r i e g , k a m es doch zu der vom Ausschuß vorgeschlagenen Einsetzung einer „ C i v i l Service Commission", die durch die geforderten Prüfungsnachweise der unbegrenzten Patronage letztlich ein Ende bereitete. Vgl. dazu H. J. Hanham, a.a.O., S. 314 ff., auch English Historical Documents, a.a.O., S. 553 ff. 47 Bis i n die neunziger Jahre hinein stießen alle C i v i l Service Reformen besonders auf den Widerstand der Parteimanager, H. J. Hanham, a.a.O., S. 315. 48 Dazu K . Kluxen, a.a.O., S. 119 f. 49 Siehe Samuel H. Beer , Modern B r i t i s h Politics. A Study of Parties and Pressure Groups, London 21969, S. 34 ff. Vgl. auch Ν. Gash, Politics i n the Age of Peel, a.a.O., S. 109. 50 I m Gegensatz zur „Public B i l l " stand am Anfang einer „Private B i l l " eine Petition der interessierten Partei. Z w a r konnte ein Abgeordneter, der die Petition vorgetragen hatte, nicht selbst die Gesetzesvorlage einbringen. Aber

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vor allem die Konzessionen für Einhegungen, Straßen- und Kanalbau eingeholt worden. I n der ersten Hälfte des 19. Jhs. erreichte ihre Anzahl — besonders wegen der Ausweitung des Eisenbahnbaus — den höchsten Stand, um danach zugunsten der allgemeinen öffentlichen Gesetzgebung abgebaut zu werden 51 . Die parlamentarische Prozedur der „Private Bills" m i t ihren „Private B i l l Committees" forderte ein intensives „lobbying" und „canvassing" geradezu heraus. Mancher der Beteiligten schreckte vor Korruption und Bestechung nicht zurück. Die Eisenbahnpolitik jener Jahre hält eine Fülle von Beispielen bereit, die die Einwirkung ökonomischer Interessen eindrucksvoll belegen 52 . Es fehlte nicht an energischen Versuchen, den Mißständen entgegenzuwirken. So mußten seit 1844 Mitglieder von Eisenbahnausschüssen eine „Declaration of Non Interest" unterschreiben, die i m Jahre 1854 auf Repräsentanten lokaler Interessen bei umstrittenen Gesetzesvorlagen erweitert wurde 5 3 . Dennoch scheint es während des gesamten Jahrhunderts möglich geblieben zu sein, daß Direktoren oder Teilhaber wirtschaftlicher Unternehmungen die sie interessierenden Gesetze durch das Parlament steuern konnten 5 4 . Es ist nicht verwunderlich, daß gerade i n der Zeit der Jahrhundertmitte, als die Brüchigkeit der Parteienkonstellation die Effektivität parlamentarischer Regierungsweise in Frage stellte, solche Mißstände i m Gesetzgebungsprozeß das Ärgernis über die politischen Zustände noch vergrößerten. Eine große Anzahl kritischer Zeitgenossen i m England jener es gab für i h n viele Möglichkeiten, die Prozedur der Vorlage weiter i n der Hand zu behalten. Wenn das Gesetz eingebracht war, k a m es zur 2. Lesung i m Haus. Es konnte von den Gegnern, sofern sie über die Mehrheit verfügten, zurückgewiesen werden. Wenn die Vorlage passierte, wurde sie an ein „Private B i l l Committee" überwiesen, dessen Verfahren i n mancherlei Hinsicht dem eines ordentlichen Gerichts entsprach. Jede Seite w a r durch A n w ä l t e vertreten. Es wurden die Argumente von Befürwortern u n d Gegnern der Vorlage vorgetragen. Die Zusammensetzung des „Private B i l l Committee" erfolgte nach dem Prinzip, Personen zu berücksichtigen, die am besten qualifiziert waren und ein persönliches, lokales oder berufliches Interesse an der zu behandelnden Materie hatten. Z u r Verfahrensweise der „Private B i l l s " siehe O. Cyprian Williams, The Historical Development of Private B i l l Procedure and Standing Orders i n the House of Commons, London 1948. 51 Zwischen 1830 u n d 1880 wurden etwa 4000 Private Bills über Eisenbahnen vom Parlament verabschiedet. Vgl. S. H. Beer, a.a.O., S. 66. 52 Von den 815 Abgeordneten, die zwischen 1840 - 47 i m Unterhaus saßen, waren ca. 145 Eisenbahndirektoren, 1867 waren es 179 u n d 1886 90. Beispiele für den parlamentarischen K a m p f u m Eisenbahninteressen, der m i t Skandalen durchsetzt war, siehe bei S. H. Beer, a.a.O., S. 65 ff. 53 R. Butt, The Power of Parliament, a.a.O., S. 82. 54 Ebd., S. 65. Ausführliche Quellen zum Problem des i n t e r e s t e d Μ . Ρ / i n British Parliamentary Papers. Report from the Select Committee appointed to consider whether any and w h a t improvement can be adopted i n the mode of conducting Private Business, 1837 - 38 (679) X X I I I . 405. Dort auch Report from the Select Committee on Members of Parliament (Personal Interest), 1896 (274) X I . 529.

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Jahre war weit davon entfernt, das frühviktorianische Parlament zu glorifizieren. Sie diagnostizierten das Fehlen großer Parteien, die imstande gewesen wären, eine eindeutige Mehrheit zu bilden, als entscheidenden Mangel des Systems, als die Ursache weiterer Übel. „ W i r werden feststellen", so warnte Salisbury i n einem A r t i k e l der „Saturday Review" aus dem Jahre 1857, „ob w i r von einer Ansammlung winziger Faktionen regiert werden sollen, die schlechterdings aufgrund ihrer Obskurität unverantwortlich sind oder von Repräsentanten einer breiteren nationalen Meinung, denn zwischen diesen muß die Wahl liegen. Es gibt keine Alternative. Die Theorie vom unabhängigen Abgeordneten — die Vorstellung von 653 Menschen, von denen jeder jede Frage selbst studiert und von denen jeder nach seinem eigenen Urteil über ihren Wert ohne Vorurteil und Bevorzugung abstimmt — ist eine Hoffnung von Laputa 5 5 ." Für Salisbury war es klar, daß seit 1846 privates Wohloder Ubelwollen, die Begünstigung separater Interessen, die alte Treue zur Partei ersetzt habe. Diese mangelnde Fähigkeit zur parlamentarischen Mehrheitsbildung war kein Vorteil, sondern ein entscheidender Nachteil des britischen Regierungssystems der Jahrhundertmitte. Es sind nicht nur zeitgenössische Stimmen, die zu dem Urteil führen, daß das frühviktorianische Parlament eine Ubergangserscheinung war, die eher als untypisch für die parlamentarische Regierungsweise angesehen werden muß.

55 Saturday Review, 9. M a i 1857: "We shall ascertain whether we are to be ruled by an aggregate of minute factions, almost irresponsible from their obscurity, or by the representatives of broader national phases of opinion; for between these the choice must lie. There is no alternative. The independentmember theory — the notion of 653 men, each studying every question for himself, and voting on his own judgement of its merits w i t h o u t bias or favour — is an inspiration from Laputa." Laputa ist jene fliegende Insel i n ,Gullivers Reisen', deren Bewohner sich visionären Projekten hingaben. Salisbury war einer unter vielen K r i t i k e r n . Vgl. auch weitere kritische S t i m men bei R. Butt, The Power of Parliament, a.a.O., S. 69 ff.

VERFASSUNGSKONFLIKT UND VERFASSUNGSHISTORIE Eine Auseinandersetzung mit Ernst Rudolf Huber* Von Hans Boldt, Mannheim I n der dualistischen Anlage der deutschen konstitutionellen Verfassungen des 19. Jahrhunderts waren Verfassungskonflikte gleichsam einprogrammiert. Zu den bedeutendsten unter ihnen zählt der preußische Verfassungskonflikt. Er hat die deutsche Verfassungsentwicklung und mit ihr die Verfassungstheorie nachhaltig beeinflußt. Ausgang des Konflikts und darauf basierende Verfassungstheorie haben auch i n der Verfassungsgeschichtsschreibung bis heute nachgewirkt. Das ist sichtbar insbesondere i n der ,Deutschen Verfassungsgeschichte seit 1789' von Ernst Rudolf Huber. Huber bemüht sich dort um die Rechtfertigung des Standpunktes König Wilhelms I. und des Vorgehens des Konfliktministeriums Bismarck. Diese Rechtfertigung besitzt eine zentrale Bedeutung für die Auffassung vom deutschen Konstitutionalismus, die seinem Werk überhaupt zugrunde liegt. Dem geht der erste Teil meiner Ausführungen nach. Der zweite Teil w i r d sich um ein historisches Verständnis der Huberschen Position bemühen. Abschließend soll auf die Bedeutung des preußischen Verfassungskonfliktes für Hubers Konstitutionalismustheorie aufmerksam gemacht werden.

I. Der preußische Verfassungskonflikt entstand bekanntlich aus einem Streit über die Heeresreform zwischen Monarch und Regierung einerseits, Abgeordnetenhaus andererseits. Dieser Streit entwickelte sich zu einem Budgetkonflikt, als das Abgeordnetenhaus der Regierung die finanziellen Mittel zur Reorganisation des Heeres verweigerte. Daraus resultierte die Verfassungsfrage: Was hatte zu geschehen, wenn aufgrund eines Dissenses zwischen den gesetzgebenden Faktoren ein Budgetgesetz nicht zustandekam? Die preußische Verfassung schwieg dazu. Sie war i n diesem Falle auslegungsbedürftig. Anders als beim Steckenbleiben normaler Gesetzesprojekte mußte eine Regelung getroffen werden, sollte nicht die gesamte Staatstätigkeit mangels Ausgabeermächtigung zum Erliegen kommen. Soweit herrschte Übereinstimmung. Strittig dagegen * Überarbeitete Fassung eines Referates für die Sektion Verfassungsgeschichte des 30. Deutschen Historikertages i n Braunschweig v o m 2. - 6. 10. 1974.

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war, welchen Weg man einzuschlagen hatte. I m wesentlichen standen sich zwei Theorien gegenüber, die Appelltheorie und die Lückentheorie. Die Vertreter der Lückentheorie folgerten aus dem Schweigen der Verfassung, der „Lücke", die Befugnis der Regierung, auch ohne Etatgesetz Ausgaben zu tätigen, wobei sich diese Befugnis wie auch die Extension des budgetlosen Regiments verschieden begründen ließen (z. B. aus dem Oktroicharakter der Verfassung, aus vorkonstitutionellem Recht, aus der Notwendigkeit zum Handeln, bzw. : i m Rahmen des letzten verabschiedeten Budgetgesetzes, nur notwendige Ausgaben betreffend, nur gesetzlich vorgeschriebene usf.) 1 . Die Appelltheorie versuchte dagegen, die Frage aus der Verfassung unter Heranziehung weiterer Verfassungsvorschriften zu lösen. Bei einem Dissens zwischen Regierung und Parlament könne der König, so folgerten ihre Anhänger, entweder von seinem Recht, das Ministerium zu entlassen, oder von seiner Befugnis, das Abgeordnetenhaus aufzulösen, Gebrauch machen. I m letzteren Falle appelliere er an die Wählerschaft, der Ansicht der Regierung zu folgen. Dem durch Neuwahlen bekundeten Willen der Wählerschaft sei letztlich (eventuell also auch durch Entfernung eines Ministeriums, dessen Haltung keinen Beifall fand) Rechnung zu tragen 2 . Die Appelltheorie ist insbesondere von den Führern der Fortschrittspartei i n der Junidebatte 1862 i m preußischen Abgeordnetenhaus vertreten worden 3 . Praktisch haben auch die Regierungen i n der Konfliktszeit von ihr Gebrauch gemacht, allerdings ohne die in ihr implizierten Konsequenzen zu ziehen. Die Lückentheorie ist dagegen von Bismarck aufgegriffen worden, u m sein Vorgehen als Ministerpräsident der Konfliktsregierung zu legitimieren. Die Frage, wer in diesem Streit „recht" hatte, ist i n verbindlicher Weise nie entschieden worden. Zu dieser Frage nimmt Huber ausführlich i m dritten Bande seiner Verfassungsgeschichte Stellung 4 . Er hat seine Stellungnahme kurz darauf i n einem Vortrag über „Bismarck und der Verfassungsstaat" ergänzt 5 . A n seiner Analyse ist grundsätzlich zweierlei auszusetzen: 1. die eigenwillige 1 Vgl. E. Zechlin, Bismarck u n d die Grundlegung der deutschen Großmacht, 2. Aufl., Stuttgart 1960, S. 276 f. 2 Zur Appelltheorie vgl. das 3. K a p i t e l meiner Abhandlung über die „ D e u t sche Staatslehre i m Vormärz" (MS, erscheint i m Druck i m Herbst 1975 beim Droste Verlag i n Düsseldorf). 3 s. Sten. Ber. über die Verhandlungen des preußischen Landtags — Haus der Abgeordneten — 1862, I, S. 111 ff. (8. u. 9. Sitzung am 4./5. 6. 1862) u n d den repräsentativen Verfassungskommentar der Zeit von L. v. Rönne, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, I, 2, 2. Aufl., Leipzig 1864, S. 312, 332. 4 s. seine ,Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789', 3. Band, Stuttgart 1963, S.333 - 368. 5 Der Vortrag ist abgedruckt i n : E. R. Hub er, Nationalstaat u n d Verfassungsstaat, Stuttgart 1965, S. 188 - 223.

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Interpretation der von den Parteien i m Verfassungskonflikt eingenommenen Rechtspositionen, 2. der anachronistische Gebrauch staatsrechtlicher Kategorien, die er benutzt, um den Streitfall noch nach hundert Jahren zu einer Lösung zu bringen. 1. a) Huber unterzieht zunächst die Position der liberalen Opposition einer grundlegenden K r i t i k . I h m erscheint der Vorschlag, den Budgetkonflikt mit einem Appell an die Wählerschaft zu lösen, als nichts anderes denn der erklärte Übergang von der monarchischen zur parlamentarischen Herrschaft i n Preußen. Daß es um diese Alternative damals ging, so meint er, sei allen am Verfassungskonflikt Beteiligten bewußt gewesen. Ein Übergang zur Parlamentsherrschaft hätte aber nicht i m Einklang mit der dem monarchischen Prinzip huldigenden preußischen Verfassung gestanden, mithin habe es sich bei den Vorstellungen der liberalen Opposition um eine Verfassungswidrigkeit gehandelt, um nichts anderes als eine „kalte Revolution" auf exegetischem Wege 6 . Dazu ist Folgendes zu sagen: Es soll hier nicht auf Hubers Interpretation der preußischen Verfassung eingegangen werden. Wie alle konstitutionellen Verfassungen war sie, der sogar ein ausdrückliches Bekenntnis zum monarchischen Prinzip fehlte, für verschiedene Auslegungen offen und gerade in entscheidenden Fragen interpretationsbedürftig. Wie weit sich mit ihrem Wortlaut eine parlamentarische Regierungsweise vereinbaren ließ, mag dahingestellt bleiben. Immerhin ist daran zu erinnern, daß der Ubergang zum Parlamentarismus meist i m Rahmen von Verfassungen geschah, die dergleichen zwar nicht vorgesehen hatten, aber dennoch Auslegungsmöglichkeiten i n dieser Richtung boten 7 . Festgehalten werden muß hingegen dieses: I m Gegensatz zur Ansicht Hubers läßt es sich keineswegs so einfach behaupten, daß es der liberalen Opposition i n Preußen um die Ersetzung der monarchischen durch eine parlamentarische Regierung ging. Bei dieser Alternative handelte es sich vielmehr um eine zu Neujahr 1862 von der Kreuzzeitung und i m Frühjahr darauf von der Regierung als Wahlparole benutzte Propagandathese, die den Gegner antimonarchischer Gesinnung verdächtigen sollte. Es mag sein, daß ihre konservativen Verkünder von dem Realitätsgehalt der These überzeugt waren, stand doch hinter der Auffassung, daß es entweder nur ein Bekenntnis zum monarchischen oder zum parlamentarischen Prinzip geben könne, die Autorität eines so bedeutenden Staatslehrers wie Friedrich Julius Stahl, der für die Konservativen i m Verfassungskonflikt so etwas wie ein Gewährsmann i n 6 So i m Aufsatz von 1965 (o. Anm. 5) S. 199 ; vgl. auch »Verfassungsgeschichte' I I I , S. 333, 336 f. 7 Z u dieser Ubergangsproblematik s. E.-W. Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie i m 19. Jahrhundert, jetzt i n : Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, K ö l n 1972, S. 146 - 170.

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Fragen der Verfassungstheorie gewesen ist 8 . Desungeachtet traf sein A l ternativschema das Verfassungsverständnis des liberalen Gegners und dessen Intentionen nicht. Nach alldem, was w i r an Zeugnissen besitzen, ging es dem preußischen Liberalismus i m Verfassungskonflikt um die Aufrechterhaltung des verfassungsmäßigen Zustandes, nicht um dessen Transzendierung, um eine „kalte" Revolution 9 . Verfassungsmäßiger Zustand aber hieß für die Liberalen Respektierung des vorgegebenen dualistischen Systems, nicht prinzipielle Bevorzugung der einen oder anderen Seite. Auch wo von „Parlamentarismus" oder „parlamentarischer Regierungsweise" i n dem Zusammenhang die Rede war, wurde nichts anderes als die Wahrung des Mitbestimmungsrechtes gemeint 10 . Die Stahlsche Konstruktion vom parlamentarischen Prinzip als dem monarchischen kontradiktorisch entgegengesetzt, wurde als unrealistisch abgelehnt, wie überhaupt genaue Vorstellungen von der englischen parlamentarischen Regierungsweise, auf der Stahls Dichotomie fußt, i n jener Zeit wenig verbreitet waren 1 1 . Etwas anderes mag für den äußersten linken Flügel der Fortschrittspartei und dessen Absichten gelten. Sie waren aber für die Sammlungsbewegung des Fortschritts und darüber hinaus für den damaligen oppositionellen Liberalismus i m Ganzen nicht repräsentativ 12 . I m Zusammenhang mit der vorherrschenden Intention, den dualistischen Charakter des Systems zu wahren, ist auch der Rekurs auf die Appelltheorie zu sehen. Ebensowenig wie die Adresse des Abgeordnetenhauses an den Monarchen i m Mai 1863 als parlamentarisches Mißtrauensvotum i m technischen Sinne gewertet werden darf, sondern eine Beschwerde über eine als verfassungsbrüchig erachtete Regierung an ihren Herrn darstellte, verbunden mit der Bitte um eine Re-etablierung verfassungsmäßiger Verhältnisse, ebensowenig zielte die Forderung, durch Appell die Wählerschaft zu befragen, auf die Einführung einer parlamentsabhängigen Regierung 13 . Sie war vielmehr als Mittel gedacht, auf 8

F. J. Stahl, Das monarchische Prinzip, Heidelberg 1845, aufgenommen i n : Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, I I , 2 (in der 5. Aufl., Heidelberg 1878, S. 372 ff.); vgl. auch G. Ritter, Staatskunst u n d Kriegshandwerk, 1. Band, 3. Aufl., München 1965, A n m . 94 zu S. 196. 0 Ebenso G. Ritter, a.a.O., S. 159 - 206, bes. S. 196. 10 Vgl. z. B. E. Lasker i n seinen Aufsätzen zum preußischen Verfassungskonflikt, zusammengefaßt i n : Zur Verfassungsgeschichte Preußens, Leipzig 1874, bes. S. 376. 11 Dazu i. e. R. J. Lamer, Der englische Parlamentarismus i n der deutschen politischen Theorie i m Zeitalter Bismarcks (1857 - 1890), Lübeck 1963. 12 Für die demokratische L i n k e vgl. die »Monatsberichte 4 von H. B. Oppenheim i n den Deutschen Jahrbüchern für P o l i t i k u n d Literatur, 2. Band, B e r l i n 1862. 13 Text der Adresse i n Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1964, Nr. 58. Hubers Auslegung dazu i n seiner V e r fassungsgeschichte I I I , S. 317. Zeitgenössische Ansichten über die Tadelsresolution dagegen i m Kommentar von v. Rönne, a.a.O., S. 318 und bei H. Zöpfl, Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 5. Aufl., Heidelberg 1863, S. 246.

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i n der Verfassung vorgezeichnetem Wege (durch Auflösung des Abgeordnetenhauses und durch Neuwahlen, nicht einfach durch Erfüllung des Willens der parlamentarischen Majorität!) zur Beilegung des Konfliktes, d. h. zur notwendigen, von der Verfassung vorausgesetzten Ubereinstimmung der gesetzgebenden Faktoren zu kommen. Die Appelltheorie existierte i n verschiedenen Versionen 14 . I n ihrem Ursprung war sie durchaus antiparlamentarischer Natur. Den „appel au peuple" benutzte, so weit ich sehe, zum ersten Male Georg III. 1783, um den Willen des oppositionellen Unterhauses mit Hilfe einer Beeinflussung der Wählerschaft zu brechen. Auch i n der französischen Nationalversammlung ist kurz darauf das Recht des Monarchen zur Parlamentsauflösung unter diesem Aspekt erörtert und die Einführung des appel au peuple als antiparlamentarisch abgelehnt worden. Wieder eine Rolle spielte er i m Balance-System Benjamin Constants als eines der Mittel, mit dem der als pouvoir neutre gedachte König die notwendige Ubereinstimmung zwischen den politischen Systemfaktoren i. e. S. (Regierung, erste und zweite Kammer) herstellen konnte. Von dorther gelangte der Appellationsgedanke i n die deutsche konstitutionelle Theorie des Vormärzes. Durch den Appell sollte der Regierungswille bekundet und der Wille des Volkes als eines i m konstitutionellen System nicht einfach zu übergehenden Faktors erforscht werden. I n der i n Anlehnung an Constant vertretenen Version der Appelltheorie durch den progressiven L i beralismus i m Vormärz (Rotteck, Pfizer, Murhard) sollte sogar die Entscheidung im Streit zwischen Regierung und Volksvertretung durch die Wählerschaft, als der Trägerin der öffentlichen Meinung, erfolgen — sei es zugunsten der Regierung durch Wahl ihr nahestehender Abgeordneter, sei es zugunsten der parlamentarischen Opposition durch deren Bestätigung mit anschließendem Einlenken der Regierung oder gar einem Auswechseln der Regierungsmitglieder durch den Monarchen. I n jedem Fall galt es als Zweck dieses Vorgehens, eine Ubereinstimmung zwischen Regierung und Parlament durch eine i m Rahmen der Verfassung bleibende Prozedur zu erzielen, nicht einfach eine Parlamentsherrschaft auf Umwegen zu errichten. Deswegen wurde auch die mehrmalige Auflösung der Volksvertretung als durchaus korrekt empfunden; denn nicht um eine Angleichung des Regierungskurses an die jeweilige Majorität, sondern um die Erkundung des „beharrlichen" Volkswillens ging es, gegen den i n einem konstitutionellen Staat auf Dauer nicht regiert werden konnte. Die Appelltheorie kann demnach nicht als eine einseitige Option für das parlamentarische Prinzip i m Sinne Stahls und Hubers aufgefaßt werden. Dagegen spricht die bei ihren Vertretern offenkundige grundsätzliche Bejahung der konstitutionellen Monarchie und der Rolle des Monarchen als notwendigen Garanten der Ordnung, der die durch die Volks14

s. o. Anm. 2.

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Vertretung verkörperte Freiheit davor zu bewahren hatte, in Anarchie und Despotismus umzuschlagen — eine Einstellung, die auch bei progressiven Liberalen zum Ruf nach einem starken und aktiven Monarchen als Gegenspieler des Parlamentes führte 1 5 . Dagegen spricht zudem i n der spezifischen preußischen Situation auch die auf die Zustimmung der anderen deutschen Monarchen und ihrer Völker abzielende nationale Pol i t i k des Liberalismus, die kaum ein neues 1848 provozieren konnte. Die Appelltheorie ist aber offensichtlich auch nicht gerade „monarchisch" i m Sinne der Vertreter des strengen monarchischen Prinzips gewesen. A m ehesten läßt sie sich als „quasi-demokratisch" bezeichnen, wenn man die jeweilige Wählerschaft, an die hier appelliert wurde, als Repräsentant des gesamten Volkes gelten lassen w i l l . Insofern die Appelltheorie letztlich der Entscheidung des Volkes gegenüber dem Monarchen den Vorzug gab, war sie freilich nicht einfach aus der dualistischen Anlage konstitutioneller Verfassungen herauslesbar, und es mag zweifelhaft erscheinen, ob sie wirklich deren „Geist" entsprach, wie ihre A n hänger behaupteten. Sicherlich ließ sich gerade i m Fall eines schnell zu lösenden Budgetkonfliktes und bei Verläßlichkeit der Wählerschaft mit ihrer Hilfe ein starker Druck auf die Regierung ausüben und diese zumindest zeitweilig mehr parlamentsabhängig machen, als es der theoretischen, i m konstitutionellen Dualismus verharrenden Konstruktion entsprach. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß sie immerhin einen verfassungssystematisch nicht unkorrekten, von der damals durchaus herrschenden Lehre empfohlenen Weg zur Konfliktslösung eröffnete und dabei i n praxi einer Regierung die Möglichkeit bot, alle Register der Wahlbeeinflussung zu ziehen, was denn auch gegen den Protest der auf „freie" Wahlen bedachten liberalen Opposition i n der Konfliktszeit mehrfach geschah 16 . Es ist schließlich, auch dies gilt es zu bedenken, von der Regierung Hohenlohe selbst der Weg über die Auflösung des Abgeordnetenhauses noch am 9. 9. 1862 als der einzige Ausweg aus dem Konflikt angesehen worden 1 7 , und es sind letztlich Neuwahlen — am Tage von Königgrätz — gewesen, die m i t einem Regierungssieg den Konflikt zu einem Abschluß brachten. Es geht daher kaum an, den Appellationsansatz, wie Huber, einfach als verfassungswidrigen Versuch zu bezeichnen, die Parlamentsherrschaft zu etablieren. 15 Vgl. die grundlegenden Ausführungen darüber bei Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart 1840 (bes. S. 202, 223, 231 ff., 240 f.). Auch Gneists Verständnis des englischen Parlamentarismus ist noch zur Konfliktszeit von diesem Gedanken eines sinnvollen, harmonischen Dualismus geprägt. Das machen Lamers Ausführungen (o. Anm. 11) deutlich. 16 Zur Wahlkampftechnik der Regierung bringt interessante Nachweise E. N. Anderson, The social and political conflict i n Prussia 1858 - 1864, University of Nebraska Studies No. 12,1954, S. 382 ff. 17 s. den Immediatbericht des Staatsministeriums v o m 9. 9. 1862 (bei Huber, Dokumente, Bd. 2, Nr. 42).

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b) So sehr Huber darauf bedacht ist, die Appelltheorie als systemwidrig zu charakterisieren, so sehr ist er auf der anderen Seite bemüht, die Verfassungsmäßigkeit der Lückentheorie nachzuweisen. Die Möglichkeit, budgetlos zu regieren, hatte i m Jahre 1862 zunächst König Wilhelm I. i n Erwägung gezogen, nachdem die preußischen Ultras wie Ludwig von Gerlach darauf hingewiesen hatten. Eine Andeutung i n dieser Richtung brachte die offiziöse Sternzeitung i m August des Jahres 18 . Damit wurde auf eine Auslegung zurückgegriffen, die Bismarck und andere ultrakonservative Parteigänger 1951 i n der 2. Kammer der Verfassung gegeben hatten. Dort war von ihnen damit argumentiert worden, daß der Monarch vor Erlaß der Verfassung die Staatsausgaben selbständig festgesetzt habe. Durch die Verfassungsgebung habe er sich i n seinen Rechten nur insoweit beschränkt, als tatsächlich ein Haushaltsgesetz zustande komme. Sei dies nicht der Fall, so trete angesichts der „Lücke" i n der Verfassung das ursprüngliche Recht der Krone, die Staatsausgaben allein zu bestimmen, wieder hervor 1 9 . Diese etwas rüde, krypto-absolutistische Verfassungsinterpretation fand allgemeinen Widerspruch. Sogar die Tätigung von Ausgaben für die laufende Verwaltung während der Etatberatung — i n Preußen kam das Budgetgesetz nie rechtzeitig zustande — wurde schon vielfach als verfassungswidrig angesehen. Die Regierung erkannte 1860 selbst an, daß diese ihre Praxis nicht i m Einklang m i t den Bestimmungen der Verfassungsurkunde stünde 20 . Desungeachtet versucht Huber den Nachweis zu führen, daß die Kompetenz der Regierung zum budgetlosen Regiment, allerdings beschränkt auf „notwendige" Ausgaben, schon immer zum deutschen konstitutionellen Staatsrecht gehört habe 21 . Seiner Aufwertung der Lückentheorie durch Traditionsnachweis kann nicht beigetreten werden. Zwar ist es richtig, daß es schon i n der Verfassungsdiskussion i m Vormärz um die Frage ging, was rechtens sei, wenn die Ständeversammlungen ihre Zustimmung zum Budget bzw. zum steuerbewilligenden Finanzgesetz ganz oder zum Teil verweigerten. Und es wurde i n diesem Zusammenhang vielfach die Ansicht vertreten, daß die Stände verpflichtet seien, wenigstens die Mittel für notwendige Ausgaben zu bewilligen 2 2 . Diese Ansicht galt jedoch nicht unwidersprochen. Dagegen stand immerhin die Meinung vieler, selbst so gemäßigt liberaler Autoren wie Dahlmann, daß die Stände auf das Recht zur Budgetverweigerung als äußerstes M i t t e l nicht verzichten dürften. Und selbst dort, wo die Verpflichtung der Stände zur 18

Vgl. Zechlin (o. A n m . 1). Einzelheiten bei K . H. Friauf, Der Staatshaushaltsplan i m Spannungsfeld zwischen Parlament und Regierung, Bd. 1, Bad Homburg v. d. Höhe - B e r l i n Zürich 1968, S. 152 f. 20 Vgl. Friauf, a.a.O., S. 153. 21 Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 310, 334. 22 Vgl. i. e. dazu Friauf, a.a.O., S. 111 ff. u n d das 2. K a p i t e l meiner A n m . 2 zitierten Schrift. 10

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Bewilligung notwendiger Mittel anerkannt war, bedeutete dies nicht, daß man damit der Regierung ohne weiteres das Recht zum budgetlosen Regiment eingeräumt hätte. Vielmehr war damit die Frage aufgeworfen, wer überhaupt zwischen Notwendigkeit und Nicht-Notwendigkeit von Ausgaben zu entscheiden habe, und i n dieser Frage meldeten die Stände wiederum ein entschiedenes Mitspracherecht an. Eine Anerkennung der Lückentheorie als eines traditionellen Bestandteils des deutschen Staatsrechts läßt sich daraus nicht folgern. Auch von Regierungsseite ist sie i m Vormärz nicht vertreten worden. Zwar nahmen die Regierungen mehrfach die Gelegenheit wahr, über den Deutschen Bund die Ständeversammlungen zu verpflichten, Mittel zu bewilligen, damit die einzelstaatlichen Regierungen ihren Bundes- und Landespflichten nachkommen könnten, aber das Äußerste, wozu man sich zur Regulierung des Konfliktsfalles auf dem Höhepunkt der Reaktion, i n den Geheimen Beschlüssen von 1834, hat durchzuringen vermocht, war die Installierung eines Bundesschiedsgerichtes, also des genauen Gegenteils der Anerkennung eines einseitigen Konfliktsentscheidungsrechtes der Regierung. Hubers Berufung auf das Bundesrecht i n diesem Zusammenhang geht daher ebenfalls fehl 2 3 . Dementsprechend blieb das Rekurrieren auf die Lückentheorie i n Preußen tatsächlich eine „riskante" (nämlich weder durch ein allgemeines deutsches Staatsrecht noch durch eine staatsrechtliche Autorität gedeckte) Verfassungsauslegung, was Huber auch selbst zugibt 2 4 . Das Zögern der Regierung Hohenlohe, trotz diesbezüglicher Wünsche des Königs sich ihrer zu bedienen, w i r d so begreifbar. Das budgetlose Regiment galt nicht nur i n liberalen Kreisen, sondern auch i n diesem konservativen Ministerium als Verfassungsbruch — und wenigstens drei Minister waren i m September 1862 nicht bereit, dem König bei seinem „Sprung ins Dunkle" zu folgen 25 . c) Verständlich nach alledem, daß auch Bismarck sehr vorsichtig operierte. Seine Strategie bestand zunächst darin, die Ansicht der Opposition über die verfassungsmäßige Beilegung der Krise als einseitige und damit für die Regierung nicht verbindliche Verfassungsinterpretation zurückzuweisen 26 . Die Verfassung sei darauf angelegt, daß man sich zu einem 23

Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 310. Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 335. Noch Treitschke sprach i n seiner Abhandlung über ,das constitutionelle K ö n i g t h u m i n Deutschland' aus den Jahren 1869 - 71 von der „sophistischen D o k t r i n . . . der Verfassungslücke" (abgedruckt i n : ders., Historische u n d politische Aufsätze, 3. Band, 6. Aufl., Leipzig 1903, S. 453). 25 Vom „Sprung ins D u n k l e " sprach der damalige Außenminister Graf Bernstorf f ; vgl. K . Ringhof fer, I m K a m p f u m Preußens Ehre, B e r l i n 1906, S. 537. 26 Bismarcks Standpunkt ist i n seinen Reden vor dem Haus der Abgeordneten und dessen Budgetkommission am 30. 9., 7. 10., 13. 10. 1862 u n d 27. 1. 1863 dargelegt (Gesammelte Werke, 10. Band, 2. Aufl. 1928, S. 139 ff.). 24

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Kompromiß zusammenfinde. Komme ein solcher nicht zustande, sei „tabula rasa". Darüber, wie dann weiter zu verfahren sei, könne man verschiedene Ansichten haben. Verbindlich sei aber eine Interpretation nur, wenn sie von allen drei an der Gesetzgebung beteiligten Faktoren (Regierung, Herrenhaus, Haus der Abgeordneten) angenommen werde. Andererseits sei es i n einem Fall wie diesem notwendig zu handeln, da „das Staatsleben nicht stillzustehen vermag". Handeln aber werde der, der die Macht dazu i n den Händen hat. Bismarck folgerte demnach die Legitimation der Regierung zum Handeln aus ihrer Fähigkeit dazu. M i t Recht wies er dabei den Vorwurf zurück, daß nach seiner Ansicht „Macht vor Recht" gehe 27 ; denn für ihn handelte es sich nicht einfach, trotz gelegentlicher Verwendung martialischer Worte wie „ B l u t und Eisen", um die Ersetzung der Rechtsfrage durch einen simplen Machtspruch. Vielmehr hatte nach seinen Darlegungen derjenige, der i n der Lage war, vom Staat i m Konfliktsfall Unheil abzuwenden, auch die Pflicht, dies zu tun. Daraus leitete Bismarck eine „Ermächtigung" der Regierung zum vorübergehenden budgetlosen Regiment ab. Allerdings hatte er bei seiner Folgerung ausgesprochene Schwierigkeiten mit dem Nachweis, daß es der Regierung tatsächlich nur um Pflichterfüllung, nicht um eine verfassungswidrige Ausnutzung ihrer Machtstellung gehe. Er gab zu, daß die Krone auf diese Weise theoretisch zwar i n der Lage sei, wegen jeder unbedeutenden Meinungsverschiedenheit das Zustandekommen eines Budgets zu verhindern. Dies, so tröstete er die Abgeordneten, geschehe i n der Praxis aber nicht 2 8 . Bei Huber ist das Interesse unverkennbar, Bismarcks Darlegungen als eine A r t Notrechtstheorie i n die Nähe seiner eigenen Lösung der Konfliktsfrage zu rücken. Dieser Versuch ist jedoch überaus fragwürdig, da Bismarck sich nicht von einer juristischen Notrechtstheorie, sondern i n erster Linie von taktischen Motiven zum Zweck einer politischen Lösung des Konfliktes leiten ließ. I m Gegensatz zu Huber scheute er sich, mit einseitig festgelegten Begriffen von Souveränität und Notrecht, ja überhaupt mit einer strengen juristischen Begriffssystematik die Konfliktssituation zu traktieren 2 9 . Gerade dies unterschied i h n von seinen liberalen 27 Diesen V o r w u r f erhob der ehemalige Innenminister Graf Schwerin; vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 310. 28 Vgl. seine Rede vom 27.1.1863 (Huber, Dokumente, Bd. 2, S. 51). 29 So grundsätzlich auch G. Ritter, a.a.O., S. 203. Die von Bismarck überlieferten Stellungnahmen sind nicht ganz eindeutig, wie ζ. B. ein Vergleich der Reden v. 30. 9. 1862 u n d 27. 1. 1863 zeigt. Seine Ausführungen am 30. 9. sind i n mehreren Versionen festgehalten. Nach einer Version ist i n der Budgetkommission auch der Ausdruck „Nothrecht" gefallen. (Vgl. H. Kohl [Hrsg.]: Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart - B e r l i n 1903, S. 20 ff. und den 8. Band der Sten. Ber. über die Verhandlungen des preußischen Landtags — Haus der Abgeordneten — 1862, S. 1609.) Eine Bezugnahme auf eine Notrechtstheorie ist jedoch nicht ersichtlich. Die Ausführungen i m Text stützen sich auf die w o h l eindeutigste Stellungnahme am 27. 1. 1863 vor dem Haus der Abgeordneten. Vgl. dazu auch die Stellungnahme von v. Rönne, a.a.O., 1,1, S. 312 ff. (328).

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Gegnern, daß er die Befugnis der Regierung zum Handeln einfach aus der Notwendigkeit, etwas zu tun, folgerte und nicht aus dem Verfassungsrecht oder aus überpositiven Auslegungs- und Rechtsgrundsätzen. Während die Liberalen eine lückenausfüllende Interpretation der Verfassung anboten, beharrte Bismarck darauf, daß eine verbindliche Interpretation mangels Einigung nicht möglich sei. Er setzte nicht Auslegung gegen Auslegung, leitete die Rechtfertigung des Handelns nicht etwa aus dem Oktroicharakter der Verfassung oder aus der souveränen Stellung des Königs, aus vorkonstitutionellem Recht u. ä. m. her wie andere Vertreter der Lückentheorie 30 , sondern versuchte, eine Position jenseits davon zu gewinnen, die man am besten vielleicht so beschreiben kann: Obwohl eine Interpretation nicht gelingt, ist ein Handeln unabweislich. Dieses Handeln bewegt sich zwar nicht auf einem von der Verfassung vorgezeichneten oder i n sie hineinlesbaren Wege; die Verfassung steht aber auch nicht dagegen, gerade weil sie i n diesem Fall eine „Lücke" aufweist. Es ist also Raum gegeben für ein Verhalten, das nicht einfach als (verfassungs-)rechtmäßig, andererseits aber auch nicht als rechtswidrig, als Verfassungsbruch, angesehen werden kann. M i t dieser Argumentationsweise stand Bismarck doch wohl den späteren Stellungnahmen von rechtspositivistischer Seite zum Konflikt näher, als es Huber wahrhaben w i l l . Anschütz' Diktum: „Das Staatsrecht hört hier auf", erscheint auch von Bismarck her gesehen plausibel (wobei der Hinweis, daß es sich hier um keine Rechtsfrage mehr handele, natürlich ebensowenig wie Bismarcks Wendung, es handele sich hier um eine Machtfrage, meint, daß nunmehr anstelle des Verfassungsrechts überhaupt die W i l l k ü r reiner Machtausübung treten könne, wie Huber anscheinend dem großen Rechtsgelehrten Anschütz zu unterstellen geneigt ist) 31 . Den Sinn der Bismarckschen Ausführungen hat unter den Zeitgenossen m. Ε. Η . v. Sybel recht gut erfaßt, wenn er später konstatierte: „Uberblickt man diese Sätze u n d vergleicht sie m i t den betreffenden V o r schriften der Verfassung, so w i r d man nicht behaupten können, daß hier eine Umdeutung der Verfassung nach A r t des H e r r n von Westphalen unter Friedrich W i l h e l m IV. stattfinde. Es ist i m Gegenteil der positive Wortlaut des Gesetzes, welcher dem entgegengehalten wurde, was w i r A n d e r n damals den Geist des Gesetzes nannten 3 2 ."

Als Ergebnis der Erörterungen zu dieser Frage läßt sich demnach festhalten: Es gab keinen allgemein akzeptierten Konfliktslösungsmodus. Die herrschende Appellationstheorie war vom monarchischen Standpunkt her angreifbar, die Lückentheorie besaß keine traditionelle Basis, Bis30 Vgl. H. Kaminski, Verfassung u n d Verfassungskonflikt i n Preußen 1862 bis 1866, Königsberg 1937, S. 94. 31 Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 338 - 341. 32 Η . v. Sybel, Die Begründung des Deutschen Reichs durch W i l h e l m I., 2. Band, 3. Aufl., München - Leipzig 1890, S. 444.

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marcks Standpunkt läßt sich als ein Versuch verstehen, das budgetlose Regiment ohne Rekurs auf eine Interpretation der Verfassung zu rechtfertigen. 2. Hubers eigener Lösungsvorschlag ist ganz anderer Natur. M i t seinem Versuch, die Berechtigung des Vorgehens der Regierung Bismarck m i t Hilfe der Auslegung staatsrechtlicher Kategorien wie „Souveränität", „monarchisches Prinzip" und „überpositives Staatsnotrecht" nachzuweisen, begeht er den Fehler, den Bismarck gerade zu vermeiden trachtete. Er interpretiert die Verfassung und fällt damit auf die Position der Liberalen zurück. Wiederum w i r d Auslegung gegen Auslegung gestellt, ohne daß gesagt wird, wer über ihre Verbindlichkeit zu entscheiden hätte. Gehen w i r die Argumente Hubers einzeln durch: a) M i t dem Souveränitätsargument versucht Huber den Nachweis, daß das Vorgehen des Konfliktsministeriums Bismarck auch aus der preußischen Verfassung ableitbar gewesen sei. Er geht davon aus, daß ganz generell i m Konfliktsfall das Recht zur Entscheidung und zum Handeln beim Souverän liege. Souverän sei nach der preußischen Verfassung der Monarch gewesen, nicht etwa das Parlament. Und vom W i l l e n des Souveräns sei das Vorgehen der Regierung gedeckt worden. Huber folgert die souveräne Stellung des preußischen Königs aus den von i h m so benannten „existentiellen Vorbehalten", die der Krone auch nach der Verfassungsgebung geblieben waren, nämlich der Kommandogewalt, dem Recht zur Entscheidung über K r i e g und Frieden, dem Recht zur Verhängung des Belagerungszustandes, dem Notverordnungsrecht und dem Recht zur Auflösung des Parlamentes 33 . Nun soll nicht etwa i n Abrede gestellt werden, daß der preußische König auch nach der Verfassungsurkunde von 1850 „Souverän" i n seinem Staate gewesen ist. Die Verfassungsurkunde hatte dies zwar nicht ausdrücklich festgestellt. Aber trotz ihrer Ähnlichkeit m i t dem belgischen Vorbild w i r d man nicht anehmen können, daß sie ebenfalls dem Prinzip der Volkssouveränität huldigte 3 4 . Auch i n der zeitgenössischen Literatur ist die Souveränitätsstellung des preußischen Königs nicht bestritten worden 35 . Eine ganz andere Frage aber ist, was eigentlich für die damalige Zeit aus einem derartigen Anerkenntnis folgte. Der Begriff der Souveränität hat als historischer ja einen Wandel i n der Geschichte durchgemacht, war verschieden auslegbar und wurde zu verschiedenen Zeiten auch unterschiedlich ausgelegt 36 . Huber unterstellt jedoch ganz unbefangen 33

Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 341 f. Nachweis i. e. bei R. Smend, Die preußische Verfassungsurkunde i m Vergleich m i t der Belgischen, Göttingen 1904. 35 Vgl. ζ. Β. v. Rönne, a.a.O., 1,1 S. 116. 36 Dazu jetzt H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1970. 34

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einen bestimmten Begriff von Souveränität als gegeben, den er unter Berufung auf Carl Schmitts „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" und mit Hilfe einer logisch anfechtbaren Umwandlung dieses empirischen Satzes i n einen normativen, wie folgt, definiert: „ I m Konfliktsfall entscheidet das Staatsorgan, dem nach dem Gesamtzusammenhang des Verfassungsrechts die Souveränität zusteht 37 ." Eine solche Bestimmung von Souveränität mag ihre Stütze i n verschiedenen i m Laufe der Geschichte geäußerten Ansichten finden; die Nähe dieser Definition zu den Stellungnahmen von Bodin, Hobbes und Carl Schmitt ist unverkennbar. Worauf es aber hier ankommt, ist die Frage, wie man i m 19. Jahrhundert, zur Zeit des preußischen Verfassungskonfliktes, darüber gedacht hat. Und darauf gibt es nur eine Antwort: Unbeschadet ihrer Souveränitätsstellung waren die deutschen Fürsten nach A r t i k e l 57 der Wiener Schlußakte (WSA), entsprechenden Bestimmungen i n den einzelstaatlichen Verfassungen und der dem folgenden einhelligen Theorie in bestimmten Fällen i n nicht mehr einseitig aufkündbarer Weise an die M i t w i r k u n g von Ständeversammlungen oder Parlamenten gebunden. Souveränität besagte demnach zu jener Zeit nur noch „höchste" Gewalt, d. h. die anderen Gewalten legitimierende und grundsätzlich zuständige, aber nicht mehr i n jedem Fall zur Alleinentscheidung berechtigende Machtvollkommenheit. Diese Bindung des Souveräns an die Mitentscheidung anderer Faktoren (z. B. auch an die gegenzeichnenden Minister) läßt sich geradezu als das wesentliche Merkmal des Konstitutionalismus und der i n i h m herrschenden Souveränitätsvorstellung bezeichnen. Für einen absolutistischen Souveränitätsbegriff war hier nicht mehr der Platz. Es ist daher auch von den zeitgenössischen Autoren nicht die Ansicht vertreten worden, daß der Monarch sich i m Konfliktsfall, bei einem Dissens m i t den Ständen, kraft seiner Souveränität verfassungsmäßiger Bindungen entledigen könnte 3 8 . Selbst ein so konservativer Autor wie Stahl hat diese Veränderung des Souveränitätsbegriffs unter konstitutionellen Bedingungen gesehen und akzeptiert. Für ihn verbürgte die monarchische Souveränität nur noch eine formale Vorrangstellung, wie sie auch dem englischen König trotz Sieg des parlamentarischen Prinzips i n seinen Landen zukäme 39 . — Bei dieser Sachlage erscheint es gewagt, ein Konfliktsentscheidungsrecht des konstitutionellen Monarchen aus seiner Souveränität folgern zu wollen. 37

Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 341 f. Vgl. wiederum v. Rönne, a.a.O., I, 1 S. 119, oder Dahlmann, Die P o l i t i k auf den Grund u n d das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, 2. Aufl., Göttingen 1847, S. 81 f.; J. C. Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. 2, 4. Aufl., München 1868, S. 1 ff. u n d entsprechend auch die Ausführungen i n den repräsentativen Darstellungen des gemeinen deutschen Staatsrechts der Zeit durch H. Zöpfl u n d H. A. Zachariä. Grundsätzlich auch H. Quaritsch, a.a.O., S. 481 ff. m i t K r i t i k an Hubers Interpretation des A r t . 57 W S A S. 484 f. 39 s. seine Philosophie des Rechts, a.a.O., S. 383 (vgl. auch S. 241). 38

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b) Entsprechendes gilt für Hubers Deduktionen aus dem monarchischen Prinzip und dem Bundesrecht. Das monarchische Prinzip ist i m Grunde nichts anderes gewesen als ein konstitutionelles Synonym für Souveränität. Seine Wahrung war bundesrechtlich durch Art. 57 WSA garantiert, aber gerade hier unter grundsätzlicher Anerkennung des ständischen bzw. parlamentarischen Mitbestimmungsrechtes. Parlamentarische Mitbestimmung war danach prinzipiell möglich. Eine „Grenzlinie" für sie zu ziehen, blieb den einzelnen Verfassungen überlassen. Die Grenze konnte daher variieren. Auch i n der Literatur hat man sich auf eine genaue Festlegung nicht einigen können, sondern das Problem meist m i t allgemeinen, der Stellung des Monarchen eher abträglichen Formulierungen wie „Nichts ohne, nichts gegen den Monarchen" zu umgehen versucht 40 . Von diesem Standpunkt aus war Mitbestimmung prinzipiell nicht auf bestimmte Bereiche beschränkbar. Auf jeden Fall aber hatte sie, dem entsprachen alle deutschen konstitutionellen Verfassungen, bei der Steuererhebung zu erfolgen, wenn nicht gar den Volksvertretungen ein volles Budgetmitenscheidungsrecht eingeräumt war. Daß diese Einräumung das monarchische Prinzip empfindlich einschränkte, war bekannt. Es fehlte daher nicht an Versuchen, die Entscheidungsfreiheit der Volksvertretung auf diesem Gebiet einzugrenzen, indem man ζ. B. behauptete, daß die Abgeordneten zumindest die Mittel für notwendige Ausgaben der Regierung nicht verweigern dürften. Darauf ist weiter oben schon hingewiesen worden. Die Eingrenzung ging aber nie so weit, daß man aus dem monarchischen Prinzip oder aus Art. 57 WSA folgerte, daß der Monarch ein Konfliktsentscheidungsrecht oder das Recht, als „Notmaßnahme von hoher Hand" budgetlos zu regieren, besitze. Zwar ist Art. 57 WSA überwiegend dahingehend ausgelegt worden, daß bei der Frage nach dem Kompetenzträger eine Vermutung für den Monarchen spreche, soweit nicht ein parlamentarisches Mitbestimmungsrecht von den Verfassungen ausdrücklich eingeräumt worden sei. Damit war aber nicht gemeint, daß man die nun einmal eingeräumte Mitbestimmung i n Budgetfragen durch Konstatieren einer monarchischen Sonderkompetenz bei Nicht-Einigung umgehen könne 41 . Ein aus dem monarchischen Prinzip folgendes Recht 40 Nachweise dazu i m 1. K a p i t e l meiner Schrift über die ,Deutsche Staatslehre i m Vormärz' (o. Anm. 2). 41 Die Vermutungsregel richtete sich gegen die Ansicht, daß der Monarch auf die i h m i n der Verfassung eingeräumten Kompetenzen beschränkt sei bzw. die Stände ungeschriebene Zuständigkeiten besäßen. Vgl. J. L. Klub er, ö f f e n t liches Recht des Teutschen Bundes u n d der Bundesstaaten, 3. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1831, S. 411, H. A. Zachariä, Deutsches Staats- u n d Bundesrecht, 1. Band, 3. Aufl., Göttingen 1865, S. 83 u n d prägnant H. Zöpfl, a.a.O., S. 245. F ü r die preußische Verfassung s. A. Arndt, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, 7. Aufl., B e r l i n 1911, S. 34 f. m i t Hinweis auf die ältere herrschende (sie!) Lehrmeinung, nach der weder die Befugnisse der Krone noch die der Volksvertretung i n der preußischen Verfassung erschöpfend zusammengestellt worden seien.

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zum budgetlosen Regiment kannte das konstitutionelle Staatsrecht damals nicht. Nicht nur bei seinen liberalen Interpreten, auch bei Stahl w i r d man nichts dergleichen finden. Schon von daher ist verständlich, daß während des preußischen Verfassungskonfliktes, wie auch Huber feststellt, so gut wie nie m i t Bundesrecht operiert wurde. (Die Berufung auf Bundesrecht hätte außerdem allenfalls zur Intervention des Bundes wie i n Hessen führen können, was für Preußen kaum akpeztabel gewesen wäre.) 42 c) Um seine Ansicht zu stützen, entwickelt Huber i n seiner Verfassungsgeschichte noch einen dritten, auf das Staatsnotrecht bezogenen Ansatz. Ausgangspunkt seiner Deduktion ist dabei die Überlegung, daß es ein Recht und eine Pflicht des „Staats zur Selbsterhaltung" gebe. „Deshalb" sei „ i n der preußischen Konfliktszeit das Recht des Königs zum budgetlosen Regiment ein Teil des überpositiven Staatsnotrechts" gewesen 43 . Die Verbindung beider Sätze durch ein „deshalb" ist nur scheinbar selbstverständlich, tatsächlich aber überaus problematisch. Selbst wenn man Hubers kurz davor geäußerte Meinung nicht teilt, daß es anstelle des Budgetnotrechts des Königs auch eines des Parlaments hätte geben können (in welcher Form bleibt dunkel), bleibt doch für den Rechtshistoriker die Frage „weshalb", aus welchem Rechtsgrunde gerade ein Recht des Königs? Wenn man nicht, was ja Huber eben nicht tut, das Vorgehen der Regierung lediglich mit der Tatsache der Notwendigkeit zu handeln und dem Faktum des Handeln-Könnens auf Regierungsseite legitimiert, bleibt wohl nichts anderes übrig, als auf einen bestimmten Rechtstitel für den Monarchen und das heißt wiederum auf die Souveränität oder das monarchische Prinzip zurückzugreifen — m i t all den geschilderten Schwierigkeiten, die sich für eine solche Begründung i m konstitutionellen System ergaben. (Abgesehen davon, daß es dann nicht einsichtig ist, warum ein Vorgehen des Königs aus der Fülle seiner Souveränität heraus einer nachträglichen Indemnitätserklärung durch das Parlament bedurft haben sollte. Das läßt sich ja kaum mit Hubers Souveränitätsargument i n Einklang bringen.) Huber versucht diesem möglichen Einwand i n einem zweiten Anlauf in seinem späteren Vortrag aus dem Jahre 1964 zu begegnen, i n dem er, wie vorher schon die monarchische Souveränität, so jetzt das überpositive Notrecht des Königs per Analogieschluß aus den positiven Notstandskompetenzen der preußischen Verfassungsurkunde, den sogenannten „existentiellen Vorbehalten", ableitet 4 4 . Diese Analogie ist jedoch, wie 42 Vgl. A r t . 58 u n d 25 f. WSA. Die Bundesgesetze von 1832 u n d 1834 waren i m übrigen, soweit sie überhaupt Geltung erlangt hatten, schon 1848 aufgehoben worden. 43 Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 345. 44 a.a.O., S. 200.

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schon Rainer Wahl gezeigt hat 4 5 , nicht plausibel; denn bei der Entscheidung über Krieg und Frieden sowie beim Belagerungszustand handelte es sich um Notsituationen, die von außen an das Verfassungssystem herangetragen wurden. Nur beim Notverordnungsrecht des Art. 63 der Verfassungsurkunde lag ein systeminterner Notstand vor. Und gerade hier versagt die Analogie, weil das Notverordnungsrecht ausdrücklich nur für den Fall des Nichtversammeltseins der Kammern, wenn die öffentliche Sicherheit ein schnelles Eingreifen verlangt, vorgesehen war. Es handelte sich hier um den traditionellen Fall von „pericula i n mora", nicht um ein gegen die Kammern gerichtetes Konfliktsrecht. Dementsprechend waren die Notverordnungen wieder aufzuheben, wenn eine der Kammern später die Genehmigung versagte. Verfassungssystematisch scheint hier das argumentum e contrario mindestens ebenso vertretbar zu sein wie die Analogie: Es sollte dem Verfassungsdualismus entsprechend gerade nicht der Konfliktsfall ein einseitiges Entscheidungsrecht provozieren. Infolgedessen wurde auf diese Analogie seinerzeit auch nicht zurückgegriffen. Ja, als liberaler Parteigänger konnte man, wie Eduard Lasker, auch noch ganz anders argumentieren 46 : Wie der König als Herr der bewaffneten Macht ein „existentielles Vorbehaltsrecht" immer dann besaß, wenn es sich um ihren Einsatz handelte, so hatten die Bürger ein existentielles Vorbehaltsrecht i n allen Geldfragen, vertreten durch ihr Parlament. Nach konstitutioneller Logik sollte der qua Steuererhebung vom Gelde seiner Untertanen abhängige Staat ihnen nicht einfach Lasten nach Gutdünken, noch kostspielige Wohltaten aufdrängen können, sondern die Bewilligenden sollten selbst das letzte Wort haben; denn: „ I n Gelddingen hört die Gemütlichkeit auf", wie schon der spätere Minister Hansemann auf dem Vereinigten Landtag i n Berlin 1847 feststellte — daher das Steuerbewilligungsrecht und daher das Budgetmitentscheidungsrecht i n den Verfassungen. Man mag das für eine unverbindliche liberale Parteimeinung halten, und es kann hier auf sich beruhen. Aber auch sonst ist die Ansicht von einem überpositiven Budgetnotrecht des Monarchen i n jener Zeit nicht vertreten worden. Als Fall des überpositiven Staatsnotrechts galt der i n der reichsrechtlichen Tradition stehenden Staatslehre des Vormärz lediglich der Noteingriff der Regierung i n die wohlerworbenen Rechte der Untertanen, d. h. die Enteignung unter dem Rechtstitel eines monarchischen „ius" oder „dominium eminens" gegen volle Entschädigung, daneben allenfalls der schon erwähnte Fall der pericula i n mora. Beides ist i n konstitutioneller Zeit auch gesetzlich geregelt worden, durch Ent45 R. Wahl, Der preußische Verfassungskonflikt u n d das konstitutionelle System des Kaiserreichs, i n : Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1914), S. 171 - 194 (176). 46 a.a.O., S. 313,317.

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eignungsgesetze und durch das Notverordnungsrecht, so daß später sogar die Ansicht aufkommen konnte, ein überpositives Staatsnotrecht sei dem konstitutionellen Staat überhaupt wesensfremd 47 . Eine Budgetnotrechtstheorie w i r d man jedenfalls i n der Staatsrechtsliteratur des Vormärz nicht finden. Ansätze dazu entwickelte, soweit ich sehe, erst der hessische Staatsrechtslehrer Hermann Bischof i n seiner 1860 erschienenen Untersuchung über das „Nothrecht der Staatsgewalt i n Gesetzgebung und Regierung". Er versuchte dort, ein provisorisches Gesetzgebungsrecht der Regierung auch für den Fall einer Nichtbewilligung geforderter Steuern, verbunden mit einer Auflösung der 2. Kammer, zur Wahrung des monarchischen Prinzips zu begründen. Dabei handelte es sich um die Ansicht eines ausgesprochenen Außenseiters, u m eine Kampfschrift i m Hessischen Budgetkonflikt, m i t zum Teil absonderlichen Folgerungen wie der, daß die Regierung auch einseitig neue Steuern auferlegen könne 4 8 . Die herrschende Meinung der Zeit gab dagegen Carl Viktor Fricker wieder, wenn er am Ende seiner Analyse der „Natur der Steuerverwilligung und des Finanzgesetzes" i m Jahre 1861 konstatierte, daß eine „Einrichtung", die den Fall eines budgetären Dissenses rechtlich löse, zwar notwendig, aber leider noch nicht gefunden sei 49 . Es bestand ja gerade die Eigenart der Position Wilhelms I. und Bismarcks darin, daß sie sich auf ein „anerkanntes" Staatsnotrecht nicht berufen konnten. Hätte es dies gegeben, so wäre schon die voraufgegangene Regierung Hohenlohe kaum genötigt gewesen, das budgetlose Regiment als Verfassungsbruch zu deklarieren. Eben weil aber die Staatsrechtslehre i n jener Zeit ein solches Recht nicht kannte, sondern andere Mittel, wie etwa die Appellation an das Volk, als konstitutionell korrekte Lösung eines Konfliktes empfahl, sah sich Bismarck gezwungen, wider sie zu Felde zu ziehen, ihre Verbindlichkeit für die preußische Verfassung zu bestreiten und ad hoc eine Begründung für sein Vorgehen zu formulieren. Huber selbst erhebt an dieser Stelle gegen sich den Einwand, ob seine Deduktionen nicht „rechtswissenschaftliche Begriffsoperationen" zur nachträglichen Legalisierung einer Machtfrage seien. Man w i r d ihm hierin beipflichten müssen. Er selbst glaubt allerdings, seinen Einwand rasch entkräften zu können, indem er darauf hinweist, daß das Notrecht 47 So z. B. M. Layer, Principien des Enteignungsrechtes, Leipzig 1902, S. 36 ff. (39). Zur klassischen konstitutionellen Theorie vgl. H. A. Zachariä, a.a.O., Bd. 2, S. 121 f., H. Zöpfl, a.a.O., Bd. 2, S. 697 u n d allgemein meinen A r t i k e l Ausnahmezustand/Staatsnotstand i n : L e x i k o n politisch-sozialer Begriffe, hrsg. v. O. Brunner, W. Conze u. R. Koselleck, 1. Band, Stuttgart 1973, S. 182 - 210. 48 H. Bischof, Das Nothrecht der Staatsgewalt i n Gesetzgebung u n d Regierung, Gießen 1860, S. 139 ff. (152). C. v. Kaltenborn hat dann i n seiner »Einleitung i n das constitutionelle Verfassungsrecht', Königsberg 1863, S. 91 ff. die Möglichkeit der Regierung bejaht, aufgrund bestehender Steuergesetze auch i m Dissensfall weiter zu regieren. 49 C. V. Fricker, Die N a t u r der Steuerverwilligung u n d des Finanzgesetzes, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, X V I I , 1861, S. 639 - 702 (702).

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ja nicht nur einfach ein Handeln legitimiere, sondern es zugleich auch begrenze, weil es voraussetze, daß der es Ausübende die Notsituation nicht selbst provoziert habe, daß es restringiert durchgeführt werde (d. h. i m vorliegenden Fall nur die notwendigen Staatsausgaben getätigt würden) und daß der verfassungsmäßige Zustand so bald wie möglich — m i t Hilfe einer Indemnitätserklärung — wiederhergestellt werde 5 0 . Nun läßt sich aber zeigen, daß die Anwendung dieser Argumente auf den vorliegenden Fall eher zu weiteren Komplikationen als zur Klärung führt, was die Fragwürdigkeit einer solchen Begriffsoperation i m konstitutionellen System einmal mehr unterstreicht. Auch darauf hat Rainer Wahl schon hingewiesen 51 . Denn nimmt man einmal an, der König habe tatsächlich eine solche Notrechtskompetenz besessen, dann entschied er auch über das Vorliegen ihrer Voraussetzungen selbst, d. h. er bestimmte, ob ein Notstand von ihm bzw. seiner Regierung provoziert worden war oder nicht. M i t anderen Worten: Eine Partei i n diesem Konflikt konnte i n eigener Sache befinden und damit den Notstandsfall jederzeit herbeiführen. Eine Uberprüfung der Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens durch ein Gericht per Ministeranklage fand i n Preußen ja nicht statt. Die i n der Verfassung vorgesehene Einrichtung einer solchen Möglichkeit hat die Regierung Bismarck verständlicherweise abgelehnt. Genau das aber, die generelle Unbegrenztheit der Möglichkeit der Regierung, aufgrund der Lückentheorie zum budgetlosen Regiment überzugehen, hat der Abgeordnete von Unruh ihr schon i n der Konfliktszeit entgegengehalten 52 . I n der Tat lag hier der schwache Punkt der Bismarckschen Deduktion, über den er sich, wie w i r sahen, hinweglavierte, indem er zugab, daß dieser Einwand zwar theoretisch zutreffe, daß aber i n der Praxis so etwas noch nicht vorgekommen sei. Gerade dies aber muß te i m vorliegenden Fall zweifelhaft erscheinen; denn das Scheitern des Haushaltsgesetzes 1862 lag ja nur formal i n einer Nicht-Einigung zwischen Herrenhaus und Haus der Abgeordneten begründet (worauf die Regierung und der Monarch allerdings zur Salvierung ihres Vorgehens gern abhoben). Tatsächlich stand dahinter ein Dissens zwischen König und zweiter Kammer i n der Frage der Heeresform. Neuere Forschungen haben nun aber gerade die Kompromißbereitschaft des Abgeordnetenhauses i n dieser Frage deutlich gemacht 53 . Wenn es trotzdem zu keiner Einigung kam, lag dies letztlich an der unnachgiebigen Haltung des Königs i n der Dienstzeitfrage. Auch Bismarck war dies bewußt. Seine Einlassung vor den Abgeordneten, daß nach Ansicht der Regierung nunmehr die Reihe an ihnen sei, Konzessionen zu machen, 50 51 52 53

Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 345 f. a.a.O., S. 175. s. Sten. Ber. d. preuß. Landtags — Haus d. Abg. —1863, S. 65 f. Vgl. G. Ritter, a.a.O., S. 170.

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kann angesichts dessen kaum anders als eine Schutzbehauptung zur Hechtfertigung eines i h m selbst aufgedrungenen Vorgehens bewertet werden. Auch aus Hubers Darstellung des Verfassungskonfliktes geht klar hervor, daß der von der Verfassung vorausgesetzte Kompromiß nicht etwa an einem Dissens zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus, sondern am Beharren des Königs i n der Dienstzeitfrage selbst gegenüber seinem eigenen Ministerium scheiterte. Eigenartigerweise kommt Huber jedoch bei der Erörterung des Provokationsargumentes darauf nicht zurück, obwohl dies für die Beurteilung der Rechtsfrage wichtig ist; denn auch nach Ansicht der liberalen Opposition besaßen die Kammern nicht das Recht, den König durch ein Mauern bei der Budgetbewilligung zu erpressen. Für diesen Fall erkannte auch Lasker z. B. ein Notwehrrecht der Regierung an 5 4 . Der König sollte nicht etwa durch Verweigerung des Budgets zur Aufgabe verfassungsmäßiger Rechte gezwungen werden dürfen. Nach allgemeiner Auf fassung lag eine solche Situation i m Herbst 1862 aber auch nicht vor. Die Verweigerung der Mehrausgaben für die Heeresreform setzte das Abgeordnetenhaus zwar i n ein schiefes Licht, da es ihnen vorher schon zweimal, wenn auch von der Regierung düpiert, „provisorisch" zugestimmt hatte. Ein verfassungswidriger Eingriff i n die Sphäre der monarchischen Kommandogewalt war damit — auch nach Ansicht Hubers — jedoch nicht gegeben. Auch die Gegenforderung, die Dienstzeit auf zwei Jahre zu verringern, u m die Mehrausgaben der Reform zu vermindern, stellte einen solchen Eingriff angesichts der Rechtslage, des Wehrgesetzes von 1814 und der einschlägigen Bestimmungen der preußischen Verfassungsurkunde, nicht dar. Hier bestand vielmehr ein Verhandlungsspielraum, den auch die Regierung dadurch anerkannte, daß sie mehrmals einen Dienstpflichtgesetzentwurf i m Abgeordnetenhaus einbrachte, freilich ohne dabei von der dreijährigen Dienstzeit abzugehen. Formal juristisch war sie zu einer derartigen Konzession auch nicht verpflichtet. Es hätte aber dem Sinn der Kompromisse heischenden Verfassung entsprochen, durch ein Einlenken hier eine Einigung i n der gesamten Heeresreformfrage zu erzielen, zumal sich alle Sachverständigen darüber i m klaren waren, daß eine Reduzierung der Dienstzeit m i l i tärisch eher Vorteile gebracht hätte. Auch Bismarck lag nichts ferner, als einen Kompromiß an der Dienstzeitfrage scheitern zu lassen. I h m waren allerdings die Hände durch den König gebunden, der an der dreijährigen Dienstzeit nicht aus militärtechnischen, sondern aus politischen Gründen, um eine auch i m Bürgerkrieg einsatzfähige Truppe zur Verfügung zu haben, festhielt. Offensichtlich stand er dabei unter dem Druck der Ultras am Hofe und i m Heer, die sich gegen ein Nachgeben des Königs sträubten und einen dadurch enstehenden Konflikt zum Staatsstreich 54

a.a.O., S. 313, 362.

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auszunützen hofften 5 5 . Das weist auf den tieferen Hintergrund der Verfassungskrise: Nicht einfach Herrenhaus gegen Abgeordnetenhaus, auch nicht König und Regierung gegen liberale Opposition standen hier, sondern adlig-militärische Reaktion gegen Bürgertum 5 6 , eine Reaktion, die sich nicht nur gegen ein Entgegenkommen auf militärischem Gebiet, sondern auch gegen Reformen sonstiger A r t stemmte, welche dem Bürgertum zur Erfüllung des Geistes der Verfassung als unabdingbar galten — eine Reaktion, der schon jeder Kompromiß i m Geiste der Verfassung als Niederlage des monarchischen Prinzips erschien und die zur Rechtfertigung ihrer eigenen Staatsstreichintentionen die Provokation des bürgerlichen Gegners zu verfassungswidrigem Handeln benötigte. Man muß diesen Hintergrund miteinbeziehen, wenn man die tatsächliche Notstandslage der Regierung Bismarck verstehen w i l l . Eingezwängt zwischen König und Abgeordnetenhaus, unter der Staatsstreichdrohung der Ultras, handelte sie tatsächlich i n einem Notstand, nur daß ein solches Handeln einer Regierung, die Monarch und Parlament nicht mehr zu dem i m System vorausgesetzten Kompromiß zusammenbringen konnte, verfassungsrechtlich nicht vorgesehen war, sondern lediglich — ihre Demission. Die Dimension des Notstands, auf die hier aufmerksam gemacht wird, ist eine politische gewesen. I n die Sprache des Rechts ließ sich das nur dadurch übersetzen, daß man dem — wie Bismarck — einen negativen Ausdruck gab und eine „Lücke" i m Recht konstatierte, um sich Spielraum für ein politisches Handeln zu verschaffen. Alle rechtlichen Lösungsansätze mußten demgegenüber zu kurz greifen; denn sie warfen sofort die Fragen nach der Ableitbarkeit der Notstandskompetenz aus der Verfassung, der mißbräuchlichen Herbeiführung der Notstandslage sowie ihrer verfassungsmäßigen Durchführung und Beendigung auf. Wer hatte schuld? Fielen bei einer auf „notwendige" Ausgaben beschränkten Durchführung auch die verweigerten Ausgaben aus dem Extraordinarium darunter, u m die es ja gerade ging? Wie ließ sich eine verfassungsmäßige Beendigung des Notstands denken? Auch die Beantwortung der letzten Frage führte auf dieselben Schwierigkeiten für eine juristische Deduktion wie die der Notstandsbegründung. Gewiß kann man, wie Huber, sagen, daß ein Notstandshandeln verlangt, daß der Handelnde so schnell wie möglich wieder normale Verhältnisse einkehren läßt. Fragt man aber weiter, wie dies unter gegebenen Umständen zu bewerkstelligen war, w i r d man wieder auf das geführt, was die Verfassung unnachgiebig forderte, die Verständigung, den Kompromiß. Den aber hätte man auf schnellste Weise durch ein Einlenken der Regierung und des Monarchen haben können; und das war offen55

Dazu G. Ritter, a.a.O., bes. S. 180. Ähnlich — i m Ansatz — C. Schmitt, Staatsgefüge u n d Zusammenbruch des Zweiten Reichs. Der Sieg des Bürgertums über den Soldaten, H a m b u r g 1934. 56

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bar auch zumutbar. Rücksichten auf Empfindlichkeiten des Militärs oder des Monarchen, wie sie die Regierung Bismarck nehmen mußte, waren kein juristisches Argument; sie machten ihre Handlungsweise nur verständlich. Jedes Nicht-Einlenken der Regierung mußte aber die Notstandssituation verlängern — bei Ungewißheit ihres Ausganges. Mehr noch, es drohte den Notstand durch Verhärtung der Fronten tatsächlich zur Verfassungskrise zu eskalieren, aus der ein Ausweg sich dann nur noch durch eine Verfassungsverletzung mittels Wahlrechtsoktroi und Staatsstreich ergab, worauf die Ultras denn auch spekulierten. Ein solches Vorgehen wäre aber, obwohl dann „notwendig", auch nach Hubers A n sicht nicht mehr durch ein überpositives Staatsnotrecht gedeckt gewesen. Bismarcks politische Handlungsrechtfertigung war hingegen auch i n dieser Richtung offen. Es ergibt sich also als Resultat, daß eine Notsituation bestand. Nach liberaler Ansicht berechtigte sie den König jedoch nicht zum Eingreifen, da er sich nicht i n Notwehr befand. Ein darüber hinausgehendes generelles Budgetnotrecht der Krone war nicht anerkannt — aus gutem Grunde; denn die Gewähr der Verfassung war nur bei allseitiger Kompromiß Willigkeit gegeben, nicht jedoch mehr, wenn erst einmal der Konfliktskurs eingeschlagen war. d) Huber selbst scheint sich bei seinen Deduktionen unsicher gefühlt zu haben. So erklärt sich nicht nur, daß er i n seiner Verfassungsgeschichte dreimal ansetzt, um das budgetlose Regiment zu rechtfertigen, und daß seine Darlegungen über dessen Dauer i m Verhältnis zur sonstigen Präzision seiner Aussagen eigentümlich vage bleiben (Rückkehr zum verfassungsmäßigen Zustand „so bald wie möglich", „so bald es anging" [?], „zu irgendeinem Zeitpunkt" [!]) 57 , sondern auch, daß er kurze Zeit später einen erneuten Ansatz zur Klärung der Frage unternimmt. I n seinem Vortrag über „Bismarck und der Verfassungsstaat" 1964 geht es ihm nicht mehr u m eine sachhaltige Interpretation dessen, was i m Konfliktsfall rechtens war, wer handeln durfte und wie, sondern um die Frage, wer all das verbindlich festzulegen befugt war. Nach seiner Ansicht hat das Recht zur vorrangigen Verfassungsinterpretation der Exekutive zugestanden. Er folgert das aus A r t . 57 WSA, aus dem monarchischen Prinzip 5 8 . Aber auch das ist unzutreffend. Es herrschte vielmehr i n der konstitutionellen Theorie jener Zeit ganz allgemein die zum Teil sogar ausdrücklich i n einzelnen Verfassungen fixierte Ansicht, daß die authentische Auslegung von Gesetzen nur durch alle gesetzgebenden Faktoren zusammen stattfinden könne. Wie das Recht zur einseitigen Verfassungsänderung war dem deutschen konstitutionellen Monarchen 57 58

Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 347 f. a.a.O., S. 196.

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auch das Recht zur einseitigen Verfassungsinterpretation genommen 59 . Nur Stahl hat sich bei der Abfassung seiner Abhandlung über „Das monarchische Prinzip" 1845 i n verfassungspolitischer (!) Absicht angesichts der zu erwartenden Verfassungsgebung i n Preußen dahingehend geäußert, daß dem Monarchen ein Interpretationsrecht bei Streitigkeiten über die Anwendung der Verfassung zur Abgrenzung seiner Befugnisse gegenüber den ständischen Mitbestimmungsrechten vorbehalten bleiben müsse. Charakteristischerweise fehlt diese Passage i n den späteren Ausgaben der „Philosophie des Rechts", i n die er seine Abhandlung aufgenommen hat. Sie war angesichts der inzwischen erfolgten und Stahls Vorsichtsmaßnahme nicht Rechnung tragenden preußischen Verfassungsgebung gegenstandslos geworden 60 . Selbst Bismarck hat, wie w i r sahen und anders als Huber i n seinem Vortrag den Eindruck erweckt, beim Ausbruch des Verfassungskonfliktes die Interpretationskompetenz aller mitgesetzgebenden Faktoren anerkannt. Die Pointe seiner Ausführungen bestand ja darin, das Mißlingen einer Einigung über die Interpretation des Konfliktfalles unter den Kompetenzträgern deutlich zu machen und daraus nicht etwa ein übergeordnetes Interpretationsrecht der Regierung, sondern ihre Handlungsbefugnis aufgrund der Unabweislichkeit des Erfordernisses zum Handeln zu folgern. Man kann dies natürlich auch eine — versteckte — Interpretation der Verfassung unter Umgehung der Zustimmung der anderen Interpretationsberechtigten nennen. Darauf beruhte der Vorwurf Gneists, daß Bismarcks Regierung ein „Interpretationsregime" darstelle 61 . Bismarcks Argumentation lief jedenfalls darauf hinaus, die Interpretationszuständigkeitsfrage auszuschließen; denn aus dem Staatsrecht der Zeit hätte sich ein monarchischer Interpretationsvorbehalt nicht deduzieren lassen. e) Fassen w i r zusammen: Der Versuch, den preußischen Verfassungskonflikt „rechtlich" zu lösen, muß scheitern. Das Vorgehen von Konfliktsregierung und Monarch läßt sich nicht direkt aus der Verfassung rechtfertigen, weil die Verfassung dazu schweigt. Es läßt sich aber auch nicht aus der monarchischen Souveränität legitimieren, weil diese damals als eine i n Mitbestimmungsfragen gebundene Gewalt angesehen wurde. Aus demselben Grunde läßt es sich auch nicht aus dem monarchischen Prinzip 59 So ausdrücklich schon J. Chr. v. Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, Bd. 1, A l t e n b u r g 1824, S. 252. Für Preußen s. v. Rönne, a.a.O., I, 1 S. 80 f., 154; vgl. auch S. Jordan, Lehrbuch des allgemeinen u n d deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Kassel 1831, S. 97 f. Hinweise auf die Verfassungslage der Zeit bei H. A. Zachariä, a.a.O., Bd. 2, S. 158 f. Grundsätzlich ebenso, aber m i t charakteristischer Abweichung für den Dissensfall erst 1863 Kaltenborn, a.a.O., S. 350 f. 60 Vgl. ,Das monarchische Prinzip', S. 30 f. m i t der ,Philosophie des Rechts', a.a.O., S. 413 Anm. 61 Sten. Ber. d. preuß. Landtags — Haus d. Abg. — 1. Bd., 1866, S. 155; vgl. Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 355.

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rechtfertigen. Die Zuständigkeitsvermutung für den Monarchen reichte nicht aus, eine monarchische Sonderkompetenz an die Stelle der parlamentarischen Mitentscheidung bei Dissens i n Mitbestimmungsfragen zu setzen. Ebensowenig gab es einen monarchischen Interpretationsvorbehalt i m deutschen konstitutionellen Staatsrecht. Schließlich existierte auch kein „anerkanntes" überpositives Staatsnotrecht für den Fall des Verfassungskonfliktes. Wenn Huber dergleichen dennoch behauptet, so gelingt ihm der Nachweis dessen nur dadurch, daß er mit einem anderen Verständnis der genannten staatsrechtlichen Kategorien operiert, als es das zeitgenössische war. Zwar ist es für einen Verfassungshistoriker wie für den Historiker überhaupt legitim, zur Geschichte, auch zu historischen Rechtsfragen, beurteilend Stellung zu nehmen. Daher soll Huber nicht etwa vorgeworfen werden, daß er den preußischen Verfassungskonflikt mit seinen Rechtsansichten konfrontiert hat. Es kann aber nicht mehr als ein methodisch zulässiges Verfahren gelten, unter Anwendung eines zeitfremden Begriffsverständnisses den Eindruck zu erwecken, es werde damit die Rechtsfrage des Verfassungskonfliktes auch i n einer für die damalige Zeit verbindlichen Weise gelöst. Ein solches Vorgehen ist anachronistisch. Außerdem ist Huber eine erhebliche Verzeichnung der zeitgenössischen Streitpositionen vorzuwerfen.

II. Es wäre falsch, Hubers Stellungnahme zum preußischen Verfassungskonflikt einfach als das Vorgehen eines verspäteten monarchistischen Parteigängers oder unhistorisch argumentierenden Juristen verstehen zu wollen. Sie muß vielmehr aus der Entwicklung der deutschen Staatsrechtstheorie und Verfassungsgeschichtsschreibung nach dem Verfassungskonflikt und bedingt durch dessen Ausgang begriffen werden. Das läßt sich auf folgende Weise kurz umreißen: 1. I m Vormärz war die konstitutionelle Monarchie durchaus noch ein offenes System. Zwar galt der Fürst auch weiterhin als Souverän und Schwerpunkt des Staates (auch die Staatssouveränitätslehre, die i h n als „Träger der Staatsgewalt" betrachtete, sah das grundsätzlich nicht anders), aber das Ausmaß der mitvorausgesetzten ständischen Mitbestimmung blieb unbestimmt. Es ist auch durch A r t . 57 WSA nicht fixiert worden. Die staatsrechtliche Literatur bemühte sich ohne Erfolg, eine „Grenzlinie" für die ständische Mitbestimmungssphäre zu ziehen. Z u einer einhelligen Auffassung kam es nicht. So wichtige Fragen wie die Extension des monarchischen Vorbehaltsbereichs, die Regelung von Streitfragen über die Abgrenzung monarchischer Vorbehalts- und parlamentarischer Mitbestimmungssphäre und der Entscheidung i n Konfliktssituationen blieben unentschieden. Sie wurden auch i n den einzelstaatlichen Ver-

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fassungen nur zum Teil gelöst und waren dort durch Verfassungsänderung jederzeit neu fixierbar. Und u m eine Verbesserung ihrer Verfassungspositionen, um einen „wahren" Konstitutionalismus, ging es der liberalen Opposition damals. So blieb das System i n dauernder Bewegung. Kein Wunder, daß sich mit der Zeit die Stimmen mehrten, die die konstitutionelle Monarchie nur für eine Übergangserscheinung hielten. Der politische Kompromiß, auf dem sie beruhte, war gerade an den entscheidenden Stellen brüchig. 2. Nach dem preußischen Verfassungskonflikt verfestigte sich jedoch die Theorie. Es wurde nun deutlich zwischen konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie unterschieden. Ansätze dazu hatte schon die konservative Wendung, die Autoren wie Friedrich Bülau und Friedrich Julius Stahl der Theorie von einem spezifischen deutschen Konstitutionalismus i n den vierziger Jahren gaben, gebracht 62 . Aber noch die verfassungspolitischen Ratschläge eines so bedeutenden Experten wie Robert von Mohl basierten um die Jahrhundertmitte auf dem Gedanken einer Uberbrückung der Gegensätze von monarchischem und repräsentativ-parlamentarischem Prinzip 6 3 . Das änderte sich erst i n der folgenden Zeit. Nunmehr wurden echt dualistische Vermittlungsversuche zwischen monarchischem und parlamentarischem Prinzip schon begrifflich ausgeschlossen. Bei Max von Seydel gipfelte die Entwicklung schließlich darin, daß konstitutionelle und parlamentarische Monarchie nicht nur als unterschiedliche Regierungsformen, sondern sogar als verschiedene Staatsformen angesehen wurden 6 4 . Die parlamentarische Monarchie erschien nun als „eigentlich" eine Republik. Auch die Sphäre der monarchischen Gewalthabe wurde jetzt schärfer umrissen. Indem Laband den monarchischen Gesetzesbefehl zum eigentlichen Gesetzgebungsakt erhob, entrückte er das K r i t e r i u m der Legislation aus der Mitentscheidungssphäre und beendete er den fatalen vormärzlichen Sprachgebrauch vom bloßen „Vetorecht" des Fürsten, der nahelegte, das Zentrum der Gesetzgebung i n der Volksvertretung zu sehen 65 . Seit Gerber wurde die Vermutungsregel dahingehend verschärft, 62

Vgl. F. Bülau, Der constitutionelle Staat i n England, Frankreich und Teutschland, i n : Neue Jahrbücher der Geschichte u n d Politik, 1. Band, Leipzig 1843, S. 1 - 45. Z u Stahl s. o. A n m . 8. 63 R. v. Mohl, Uber die verschiedenen Auffassungen des repräsentativen Systems i n England, Frankreich u n d Deutschland, i n : Tübinger Zeitschrift für die gesammte Staatswissenschaft, 3. Band 1846, S. 451 - 495, u n d ders., Das Repräsentativsystem, seine Mängel u n d Heilmittel, 1852 (wieder abgedruckt i n : Staatsrecht, Völkerrecht u n d Politik, Tübingen 1860, S. 366 - 458). 64 Μ . v. Seydel, Constitutionelle u n d parlamentarische Regierung, 1887, w i e der abgedruckt i n : ders., Staatsrechtliche u n d politische Abhandlungen, Freiburg - Leipzig 1893, S. 121 - 142. 65 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 5. Aufl., T ü b i n gen 1911, S. 6 f f . 7

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daß nach ihr nicht nur i n den Verfassungen nicht aufgeführte Kompetenzen dem Monarchen zuzusprechen waren, sondern daß sie auch bei Fragen der Abgrenzung zwischen monarchischem Vorbehalts- und parlamentarischem Mitbestimmungsbereich zu gelten habe 66 . Jetzt gelang i n Preußen-Deutschland auch endgültig die Eximierung der monarchischen Kommandogewalt. Vor allem aber fand das budgetlose Regiment Parteigänger in der Theorie. Während liberale Autoren wie Georg Jellinek und Gerhard Anschütz sich hier noch zurückhielten und die Frage als rechtlich nicht mehr entscheidbar beurteilten, dabei aber doch eine Verpflichtung der Regierung zum Handeln anerkannten, deduzierte Laband aus der „Natur" des Budgets als eines „Verwaltungsaktes" ein verfassungsmäßiges Recht der Regierung auf ein Vorgehen ohne Etatgesetz 67 . Damit entfiel auf der anderen Seite das Recht zur Budgetverweigerung durch das Parlament — Palladium der liberalen Theorie des Frühkonstitutionalismus von Rotteck bis Dahlmann. Ebenso verfiel die Appellationstheorie, die noch über die Jahrhundertmitte hinaus auch von ihren Gegnern als das Auskunftsmittel des konstitutionellen Staatsrechts für den Konfliktsfall angesehen wurde 6 8 , einem allgemeinen Verdikt. Für Max von Seydel gipfelte der Unterschied vom konstitutionellen zum parlamentarischen König endlich darin, daß jener sich, wenn sein Parlament zu „functionieren" versage, auf seine Staatsgewalt „zurückziehen" könne 6 9 . Sprachgebrauch und Verständnishorizont änderten sich radikal. Als „konstitutionell" galten jetzt gerade nicht mehr die strikt dualistischen Systemansätze, die die Vorkämpfer eines „wahrhaften" Konstitutionalismus von Rotteck bis zu den Führern der Deutschen Fortschrittspartei (und in gemäßigter Form die „organischen" Liberalen von Dahlmann bis Schulze-Gävernitz) gegenüber dem „Scheinkonstitutionalismus" der Regierungspraxis ihrer Zeit propagiert hatten, sondern die Theoreme eines konservativ gefärbten „deutschen" Konstitutionalismus. Unter der Herrschaft der Stahlschen Kontradiktion von monarchischem und parlamentarischem Prinzip wurde alles das, was dem monarchistischen Konstitutionalismusverständnis widersprach, als „parlamentarisch" und damit antikonstitutionell abqualifiziert, ja war letztlich auch gar nicht mehr 66 C. Fr. v. Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts (1865), 3. Aufl., Leipzig 1880, S. 133. Später z. B. Ph. Zorn i n der von i h m besorgten Neuauflage von Rönnes Staatsrecht der Preußischen Monarchie, 5. Aufl., Bd. 1, 1899, S. X I . 67 Zu den Positionen Labands u n d Jellineks vgl. Friauf, a.a.O., S. 251 ff. u n d S. 265 ff. Labands Theorie w a r sowohl gegen die seinerzeitige Mehrheitsmeinung i m preußischen Abgeordnetenhaus als auch gegen die Lückentheorie gerichtet. 68 So z. B. bei Bischof, a.a.O., S. 85 f. Vertreten wurde die Appelltheorie noch später i m Kommentar von E. Schwartz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat, Breslau 1896, S. 305. 69 a.a.O., S. 140. Für ein Staatsnotrecht zur Verfassungsaufhebung, das aber eigentlich einen Rechtsbruch darstelle, trat Kaltenborn, a.a.O., S. 347 f. ein. Das alles w a r für die h. L. bis dahin undenkbar.

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anders begreifbar. Wie oft i n der Geschichte setzte sich der Sieger nicht nur mit seinen Ansichten, sondern auch mit seinem Sprachgebrauch durch und wurde der Unterlegene auf diese Weise artikulationsunfähig, sprachlos gemacht. 3. Was die Verfassungstheorie begann, setzte die Verfassungsgeschichtsschreibung fort. Obwohl das Bewußtsein von der liberalen Position i m Verfassungskonflikt bei einigen liberalen Autoren wie Georg Jellinek noch um die Jahrhundertwende durchaus vorhanden w a r 7 0 , wurde die These von den antimonarchisch-parlamentarischen Intentionen der Opposition i n der Konfliktszeit vorherrschend. Dazu haben sicherlich die berühmt-berüchtigte liberale „Selbstkritik" am Ausgang des Verfassungskonfliktes wie auch Äußerungen auf dem äußersten Flügel der Fortschrittspartei das Ihrige beigetragen. Die pauschale Denunzierung, die der konservative Historiker Adalbert Wahl i n seinen „Beiträgen zur Geschichte der Konfliktszeit" 1914 dem preußischen Liberalismus angedeihen ließ, war dadurch freilich nicht mehr gedeckt. Sein Versuch, aus irgendwelchen Bekenntnissen zum „Parlament" oder zum „Parlamentarismus" bei den Wortführern der Opposition der Konfliktszeit ihr Eintreten für eine reine, antimonarchisch-parlamentarische Regierungsweise herauszulesen, gehört i n den Bereich der Geschichtsklitterung. Allerdings wurde damit endgültig aus der konservativ-gouvernementalen Propagandathese des Jahres 1862 eine „wissenschaftliche" Feststellung. Bei alldem ist noch eines zu beachten: Für die Zeit vor 1918 war die Einschätzung der Streitpositionen i m Verfassungskonflikt nicht nur eine akademische, sondern auch eine hochpolitische Angelegenheit. Es mußte damals als absurd erscheinen, der Opposition i m Konflikt die Aufrichtigkeit ihrer Bemühungen um einen Kompromiß und die Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände, kurz: ein verfassungsmäßiges Vorgehen zu attestieren. Denn das hätte auf der anderen Seite das Vorgehen Bismarcks und des Königs i n Frage gestellt. Bismarck ist sich der rechtlichen Fragwürdigkeit und politischen Brisanz seiner Handlungsweise durchaus bewußt gewesen. Die Erinnerung an das Schicksal des Grafen Strafford machte damals die Runde. Für die Späteren war das anders. Ein verfassungsrechtlich höchst zweifelhaftes Hasardspiel hätte nicht zu dem Bilde gepaßt, das man sich vom „Reichsgründer" und vom „Heldenkaiser" machte. Es hätte auch auf die damit verknüpfte Reichsgründung ein trübes Licht geworfen. Freilich: Etwas von der ungeheuren Erschütterung des Rechtsgefühls i n den sechziger Jahren zittert auch noch i n den akademischen Stellungnahmen der folgenden Zeit nach, bis hin zur resignierten Auskunft des staatsrechtlichen Positivismus: „Hier hört das Staats70 Vgl. G. Jellinek, den 1909, S. 24.



Regierung u n d Parlament i n Deutschland,Leipzig - Dres-

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recht auf." Um so mehr Anlaß, die Gegner des Kaisers und seines treuen Palladins selbst i n die Ecke der Verfassungswidrigkeit zu drücken. Ließ sich das Vorgehen der Regierung schon aus sich heraus nicht rechtlich legitimieren, so doch wenigstens als Notmaßnahme gegenüber einem Staat und Verfassung i n Frage stellenden Feind. 4. Nach dem 1. Weltkrieg entfiel dieser Rechtfertigungszwang. Nun meldeten sich auch kritische Stimmen zu dem überlieferten Bild, so etwa Dehio 71. Aber inzwischen hatten sich doch die durch den Ausgang des Konfliktes zur Herrschaft gelangten Denkschemata so verfestigt, daß es schwer war, zu einer anderen Sichtweise durchzustoßen. Die Autorität, die die immer wieder zitierten Äußerungen Egmont Zechlins, gestützt auf Adalbert Wahl und den linken Flügelmann des Fortschritts, Oppenheim, i n dieser Frage genießen, sind ein Zeugnis hierfür 7 2 . I n dieser Tradition stehen deutlich auch Darstellung und Beurteilung des preußischen Verfassungskonfliktes durch Ernst Rudolf Huber. Auch er denkt i n der scharfen nachkonfliktären Unterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie, von der aus sich die Haltung der liberalen Opposition gar nicht anders als „parlamentarisch" i m strengen Sinne des Wortes qualifizieren läßt, da sie dem Monarchen keine Vorrangstellung i m Konfliktsfall einräumte. Daher kann Huber auch sagen, daß „allen am preußischen Verfassungskonflikt B e t e i l i g t e n . . . bewußt (war), daß es um die Alternative ging, ob i n Preußen statt des monarchischen Prinzips künftig das parlamentarische Prinzip herrschen würde" 7 3 . Von dorther müssen i h m auch zwangsläufig die Verteidigungsmaßnahmen der Opposition als Versuche erscheinen, die Parlamentsherrschaft i n Preußen zu etablieren. Und ohne diese Tradition ist schließlich auch sein eigener Rechtfertigungsansatz nicht zu verstehen. M i t dieser Unbefangenheit kann sein eigenes Verständnis von „Souveränität" oder „Staatsnotrecht" nur derjenige auf die Vergangenheit von über hundert Jahren applizieren, für den eine bestimmte historische Entwicklung selbstverständlich geworden ist. Dahinter stehen Carl Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes, die Ansicht, daß i n der Ausnahme erst die Verfassung ihr wahres Wesen entbirgt, worauf sich Huber ausdrücklich bezieht 74 , sowie Schmitts Anlehnung an Max von Seydel 75 , schließlich Notstandstheorien, wie sie i n ähnlicher Lage gegen Ende der Weimarer Republik 71 L. Dehio, Die T a k t i k der Opposition während des Konflikts, H Z 140, 1929, S. 279 ff. (288). Allgemein dazu auch mein Aufsatz: Deutscher Konstitutionalismus u n d Bismarckreich, i n : Das kaiserliche Deutschland, hrsg. v. M. Stürmer, Düsseldorf 1970. S. 119 - 142. 72 Vgl. Zechlin, a.a.O., S. 203. 73 Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 333. 74 Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 341 u n d S. 16. 75 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl., B e r l i n 1957, S. 55.

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entwickelt wurden. Daher stammt wohl auch die Idee Hubers, daß das Notverordnungsrecht den konstitutionellen Monarchen berechtigt habe, i m Ernstfall das Parlament auszuschalten 76 . Man darf Huber sicherlich nicht vorhalten, daß er sich seine Ansichten innerhalb einer nun einmal bestehenden Tradition gebildet hat. Daß er sie aber so selbstverständlich zum Richtmaß der Vergangenheit macht, bedarf der K r i t i k . ΙΠ.

Es ist am Anfang dieser Ausführungen schon darauf hingewiesen worden, daß es Huber bei seiner Stellungnahme zum preußischen Verfassungskonflikt nicht nur um die Rechtfertigung eines bestimmten historischen Vorgangs geht, sondern um die Bewährung seiner Theorie, die er sich vom deutschen Konstitutionalismus überhaupt gebildet hat. Diese beruht bekanntlich darauf, daß hier zwei gegensätzliche Strukturprinzipien, monarchisches und Repräsentativ-Prinzip, als staatliche Integrationsfaktoren i n Erscheinung traten, daß dieser Dualismus aber durch eine Synthese nicht nur politischer, sondern — was i n unserem Zusammenhang vor allem wichtig ist — auch verfassungsrechtlicher A r t erfolgreich überwölbt war, indem nämlich i m Konfüktsfall der Monarch das Recht zur letzten Entscheidung besessen habe. Oder, an anderer Stelle: „Der deutsche Konstitutionalismus stand und fiel mit ( d e m ) . . . Anspruch der Exekutive auf vorrangige Verfassungsinterpretation 77 ." Für diese Theorie stellt der preußische Verfassungskonflikt offenbar die Probe aufs Exempel dar. Gerade bei diesem bedeutendsten, für die weitere Entwicklung des konstitutionellen Systems so überaus wichtigen Streitfall muß sich zeigen lassen, daß er nicht nur einer politischen, sondern auch einer rechtlichen Lösung zugänglich war und daß es sich dabei um eine allgemein verbindliche Lösung für das konstitutionelle Staatsrecht handelte. Deshalb kann Huber es nicht einfach beim Schweigen der preußischen Verfassung bewenden lassen, sondern er muß sich auf ungeschriebenes Verfassungsrecht, auf dem die ganze Verfassung beruht haben soll, berufen. Huber ist sich der „Kühnheit" seines Vorgehens bewußt 7 8 , aber er kann aus systematischen Gründen nicht darauf verzichten. 78

Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 13. Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 13 - 26, bes. S. 9, 11, 20, 25. Das Zitat i m Text stammt aus dem Aufsatz von 1965, S. 196. Die Gegenposition hat E.-W. Böckenförde (s. o. A n m . 7) markiert. Stellungnahme dazu durch Huber i n seinem Aufsatz: Die bismarcksche Reichsverfassung i m Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte, i n : Reichsgründung 1870/71, hrsg. v. Th. Schieder u. E. Deuerlein, Stuttgart 1970, S. 164- 196, bes. S. 190 ff.; s. neuerdings auch M. Rauh, Föderalismus u n d Parlamentarismus i m Wilhelminischen Reich, Düsseldorf 1973, S. 9 - 17. 78 Verfassungsgeschichte, Bd. I I I , S. 18. 77

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Nun ließ sich aber zeigen, daß es kein Verfassungsrecht i n jener Zeit gab, positiv oder überpositiv, das dem Monarchen ein Entscheidungsrecht i m Budgetkonfliktsfall einräumte. Auch Bismarck konnte nur unter Zurückweisung der angebotenen rechtlichen Lösungen handeln, durch einen Ausbruch aus der Verfassung unter Berufung auf ihr Schweigen und eine Rückkehr zu ihr nach erfolgreicher politischer Operation mittels Indemnitätsbitte. Dieser Ausbruch war durch das Verfassungsrecht der damaligen Zeit nicht gedeckt. Es handelte sich aber auch nicht um eine A r t „schöpferischer", zukunftsweisender Rechtsauslegung; denn die Lückentheorie wurde auch nach Bismarck nicht anerkanntes konstitutionelles Staatsrecht. Laband versuchte vielmehr i m bewußten Gegensatz zu ihr einen Weg zu weisen, die liberalen Positivisten ließen das Staatsrecht gerade bei dieser Frage enden. Auch politisch war die Wiederholung jenes „salto mortale über die Verfassung hinweg", worauf Böckenförde hinweist, unmöglich 79 . Wenn Huber ihn trotzdem als verfassungsrechtlich gerechtfertigt auszuweisen sucht, dann gelingt i h m das nur, wie dargelegt, unter Inkaufnahme von Anachronismen, was gleichbedeutend damit ist, daß der Beweis sich nicht führen läßt. Es gab kein letztes Entscheidungsrecht des konstitutionellen Monarchen i m Konfliktsfall, weder i n der Theorie, noch i n damals anerkannter Verfassungspraxis, trotz heutiger Behauptungen nicht nur von Huber, sondern, auf i h n sich stützend, auch von Friauf, was bei dessen eigenen Untersuchungen über die ausweglose dualistische Pattsituation bei Budgetstreitigkeiten i m konstitutionellen System verwundert 8 0 . Hubers Ausführungen bewegen sich nach alldem außerhalb des Konstitutionalismusverständnisses der Zeit, über die er referiert. Er bietet eine Theorie über einen historischen Gegenstand, aber keine historische Theorie von diesem.

79 a.a.O., S. 158. Von einem „salto mortale" sprach der Badische Minister Freiherr von Roggenbach i n einem Brief an M o h l v. 3. 10. 1862 (nach Heyderhoff-Wentzke, Deutscher Liberalismus i m Zeitalter Bismarcks. Eine politische Briefsammlung, Bd. 1, Bonn - Leipzig 1925, S. 118). 80 Friauf spricht, a.a.O., S. 244 unter Berufung auf Huber von einer „Legalitätsreserve" (! ?) des konstitutionellen Monarchen, die diesen als Träger der Souveränität zur Entscheidung i m Konfliktsfall berechtigt habe.

DER KONSTITUTIONALISMUS I N DEN DEUTSCHEN K L E I N S T A A T E N Von Günther Engelbert, Detmold

L Die Deutsche Bundesakte hatte in ihrem Art. 13 festgelegt, daß i n allen Bundesstaaten eine „landständische Verfassung stattfinden" werde 1 . Die deutschen Kleinstaaten 2 standen bei Erfüllung dieses Artikels vor we1 Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte 1, 1961, S. 78. — Vergi, über die Wiener Verhandlungen Wolfgang Mager, Das Problem der landständischen Verfassungen auf dem Wiener Kongreß 1814/15, i n : Historische Zeitschrift 217,1974, S. 296 ff. 2 Es soll hier nicht die Frage nach der Grenze zwischen „ K l e i n " - u n d größeren Staaten gestellt werden. Das ist eine i n erster L i n i e politische u n d von mancherlei Faktoren abhängige Machtfrage (s. hierzu Walter Peter Fuchs, Die deutschen Mittelstaaten und die Bundesreform 1853 - 1860, = Historische Studien 256,1934, S. 9). Die Behandlung des Themas beschränkt sich, w i e es i m Rahmen eines V o r trags möglich war, auf eine Untersuchung der Verfassungsurkunden als der rechtlichen Voraussetzung für die konstitutionelle Verfassungsentwicklung. Es können daher Einzelfragen, wie etwa nach den Kräften, die auf die Entstehung der Verfassungen eingewirkt haben, oder eine vergleichende Analyse, wie sie Karl Heinrich Friauf für das Budgetrecht kürzlich vorgelegt hat (Der Staatshaushaltsplan i m Spannungsfeld zwischen Parlament u n d Regierung 1, 1968), nicht untersucht werden. Diese an sich reizvolle Aufgabe w a r i m Rahmen meines Braunschweiger Vortrages undurchführbar u n d w i r d auch jetzt nicht von m i r angestrebt. A n jüngerer L i t e r a t u r verweise ich auf Fritz Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte v o m 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 9. Aufl. 1969; Hans Boldt, Deutscher Konstitutionalismus u n d Bismarckreich, i n : Das kaiserliche Deutschland, P o l i t i k u n d Gesellschaft 1870- 1918. 1970, S. 119 - 142; Werner Boldt, Konstitutionelle Monarchie oder parlamentarische Demokratie, i n : Historische Zeitschrift 216, 1973, S. 553-622; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie i m 19. Jahrhundert, i n : Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1918), hrsg. von Ernst-Wolfgang Böckenförde 1972, S. 146 - 170. I m gleichen Band befindet sich S. 471 - 492 eine von Rainer Wahl zusammengestellte Bibliographie. Als nützlich hat sich die Bibliographie der deutschen Verfassungstexte seit 1806 von Eberhard Menzel, Franz Gr oh, Hellmuth Hecker, Verfassungsregister, Teil I : Deutschland ( = Dokumente, hrsg. von der Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität Hamburg, Heft X I V ) 1954 sowie das Stichwort „Verfassung" i n der Geschichte der deutschen Länder „Territorien-Ploetz", hrsg. von Georg W i l h e l m Sante u n d A. G. Ploetz Verlag, 1971 (S. 1012) erwiesen. Schließlich sei auch hingewiesen auf die jüngst erschienene Veröffentlichung „Gesellschaft, Parlament u n d Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus i n Deutschland", hrsg. von Gerhard A. Ritter, 1974, m i t Beiträgen von Gerhard A. Ritter über „Entwicklungsprobleme des deutschen Parlamentarismus" (S. 11 ff.), Herbert Obenaus über

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sentlich günstigeren Voraussetzungen als die Mittelstaaten und Großmächte. Denn ihr territorialer Besitzstand blieb nach 1815 i m großen und ganzen unverändert. Während für die Landesherren der Mittelstaaten und Großmächte zunächst eine Zeit der Integration mit dem Ziel des Zusammenwachsens früher selbständiger Territorien einsetzte, konnten die Kleinstaaten leichter der Empfehlung des A r t . 13 folgen. So kann es kaum verwundern, daß die ersten i n Zusammenhang m i t der Deutschen Bundesakte verabschiedeten Verfassungen i n den deutschen Kleinstaaten erschienen sind 3 , und zwar i n überraschend dichter zeitlicher Folge: Schwarzburg - Rudolstadt (8. Januar 1816)4, Schaumburg - Lippe (15. Januar 1816)5, Waldeck (19. A p r i l 1816)6, Sachsen - Weimar - Eisenach (5. Mai 1816)7. M i t zweijährigem Abstand folgte Sachsen - Hildburghausen (19. März 1818)8. Doch Art. 13 war nicht das einzige Motiv zur Verabschiedung dieser Verfassungen. Für Waldeck und Sachsen - Weimar - Eisenach jedenfalls sind Anstöße hierzu i m Lande selbst zu suchen. I n Waldeck war es schon i m Januar 1814 zu einem Verfassungs- und Organisationsedikt gekommen, durch das man sich eine besser funktionierende Verwaltung und insbesondere eine Neuordnung der durch den Krieg zerrütteten Finanzverhältnisse erhoffte; neben diese Sorgen trat die Gefahr der Mediatisierung des kleinen Fürstentums 9 . Macht und Stellung dieses Kleinstaates zu festigen, dazu diente das Edikt von 1814 und vor allem die Verfassung von 1816. Anders lagen die Verhältnisse i n Sachsen - Weimar - Eisenach. Äußere Not des Herzogtums und die verfassungsmäßige Vereinigung der Landesteile Weimar, Jena und Eisenach hatten bereits 1809 zu der unter dem Einfluß der Charte constitutionelle française stehenden Verfassung geführt, ohne daß sie sich wegen der Kriegsverhältnisse recht hatte ent„Finanzkrise u n d Verfassungsgebung. Z u den sozialen Bedingungen des frühen deutschen Konstitutionalismus" (S. 57 ff.) u n d Hans Boldt, Zwischen Patrimonialismus u n d Parlamentarismus. Zur Entwicklung vorparlamentarischer Theorien i n der deutschen Staatslehre des Vormärz (S. 77 ff.). 3 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 1, 21967, S. 657. 4 Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 2, 1, 2. Aufl. 1832, S. 1064 ff.; Rudolf Ruhe, Zur Geschichte der Volksvertretungen i n den beiden Schwarzburg i m 19. und 20. Jahrhundert, i n : Rudolstädter Heimathefte 1957, S. 77 ff. 5 Pölitz, S. 1104 ff.; Adolf Westerich, Zur Geschichte des schaumburg-lippischen Landtags, i n : Archiv für Landes- u n d Volkskunde von Niedersachsen 22, 1944, S. 336 ff. 6 Pölitz, S. 1106 ff.; Dieter Weigel, Fürst, Stände u n d Verfassung i m frühen 19. Jahrhundert. Studien zur Entstehung der Verfassungsurkunden von 1814 und 1816 des Fürstentums Waldeck ( = Geschichtsblätter für Waldeck 59, 1967). 7 Pölitz, S. 758 ff. ; Fritz Härtung, Das Großherzogtum Sachsen unter der Regierung Carl Augusts 1775 - 1828,1923, S. 288 ff. 8 Pölitz, S. 781 ff.; vgl. Wilhelm Schneider, Die geschichtliche Entwicklung des Landtagswahlrechts i n Sachsen - Meiningen. Jur. Diss. Jena 1923, S. 17 ff. 9 Weigel, S. 10 ff., 127 ff.

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falten können. Die Beteiligung der Stände an der Gesetzgebung war gering: wichtige Gesetze wurden ohne sie verabschiedet, die Stände fühlten sich übergangen 10 . Der territoriale Machtzuwachs von 1815 hatte dann die Forderung nach einer neuen Verwaltungsorganisation und damit zugleich auch nach einer neuen Verfassung gestellt. Auch die Verfassungen von Schwarzburg - Rudolstadt, Schaumburg - Lippe und Sachsen - H i l d burghausen erwähnen die durch die Kriegszeit entstandene allgemeine Notlage. 1. Die fünf frühesten Verfassungsurkunden tragen ebenso gemeinsame wie auch divergierende Züge. Zunächst ist festzustellen, daß sich Schwarzburg - Rudolstadt zwar rühmen darf, als erster Bundesstaat eine landständische Verfassung verabschiedet zu haben, daß aber diese Verfassung erst fünf Jahre später wirksam wurde, weil langwierige Auseinandersetzungen um Wahlmodus (§ 8) und Rechte der Stände die Eröffnung des ersten Landtages schließlich erst i m A p r i l 1821 möglich machten 11 . Anders bei den übrigen Staaten: sie hatten Wahl verfahren und die Bestimmung ständischer Rechte sogleich i n die Verfassungsurkunden einbezogen und damit die Voraussetzung für eine baldige Einberufung von Landtagssitzungen geschaffen. Bereits hier zeigt sich die enge Verknüpfung von Verfassung und Wahlverfahren, die Regelung beider Komplexe gehörte unmittelbar zusammen. Gemeinsam ist allen fünf Urkunden die unmittelbare Bezugnahme auf die Deutsche Bundesakte bzw. auf deren A r t . 13. Großherzog Carl August von Sachsen - Weimar - Eisenach sah die Notwendigkeit zur Verabschiedung einer neuen Verfassung außerdem vor allem in der Vereinigung der alten Stammlande m i t den 1815/16 neu erworbenen Landesteilen. Inwieweit in den fünf Fürstentümern an ältere Verfassungen angeknüpft wird, legen die Präambeln ζ. T. nur andeutungsweise offen, so Schwarzburg Rudolstadt und Schaumburg - Lippe, während Waldeck davon spricht, daß eine landständische Verfassung „schon von grauen Zeiten her" i m Lande bestehe, jedoch i n mehrfacher Hinsicht einer Abwandlung bedürfe, Sachsen - Weimar - Eisenach die Bemühungen u m eine landständische Verfassung von 1809 erwähnt. Ähnlich lagen die Verhältnisse in Sachsen - Hildburghausen. Angesichts dieser unterschiedlichen Ausgangspositionen kann es daher auch nicht verwundern, wenn die Verabschiedung der Verfassung i n Schwarzburg - Rudolstadt und Schaumburg - Lippe einer- und Waldeck, Sachsen - Weimar - Eisenach und Sachsen - Hildburghausen andererseits unterschiedliche Wege ging: die beiden zuerst genannten Verfassungen wurden ausschließlich vom Landesherrn ohne vorherige Beratung m i t landschaftlichen Deputierten erlassen, während i n Waldeck Graf Hein10 11

Härtung, Carl August, S. 211 ff. Ruhe, S. 82.

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rich Ritterschaft und Stände zu einem allgemeinen Landtag zusammenrief, die der bisherigen Landes- und ständischen Verfassung eine „nähere Einrichtung" gaben. Sie wurde „ i m Einverständnis" mit den Ständen durch den Landesherrn erlassen. Ähnlich verlief das Gesetzgebungsverfahren i n Sachsen - Weimar - Eisenach. Dort berieten landschaftliche Deputierte aus den alten und Abgeordnete aus den neuen Landen, m i t deren Zustimmung und Beirat stellte Carl August das Grundgesetz über die landständische Verfassung fest. I n Sachsen - Hildburghausen erteilte der Landesherr seiner Landschaft zunächst „das Zeugnis . . . , daß sie durch stets willige, rege und redliche M i t w i r k u n g . . . und durch treue Unterstützung der Regierung sich des i n sie gesetzten Vertrauens würdig gezeigt... habe". Schon 1815 waren daher Verhandlungen zwischen Landschaft und Regierung wegen einer neuen Verfassung aufgenommen worden, die die Einbeziehung des Bauernstandes vorsahen. Für die Frage nach einem Zusammenhang dieser Verfassungen mit älteren Verfassungen, also nach der Kontinuität der ständischen Entwicklung ist diese Feststellung von Bedeutung. Es gab Staaten (so Schwarzburg - Rudolstadt und Schaumburg - Lippe), die nicht auf eine wie immer ausgebaute ständische Vorstufe zurückgreifen konnten, deren ständische Verfassung also neu geschaffen wurde (oktroyierte Verfassung). Und es gab Staaten (so Waldeck, Sachsen - Weimar - Eisenach und Sachsen - Hildburghausen), die über eine ständische Verfassung verfügten, an sie anknüpften 1 2 und i n gemeinsamer Beratung mit den Ständen eine neue ständische Verfassung verabschiedeten (ausgehandelte Verfassung) 13 . Veröffentlicht aber wurden diese Verfassungen ausschließlich vom jeweiligen Landesherrn, nicht auch von den Ständen. 2. Sämtliche Verfassungen verstehen die Landstände als Vertreter der Gesamtheit der Staatsbürger, also nicht mehr als Vertreter einer zahlenmäßig kleinen Schicht von Privilegierten. Das w i r d besonders deutlich i n Schwarzburg - Rudolstadt bzw. Waldeck, wo „eine Repräsentation des Volks" (§ 1) bzw. „die Repräsentation unserer Untertanen" (Abschn. II) gebildet werden soll. Sachsen - Weimar - Eisenach sieht in den Landständen „sämtliche Staatsbürger . . . vertreten" (§ 3). I n Sachsen - Hildburghausen heißt es: „Das ganze Land und sämtliche Untertanen werden i n allen Angelegenheiten zwischen Regenten und Volk durch verfassungsmäßige Abgeordnete (Deputierte) vertreten, deren Gesamtheit die Landschaft ausmacht" (§ 1). Die Schaumburg - lippische Verfassung legt dieser Frage keine besondere Bedeutung bei. Trotz solcher mehr formalen Unterschiede bleibt festzuhalten, daß der Gedanke der Volksrepräsentation bestimmend für die Zusammensetzung 12 § 25 der Waldecker Verfassungsurkunde bestätigte die „hergebrachten landständischen Rechte i m allgemeinen". 13 Vgl. hierzu Böckenförde, S. 149 f.

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der Landstände sein mußte. Das hatte die Einbeziehung der Bauern i n den Kreis der Abgeordneten zur Folge, die neben den bisherigen Rittergutsbesitzern und städtischen Vertretern die Landstände ausmachten. Von entscheidender Bedeutung für die Zusammensetzung der Landstände mußte das Wahlverfahren werden. W i r sahen bereits, daß die erste nach der Deutschen Bundesakte verabschiedete Verfassung von Schwarzburg - Rudolstadt gerade durch diese Frage i n Schwierigkeiten geraten war. I n allen fünf Staaten wurde der Ritterstand unmittelbar gewählt. Ubereinstimmung bestand auch insofern, als die Wahl der bäuerlichen Vertreter durch Wahlmänner erfolgte. Unterschiedlich war die Wahl der Vertreter des Bürgerstandes, sie wurden i n Schwarzburg Rudolstadt (§ 4), Schaumburg - Lippe (§ 6) und Waldeck (§ 12) direkt, i n Sachsen - Weimar - Eisenach (§§ 13, 18) und Sachsen - Hildburghausen (Wahlgesetz von 1822) dagegen durch Wahlmänner bestellt. Die Praktizierung dieses Wahlverfahrens stieß i m Blick auf die Vertretung der bäuerlichen Schicht trotz der Einschaltung von Wahlmännern auf nicht geringe Schwierigkeiten, so ζ. B. i n Schwarzburg - Rudolstadt. Dort trat der erste Landtag erst 1821 zusammen — einen solch langen Zeitraum beanspruchte vor allem die Vorbereitung der Wahlen. Trotz der angestrebten freien Wahlen sei es nicht gut möglich, „den großen Haufen sich selbst zu überlassen". Die öffentliche Stimmung i n Schwarzburg - Rudolstadt ließ den Schluß zu, daß „die hiesigen Untertanen den Wunsch nach einer ständischen Verfassung nie hatten laut werden lassen" 14 . Derartige Hindernisse hatte der Prozeß des Mündigwerdens der Staatsbürger aus den Bevölkerungsteilen, die bisher nicht i n staatsbürgerlicher Mitverantwortung gestanden hatten, zu überwinden. Ebenso wie die Zusammensetzung des Landtags vergrößert wurde, erfuhr auch der Aufgabenkatalog der Stände eine Erweiterung. Das B i l d schwankt, es ist von zahlreichen Faktoren abhängig, die sämtlich Einfluß auf den Verfassungstext nehmen konnten, vom Landesherrn bzw. seiner Regierung ebenso wie von den ständischen Vertretern selbst. Hatte Schwarzburg - Rudolstadt i n seiner Verfassung von 1816 seinen Landständen lediglich die Funktion einer „Beratung über alle Gegenstände der Gesetzgebung, welche die persönlichen und Eigentumsrechte der Staatsbürger m i t Einschluß der Besteuerung betreffen" zugestanden (§ l ) 1 5 , so räumten die übrigen Verfassungen den Ständen sogleich folgende Rechte ein: 1. Gutachtliche Äußerung, Beratung u n d E i n w i l l i g u n g zu Gesetzen, die sich auf die Landesverfassung beziehen, durch die über das Eigentum des E i n 14 Ruhe, S. 80; ähnlich Weigel, S. 117 f. u n d 134; Schneider, S. 22 A n m . 3; Härtung, Carl August, S. 203, stellt fehlende I n i t i a t i v e der Bevölkerung u n d Desinteresse der Verwaltung an Neuerungen fest. 15 Erst 1821 erweiterte Fürst Friedrich Günther nach Eröffnung des 1. L a n d tages die Rechte seiner Stände, Pölitz, S. 1066.

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zelnen zum Vorteil des Landes verfügt w i r d u n d die persönliche Freiheit des Einzelnen oder wohlerworbene Rechte aufgehoben oder beschränkt w e r den sollen. 2. Bewilligung von Steuern. 3. Orientierung über die Verwendung von Steuern u n d M i t t e i l u n g der Jahresrechnungen. 4. Initiativrecht zu Gesetzespetitionen. 5. Beschwerderecht über Mißstände i n der Verwaltung.

Waldeck sah außerdem eine Überwachung der Justiz und SachsenWeimar - Eisenach die Beschwerde über Minister und Staatsbehörden sowie die Pressefreiheit vor 1 6 . Bei einem Vergleich der Aufgaben der Stände i n den fünf Kleinstaaten läßt sich eine i m großen und ganzen beachtenswerte Übereinstimmung feststellen. Sie erklärt sich nicht zuletzt dadurch, daß die Kleinstaaten miteinander i n Verbindung standen und sich gegenseitig über ihre Ziele und Vorstellungen austauschten 17 . Überblickt man die bisher behandelten Verfassungen als Ganzes, so ist festzustellen, daß sich in ihnen Altes und Neues verbindet 1 8 . Soweit sich überhaupt Anknüpfungsmöglichkeiten an ältere ständische Verhältnisse des 18. Jahrhunderts ergaben, d. h. soweit die Stände nicht zu einem Schattendasein herabgesunken waren, griff man auf sie zurück und gab der „bisherigen Landes- und ständischen Verfassung" eine „nähere Einrichtung" (so i n Waldeck). Diese Formulierung macht ebenso wie die Tatsache der gemeinsamen Beratung des Verfassungstextes m i t den Landständen i n Waldeck, Sachsen - Weimar Eisenach und i n Sachsen - Hildburghausen deutlich, daß sich die konstitutionelle Idee fort- und weiterentwickelte. 3. A n altständische Verhältnisse erinnert vor allem die Beibehaltung des Landtagsausschusses, des Landsyndikus. Die Vertretung des Volks erfolgt nach Ständen. Wahlen wurden — wenn überhaupt — nur in Städten durchgeführt, Verhandlungen waren zumeist geheim. Auch ist zu bemerken, daß es sich bei diesen ältesten fünf Verfassungen um rein landständische Verfassungen handelt, die ausschließlich die Rechte und Pflichten der Landstände, nicht aber sämtliche Bereiche staatlichen Lebens i n ihrer Gesamtheit regeln. Daher erklärt es sich auch, daß eine wichtige Komponente konstitutioneller Ideen, das Verhältnis des Landesherrn zu 18 Ulrich Eisenhardt, Die Garantie der Pressefreiheit i n der Bundesakte von 1815, i n : Der Staat 10 (1971), S. 346. 17 Härtung, Carl August, S. 307 u n d A n m . 1 ; Weigel, S. 98. 18 Vgl. hierzu i m einzelnen Alfons Ingelmann, Ständische Elemente i n der Volksvertretung nach den deutschen Verfassungsurkunden der Jahre 1806 bis 1819 ( = Abhandlungen aus dem Staats- u n d Verwaltungsrecht 33) 1914. — Ob und inwieweit französischer Einfluß auf diese Verfassungen eingewirkt hat, untersuchte Kurt Usée, Der Einfluß der französischen Verfassungen auf die deutschen Verfassungsurkunden der Jahre 1808 - 1820, phil. Diss. Greifswald 1910.

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den Ständen als Repräsentation der Bevölkerung, noch nicht expressis verbis ausgesprochen wird. Die Frage, ob eine landständische oder allgemeine Verfassung, spielte bei der Beratung der weimarischen Verfassung eine entscheidende Rolle 1 9 . Großherzog Carl August hielt zwar i m Sinn von 1809 eine M i t w i r k u n g ständischer Vertreter für wünschenswert, aber eine Beeinträchtigung der landesherrlichen Stellung lehnte er 1816 mit Entschiedenheit ab. Demgegenüber gingen die Gedanken seines Ministers Ε. A. von Gersdorff von der Vorstellung aus, die bisherigen Verfassungsformen weiterzubilden und eine echte Repräsentationsverfassung zu fordern. Das bedeutete die Einbeziehung der Bauern neben Rittern und Städten i n den Kreis der Landstände, und zwar durch freie Wahlen. Gersdorff strebte durch Überwindung des alten Dualismus zwischen Fürst und Land einen neuen einheitlichen Staatsbegriff an, der Fürst und Landstände als gemeinsame Organe des Staates verstanden wissen wollte. Das aber hätte eine neue Verfassung für den gesamten Staat, nicht nur für die Landstände bedeutet. Aber diese Vorstellung von Gersdorffs fand bei Carl August und seiner Umgebung keine Gegenliebe, die Grundlinie seines Planes wurde verworfen. A m 5. Mai 1816 wurde keine Verfassung des Staates, sondern nur ein „Grundgesetz über die landständische Verfassung" publiziert 2 0 . Die Anhänger altständischer Vorstellungen hatten sich gegenüber den Befürwortern weitgehender konstitutioneller Vorstellungen durchgesetzt. Trotz allem: diese fünf Verfassungen bedeuteten zugleich doch auch einen Fortschritt gegenüber der bisherigen ständisch-korporativen Vertretung, und zwar i n mehrfacher Hinsicht. Neu ist zunächst die Einbeziehung des Bauernstandes i n den Kreis der Stände. Damit hängt aufs engste zusammen, daß die Stände — auch wenn sie von ihrem Stand gewählt werden — nicht mehr als Vertreter ihres Standes i m Landtag tätig werden sollen, sondern eine „Volksrepräsentation" (Schwarzburg - Rudolstadt, § 2) darstellen sollen. Ähnliche Gedanken äußern auch die übrigen Verfassungen. Es entsteht die Vorstellung einer „sämtliche Untertanen" (Sachsen - Hildburghausen, § 1) einschließenden Repräsentation. Neu ist ferner — und das ist ein ganz entscheidendes Faktum von großer Bedeutung i n den folgenden Jahrzehnten — die Tatsache, daß über die Zusammensetzung der Landtage durch Wahlen entschieden wird. Freilich, das Wahlverfahren blieb während des ganzen 19. Jahrhunderts Gegenstand politischer Auseinandersetzungen; Wahlreformen gibt es bis 19

Das Folgende nach Härtung, Carl August, S. 288 ff. Vgl. auch die Verhandlungen zwischen Fürst, Regierung u n d Ständen i n Waldeck bei Weigel, S. 91 ff. Wenn der Waldecker „Landesvertag" i n „ L a n desverfassung" (§§ 1 - 10) u n d „Die Repräsentation unserer Untertanen" (§§ 11 bis 43) eingeteilt wird, so erklärt sich dieser merkwürdige Sachverhalt aus dem Ablauf der Verhandlungen. Die „Landesverfassung" regelt lediglich die Organisation des Gerichtswesens. Weigel erklärt diese „eigenartige Gliederung" des Landesvertrages als „Redaktionsversehen" (S. 111 f.). 20

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zur Novemberrevolution von 1918. Das Entscheidende aber ist i n unserem Zusammenhang, daß überhaupt gewählt wird. Schließlich soll auch betont werden, daß diese Verfassungen ihre Existenz nicht revolutionären Unruhen verdanken. I m Gegenteil, der Boden war vorbereitet, die Präambel der Verfassung von Sachsen - Hildburghausen w i l l den „Erfordernissen der Zeit" Rechnung tragen, da die Zusammensetzung des bisherigen Landtags „eine sehr unvollkommene Repräsentation aller Stände" darstellte. Trotz des Verhaftetseins am Althergebrachten enthalten also die fünf ältesten Verfassungen doch auch zukunftweisende Elemente, sie stellen die erste Etappe einer neuen Ä r a dar, die sich „nicht abrupt, sondern i n Form eines allmählichen kontinuierlichen Ab- und Aufbaus" vollzieht 2 1 . Wenn i n den folgenden Jahren weder die Verfassung von Schaumburg Lippe noch die von Waldeck oder diejenige von Sachsen - Hildburghausen die Wirkung erlangte wie die Verfassung von Weimar, dann ist das der Sache nach kaum begründet und hängt wohl weitgehend m i t dem Glanz zusammen, der vom Hof Carl Augusts auf das deutsche Geistesleben ausging und von dem ein Strahl auch auf seine Verfassung fiel. Weder Bückeburg noch Arolsen oder Hildburghausen waren eben Weimar! Nach der Verabschiedung der Verfassung hatte Großherzog Carl August seine Verfassung dem Deutschen Bundestag mit der Bitte um Garantie seitens des Bundes vorgelegt, u m i h n zum Einschreiten zu verpflichten, falls Landesherr oder Stände gegen den Vertragstext verstießen. Der Antrag Weimars stützte sich darauf, daß Verhütung innerer Unruhe innerhalb des Deutschen Bundes zu seinen Aufgaben zähle. Damit war die Souveränität der Einzelstaaten angesprochen, der Schritt Carl Augusts löste besonders bei den Mittelstaaten K r i t i k aus. Der Bund hat dann nach längerer Debatte 1817 die Garantie-Erklärung abgegeben, ohne jedoch jemals einzugreifen 22 . 4. Ein Beispiel aber gibt es für ein erfolgreiches Eingreifen des Bundestages i n das Bemühen eines Kleinstaates um Verabschiedung einer landständischen Verfassung: ich meine die 1819 vom Bundestag suspendierte Verfassung des Fürstentums Lippe, das erste Beispiel für eine gescheiterte Verfassung, zugleich ein Beispiel für die Widerstände, die von altständischer Seite gegen Neuerungen aufgestellt wurden. I n Detmold, der Residenz des Fürstentums Lippe, hatte seit 1802 die Fürstin Pauline, eine Prinzessin aus dem Hause Anhalt - Bernburg, für ihren minderjährigen Sohn Leopold die Regentschaft inne 2 3 . I h r Verhält21

Böckenförde, S. 154. Härtung, Carl August, S. 307 f.; Huber, Verfassungsgeschichte 1, S. 649 ff. Auch Waldedk wollte 1818 unter Hinweis auf Weimar einen entsprechenden Antrag stellen, ohne daß es bis 1820 hierzu kam, s. Weigel, S. 114 f., vgl. auch die Verfassung von Sachsen - Hildburghausen, § 58. 22

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nis zu den Ständen war ausgesprochen zwiespältig. Auf der einen Seite regierte sie noch i n den typischen Formen des Absolutismus. 1805 entließ sie den Landtag, da er die erbetene Summe für ein Irrenhaus nicht bew i l l i g t hatte. Als Mitglied des Rheinbundes trat sie so souverän auf, daß sie auf jede Mitregierung der Stände verzichten zu können meinte. 1807 ζ. B. beklagte sie „die Anmaßungen und Silbenstechereien, den respektwidrigen Ton, das ewige Hindern jedes G u t e n . . . , was sich die Stände von Jahr zu Jahr mehr erlaubten". Sie glaubte, Recht zu haben, das Zusammenkommen der Stände „so lange als möglich zu hintertreiben". Zwei Jahre später wollte sie zwar den Geist der Zeit und die Stimme des Volkes achten, allerdings mit der wesentlichen Einschränkung, daß sie beides nur achte, wann sie vernünftig seien. Die Entscheidung darüber behielt sich Pauline selbst v o r 2 4 ! Die Stände waren zwar nicht aufgelöst, aber Pauline regierte i m absolutistischen Stil des 18. Jahrhunderts ohne sie. Unter dem Druck der Kriegslasten und i n Auswirkung von Art. 13 der Bundesakte änderte Pauline nach 1815 ihre Haltung gegenüber den Ständen. Sie erkannte den von ihr apostrophierten „Geist der Zeit" an und bemühte sich um eine neue landständische Verfassung. Die Regierung wurde beauftragt, einen Entwurf nach den Verfassungen von Nassau und Sachsen - Weimar - Eisenach und später auch von Bayern auszuarbeiten, der die Einbeziehung von Vertretern des Bauernstandes vorsah. Der Entwurf rief den Widerstand der alten Stände, von Rittern und Städten hervor, die den früheren Verfassungszustand wiederhergestellt sehen und Art. 13 der Bundesakte für Lippe nicht gelten lassen wollten, da er nur für solche Länder gelte, die noch keine Verfassung besäßen; aber das träfe für Lippe nicht zu. Da Verhandlungen zu keinem Ergebnis führten, legten die Stände 1817 der Bundesversammlung eine „geschichtliche und rechtliche Darstellung" vor, denen die Regierung m i t einer Gegenerklärung antwortete. Die Grundlage für ein gemeinsames Vorgehen war verloren, und man w i r d i n dieser gespannten Atmosphäre Paulines Klage vom 15. Juni 1818 verstehen: „Es läßt sich jetzt [d. h ohne die Stände] ohne Hemmketten vieles Nüzliche noch gut und leicht bewürken. Sobald die Stände constituiert sind, beginnt der Geschäftsgang i n Bleypantoffeln 25 ." Die Entscheidung fiel ein Jahr später, als Pauline unter dem Jubel der Bevölkerung 2 6 ohne M i t w i r k u n g der Stände am 8. Juni 1819 23 Hans Kiewning, Fürstin Pauline zur Lippe 1762 - 1820,1930, S. 536 ff.; ders., Hundert Jahre lippischer Verfassung 1819 - 1919, 1935, S. 5 ff.; Erich Kittel, Geschichte des Landes Lippe ( = Heimatchroniken der Städte u n d Kreise des Bundesgebietes 18) 1957, S. 165 ff., 184 ff. 24 Fürstin Pauline. I h r Leben u n d W i r k e n (Ausstellungskatalog des Staatsarchivs Detmold), hrsg. von Günther Engelbert ( = Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe D, Bd. 1) 1969, Nr. 35 S. 16, Nr. 85 S. 32. 25 Ebd., Nr. 87 S. 33. 26 Vgl. aber auch Anm. 14.

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die Landständische Verfassungsurkunde für Lippe erließ. Die Präambel der Verfassung ist deutlich an die Adresse der bisherigen halsstarrigen Stände gerichtet, wenn Pauline am Schluß sagt: „ . . . Es ist das schönste Vorrecht hoher Menschenwürde, niemals stillzustehen, nie am Ziele sich zu glauben; denn was die Väter beglückte, paßt nicht mehr ganz für die Söhne, was diese bedürfen, würde schwerlich mehr den Enckeln genügen, aber dagegen steht unerschütterlich fest, daß, wo es dem allgemeinen Wohle gilt, dem persönlichen Vortheil, den hergebrachten Gewohnheiten entsagt werden muß, und das Glück der Gesamtheit allein Richtschnur seyn und bleiben darf . . . 2 7 ." Vielleicht hat sich das Spannungsverhältnis zwischen Pauline und den bisherigen Ständen auch i n § 1 der Verfassung niedergeschlagen, wenn es dort heißt: „Die bisherigen Stände von Ritterschaft und Städten i m Fürstentum Lippe werden aufgehoben und durch eine Vertretung aller Landeseinwohner ersetzt 28 ." Denn dieser deutliche Bruch m i t den früheren Verfassungsverhältnissen, wie er hier zum Ausdruck kommt, findet sich i n keiner der seit 1816 verabschiedeten Verfassungen; sie knüpfen entweder an ältere Zustände an oder setzen — aber unter Vermeidung einer Aufhebung älterer Zustände — neues Recht. I m übrigen aber entspricht die Verfassung i m wesentlichen inhaltlich ihren Vorgängern. Sie hätte sich, wenn Pauline sich gegen die Widerstände behauptet hätte, i n den Geist der bestehenden Verfassungen gut eingefügt. Jedoch der Kampf der alten Stände gegen die neue Verfassung setzte sich fort. Die Stände erhoben Protest, wandten sich an Kaiser Franz von Österreich, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und an die Bundesversammlung. Das geschah i m August 1819. Damit fiel diese lippische Eingabe zusammen mit den gleichzeitigen Karlsbader Beschlüssen von August und September. A m Ende langer Streitigkeiten legte die Bundesversammlung Pauline nahe, die Ausführung ihrer Verfassung auszusetzen. So ist daher die lippische Verfassung von 1819 nie wirksam geworden. Wie i n verschiedenen Mittelstaaten erwiesen sich die ihr altes Recht verteidigenden Stände als das entscheidende Hemmnis einer konstitutionellen Entwicklung i n Lippe. Die Verfassung wurde zugleich auch ein Opfer der inzwischen einsetzenden Epoche der Metternich'schen Restauration — ein unglückliches Opfer, das nicht an seinem Inhalt scheiterte — denn sie unterscheidet sich nicht von den übrigen bereits bestehenden Verfassungen — sondern an den veränderten Zeitverhältnissen. Die Eingaben der Stände hätten weniger Aussicht auf Erfolg gehabt, wäre die Verfassungsurkunde zu einem früheren Zeitpunkt veröffentlicht worden. 27

Pölitz, S. 1097 ff. Andererseits hieß es i n der Präambel, es bedürfe keiner neuen Landeskonstitution; es sei unnötig, Rechte zu versichern, die zu entziehen nicht i n der Fürstin Absicht lägen. 28

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Denn nunmehr, nach den Karlsbader Beschlüssen, hatte sich der Bund zur Schutzmacht gegen die liberale konstitutionelle Bewegung entwickelt und scheute dabei auch nicht vor Eingriffen in die Souveränität der Einzelstaaten zurück. II. Der lippische Verfassungskonflikt und seine Auswirkungen leiten zur Wiener Schlußakte vom 15. 5.1820 über. Sie befaßt sich i n den A r t . 54 - 61 mit den landständischen Verfassungen und beauftragt i n Art. 54 die Bundesversammlung, darüber zu wachen, daß i n jedem Bundesstaat eine landständische Verfassung verabschiedet würde 2 9 . Es erweckt nicht den Eindruck, als habe die Bundesversammlung von diesem Recht der Uberwachung besonderen Gebrauch gemacht. Die Wiener Schlußakte bedeutet keinen erkennbaren Auftrieb der konstitutionellen Entwicklung — i m Gegensatz zu der Wirkung des Art. 13 der Deutschen Bundesakte m i t vier kleinstaatlichen Verfassungen innerhalb von nur fünf Monaten. Der anfängliche Elan ist verebbt. Auch die erste nach der Wiener Schlußakte veröffentlichte kleinstaatliche Verfassung, nämlich die des Herzogtums Sachsen - Coburg - Saalfeld von 1821, ist nicht durch die Wiener Schlußakte ausgelöst. Denn sie geht auf eine mehr als fünfjährige Verhandlungszeit zurück, ihre Anfänge liegen bereits i m Jahr 1816, aber die Verhandlungen stockten und wurden insbesondere durch die Karlsbader Beschlüsse gehemmt 30 . 1. I n formaler Hinsicht wirken auf die Coburger Verfassung die seit 1818 i n verschiedenen Mittelstaaten wie Bayern, Baden, Württemberg, Hannover und Hessen - Darmstadt verabschiedeten Verfassungen ein. Denn während sich die bisherigen kleinstaatlichen Verfassungen (auch die suspendierte lippische Verfassung von 1819) ausschließlich m i t der gesetzlichen Regelung der ständischen Verhältnisse befaßten, w i r d i n der Coburger Verfassung von 1821 erstmalig i n Analogie zu den mittelstaatlichen Verfassungen nicht nur die landständische, sondern die gesamte Verfassung des Herzogtums Sachsen - Coburg - Saalfeld geregelt. Die Verfassung gliedert sich nach dem mittelstaatlichen Vorbild i n folgende Abschnitte 31 : 1. Von dem Herzogtum u n d dessen Regierung i m Allgemeinen, 2. Von den allgemeinen Rechten u n d Pflichten der Staatsbürger, 29

Huber, Dokumente, 1, S. 81 ff.; ders., Verfassungsgeschichte 1, S. 646 ff. Pölitz, S. 806 ff. ; Karl Bohley, Die Entwicklung der Verfassungsfrage i n Sachsen - Coburg - Saalfeld von 1800 bis 1821 ( = Erlanger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 13) 1933, S. 78 ff. Harald Bachmann, Herzog Ernst I. und der Coburger Landtag 1821 - 1844 ( = Coburger Heimatkunde u n d Landesgeschichte II/23) 1973, S. 75 ff. 31 Vgl. auch Werner Näf, Staatsverfassungen u n d Staatstypen 1830/31, i n : Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 - 1918) 1972, S. 137 f. m i t I n t e r pretation der sächsischen Verfassung von 1831. 30

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3. Von den Kirchen, den Unterrichts- u n d Wohltätigkeitsanstalten, 4. Von den Gemeinden, 5. Von den Landständen, 6. Von den Befugnissen der Landstände, 7. Von den Geschäftsordnungen bei den Landtagen, 8. Von dem ständischen Ausschuß, 9. Von dem Rechnungswesen bei der Landeskasse, 10. Von der Gewähr der Verfassung.

Dieser formalen Verwandtschaft entspricht die inhaltliche. Denn wie i n mittelstaatlichen Verfassungen findet sich i n der Coburger erstmalig der Gedanke des monarchischen Prinzips 3 2 . I n wörtlicher Ubereinstimmung mit der bayerischen und hessen-darmstädtischen Verfassung heißt es in der Coburger, der Herzog ist „das Oberhaupt des Staates, vereinigt i n sich alle Rechte der Staatsgewalt und übt sie in den von i h m gegebenen in dieser Verfassungsurkunde festgesetzten Bestimmungen aus" (§ 3). Der Landesherr bleibt also souverän, aber i n der Ausübung seiner Staatsgewalt ist er an die einschränkenden Bestimmungen der Verfassung gebunden. Erstmalig w i r d hier das Verhältnis des Fürsten zu seinen Ständen klar umschrieben, und zwar zugunsten des Landesherrn, da die Stände nur i n durch die Verfassung bestimmten Fällen ein Mitwirkungsrecht (oder Entscheidungsrecht) besaßen. Diese eindeutige Formulierung über die Stellung des Landesherrn hatte i n Art. 57 der Wiener Schlußakte ihre Präzisierung und Ergänzung gefunden, wenn es dort heißt, daß der Souverän durch eine landständische Verfassung nur i n Ausübung bestimmter Rechte an die M i t w i r k u n g der Stände gebunden sei. Die Einfügung des monarchischen Prinzips stellt die zweite wesentliche Etappe in der konstitutionellen Entwicklung dar. I n bezug auf Zusammensetzung und Aufgaben der Stände entspricht die Coburger Verfassung den älteren kleinstaatlichen bzw. jüngeren mittelstaatlichen Urkunden. Sie weicht allerdings insofern von den mittelstaatlichen ab, als man i n Coburg das Zwei-Kammer-System (wie ζ. B. i n Bayern u. a.) nicht einführt, da es für die kleinräumigen Verhältnisse als nicht sinnvoll erscheint 33 . Die meisten kleinstaatlichen Verfassungsurkunden folgen nun dem mittelstaatlichen bzw. Coburger Muster von 1821 — aber es gibt Ausnahmen. Die nur drei Jahre jüngere Verfassung des Herzogtums Sachsen - Meiningen von 1824 schließt sich eng, zumeist wörtlich an die Sach32 Huber, Verfassungsgeschichte 1, S. 651 ff.; Böckenförde, S. 148 f.; Boldt, Patrimonialismus, S. 80 ff. 33 Neu ist i m Vergleich zu den übrigen kleinstaatlichen Verfassungsurkunden, daß i n Coburg Anträge einzelner oder ganzer Korporationen von allgemeinem politischem Interesse an die Ständevertretung verboten waren (§ 79).

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sen-weimeranische Verfassung von 1816 an (außer §§ 7 - 13) 34 . Diese Verfassung hatte aber nur wenige Jahre Gültigkeit, sie wurde nach dem Teilungsvertrag von 1826 durch das Grundgesetz von 1829 abgelöst, das dem Coburgischen bzw. den mittelstaatlichen Vorbildern folgte 35 . 2. M i t der Pariser Julirevolution von 1830 setzt eine abermalige, aber schwächere Welle neuer Verfassungen i n den Kleinstaaten ein 3 6 . I n diesem Jahr stellte der Fürst von Schwarzburg - Sondershausen erstmalig eine Verfassung i n Aussicht 37 . Anknüpfend an die Bestimmungen der Deutschen Bundesakte verordnete Fürst Günther am 28. 12. 1830 eine lediglich die landständischen Fragen regelnde Verfassung, die sogleich auf den Widerstand der Bevölkerung stieß, insbesondere der Bürgerschaft, da sie deren Wünschen und Erwartungen nicht entsprach. Gegenstand der K r i t i k war vor allem die Tatsache, daß es sich hier lediglich um eine landesherrliche Verordnung über die Einrichtung einer ständischen Landesvertretung handelte und nicht um eine Verfassungsurkunde, die das Verhältnis von Landesherrn und Landständen festlegte. Die Sondershauser Urkunde galt bald als „eine wahre Kuriosität" und wurde als Hohn auf jegliches konstitutionelles Prinzip bezeichnet. Angesichts der fehlenden Zustimmung der Bürgerschaft erklärte der Landesherr i m Jahre 1831 ungehalten, wegen der Nichtannahme verstehe es sich von selbst, daß alles i n seiner bisherigen Ordnung bleiben und fortgehen müsse. Der erste Versuch einer konstitutionellen Verfassung i n Schwarzburg - Sondershausen war damit gescheitert. Es rührte sich kein Widerstand! Anders i m (seit 1826 bestehenden) Herzogtum Sachsen - Altenburg, dessen Verfassung eine Frucht der Pariser Vorgänge ist. Politische Unruhen i n der Stadt Altenburg veranlaßten 1830 Herzog Friedrich, eine allgemeine Verfassung i n Aussicht zu stellen, die i m Gegensatz zu der Verfassung von Schwarzburg - Sondershausen i n enger Anlehnung an die jüngeren Verfassungen als Grundgesetz für das Herzogtum 1831 i n Kraft trat und i n der 5. Abteilung (§§ 162 ff.) von den Landständen handelte 38 . 34 Pölitz, S. 824 ff. ; Goeckel, Das Staatsrecht des Herzogtums Sachsen - M e i ningen, i n : Blätter für Rechtspflege i n Thüringen u n d Anhalt, N F 31, 1904, S. 39 ff. 35 Pölitz, S. 833 ff. 36 I n jenen Kleinstaaten, die bereits über eine Verfassung verfügten, k a m es, i m Gegensatz zu den Mittelstaaten, nicht zu größeren Unruhen. 37 Pölitz y S. 1066 ff.; Friedrich hämmert, Verfassungsgeschichte von Schwarzburg - Sondershausen ( = Bücherei der K u l t u r u n d Geschichte 10) 1920, S. 72 ff.; Ruhe, S. 86. E i n Landesgrundgesetz für Schwarzburg - Sondershausen wurde erst 1841 veröffentlicht, s. Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die europäischen V e r fassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 4, 1, hrsg. von Friedrich Bülau, 1847, S. 298 ff.; Lammert, S. 81 ff. 38 Pölitz, S. 856 ff.



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Das He volutions jähr von 1830 löste auch i n den zur dänischen Krone gehörenden Herzogtümern Schleswig und Holstein Unruhen aus, die 1831 zur Bildung von Provinzialständen mit i m wesentlichen beratender Funktion führte, während i n Lauenburg die alte landständische Verfassung wirksam blieb. Sie nimmt eine isolierte Stellung innerhalb der übrigen Verfassungen ein. Die seit 1816 laufenden Verhandlungen wegen einer landständischen Verfassung für das zum Deutschen Bund gehörende Holstein hatten zu keinem Ergebnis geführt 3 9 . I n diesen Zeitabschnitt fällt auch die endgültige Verabschiedung einer landständischen Verfassung (also kein Landes-Grundgesetz) i m Fürstentum Lippe 4 0 . Denn 1836 hatten sich endlich Fürst, Regierung und bisherige Stände auf eine Verfassung geeinigt, die i n Lippe ein konstitutionelles Leben ermöglichte, wie es seit 20 Jahren i n anderen Kleinstaaten längst bestand 41 . Freilich, die konservativen Kräfte konnten weiterhin ihren Einfluß geltend machen und auch behaupten, und zwar durch Einführung der sog. Kurienverfassung. Das bedeutete, daß die Gesamtzahl der sich aus drei Ständen (Ritter, Städte, Grundbesitzer) zusammensetzenden Abgeordneten i n zwei Kurien aufgeteilt wurde. Zur ersten Kurie zählte lediglich der 1. Stand (Ritter = 7 Abgeordnete), während der zweiten Kurie der 2. und 3. Stand (Städte und Grundbesitzer = je 7 Abgeordnete) angehörten 42 — ein Unikum unter den kleinstaatlichen Verfassungen, mit für die lippischen Verhältnisse weittragenden Folgen. Die Verfassungsurkunde setzte § 30 fest, daß vorbereitende Beratungen i n einer Versammlung, also gemeinsam, stattfinden, daß aber die entscheidende Abstimmung i n getrennten Kurien erfolgen sollte. Es gab also i n Lippe — außer bei allgemeinen Landesabgaben — i m allgemeinen kein Mehrheitsprinzip 4 3 . A u f diese Weise hatte die 1. Kurie m i t nur sieben Abgeordneten ein deutliches Ubergewicht gegenüber der 2. Kurie m i t insgesamt 14 Abgeordneten. Bei strittigen Abstimmungen konnte die Kurienverfassung dazu führen, daß die 1. Kurie m i t einer Mehrheit von nur vier Stimmen i n der Lage war, jeden Antrag, der die Billigung der restlichen drei Stimmen der 1. Kurie und sämtlicher 14 Abgeordneten der 2. Kurie fand, abzulehnen — ein ausgesprochener Mißgriff auf altständische Zeiten mit betontem Ubergewicht der ritterschaftlichen Abgeordneten. Er erinnert an das unter völlig anderen Verhältnissen entstandene Zwei-Kammer-System der Mittelstaaten. Wie konnte sich i n Lippe eine „allgemeine Repräsentation der Interessen des Landes" (so heißt es i n der 39

Ebd., S. 729 ff.; i n K r a f t getreten 1834. Vgl. o. S. 110 ff. 41 Pölitz-Bülau, S. 340 ff.; Kiewning, Verfassung, S. 89 ff.; K i t t e l , S. 186 ff. 42 Schon 1819 hatten die Stände bei ihrer Auseinandersetzung m i t der Fürstin Pauline u m eine Verfassung ein entsprechendes Zweikammersystem gefordert, s. Kiewning, Fürstin Pauline, S. 544. 43 I m Gegensatz hierzu sah die suspendierte Verfassung von 1819 i n § 47 „entschiedene Stimmenmehrheit" vor. 40

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Präambel) i n einem noch so bescheidenen Rahmen entwickeln, wenn vier von insgesamt 21 Abgeordneten i n der Lage waren, die Tätigkeit der Landstände zu blockieren? Kein Wunder, daß die lippischen Verfassungsverhältnisse noch 1871 als eine „Karikatur des Zweikammersystems" bezeichnet wurden 4 4 . 3. Bis 1848 war das Verfassungsbild i n denjenigen Kleinstaaten, die i n Auswirkung des A r t . 13 landständische Verfassungen erhalten hatten, abgesehen von den Abweichungen der lippischen Sonderregelung, relativ einheitlich. Es gliedert sich i n zwei unterschiedliche Verfassungstypen. Zum ersten Typ zählen jene frühen, ζ. T. noch altständisch orientierten Verfassungen (1816 - 1818), zu denen — auch nach Herausbildung des zweiten Typs — noch die Verfassung von Liechtenstein (1818), Sachsen Meiningen (1824), Lippe (1836) und Luxemburg (1841) kamen. Ihnen steht der zweite Typ gegenüber, der i n Anlehnung an mittelstaatliche Verfassungen den Gedanken des monarchischen Prinzips übernahm und folgerichtig gesamtstaatliche Verfassungen schuf; hierzu zählen Sachsen - Coburg - Saalfeld (1821), Sachsen - Meiningen (1829), Sachsen - Altenburg (1831), Hohenzollern - Sigmaringen (1833) und Schwarzburg - Sondershausen (1841)45. Während bis 1848 das Großherzogtum Oldenburg und die Landgrafschaft Hessen - Homburg überhaupt keine landständische Verfassung erhalten hatten, blieben i n den beiden mecklenburgischen Herzogtümern, i n den anhaltinischen und reußischen Fürstentümern sowie i m Herzogtum Hohenzollern-Hechingen 46 altständische Verfassungen des 17. und 18. Jahrhunderts unverändert i n Geltung.

III. Dieses Bild w i r d durch die Revolution von 1848 und ihre Auswirkung sehr viel differenzierter. Das Ergebnis ist von Land zu Land verschieden. Es ist abhängig von der Persönlichkeit des Fürsten, von der Machtstellung der Regierung, der Bedeutung der Stände und insbesondere von dem wachsenden Gewicht des Bürgertums i n den Kleinstaaten, d. h. von dem Drängen demokratischer und liberaler Kräfte auf Änderung der Verfassung. Das hatte zur Folge, daß nun auch die letzten Kleinstaaten, die bisher ohne Verfassung ausgekommen waren, eine landständische Verfassung (für immer oder auf Zeit) erhielten, so Oldenburg (1848)47 und 44

Fr. Hack, Übersicht über die Zusammensetzung der Volksvertretung i n Deutschland und i n anderen repräsentativen Staaten . . . , i n : Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 27, 1871, S. 535 (freundlicher Hinweis von P. Steinbach, Berlin). 45 Es kann hier nicht untersucht werden, welche Gründe i n den einzelnen Staaten zu diesem oder jenem Verfassungstyp geführt haben. 46 Erweiterung der landständischen Rechte i n Hohenzollern-Hechingen durch Verkündung einer neuen Wahlordnung 1835, s. Pölitz-Bülau, S. 332 ff.

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Hessen - Homburg (1850)48. Ähnlich verlief die Entwicklung i n den Ländern, die zwar nominell eine landständische Verfassung aus der Zeit vor 1816 besaßen, i n denen aber diese Verfassung durch eine absolutistische Regierung des Landesherrn weitgehend ausgehöhlt war, so daß sie i n Vergessenheit geraten konnte. Der 48er Bewegung verdanken diese Länder eine Verfassung. Das gilt für die anhaltinischen Herzogtümer und für Reuß j. L. (1849). I n den vereinigten Herzogtümern Anhalt - Kothen und Anhalt - Dessau erhob sich eine liberale Bewegung, die 1848 eine Verfassung hervorbrachte und die den Satz proklamierte, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus, die ferner den Adel abschaffte und — ebenso wie die Verfassung von Schwarzburg - Sondershausen (1849) — eine monarchisch-demokratische Staatsform festlegte. M i t der Bildung von Arbeiterkommissionen greift diese Verfassung unmittelbar die soziale Frage auf 4 9 . Lediglich i m Fürstentum Reuß ä. L. blieben die Verhältnisse nach 1848 bzw. 1851 wie vor der Revolution; zwar waren dort Verhandlungen über eine neue Verfassung geführt und auch beendet worden; aber diese Verfassung wurde nie publiziert, so daß der vorrevolutionäre Zustand und damit die alte Ständeversammlung wieder ins Leben traten 5 0 . Die Verfassungen der konstitutionell regierten Kleinstaaten wurden durch die Revolution von 1848 i n unterschiedlichem Ausmaß geändert 51 . Vor allem i n den thüringischen Herzogtümern ist, bedingt durch w i r t schaftliche und soziale Verhältnisse, eine betont liberale, hier und da auch Sozialrevolutionäre Bewegung zu beobachten. Sie hatte das Inkrafttreten verschiedener Reformgesetze und vor allem eine Änderung der Wahlgesetze (allgemeine, direkte Wahl) zur Folge, doch nur für kurze Zeit. Denn in Sachsen - Altenburg und Sachsen - Meiningen kam es m i t dem Ziel der Wiederherstellung der früheren verfassungsmäßigen Ordnung zum Eingreifen des Bundes, zur Reichsintervention und zum Einmarsch von Bundeskontingenten. I m Gegensatz hierzu verlief die Revolution in Sachsen Weimar - Eisenach trotz radikaler Bestrebungen ruhiger und i n Sachsen Gotha friedlich, die Einführung von Reformgesetzen stieß auf keinen Widerstand 52 . 47 Huber, Verfassungsgeschichte 2, 21968, S. 540 f.; Monika Wegmann-Fetsch, Die Revolution von 1848 i m Großherzogtum Oldenburg ( = Oldenburger Studien 10) 1974, S. 20 ff., 124 ff., 157 ff. 48 Carl von Kaltenborn, Geschichte der Deutschen Bundesverhältnisse u n d Einheitsbestrebungen von 1806 bis 1856 unter Berücksichtigung der E n t w i c k lung der Landesverfassungen 2, 1857, S. 432. Die Verfassung wurde bereits 1852 aufgehoben. 49 Ebd., S. 424 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte 2, S. 534 ff.; vgl. ebd. auch die Entwicklung i n Anhalt - Bernburg. 50 Kaltenborn, S. 428. Reuß ä. L. vollzieht erst 1867 als letzter Kleinstaat den Ubergang vom ständischen zum konstitutionellen Staat, s. G. Brückner, L a n des- und Volkskunde des Fürstentums Reuß j. L., 1870, S. 392 f. 51 Vgl. hierzu i m einzelnen das i n A n m . 2 zitierte Verfassungsregister.

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Als besonders schwierig erwies sich dagegen i n den beiden mecklenburgischen Großherzogtümern der Übergang vom hier noch bestehenden altständischen Feudalstaat zum konstitutionellen Repräsentationsstaat, 1848 trat eine gesamtmecklenburgische Abgeordnetenversammlung zusammen, die i m folgenden Jahr ein Staatsgrundgesetz verabschiedete 53 . Hiergegen erhob Großherzog Georg von Mecklenburg - Strelitz Einspruch. I m Freienwalder Schiedsspruch von 1850, der sich auf Art. 56 der Wiener Schlußakte berief, wurde das Staatsgrundgesetz von 1849 für nichtig erklärt und die alte landständische Verfassung von 1755 wieder als die allein gültige eingesetzt. Diese Entscheidung verhinderte den Übergang Mecklenburgs zu einem Land m i t konstitutioneller Verfassung und hatte seine Rückkehr i n das feudalstaatliche System des 18. Jahrhunderts, das trotz aller Bemühungen i n den Jahren nach 1874, 1907 und 1910 bis 1918 bestehen blieb, zur Folge 54 . Diese vollständige Rückkehr i n vorrevolutionäre Verhältnisse, wenn auch nicht in die des 18. Jahrhunderts, findet sich auch i n Lippe. Unter dem Druck revolutionärer Verhältnisse wurde hier 1849 eine neue Wahlordnung und eine vorläufige Landtagsordnung verkündet, die u. a. eine Einteilung des Landtags nach Kurien nicht mehr vorsah. Aber zu einer neuen Verfassung kam es dennoch nicht. Die folgenden Jahre waren zwar angefüllt mit Verhandlungen um eine neue Verfassung, aber sie blieben stecken. Unter Einwirkung der allgemein einsetzenden Reaktion auf die 48er Bewegung geschah dann i n Lippe Erstaunliches: Fürst Leopold III. verkündete 1853 gegen das Votum der Regierung die Rechtmäßigkeit der vorrevolutionären und antiquierten Verfassung von 1836 als unverändertes Grundgesetz und hob damit alle die landständischen Verhältnisse betr. Änderungen nach 1848 wieder auf. Hatte Lippe endlich 1836 mit 20jähriger Verspätung den Anschluß an die konstitutionelle Bewegung gefunden, so machte es nun i n denkbar unglücklicher Entscheidung alle Ansätze, zu einem auch nur einigermaßen adäquaten Verfassungsleben zu gelangen, zunichte und warf stattdessen die Verfassungsstruktur des kleinen Landes um Jahrzehnte zurück 55 . Die treibende K r a f t dieser Entwicklung war der zum lippischen Kabinettsminister ernannte Laurenz Hannibal Fischer 5C, ein Feind jeglicher revolutionärer Kräfte, dessen Ziel die restlose Beseitigung der Errungenschaften der Revolution war. Er hatte Erfolg! Es dauerte viele Jahre, bis dieser Rückstand schließlich abgebaut wurde. Da die oppositionellen Abgeordneten ihre Mandate niederlegten oder deren Annahme verweigerten, mußte die Regierung 52

Hub er, Verfassungsgeschichte 2, S. 530 ff. Ebd., S. 541 ff. r 4 > Huber, Verfassungsgeschichte 3, 2 1970, S. 220 ff. u n d 4,1969, S. 422 ff. 55 Kaltenborn, S. 429 ff.; Kiewning, Verfassung, S. 115 ff., 133 ff., 163 ff.; Kittel, S. 205 ff. 56 Neue Deutsche Biographie 5,1961, S. 199 f. 53

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ohne Landtag regieren. 1876 schließlich verschwand die Kurienabstimmung und wurde durch das Mehrheitsprinzip ersetzt. I m übrigen konzentrierten sich natürlich die Verfassungskämpfe wie überall auf das Wahlrecht. I n Schaumburg - Lippe und Waldeck war die Auswirkung der Revolution auf die Verfassung maßvoll. Zwar kam es i n Schaumburg - Lippe zu Unruhen, man setzte sich für eine neue Verfassung und vor allem für eine neue Wahlordnung ein. Aber die Regierung blieb trotz heftigen Drängens der Stände untätig. Ein kurzes demokratisches Zwischenspiel blieb Episode, es verlief i m Sande. Und es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis nach Bildung des Norddeutschen Bundes und der Wahlen zum Deutschen Reichstag eine Landesversammlung zusammentrat und auch für Schaumburg - Lippe 1868 eine neue Verfassung und ein neues Wahlgesetz veröffentlicht wurden. Beide galten bis 191857. Friedlicher und mit schließlich positivem Ergebnis verlief die demokratische Bewegung i n Waldeck und Pyrmont. Hier scheiterte ein erster Versuch der Verabschiedung einer neuen Verfassung m i t Wahlgesetz am Einspruch eines Agnaten des fürstlichen Hauses bei der Bundesversammlung. 1852 wurden eine neue Verfassungsurkunde, die sich inhaltlich stark durch ζ. T. fast wörtliche Übernahme einzelner Paragraphen an die preußische Verfassung von 1850 anlehnte, und ein neues Wahlgesetz publiziert 5 8 . Außer i n Mecklenburg und i n Lippe ist es i m Zug der einsetzenden Reaktion nirgends zu einem derartigen Rückgriff auf vorrevolutionäre Verhältnisse gekommen. Maßgebend für das Ausmaß der Revision ist das Kräfteverhältnis der i m Land bestimmenden politischen Kräfte (Landesherr, Regierung, Stände, Parteien) zueinander. Die Domänen kehrten wieder in das Eigentum der Fürsten zurück, die Zivillisten wurden abgeschafft. Die Verfassungen wurden m i t dem Ziel einer Beseitigung bzw. Einschränkung liberal-demokratischer Elemente überprüft und teilweise — oft gemeinsam m i t Wahlordnungen — neu formuliert, so in: Anhalt Bernburg (1850), Sachsen -Weimar - Eisenach (1850), Oldenburg (1852), Reuß j. L. (1852), Sachsen - Coburg und Gotha (1852), Lauenburg (1853), Schleswig (1854), Holstein (1854), Schwarzburg - Rudolstadt (1854), Schwarzburg - Sondershausen (1857), Anhalt - Dessau (1859). Das B i l d der kleinstaatlichen Verfassungen ist gegen Ende der konstitutionellen Monarchie von verwirrender Vielfalt, bedingt durch w i r t schaftliche, soziale und parteipolitische Faktoren ebenso wie durch Stärke oder Schwäche der Landesherren, ihrer Regierungen oder der i m Lande 57

Kaltenborn, S. 429; Westerich, S. 340 ff. Kaltenborn, S. 431 f.; Claus Cramer, i n : Waldeckische Landeskunde, 1971, S. 258; Eckhard Werner Budach, Das Fürstentum Waldeck i n der Zeit des Deutschen Bundes. Jur. Diss. K i e l 1973, S. 220 ff. 58

Der Konstitutionalismus i n den deutschen Kleinstaaten

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tätigen Politiker. Der Konflikt entzündete sich nun weniger an der Verfassungsfrage als vielmehr an dem Problem der Zusammensetzung des i n der Verfassung verankerten Landtags, d. h. an der Wahlordnung für einen Landtag. Diese Frage bestimmt die verfassungsrechtliche Diskussion aller Länder und Parlamente bis zum Ende der konstitutionellen Monarchie durch die Novemberrevolution von 1918.