Blank Spaces: Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur [1. Aufl.] 9783839403433

Die »blank spaces on the earth« (Joseph Conrad), die unbetretenen, unentdeckten Räume unserer Welt, fordern unsere Fanta

198 109 1MB

German Pages 350 [349] Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
I. Kultur und Sprache
1. Wörter. Zaire – Civilisation – Kultur – Der Fluss – Der Busch – Das »Herz der Finsternis« – Das Schiff
2. Kultur als Text? Intertextualität – Hahnenkämpfe: Die »Bürde des Autors« – Der »andere Schauplatz« – Das Theater der Textualisierung – Der Tausch und das Mycelium
3. Bühnen der Textualisierung: Ritus, Gewalt und Migration. Rites de passage – Liminalität – Struktur und Antistruktur – Gewalt und Reziprozität – Masken und Doppelgänger – Der (Ur-)Mord – Ortlosigkeit und Migration
II. Blank Spaces
1. Übersetzen. Transposition – Die ›Aufgabe‹ des Übersetzers – Übersetzung einer Flussfahrt: Heart of Darkness – Schwellenräume – Das Nicht-Nichts – Die Enttäuschung des Lesers – Die Rückkehr der Worte: Jewels Geschichte – Der »ausgesparte Rest«: Die Identität des Autors – »Blank Spaces«: Die Zirkulation des Scheiterns – Geste des Übergangs – Schwarz und Weiß
2. Ur-Springen. Psychoanalyse und Übersetzung – Freud und Conrad – Autoerotismus – Urphantasien – L’écorce et le noyau – Das Inzesttabu – Introjektion oder Inkorporation: Die Leere des Mundes – Der Komplex der toten Mutter – Das Geheimnis
3. Muttersprachen I: The Horror. Der Gang zu den Müttern – Unspeakable Rites – Der Körper der Mutter – Die verdoppelte Frau – Die Krypta – Das Phantasma der Souveränität – Das koloniale Phantasma
III. Gabe und Inzest
1. Gabe und Ursprung des Sozialen. Die Überschreitung als Ursprung: das corrobori – Die ursprüngliche Vermengung – Der Gabentausch: das hau – Der »Felsen« – Die Gabe (wenn es sie gibt) – Gabe, Inzest und Übersetzung
2. Muttersprachen II: »Die Luft der Höfe« Potential Space – Mutterschaft: Homogenisierung des Heterogenen – Maternité: »a luminous spatialization« – Die Frau-als-Mutter: Eine Katastrophe des Seins – Maternité als »vorursprüngliche Bedeutsamkeit« – Luft und Wolken – Das mimetische Vermögen
3. Abjektion und Vatermord. Das Abjekte – Un »commencement« précédant le verbe – Purity and danger – Das Sublime – Das metaphorische Objekt – Der Urvater – Mann Moses
IV. Phantasie, Zerstreuung, Handeln
1. Rousseau: Essai sur l’origine des langues. Ortloses Begehren – Phantasie – Supplementarität/Metaphorizität – De l’écriture – Ce léger mouvement – Der Ursprung der Sprachen – Süden und Norden
2. Diderot: Le Neveu de Rameau. Diderot/Rousseau – Dialogizität – Diderots Stil – »Maestoso Cazzo«: Das Schmeicheln als Produktionsstätte der Phantasmen – Le petit sauvage – Der Neffe
3. Lenz: Der neue Menoza. Verbot – Tun – Konkupiszenz – Standpunkt – Die maskierte Familie – Das Püppelspiel – AtemwEnde
Literatur
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Blank Spaces: Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur [1. Aufl.]
 9783839403433

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Stephan Trinkaus Blank Spaces

m e d i e n · k u l t u r · a n a l y s e | herausgegeben von Reinhold Görling | Band 3

Für, trotz und dank Marthe und Susanne

Stephan Trinkaus (Dr. phil.) lebt in Berlin und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Medien und Kulturwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Stephan Trinkaus Blank Spaces. Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Stephan Trinkaus Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-343-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

INHALT

Vorwort 9

I. Kultur und Sprache 15 1. Wörter Zaire – Civilisation – Kultur – Der Fluss – Der Busch – Das »Herz der Finsternis« – Das Schiff 17 2. Kultur als Text? Intertextualität – Hahnenkämpfe: Die »Bürde des Autors« – Der »andere Schauplatz« – Das Theater der Textualisierung – Der Tausch und das Mycelium 37 3. Bühnen der Textualisierung: Ritus, Gewalt und Migration Rites de passage – Liminalität – Struktur und Antistruktur – Gewalt und Reziprozität – Masken und Doppelgänger – Der (Ur-)Mord – Ortlosigkeit und Migration 55

II. Blank Spaces 77 1. Übersetzen Transposition – Die ›Aufgabe‹ des Übersetzers – Übersetzung einer Flussfahrt: Heart of Darkness – Schwellenräume – Das Nicht-Nichts – Die Enttäuschung des Lesers – Die Rückkehr der Worte: Jewels Geschichte – Der »ausgesparte Rest«: Die Identität des Autors – »Blank Spaces«: Die Zirkulation des Scheiterns – Geste des Übergangs – Schwarz und Weiß 79 2. Ur-Springen Psychoanalyse und Übersetzung – Freud und Conrad – Autoerotismus – Urphantasien – L’écorce et le noyau – Das Inzesttabu – Introjektion oder Inkorporation: Die Leere des Mundes – Der Komplex der toten Mutter – Das Geheimnis 107 3. Muttersprachen I: The Horror Der Gang zu den Müttern – Unspeakable Rites – Der Körper der Mutter – Die verdoppelte Frau – Die Krypta – Das Phantasma der Souveränität – Das koloniale Phantasma 141

III. Gabe und Inzest 173 1. Gabe und Ursprung des Sozialen Die Überschreitung als Ursprung: das corrobori – Die ursprüngliche Vermengung – Der Gabentausch: das hau – Der »Felsen« – Die Gabe (wenn es sie gibt) – Gabe, Inzest und Übersetzung 175

2. Muttersprachen II: »Die Luft der Höfe« Potential Space – Mutterschaft: Homogenisierung des Heterogenen – Maternité: »a luminous spatialization« – Die Frau-als-Mutter: Eine Katastrophe des Seins – Maternité als »vorursprüngliche Bedeutsamkeit« – Luft und Wolken – Das mimetische Vermögen 199 3. Abjektion und Vatermord Das Abjekte – Un »commencement« précédant le verbe – Purity and danger – Das Sublime – Das metaphorische Objekt – Der Urvater – Mann Moses 225

IV. Phantasie, Zerstreuung, Handeln 251 1. Rousseau: Essai sur l’origine des langues Ortloses Begehren – Phantasie – Supplementarität/Metaphorizität – De l’écriture – Ce léger mouvement – Der Ursprung der Sprachen – Süden und Norden 253 2. Diderot: Le Neveu de Rameau Diderot/Rousseau – Dialogizität – Diderots Stil – »Maestoso Cazzo«: Das Schmeicheln als Produktionsstätte der Phantasmen – Le petit sauvage – Der Neffe 279 3. Lenz: Der neue Menoza Verbot – Tun – Konkupiszenz – Standpunkt – Die maskierte Familie – Das Püppelspiel – AtemwEnde 301

Literatur 335

VORWORT Sonst ist Deutschland auf der historisch-politischen Landkarte eines afrikanischen Schülers, Studenten oder Gebildeten weithin ein weißer Fleck.1

Diderot hatte sich eine Natur gedacht, die mit den Atomen Würfel spielt, die Welt erschafft und die denkenden Wesen dank der sich aus der »Menge der Würfe« ergebenden Wahrscheinlichkeit hervorbringt. Mallarmé macht aus dem Denken und dem Zufall ein unauflösliches Paar, so unauflöslich, daß er der Gestalt des Gedichtes auf der Seite, seiner offenen, räumlich auseinandergerückten Syntax den Anblick einer Sendung von Missilia verleiht, die mit gleichsam regelmäßiger Bewegung von oben nach unten über die Doppelseite, von der Höhe in den »Abgrund« geworfen sind. Der Wurf ist analog einer Milchstraße, wobei – auf der letzten Seite – »eine Konstellation« in der Schwebe bleibt. Die Gabe wird die einer »vollständigen Rechnungsaufstellung«, das heißt einer Welt sein und zugleich eines unendlich offenen Raumes (»nichts wird sich verorten außer dem Ort«). Mallarmé situiert seinen Versuch »neben dem persönlichen Gesang«. Es ist dennoch nicht der unpersönliche Zufall, der hier spricht, sondern eine »reine und komplexe Einbildungskraft«. In letzter Instanz beharrt Mallarmé darauf, das Bild des Wurfes und des Hervorquellens lebendig zu erhalten; er bezeichnet am Ende seines Vorworts zu Un coup des dés die Poesie als die »einzige Quelle«.2

Das Gedicht Mallarmés, auf das sich Starobinski in diesem Text bezieht, der im Zusammenhang einer von ihm betreuten Ausstellung zur Gabe und der Großzügigkeit (Largesse) entstanden ist, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard3, versucht einen Würfelwurf auf einer Buchseite dar1

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Jochen R. Klicker: Geleitwort: Ein Afrika oder viele – Geschichtsschreibung aus einem zerrissenen Kontinent, in: Joseph Ki-Zerbo, Die Geschichte Schwarzafrikas, übers. v. Elke Hammer, Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S.1518, hier: S.15 Jean Starobinski: Gute Gaben, schlimme Gaben – Die Ambivalenz sozialer Gesten, übersetzt von Horst Günther, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S.160 Stephane Mallarmé, Un coup de dés jamais n’abolira le hasard/Ein Würfelwurf niemals je auslöschen wird den Zufall, übersetzt von Carl Fischer, in:

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zustellen. Mehr noch, es versucht den Moment der Bewegung selbst, den Übergang zwischen dem Werfen und dem Auftreffen der Würfel, graphisch hervortreten zu lassen. So kann es zugleich eine Welt und einen unendlich offenen Raum zeigen, wie Starobinski sagt, also das, was erscheinen will und die Anwesenheit von etwas, was dieses Erscheinen zum Verschwinden zu bringen versucht. Diese andere Seite des Erscheinens, das Ereignis des Geworfenwerdens, der Übergangsraum zwischen ›Schon-geworfen‹ und ›Noch-nicht-angekommen‹, zwischen ›ImErscheinen‹ und ›Im-Verschwinden‹, wird in der Graphie des Gedichts zur Weiße des Papiers, zu – wie es im entsprechenden Jargon heißt – blanks. »Le papier intervient chaque fois qu’une image, d’elle-même, cesse ou rentre, acceptant la succession d’autres [...].«4, schreibt Mallarmé im Vorwort zu Un coup de dés. Diese weißen Stellen, diese blancs oder blanks sind die Voraussetzung jeder Wiederholung und jeder Hervorbringung, also jeder Kontinuität und jedes Neuen: das Immergleiche und das, was die Wiederholung von dem, was wiederholt wird, grundsätzlich unterscheidet. Diese Weiße scheint unsichtbar, obwohl sie immer sichtbar bleibt; sie scheint abwesend und doch ist ihre Anwesenheit die Bedingung – so könnte man sagen, auch wenn es etwas esoterisch klingen mag – von allem. Denn: In einem ganz bestimmten Sinne – so verstehe ich Starobinski – ist dieses Weiß, sind diese blanks die einzige Möglichkeit ein Ereignis zu figurieren, das sich in seiner Immaterialität und Ortlosigkeit jeder Darstellung widersetzt, ja, das in seiner Darstellung ausgelöscht zu werden droht: die Gabe, das Ereignis des Gebens. Damit überträgt Starobinski die Graphie von Un coup de dés in den kulturellen Raum. Folgt man dieser Lesart, so bezeichnet die Gabe die Möglichkeit des Werfens, die Möglichkeit der Hervorbringung einer Welt und das, was von ihr ausgeschlossen wird und dennoch anwesend bleibt. Insofern zeigt Mallarmés Thematisierung des Weiß einfach das, was da ist: »[...] je ne transgresse cette mesure, seulement la disperse«5, zugleich aber auch die darin enthaltene potentielle Unendlichkeit. Die Graphie von Un coup de dés macht die innere Dynamik kulturellen Handelns als Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schließung,

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Ders., Sämtliche Dichtungen, Zweisprachige Ausgabe, München: dtv 1995, S.221-265 »Das Papier drängt sich immer dann auf, wenn ein Bild sich von selbst verliert oder zurücktritt, anderen das Kommen überlassend [...]« Mallarmé, Un coup de dés, S.222/223 »[...] dieses Verhältnis überschreite ich nicht, verteile den Raum nur.« Mallarmé, Un coup de dés, S.222/223

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aber auch beider Unmöglichkeit, die unauslöschliche Anwesenheit des in jeder Handlung Ausgeschlossenen sichtbar. Diese Anwesenheit des Abwesenden und Ausgeschlossenen wird zu jener unique source, der Mallarmé in der Poesie begegnet. In ihr öffnet sich etwas, das nirgendwo hin will und nirgends ankommt. Es ist ein Moment der Nähe, der hier aufscheint, der Augenblick einer Begegnung zwischen Ortlosigkeit und Verortung, Bewegung und Statik. Auf die grundlegende Konzeptionalisierung der Gabe in Marcel Mauss’ Essai sur le don6 zurückkommend und über sie hinausgehend lese ich die Gabe vor allem als diese Einzigartigkeit, die sich zwischen Menschen – oder eher: Singularitäten – ereignet und doch jede Individualität auflöst: in der Intimität einer Begegnung jenseits kultureller Festschreibung. Dennoch und gerade deshalb ist es dieses Ereignis der Gabe, des Gebens, das die Prozessualität von Kultur ermöglicht. Seine Sichtbarmachung bleibt einer »reinen und komplexen Einbildungskraft« vorbehalten, die sich den kulturellen Verortungen, den Phantasmen entzieht. Was hat es demgegenüber aber mit dem Inzest auf sich, den der Titel dieser Arbeit ebenso als blank space bezeichnet? In einem jüngst erschienen Sammelband mit Aufsätzen zu den historischen Figurationen des Inzest heißt es: Und wie das Inzesttabu sich auf etwas bezieht, das womöglich ebenso heftig begehrt wie gefürchtet wird und als Verbot seine Transgression schon impliziert, wird dabei ersichtlich, dass der Komplex Inzest im Kern die Problematik einer Grenzziehung darstellt: der Grenze zwischen Nähe und Distanz, Liebe und Sexualität, Verwandtschaft und Gesellschaft, sozi7 al geachteten oder geächteten Beziehungen.

Das Inzesttabu ist die Grenzziehung schlechthin. Es bezeichnet jene fundamentale Grenze zwischen Intimität und Distanz, Innen und Außen, auf der jede Kultur sich gründet. Diese Grenzziehung ist unverzichtbar und universal. Ich halte an dieser Grenze jedoch nicht fest, um sie zum Fundament einer ewigen Symbolischen Ordnung zu machen, sondern – im Gegenteil – um von ihr aus jene Ortlosigkeit zu denken, die Ordnung zugleich ermöglicht und durchkreuzt: den »unendlich offenen Raum« der 6

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Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übersetzt von Eva Moldenhauer, in: Ders., Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.11-173 Jutta Eming/Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Historische Inzestdiskurse, Königstein/Taunus: Helmer 2003, S.9-20, hier: S.9f.

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Gabe.8 Die notwendige Grenzziehung des Inzesttabus ist auf genau diesen Übergang gerichtet. Sie setzt – etwas verkürzt ausgedrückt – das unmögliche Objekt des Inzests an die Stelle des Gabenereignisses und tabuisiert es. Damit ermöglicht es zugleich die Bindung und Ausschließung der Gabe. Allerdings um den Preis einer grundsätzlichen und ihrem Wesen nach gewaltförmigen Ambivalenz. Während Kultur sich nämlich auf der einen Seite erst in dieser fundamentalen Grenzziehung, der Ausschließung der Gabe, konstituieren kann, droht andererseits die Versiegelung des kulturellen Raumes durch das auf diesen Ausschluss bezogene Phantasma einer ›inzestuösen‹ Souveränität. Diese stets gefährdete Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schließung, dieser unmögliche Zwischenraum einer aporetischen Konstellation ermöglicht kulturelle Prozessualität. Das ist die grundlegende These meiner Arbeit. Ich habe versucht, den (De-)Figurationen dieses Zwischen in theoretischen und literarischen Texten nachzuspüren, es in seiner Komplexität sichtbar zu machen und eine Möglichkeit seiner Statt-Gabe diesseits der Gewalt aufzufinden. Die Arbeit gliedert sich dabei in vier Teile, die die unterschiedlichen Ebenen und ›Dimensionen‹ dieser Prozessualität zu beleuchten versuchen. Gleichzeitig bauen sie aufeinander auf. Während der erste Teil eher einleitenden Charakter hat, besteht der letzte aus Skizzen zu drei noch ausstehenden Lektüren, die den Rahmen der Arbeit bereits wieder aufzulösen beginnen. Die beiden mittleren Teile bilden somit so etwas wie ihren Kern. Während der zweite Teil anhand einer umfangreichen Lektüre von Joseph Conrads Heart of Darkness die innere Dynamik der inzestuösen Phantasmen im Zusammenhang von Migration, Exil, vor allem aber der kolonialen Einverleibung der Welt nachvollzieht, bringt der dritte Teil mit der Gabe eine andere, nichtphantasmatische Geste ins Spiel. Die Bewegung, die ich dort zu rekonstruieren versuche, nenne ich maternité. Sie 8

Bis zu diesem Punkt würde ich jedenfalls Judith Butler folgen, wenn sie – bspw. in ihrem Antigone-Buch – auf der sozialen Konstruiertheit des Symbolischen beharrt: »Meiner Ansicht nach ist die Unterscheidung zwischen symbolischem und sozialem Gesetz letzten Endes nicht haltbar; ich glaube, das Symbolische selbst ist nicht nur eine Ablagerung gesellschaftlicher Praktiken, sondern radikale Veränderungen in den Verwandtschaftsverhältnissen verlangen eine Neuformulierung der strukturalistischen Voraussetzungen der Psychoanalyse und damit der zeitgenössischen Sexual- und Geschlechtertheorie.« Judith Butler: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, übersetzt von Reiner Ansén, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S.40 Die daraus zu ziehende Konsequenz läge vielleicht weniger darin, die strukturalen Voraussetzungen der Psychoanalyse den veränderten Gegebenheiten anzupassen, sondern wohl eher darin, an den Möglichkeiten anzuknüpfen, die sie bereitstellt, um das, was die Veränderbarkeit selbst ausmacht, die Bedingungen der ihr zugrundeliegenden Prozessualität, zu denken.

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bezeichnet – diesseits der Ambivalenz des Tabus – die Gleichzeitigkeit von Bindung und Trennung als einer Bewegung, deren Grundlage eine unbedingte ›Passivität‹ und Voraussetzungslosigkeit ist. Diese Darstellung verdeckt vielleicht, was einer genaueren Lektüre sicherlich nicht verborgen bleibt: dass sich unter dem dünnen Firnis nachträglicher Überarbeitung die verschiedensten ›Epochen‹ meiner Beschäftigung mit diesen Themen abgelagert haben. Sie ist nicht nur deshalb – wie jeder Text – ein Schauplatz der Nachträglichkeit geworden. Ich halte die Widersprüche, Redundanzen und die inhaltliche und stilistische Disparatheit, die sich daraus ergeben, nicht nur für eine Schwäche: Sie spiegeln auch die Problematik der Fragestellung selbst, vor allem aber die Umstände, unter denen diese Arbeit entstanden ist und die sie ermöglicht haben. Die vier (nunmehr fast sechs) Jahre, die seit den ersten Entwürfen vergangen sind (ganz zu schweigen von den Jahren, die diesen ersten Entwürfen vorausgingen), haben sie selbst zu einem zentralen Umstand meines Lebens gemacht und ich freue mich nicht nur, dass diese Zeit zu Ende geht (gegangen ist). Diese Zeit war eine des intensiven Austauschs und – manchmal auch – eine Zeit der Begegnungen. Die für mich wichtigste Begegnung in diesen Jahren hat sich nachdrücklich in der Arbeit niedergeschlagen. Zu der Form, die dieser Niederschlag in ihr findet, haben viele beigetragen. Ohne die Diskussion der einzelnen Teile der Arbeit im Kolloquium von Reinhold Görling und Xenia Rajewsky wäre sie jedenfalls nicht möglich gewesen. Bei seinen TeilnehmerInnen, denen, die inzwischen nicht mehr dabei sind, und bei Sabine Fries, Trias Kolokitha, Barbara Rodt, Tobias Hinrichs und Kay Sulk (dessen Literaturhinweise von großer Bedeutung waren) möchte ich mich deshalb zuallererst bedanken. Nicht nur die Ermunterung und der Ansporn durch Xenia Rajewsky, auch ihr in die entlegensten Winkel führendes Wissen, ihre theoretische Abenteuerlust und Begeisterung haben mich mit dazu angestiftet, mich auf so etwas wie diese Arbeit überhaupt erst einzulassen. Reinhold Görling hat entscheidenden Anteil an ihrer inhaltlichen Ausrichtung, gerade weil er sich meinen Versuchen, den abgeschlossenen Raum väterlicher Autorität zu erreichen, immer entziehen konnte: Dennoch ist er während des Schreibens immer der imaginäre ›erste Leser‹ geblieben. Seine Kommentare und seine Kritik haben das eigentliche Nachdenken erst beginnen lassen und so den Horizont der Arbeit immer wieder neu öffnen können. Joachim Söder-Mahlmann hat mich eingeführt in die geheimnisvolle Welt der Ethnologie und des Gabentauschs und damit verdanke ich vor allem ihm, dass diese Arbeit sich überhaupt erst abzuzeichnen begann. Alfred Kro13

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voza möchte ich dafür danken, dass er den Raum für diese Art von Arbeit an der Universität Hannover (mit-)geschaffen hat und sie an zwei entscheidenden Punkten – zu Beginn und am Ende – ohne Zögern unterstützte. Vor allem sind es jedoch die Gespräche und Diskussionen mit Martin Koch, Klaus Bock von Wülfingen und Susanne Völker, die – auf sehr unterschiedliche Weise – mein Leben mit der Arbeit bestimmten. Martins kritische und intensive Begleitung des Entstehungsprozesses, seine Offenheit und Diskutierlust waren für mich beinahe so wichtig wie seine mit mir in nächtlichen Telefonaten bei Rotwein, Bier und Zigaretten geteilten Vorlieben. Klaus’ Urteil war die Richtschnur meiner Anstrengungen. Ihm ein ›ich glaube, so geht es‹ zu entlocken, war stets Anlass für einen Seufzer der Erleichterung. Seinem gestrengen Blick bei der Endkorrektur verdankt der Leser oder die Leserin darüber hinaus die Beseitigung der Stellen, an denen mich der Wille zur möglichst blumigen Formulierung weit übers Ziel hinaus getragen hat. Er konnte sich allerdings nicht immer und überall durchsetzen... Ohne Susanne hätte es diese Arbeit in mehrfacher Hinsicht nicht gegeben. Vieles haben wir zusammen gedacht, vieles zusammen gelebt, den Rest hat unser gemeinsames Leben ermöglicht. Immer konnte ich mich auf Susannes wissenschaftliche Kompetenz und Klugheit verlassen, auf ihre entschiedene Parteilichkeit und ihre nicht minder entschiedene Offenheit. Das aber, wofür ich mich bei ihr zuallererst bedanken möchte, führt aus dem Rahmen dieses Vorworts hinaus – auf einen winzigen Balkon im Berliner Sommer, einen Spaziergang bei Erkner... Und – zu Marthe und damit zu derjenigen, die, sollte es ein Wort von Bedeutung in dieser Arbeit geben, den alleinigen Anspruch darauf erheben kann. Die Kinder, Eltern und Erzieherinnen der ›Gruppe drei‹ der Kita Flohkiste in Berlin, Prenzlauer Berg, haben mit dafür gesorgt, dass ich der Zeit, die nun auf zweifache Weise zu Ende geht, schon jetzt nachtrauere. Mark Dannehl und Andreas Henze sei dafür gedankt, dass manches bleibt und Götz Widiger für Rettung in allerletzter Minute. Und zu guter letzt: Ich danke meinen Eltern für das Vertrauen, das sie mir gegeben haben. So weit, das war’s. Berlin, im November 2003 (und Berlin/Düsseldorf/Kassel, im Mai 2005)

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I. K ULTUR UND S PRACHE

1. W Ö R T E R LUMUMBA: Aber die Weißen haben nicht nur Gott konfisziert und für sich allein behalten; nicht nur um Gott haben sie Afrika betrogen, nein, Afrika wurde um sich selbst betrogen! Afrika hungert nach sich selbst! Und deshalb will ich weder Mahdi noch Messias sein, kein Weltverbesserer und Wundertäter, sondern ein Veränderer. Nur das Wort ist meine Waffe. Ich spreche und ich gebe Afrika sich selber wieder. Ich spreche und ich gebe Afrika der Welt zurück. Ich spreche und ich gebe ihm, gegen Unterdrückung und Sklaverei, die Brüderlichkeit zurück.1 Gegenstand der Kulturwissenschaft ist, grob gesagt, die Beziehung von Wort und Welt.2

Zaire Der Kongo, einst eine belgische Kolonie, ist jetzt ein afrikanisches Königreich und heißt Zaire. Es scheint ein Nonsensname zu sein, eine portugiesische Verballhornung, sagen einige Zairer, eines einheimischen Wortes für »Fluß« aus dem 16. Jahrhundert. Als würde Taiwan, um seine chinesische Identität noch einmal geltend zu machen, sich wieder den portugiesischen Namen Formosa geben. Der Fluß Kongo heißt nun Zaire, wie auch die einheimische Währung, die beinahe wertlos ist.3

Mit diesen Worten beginnt der in der Karibik geborene, indischstämmige britische Autor V.S. Naipaul seine Reportage über das Zaire der Mittsiebziger Jahre des 20. Jhdts. Die einleitenden Sätze handeln von einem Wort, das von der Landkarte verschwunden ist, auf der es damals eine recht große Fläche bezeichnete. Ein Wort, das aber bereits zur Zeit der Entstehung von Naipauls Text in eine Zone des Nicht-Sinns zu führen scheint, ein Nonsenswort, eine Verballhornung, ein Hybrid aus Kolonial1 2

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Aimé Césaire: Im Kongo, übers. v. Monika Kind, Berlin: Wagenbach 1966 Arjun Appadurai: Globale ethnische Räume – Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, übers. v. Eva Grünstein Neumann, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S.11-40, hier: S.18 V.S. Naipaul: Ein neuer König für den Kongo: Mobutu und der Nihilismus Afrikas; in: Ders., Dunkle Gegenden – Sechs große Reportagen, zusammengestellt und übers. v. Karin Graf, Frankfurt a.M.: Eichborn 1995, S.31-68, hier: S.31

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und Landessprache. Es wird – so Naipaul – angenommen, dass es sich auf ein heute unbekanntes anderes Wort bezieht, das »Fluss« bedeuten soll. Und es tritt in drei Gestalten auf: als Name eines Landes, eines Flusses und des Geldes, das in diesem Land, an diesem Fluss als Zahlungsmittel dienen soll. Dazu scheint es aber kaum befähigt: es sei beinahe wertlos, heißt es. Naipauls Text scheint vorzuführen, welch fragwürdiges Unterfangen es ist, die kulturelle Identität eines Land, seine Ökonomie, ja das, was man als seine geografischen Gegebenheiten bezeichnen könnte, auf ein Wort zu gründen. Ein Wort zumal, das – vollkommen künstlich – die Authentizität einer Kultur gewährleisten soll, deren Institutionen von einer geradezu abenteuerlich anmutenden Inauthentizität geprägt sind, so dass sie als eine gewaltsame Aufpfropfung auf eine unermessliche Leere erscheinen, die Naipaul in seinem Text später den Busch nennen wird4. Das Land, dessen Identität hier von einem Wort gestiftet werden soll, hatte bereits damals eine gewalttätige Geschichte hinter sich, die auch heute noch immer nicht abgeschlossen ist.5 Der belgische König Leopold hatte es einst auf der Berliner Afrika-Konferenz von 1885 – angeblich als Speerspitze der Zivilisierung und Humanisierung des »dunklen Kontinents« – als ›Freistaat‹ gegründet. In Wahrheit wurde dieses riesige Gebiet im Herzen Afrikas mitsamt seinen BewohnerInnen und Reichtümern zum frei verfügbaren Privateigentum des belgischen Monarchen. In seinem Bestseller King Leopolds Ghost, der noch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Belgien für einen Skandal sorgte, rekonstruiert der amerikanische Autor Adam Hochschild die Geschichte dieser 23 Jahre währenden Herrschaft. Zwanzig Millionen Menschen, so schätzt Hochschild, lebten im Kongo zu Beginn von Leopolds ›Freistaat‹, an seinem Ende waren es nur noch halb so viele.6 Die chicotte, die Nilpferdhautpeitsche, und das zum Nachweis effizienter Benutzung von Munition eingeführte Abhacken von Händen, sowie die sich epidemisch

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»Jeder spürte den großen Busch im Rücken. Und der Busch bleibt der Busch mit seinem natürlichen Leben. Abseits der Bergbaugebiete und der verfallenden Städte ist das Land, wie die Belgier es vorfanden und verließen.« V.S. Naipaul: Ein neuer König, S.47 »Wenn die Schätzungen des International Rescue Committee stimmen, dann sind in diesem Land seit 1996, als der Krieg ausbrach, 3,8 Millionen Menschen umgekommen. 3,8 Millionen Tote – das ist der höchste Blutzoll seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber kein Mensch würde deshalb in Brüssel oder Berlin empört auf die Straße gehen. Für den Kongo? Worum geht es da überhaupt?« Bartholomäus Grill: Die Hölle im Paradies, in: Die Zeit vom 17.3.2005 Vgl.: Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo – Die Geschichte eines fast vergessenen Menschheitsverbrechens, übers. v. U. Enderwitz, M. Noll u. R. Schubert, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2002, S.359

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WÖRTER

ausbreitende Grausamkeit der Kolonisatoren7 bildeten dabei nur die sichtbarsten Erscheinungen der im Zeichen von Eisenbahnbau, Elfenbein- und Kautschukhandel betriebenen umfassenden Zerstörung der komplexen kulturellen Topographie Zentralafrikas. An diese Geschichte muss der unabhängig gewordene Kongo auf die eine oder andere Weise anknüpfen. Seine »Zairisierung« zielte darauf ab, in einem Rückgriff auf fiktive historische Kontinuitäten eine dezidiert afrikanische Authentizität (also so etwas wie ein Zu-sich-selbst-Kommen Zentralafrikas) zu initiieren, die sowohl der von Leopold hinterlassenen traumatischen Leere als auch der kulturellen Heterogenität des Landes begegnen sollte.8 Die traumatische Erfahrung der kolonialen Gewalt entlädt und wiederholt sich jedoch in den der Unabhängigkeit von 1960 unmittelbar folgenden Bürgerkriegswirren. Die eigentliche Gründungsfigur dieser neuen Nation, der erste Regierungschef und Verkünder der Unabhängigkeit, Patrice Lumumba, ist ihr zum Zeitpunkt der ›Zairisierung‹ des Landes bereits zum Opfer gefallen. Auch diese Geschichte beerbt und bezeichnet Zaire, das Wort Zaire: eine Gewalttat, einen Mord, auf den die von ihm gestiftete Identität sich gründet. Es ist vor allem die Erfindung eines Mannes, der auf der Grundlage dieser kulturellen Homogenisierung seine Herrschaft errichtet: Joseph Desiré Mobutu, vormals Offizier der Force Publique, der ehemaligen kolonialen Polizeiarmee des Kongo, dann Ge7

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»In den Annalen des Kongo wimmelt es von Männern wie René de Permentier, der in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts als Offizier im Äquatorgebiet war. Die Afrikaner nannten ihn Bajunu (für bas genoux, auf die Knie), weil er andere immer vor sich niederknien ließ. Um sein Haus in Bokatola ließ er sämtliche Büsche und Bäume ausreißen, sodass er von seiner Veranda aus Passanten als Zielscheibe aufs Korn nehmen konnte. Fand er in seinem Hof, der von weiblichen Gefangenen gefegt wurde, ein einziges Blatt, so ließ er ein Dutzend von ihnen köpfen. Meinte er, ein Weg durch den Wald sei nicht gut in Ordnung gehalten, so ließ er im nächstliegenden Dorf ein Kind töten.« Hochschild: Schatten über dem Kongo, S.360 »Nach der Abwertung der Jahre 1961 und 1963 versuchte man, mit der Währungsreform von 1967 der Landeswährung wieder größere Stabilität zu verleihen, und Zaïre damit eine solide, internationale Notierung zu verschaffen. Auf diese Weise wiederum konnte eine politische Reform großen Ausmaßes einsetzen, die sämtliche Aspekte des nationalen Lebens dem Mouvement Populaire de la Révolution (MPR), 1970 Einheitspartei, unterordnete. Die Ideologie dieses Verbandes konnte mit einem Wort umrissen werden: »Authentizität«. Der »Rückgriff auf die Authentizität« bezeugte den Willen, seine Probleme in die eigenen Hände zu nehmen und eigene Lösungen zu finden, indem man aus seinen eigenen Quellen und Reserven schöpfte. Eine »babylonische Sprachverwirrung« veränderte den Wortschatz: Personen-, Orts- und Familiennamen wurden »zaïrisiert«. Die Regimegegner betonten, daß es sich lediglich um Änderung von Wörtern handele. An der Wirklichkeit der internen und externen Produktionserträge änderte das nichts.« Joseph Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarzafrikas, S.588

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fährte Lumumbas, schließlich Nutznießer des in Absprache mit ihm, Mobutu, organisierten Mords an diesem. Diese Herrschaft des – wie Naipaul sagt – zum »Mobutismus« ausgebauten monarchisch/autokratischen Systems allgemeiner Korruption, wird über drei Jahrzehnte andauern und sie wird, je länger sie währt, desto weniger ihre Herkunft verleugnen können: »Ich bin der König«, teilte Mobutu unverblümt ausländischen Besuchern mit und scheute sich nicht, seine Autokratie mit König Leopolds absoluter Kontrolle über seine Kolonie gleichzusetzen.9

Civilisation Die Bedeutung eines Wortes im Zusammenhang dieses Konglomerats von kultureller Homogenisierung und Identitätsstiftung, von Gewalt und Herrschaft verweist auf die Rolle, die Wörter, die Sprache insgesamt innerhalb kultureller Prozesse spielen. Sprache ist nicht nur ein Mittel zur Herstellung kultureller Ordnung, sie ermöglicht es überhaupt erst, das kulturelle Universum von seinem Anderen, seinem (zumeist nichtsprachlichen) Gegenüber: der Natur, der Barbarei, zu unterscheiden. Auf dieser – sprachlichen – Herstellung von Gegensatzpaaren, der Binarität, beruht jede kulturelle Ordnung. Sprache ist somit nicht nur irgendein Instrument von Kultur, sondern das kulturelle Medium schlechthin. Jede kulturelle Handlung ist zumindest sprachlich vermittelt. Wenn Sprache aber das eigentliche Medium von Kultur ist, so heißt das jedoch gleichzeitig, dass die kulturelle Ordnung sich letztlich einer kontingenten sprachlichen Operation verdankt: die binären Oppositionen, auf die sie sich gründet, sind – wie jedes sprachliche Zeichen – arbiträr, austauschbar. Kultur ist ein sprachlich vermitteltes, symbolisches System. In gewisser Weise und mit aller Vorsicht könnte man sagen: sie ist selbst so etwas wie eine Sprache. Es ist insofern keineswegs überraschend sondern eher folgerichtig, dass das, was sich als Neuerschaffung kultureller Identität ausgibt, mit der Erfindung/Herstellung eines Wortes beginnt. Überraschend ist eher die relative Offenheit, in der das im Falle des postkolonialen Zaire geschieht. Zaire ist dafür jedoch nicht das einzige und sicherlich nicht das wirkungsmächtigste Beispiel. Lucien Febvre hat in einem Aufsatz über das Wort civilisation gezeigt, wie ein erfundenes Wort zum Akteur der Ge9

Michela Wrong: Auf den Spuren von Mr. Kurtz – Mobutus Aufstieg und Kongos Fall, übers. v. Norbert Hofmann,Berlin: Tiamat 2002, S. 107

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schichte wird, indem es die Selbstdefinition des Abendlandes (auch so ein Wort) verändert.10 Die Differenz, die zwischen diesen beiden Wörtern – Zaire und civilisation – ins Auge springt, beruht auf ihren unterschiedlichen Funktionen (bzw. Anliegen): Die historische Aufgabe des Wortes civilisation besteht gerade darin, eine lokale Kultur, die sich anschickt ihren eigenen ›Ursprung‹ zu überschreiten, mit dem Glanz einer universellen Bestimmung zu versehen, während Zaire an der Wiederherstellung dieser Ursprungskoordinate und deren kultureller Indienstnahme arbeitet. Beide antworten jedoch einer grundlegenden Instabilität. Jean Starobinski hat darauf hingewiesen, dass auch civilisation ein Ersatz für die untergehende lokale religöse Identität ist, den eine Gesellschaft im Umbruch für sich erfindet. Ein Ersatz, der, wenn auch in anderem Maße, ebenso prekär und ebenso bedroht als auch bedrohlich erscheint wie Zaire. Man muß ohne paradoxe Übertreibung sagen, daß das Auftreten des Wortes Civilisation (in einer späten Epoche dessen, was wir noch immer die abendländische Zivilisation nennen) nicht die konstitutive Ordnung der zivilisierten Gesellschaft befestigt, sondern den Beginn ihrer Krise markiert. Der Zerfall der institutionellen Aura der theologischen Deutung, die nicht mehr länger als »konkret und absolut« gilt (Eric Weil), wirkt auf viele Geister als Aufforderung, nach Ersatz-Absoluta zu fahnden. Und da bietet der Begriff Zivilisation seine Dienste an. Aber da er zerbricht und sich sogleich in einen (abwesenden) Wert und in eine (schwer akzeptierbare) Tatsache aufspaltet, erweist er sich als ungeeignet, die bisher vom theologischen Absoluten beanspruchte Funktion zu erfüllen.11

Von diesem Zerbrechen am Verhältnis von Abwesenheit und Anwesenheit ist jedes Wort bedroht. Im Falle von civilisation, das auf eine lokale Krise mit einem universalen Anspruch antwortet, verschärft sich dieser Bruch jedoch auf eine Weise, die seinem Erscheinen tatsächlich die Dimension eines historischen Einschnitts verleiht: es lässt die Krise, auf die es antwortet, in ein universales Allmachtsphantasma umschlagen, das die eigenen Vorstellungen von Linearität und Homogenität von Raum und 10 »So tritt denn ein Wort auf, tritt auf und verbreitet sich. Ein Wort, das Erfolg und Zukunft, ja eine glänzende Zukunft haben wird.« Lucien Febvre: Zur Entwicklung des Wortes und der Vorstellung von »Civilisation«, in: Ders., Das Gewissen des Historikers, übers. und Hg. von Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S.39-78, hier: S. 53 11 Jean Starobinski: Das Wort Zivilisation, in: Ders., Das Rettende in der Gefahr, übers. v. Horst Günther, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.9-64, hier: S.60. Gleichwohl hält Starobinski an der, wie er sagt, Selbstreflexivität dieses Wortes fest. Im Gegensatz zur Behauptung von Authentizität im Falle Zaires – so könnte man Starobinski interpretieren – artikuliert civilisation eine Fremdheit, die es auf die Differenz hin öffnet.

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Zeit auf den ganzen Erdball ausweitet. Sowohl civilisation als auch Zaire partizipieren (wie alle kulturellen Identitätskonstruktionen) an diesem phantasmatischen Homogenitätsversprechen. Beide setzen sich an die Stelle eines Bruches, einer grundlegenden Erschütterung der bisherigen kulturellen Identität. Während civilisation allerdings gerade diesen Bruch, diese Fremdheit in Identität umzumünzen und in den Glanz einer Zukunft zu verwandeln sucht, die es als lineare Homogenität ausgibt, arbeitet Zaire quasi an einer Überwältigung der Vergangenheit, an der Verleugnung des Bruches und der Produktion einer fiktiven Kontinuität. Beide stellen eine bestimmte – homogene – Beziehung zwischen dem kulturellen Raum und der Zeit her: im Falle Zaire bezogen auf die Vergangenheit, im Falle von civilisation bezogen auf die Zukunft. In beiden Wörtern scheint sich jedenfalls die Vereinnahmung von Sprache als Instrument kultureller Homogenisierung zu vollziehen. Sprache, und gerade darin liegt ihre kulturelle Bedeutung, ist sowohl Archiv des Alten, all dessen, was bisher gesagt wurde, als auch Reservoir des Neuen, also all dessen, was noch gesagt werden kann. Vor allem aber ist sie virtuelle Öffnung der unerschöpflichen Potentialität all dessen, was nicht gesagt wurde, was hätte gesagt werden können. Gerade diese Offenheit ist es, die Kultur zugleich zu nutzen und zu schließen versucht. Kulturelle Prozessualität bedarf dieser Öffnung, kann sich aber als Ordnung nur konstituieren, wenn sie in der Lage ist, sie zu schließen. Sowohl civilisation als auch Zaire versuchen – mehr oder weniger erfolgreich – ein kulturelle Ordnung ermöglichendes Verhältnis von Öffnung und Schließung herzustellen. Dieses Verhältnis von Öffnung und Schließung korrespondiert folglich dem von sprachlicher Virtualität und dem, was man als den Anspruch der Sprache auf Beherrschung der Wirklichkeit bezeichnen könnte – als Repräsentation oder als Akt. Somit ist es gerade dieses Zugleich, das Sprache auszeichnet: sie ist nie reine Virtualität, genauso wenig aber einfach ein Instrument menschlicher Allmacht. Auch in diesem Sinne gibt es Sprache nicht im Singular (es sei denn als Virtualität, als Potenz), es gibt immer viele, sich durchkreuzende, überschneidende Sprachen. Sprache ist gerade der Austragungsort einer aller Vereinheitlichung vorausgehenden Heterogenität oder Differenzialität, den ihre – homogene – binäre Struktur zugleich austrägt und verdeckt. Homogenität und Heterogenität sind demnach nicht einfach gleichberechtigte, nebeneinander bestehende Sphären, sie schließen einander aus und sind dennoch aufeinander verwiesen. Sprache ist in gewisser Weise ihre Ununterscheidbarkeit, ihre Vermengung, die – unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Herstellung fester kultureller Orte – als

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Bedrohung erscheint: Die Wörter als Mittel der Herstellung dieser Verortung bleiben ausgeliefert an diese fundamentale Ortlosigkeit der Sprache. Aus der Perspektive der Homogenität erscheint diese Ortlosigkeit als Fremdheit und in gewissem Sinne ist sie eben die Fremdheit der sprachlichen Konstituiertheit der Welt, in der wir leben. Es scheint ein Riss durch diese Welt zu gehen, der den ›Menschen‹ (immer auch ein Wort) in ein grundsätzlich erklärungsbedürftiges und problematisches Verhältnis zu sich selbst setzt; und es ist vielleicht gerade das Historisch- (im Sinne von diskursiv) werden dieses Risses, den das Wort civilisation bezeichnet, bzw. dem es antwortet. Wörter sind immer auch Masken sagt Nietzsche.12 In ihnen kreuzen sich Heterogenität und Homogenität, Sinn und Nichtsinn, Verortung und Ortlosigkeit. Hinter dem einen scheint sich stets das andere zu verbergen, tatsächlich sind diese Dimensionen aber untrennbar voneinander. Genau das ist es, was die Maske bezeichnet: sie konstituiert eine andere Ordnung, in der sie nicht nur bedeutet, was sie vorgibt oder vormacht, sondern immer auch das Vorgeben selbst, die Gemachtheit, die Kontingenz dieser Welt, aller Welten. Sie will als Maske, als Verbergung sichtbar sein. Das Authentizitätspostulat Zaires und der Universalitätsanspruch von civilisation sollen dies zwar verdrängen, sich abschließen gegen das Maskenwesen der Sprache, die augenscheinliche Künstlichkeit der postkolonialen Nationenbildung wirft aber ein klares Licht auf jene Kulturen, denen es besser gelungen ist, diesen Zusammenhang unsichtbar zu machen. So möchte ich hier Zaire auch als eine Metapher der Gleichzeitigkeit von Verleugnung und Inanspruchnahme dieser entbergenden Verbergung des Maskenwesens der Sprache benutzen, auf der menschliche Kultur sich gründet. In diesem Sinne ist Kultur immer konfrontiert mit ihrem Zaire.

Kultur Worauf bezieht sich jedoch dieses andere Wort, das ich bisher unhinterfragt zur Analyse von Zaire und civilisation herangezogen habe: ›Kultur‹? Kultur ist historisch in Deutschland als nationaler Gegenbegriff zur Universalität von civilisation benutzt worden.13 Damit sollte die Homo12 »Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.« Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in : Ders. Kritische Studienausgabe, Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 5, (KSA 5), München: dtv/de Gruyter 1992, S.9-243, hier: S.234 13 Neben Febvre siehe auch: Jean Starobinski, Das Wort Zivilisation: »In allgemeiner Form und ohne unmittelbar politisch-revolutionäre Implikation wurde im deutschsprachigen Raum seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts ein Konkur-

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genität eines Territoriums bezeichnet werden, das – anders als Zaire – eben nicht von territorialen Grenzen, sondern einer ›einheitlichen‹ Sprache geprägt war. Auf diese – angeblich von den politischen Grenzen verdeckte – Identität bezog sich die Postulierung der deutschen ›Kulturnation‹. Kultur kam folglich im deutschen Sprachraum die gleiche Bedeutung zu wie Zaire in Zentralafrika – lediglich unter umgekehrten Vorzeichen. Ist Ihnen also daran gelegen das Band mit ihrem deutschen Vaterlande und den Schriftstellern desselben zu erhalten, so wird Sie diese kleine Überwindung, wenn es eine ist, nicht schwer ankommen, sollten Sie auch allenfalls Sachen die Sie französisch gedacht haben ins Deutsche übersetzen müssen, um ihnen die letzte Vollkommenheit zu geben.14

Diese Sätze wurden im Straßburg des 18.Jahrhunderts von einem jungen und zu großen Hoffnungen berechtigenden Autor einer kleinen Gesellschaft vorgetragen, die sich auf dessen Anregung bald in Deutsche Gesellschaft umbenennen und sich in der Folge in den Dienst der deutschen Sprache als der zentralen Quelle nationaler Identität stellen sollte. Dieser Autor – J.M.R. Lenz – wird allerdings von jener deutschen ›Kulturnation‹, die er hier mitzubegründen suchte, ausgeschlossen und ihrem Bestreben nach Homogenität zum Opfer gebracht. Er stirbt als Russe oder Heimatloser in den Straßen Moskaus. Dieses deutsche Wort: Kultur erscheint so als eine Homogenisierungsmaschinerie, die – wie das Wort Zaire – alle Lebensbereiche zu durchdringen sucht, um sie sich zu unterwerfen. Gleichzeitig klagt Kultur aber – wie Zaire – eine kulturelle Differenz ein, die sich der Homogenisierung entgegensetzt. Das, was sich im deutschen Kultur dem Universalitätspostulat des französischen civilisation entgegenstellte, war genau die Pluralität oder Heterogenität der nationalen Kulturen, die freilich sowohl nach innen als auch nach außen zu einer gewaltförmigen Homogenisierung genutzt werden sollte. Es ist wohl gerade diese Parallelisierung des Verhältnisses von Innen und Außen mit dem von Homogenität und Heterogenität, also die Verwandlung von Differenz in Ausschließung, die kulturelle Identität begründet – und zwar immer als Akt der Gewalt,

rent zum Begriff der Zivilisation aufgestellt: die Kultur. Hier bricht offen und nach langer Debatte und diesmal als Konflikt zwischen konkurrierenden Begriffen der innere Gegensatz hervor, den Constant und Guizot auf das Innere des einzigen Begriffs »Zivilisation« mit seinen ergänzenden Bestandteilen begrenzt halten wollten.« Starobinski: Das Wort Zivilisation, S.52 14 Jakob Michael Reinhold Lenz: Über die Vorzüge der deutschen Sprache, in: Ders., Werke und Briefe, Hg. von Sigrid Damm, Band 2 – Prosa, Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel 1992, S.777-782, hier: S. 778

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aber niemals als endgültige Stillstellung des Prozesses kultureller Differenzialität. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts scheinen sich die Dinge auch im deutschen Sprachraum gewandelt zu haben (auch wenn die Entwicklung seit dem 11.9.2001 scheinbar eine nun arabische Kultur mit einer westlichen Zivilisation konfrontiert). Die Pluralisierung von civilisation hat dessen harte Universalität aufgeweicht und der Umweg, den das deutsche Kultur über die amerikanische Kulturanthropologie nahm, hat es sozusagen entmilitarisiert und universalisiert: die Differenz ist wieder an die Stelle der Ausschließung getreten. Trotzdem stellen Kultur und Zivilisation noch heute, zumal in Deutschland, verschiedene Arten des Meinens dar. Vielleicht kann man sagen, dass Zivilisation die Fremdheit, den Bruch, der in der sprachlichen Verfasstheit der Welt des Menschen begründet liegt, bezeichnet, gleichsam den Abgrund der Universalität, Kultur dagegen die Prozessualität einer fortwährenden Bearbeitung der Differenzialität, in die die Menschen sowohl individuell als auch kollektiv gestellt sind. Kultur wäre dann in den dichotomischen Begriffsrastern, in denen sie gemeinhin gedacht wird, nicht mehr erklärbar: Weder Natur noch Familie oder Gesellschaft sind geeignet, die Rolle des Anderen von Kultur zu spielen. Die Herstellung von Dichotomien, die Produktion dieses jeweils anderen von Kultur, wäre dann vor allem eines: Resultat und Figuration der kulturellen Praxis selbst. Bereits Nietzsche hat versucht – so Jean Starobinski – Zivilisation und Kultur in diesem prozessualen Zusammenhang zu denken. Zivilisation erschien ihm als das Bezähmende kollektiver Machtinstrumente, Kultur als das Freiwerden individueller Energien.15 Damit deutet Nietzsche dieses Verhältnis – recht tendenziös – direkt als das von Homogenität und Heterogenität, bzw. Einheit und Differenz. Er treibt die heterogene Aufladung von Kultur auf die Spitze und entzieht sie so der Vereinnahmung durch den deutschen Nationalismus. Stattdessen erscheint eine dualistische Konstellation, deren Dynamik allerdings durch die relativ klare Hierarchisierung ausgebremst wird (es besteht hier kein Zweifel, was erstrebenswert ist und was nicht, wovon wir uns befreien müssen und was uns fesselt). Dennoch ist dieser Dualismus sicherlich die erste Form der Anerkennung der Differenz jenseits dichotomischer Homogenität. Erst Freud gelingt es aber – in der zweiten Revision seiner Trieblehre –, ein Modell zu entwickeln, das diesen Zusammenhang produktiv macht. Bei ihm, so jedenfalls meint Jean Starobinski, 15 Darauf verweist Starobinski, der dazu aus Nietzsches Nachlaß zitiert. Starobinski: Das Wort Zivilisation, S.53

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BLANK SPACES [...] mündet die Aufhebung des Gegensatzes von Kultur und Zivilisation in eine antithetische Beziehung in Gestalt der unvermeidlichen Konfrontation zweier dynamischer Prinzipien innerhalb der Seele, deren Koexistenz die Bedingungen des modernen Lebens immer schwieriger machen – obwohl unser eigenes Überleben von dieser Koexistenz abhängt. Freud braucht die Dualität Kultur-Zivilisation nicht mehr, sobald er über das Paar Eros–Thanatos verfügt. Die in einem banal gewordenen Begriffsregister verschwundene Antinomie gewinnt neue Kraft unter der Form der konzeptuellen Invention, die »metapsychologisch« anwendbar ist.16

Bei Freud handelt es sich nicht einfach um eine Wiederbelebung der alten homogenen Antinomien, die noch Nietzsches Denken zugrunde lagen. Eros und Thanatos sind nicht länger Akteure auf dem geschichtlichen Schauplatz, dieser wird vielmehr zu einem unabschließbaren Prozess zwischen diesen beiden Prinzipien. Der Triebdualismus schreibt die Differenz in die Natur selbst ein, macht sie zur vorursprünglichen Bedingung der Möglichkeit von Kultur. Freud deutet das u.a. in seinem bekannten Satz über die Trieblehre als Mythologie an17, mit dem er den eigenen Begriffen ihre wissenschaftliche Bestimmbarkeit entzieht. Kultur bezeichnete dann das Zwischen einer Differenz, die die Gesamtheit der menschlichen Lebensäußerungen umfasst, ständig an der Hervorbringung homogener gegensätzlicher Paare arbeitet, sich diesen aber gleichzeitig entzieht. Wessen Zwischen sie ist, darüber lässt sich innerhalb des kulturellen Raums nur spekulieren, da dieses Außen selbst nicht mehr der Kultur anzugehören scheint. Es kann nur sichtbar gemacht werden, indem man die Spuren, die es innerhalb des von ihm initiierten Prozesses hinterlässt, zu lesen versucht. Eine direkte Beziehung zu einem Diesseits oder Jenseits der kulturellen Prozessualität ist insofern unmöglich. Das wäre allerdings eine Unmöglichkeit, die nicht mehr nur auf ein Außen, 16 Starobinski: Das Wort Zivilisation, S.54 Freud schreibt bspw. in Zukunft einer Illusion: »Die menschliche Kultur – ich meine all das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und worin es sich vom Leben der Tiere unterscheidet – und ich verschmähe es, Kultur und Zivilisation zu trennen – zeigt dem Beobachter bekanntlich zwei Seiten. Sie umfaßt einerseits all das Wissen und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur zu beherrschen und ihre Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzugewinnen, andererseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, um die Beziehungen der Menschen untereinander, und besonders die Verteilung der erreichbaren Güter zu regeln.« Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion, in: Ders., Gesammelte Werke – Band XIV, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.323380, hier: S.326 17 »Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.« Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, Band XV, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.101

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sondern zugleich auf das Innerste des kulturellen Prozesses selbst verwiese. Seit unvordenklichen Zeiten zieht sich über die Menschheit der Prozeß der Kulturentwicklung hin. (Ich weiß, andere heißen ihn lieber: Zivilisation.) Diesem Prozeß verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut Teil von dem, woran wir leiden. Seine Anlässe und Anfänge sind dunkel, sein Ausgang ungewiß, einige seiner Charaktere leicht ersichtlich. Vielleicht führt er zum Erlöschen der Menschenart, denn er beeinträchtigt die Sexualfunktion in mehr als einer Weise, und schon heute vermehren sich unkultivierte Rassen und zurückgebliebene Schichten der Bevölkerung stärker als hochkultivierte. Vielleicht ist dieser Prozeß mit der Domestikation gewisser Tierarten vergleichbar; ohne jeden Zweifel bringt er körperliche Veränderungen mit sich; man hat sich noch nicht mit der Vorstellung vertraut gemacht, daß die Kulturentwicklung ein solcher organischer Prozeß sei.18

Der Fluss Worin besteht jedoch die kulturelle Prozessualität? Wie stellt sie die Beziehung her zu dem, was zugleich ihr Außen und ihr Innen ist? Um mich diesen Fragen zu nähern, möchte ich erst einmal zurückkommen auf Naipauls Text und die von ihm genannten drei Signifikate des Wortes Zaire. Es bezeichnet ein Land, einen Fluss und das Zahlungsmittel dieses Landes. Fluss, Ort und Geld sind Erscheinungsformen nicht nur eines bestimmten Wortes, sie bezeichnen auch die verschiedenen Dimensionen aller Wörter, der sprachlichen Konstituiertheit des kulturellen Universums: die topologische Beziehung von Bewegung und Statik sowie den Tausch als grundlegendes Modell interpersonaler bzw. –institutioneller Beziehungen. Im Bedeutungshorizont des Wortes Fluss kreuzen sich Topologie und Zeit. Ein Fluss führt von einem Ort zum anderen, vom Alten zum Neuen, ohne sich verändern zu müssen. Er ist ein Einschnitt, eine während ungeheurer Zeiträume hervorgebrachte Vertiefung der ihn umgebenden Landschaft. In steter Beharrlichkeit frisst er sein Bett in Gebirge und Ebenen, lässt Täler entstehen und trennt die jeweiligen Ufer voneinander. Er erscheint als ›natürliche Grenze‹, dient zur Befestigung kultureller Verortungen. Er ist Stillstand und Veränderung, Verbindung, auf der die Waren und Menschen zirkulieren, Weg, dem der Abenteurer ins Unbekannte folgt, und Grenze, die Einflussbereiche trennt und – wie im Falle des 18 Sigmund Freud: Warum Krieg?, in: Ders., Gesammelte Werke – Band XVI, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.11-27, hier: S.25f.

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kolonialen Afrikas – willkürliche Setzungen quer durch die kulturellen Räume hindurch legitimieren soll.19 Als ›Natur‹ erscheint er als das andere von Kultur, historisch ist er zumeist Bedingung derselben. Wie jene Schluchten, durch die Edgar Allan Poe seinen Helden Arthur Gordon Pym gegen Ende seiner Reise klettern lässt, kurz bevor er in einem Schleier weißen Nebels verschwindet20, kann er gelesen werden als ›natürliche Schrift‹, als Einschreibung der Natur und ist zugleich unlesbar, ewige Veränderung des Immergleichen, spiegelnde Oberfläche und sich entziehende Tiefe. Die Metapher des Flusses, vielleicht aber auch der Fluss selbst, erscheint als der Punkt, an dem Öffnung und Schließung, Verortung und Ortlosigkeit zu einer einzigen Bewegung werden.

Der Busch Der Fluss Zaire, der heute wieder Kongo heißt, ist historisch das zentrale Mittel zur Erkundung und Nutzbarmachung, aber auch der Ausgangspunkt der Unterwerfung des ihn umgebenden Landes gewesen. Dieses Land, dem das Wort Zaire sich aufzupfropfen sucht, wird bei Naipaul zum antipodischen Gegenüber des Flusses, zum Busch. Naipaul benutzt den Busch als ›natürliches‹ Signifikat dessen, was er schon im Titel als den Nihilismus Afrikas bezeichnet. Er ist die ungeheure Leere, die jeden Versuch, vom Fluss aus eine Ordnung aufzubauen, verschluckt hat. Die Ruinen der gar nicht so alten Städte an den Ufern, die immer noch klapprigen Kähne, die sich flussaufwärts arbeiten, scheinen einen aussichtslosen Kampf gegen die Leere des Buschs zu führen, der, wenn er auch nie vollständig siegt, immer die Oberhand behält. Es gibt nur einen kurzen Moment – kaum mehr als zwei Sätze – in Naipauls Text, in denen dieser unbezwingbare Dualismus durchbrochen scheint, der Busch Bedeutung gewinnt, lesbar wird. Es ist der Moment, in der die patriarchale Ordnung, die gewaltsame Aufpfropfung des Wortes Zaire aufgeweicht wird durch eine Frau, die Mutter des Herrschers.

19 »Muß man noch länger darauf herumreiten, daß diese Fluß- oder Küstengrenzen nichts »Natürliches« haben, oder allgemeiner, daß der Geograph mit der Vorstellung von natürlichen Grenzen nichts anfangen kann, daß es nichts von der Natur für den Menschen »fertig Gegebenes« gibt, nichts was die Geographie der Politik aufgezwungen hätte? Diesen schon oft erfolgreich geführten Beweis noch einmal zu führen, erübrigt sich um so mehr, als in der Formel »Ihre Grenzen hat die Natur gesteckt« die Natur nur eine Maske ist: die Maske einer alten historischen und politischen Realität, deren sich die Menschen nach Jahrhunderten noch erinnerten.« Lucien Febvre: »Frontière« – Wort und Bedeutung, in: Ders., Das Gewissen des Historikers, S.27-38, hier: S.34f. 20 Edgar Allan Poe: Arthur Gordon Pym, übers. v. Arno Schmidt, Zürich: Haffmanns 1994

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WÖRTER Doch am meisten gibt Mobutu seinem Volk da, wo er sich am extravagantesten gibt. Die Mutter des Königs soll geehrt werden; und sie war eine einfache Frau Afrikas. Es werden Pilgerfahrten zu Orten angekündigt, die im Leben des Königs eine Rolle spielen; und der mißachtete Busch Afrikas wird wieder heilig.21

Der Mutterkult ist Teil des patriarchalen Wahnsystems, als das Naipaul die Herrschaft Mobutus darstellt, er bezieht sich jedoch auf eine notwendige Öffnung und Gefährdung, die der Herrscher in seine Macht zu integrieren sucht. Darin liegt die Bedeutung von heilig in diesem Zusammenhang. Der Mutterkult versucht sich das von der Ordnung Ausgeschlossene, ihren nichtintegrierbaren Rest anzueignen, ohne den Zaire zum gewaltsamen Wort eines phallischen Vaters würde, der – indem er alles an sich reißt – nichts besitzt, außer einer Leere, die ihn überwältigen wird. Das Authentizitätspostulat soll diese Leere verdecken, die es eigentlich erst herstellt bzw. wiederholt. Der Mutterkult verspricht genau das Füllen dieser Leere. Er verspricht etwas, das, würde es nicht von vornherein vereinnahmt, zu einer fundamentalen Erschütterung der Ordnung führen würde: die Rückbindung des kulturellen Allmachtsphantasmas an die Mittelbarkeit des alltäglichen Lebens und der ›mütterlichen‹ Passivität. Und so ist es nur konsequent, wenn Naipaul in seinem Roman A Bend in the River, der in einem fiktiven, wenn auch an Zaire angelehnten afrikanischen Staat spielt, von einem heimlich weitergereichten Flugblatt schreibt, das sich genau auf diese uneingelösten Versprechen bezieht: Die VORFAHREN schreien auf. Viele falsche Götter sind schon in dieses Land gekommen, aber keine waren so falsch wie die Götter von heute. Der Kult mit der Frau Afrikas bringt alle unsere Mütter um, und weil Krieg eine Weiterführung der Politik ist, haben wir beschlossen, dem FEIND in bewaffneter Gegenüberstellung die Stirn zu bieten. Sonst werden wir alle auf ewig ausgelöscht.22

Es ist der Macht nicht gelungen, ihre Ordnung mit den Insignien ihres Anderen – den Toten, der Mütter – zu versehen. Sie bleibt als das erkennbar, was sie ist: die gewaltsame Einverleibung eines Landes und seiner Menschen. Kultur leistet dieser ihr eigenen Tendenz jedoch Widerstand und Naipauls ›Flugblatt‹ weist darauf hin. Es lassen sich auch in seinem Zaire-Text zumindest Spuren einer anderen kulturellen Praxis 21 V.S. Naipaul: Ein neuer König, S.66 22 V.S. Naipaul: An der Biegung des großen Flusses, übers. v. Karin Graf, München: dtv 1980, S.239 Hervorhebungen in Zitaten sind, wenn nicht anders vermerkt, im Original.

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erkennen, die ermöglicht, die Ausschließung dessen, was Naipaul als Busch bezeichnet, zurückzunehmen, und die bereit ist, die Wörter als komplexe Konstellationen von Abschließung und Öffnung zu lesen. Im Anschluss an Michel Foucault hat Reinhold Görling Atopien von Heterotopien23 unterschieden. Homogene Orte einer absoluten Leere und Orte der Heterogenität, die sich der Vielsprachigkeit öffnen und die kulturelle Prozessualität ermöglichen.24 Bezogen auf die Figurationen Zaires in Naipauls Text eröffnet sich eine Alternative zur Stagnation des »Mobutismus« in der Bindung der Atopie des Buschs durch den Schwellenraum des Flusses, der Auflösung ihrer dichotomischen Konfrontation. Es geht um eine Lesbarmachung der Leere, des Buschs, d.h. um die Verwandlung einer einseitig auf Homogenität und Gewalt ausgerichteten kulturellen Praxis in eine solche, die sich dem heterotopen Raum öffnet. Ohne diese Bindung erscheint die Macht, die die Ordnung verleiht, das Geld, das sie druckt, als wertlos. Im Schwellenraum des Flusses, der bisher als Ausgangspunkt der Unterwerfung des Landes diente, deutet sich zumindest metaphorisch das Mittel einer solchen Bindung an. Man muss allerdings bereit sein, sich der damit einhergehenden Subversion des Raum-Zeit-Gefüges auszuliefern. Der Fluss als Schwelle wäre dann nicht mehr Gegenüber, sondern Zwischen des Landes, Öffnung einer anderen Leere und Zeitlichkeit, die nicht steril, sondern vielmehr auf »die Spuren einer erfüllten, offenen Zeit der Dauer, einer Bewegung, die sich vom homogenen Raum her nicht rekonstruieren lässt«25, verwiesen ist. Mobutus Frieden und seine Königswürde sind große Errungenschaften. Doch die Königswürde ist steril. Der Königskult läßt bereits den intellektuellen Fortschritt eines Volkes, das kaum als solches hervorgetreten ist, im Morast versinken. Das intellektuelle Gefasel von Authentizität, das heute solch eine Illusion von Macht verleiht, schließt die Welt wieder hermetisch ab und verweist auf eine noch größere Verzweiflung. Mobutus Macht wird unausweich23 »Die Heterotopie vermag an einen einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind.« Michel Foucault: Andere Räume, übers. v. Walter Seitter, in: Barck/Gente/Paris/Richter (Hg.), Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1991, S.34-46, hier: S.42 24 »Der Begriff der Heterotopie könnte (ähnlich wie der Begriff des Zeitbildes) eine Möglichkeit sein, die Spuren einer erfüllten, offenen Zeit der Dauer, einer Bewegung, die sich vom homogenen Raum her nicht rekonstruieren läßt, in einer kritischen Topographie (resp. Ikonographie) nachzuzeichnen. Von der Topographie der homogenen Zeit her tritt man in die heterotopen Räume durch Schwellen. [...] In die Atopie führt keine Schwelle, sie ist von einer Grenze getrennt.« Reinhold Görling: Heterotopia – Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München: Fink 1997, S.22 25 Görling: Heterotopia, S.22 (siehe vorherige Fußnote)

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WÖRTER lich vernichtet werden; doch ein Zurück hinter die Prinzipien des Mobutismus kann es nicht geben. Mobutu hat das Muster für seine Nachfolger festgelegt; und sie werden merken, daß weder die Abhängigkeit Afrikas noch das Bedürfnis nach nihilistischer Betätigung nachgelassen haben. Zu dem Gefühl zu gelangen, daß Zaire als Land blockiert, statisch, ewig verwundbar ist, bedeutet zugleich, sich etwas von dem afrikanischen Gefühl der Leere anzueignen. Es bedeutet, sich auf afrikanische Weise in den Traum von einer Vergangenheit zu versetzen – die Leere von Fluß und Wald, die Hütte im braunen Hof, der Einbaum –, als die toten Vorfahren noch alles bewachten und beschützten und die Feinde nichts als Menschen waren.26

Das »Herz der Finsternis« Naipauls Essay rekurriert auf einen literarischen Text, der ebenfalls eine Fluss/Busch – Topographie inszeniert und zwar anhand einer unausgesprochenen, aber doch deutlich erkennbaren Gegend der Welt, die sich weitgehend mit den Grenzen Zaires deckt: dem im Privatbesitz des belgischen Königs befindlichen Kongo. Es erscheint fast so, als läse Naipaul Zaire auf der Folie dieses Textes. Er präfiguriert gewissermaßen seine Lektüre. Wenn Naipaul Zaire als Wort behandelt, das auf eine spezifische postkoloniale Sprache verweist (die er denunziert), so ist Joseph Conrads Heart of Darkness – denn um diesen Text handelt es sich hier – einer der zentralen Orte ihrer Entstehung. Die Sprache des postkolonialen Authentizitätspostulats wiederholt notwendig die der kolonialen Unterwerfung, der ihr vorausgegangenen Gewalt – und somit eben jenes Trauma, dass Conrads Textgeflecht zugleich verbirgt und aufbewahrt. Eine besondere Pointe von Naipauls Essay liegt sicherlich darin, dass er die zentrale Figur der Erzählung, den im Dschungel ungeheure Mengen an Elfenbein anhäufenden Handelsagenten Kurtz, in der jüngeren Geschichte Kongo/Zaires wiederauferstehen lässt. In Kisangani, dem ehemaligen Stanleyville, also der Inner Station bei Conrad, errichtet – so Naipaul – ein den Bürgerkriegswirren entstiegener Kulturrevolutionär namens Pierre Mulele eine Schreckensherrschaft. In ihm meint Naipaul die Züge seines literarischen Vorgängers wiedererkennen zu können. Für Joseph Conrad war Stanleyville – 1890 die Station der Stanleyfälle – das Herz der Finsternis. Dort herrschte in Conrads Geschichte der Elfenbeinhändler Kurtz, der vom Idealismus zur Barbarei herabgesunken war, durch Wildnis, Einsamkeit und Macht auf die frühesten Stufen der Menschheit zurückgeworfen, sein Haus von gepfählten Menschenköpfen umgeben. 70 Jahre später

26 V.S. Naipaul: Ein neuer König, S.68

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BLANK SPACES verwandelte sich Conrads Phantasie an der Biegung dieses Flusses in krasse Wirklichkeit. Doch der Mann mit dem »unfaßbaren Rätsel einer Seele, die keinen Zwang, keinen Glauben und keine Furcht kannte«, war schwarz und nicht weiß; und wahnsinnig geworden war er nicht durch den Kontakt mit der Wildnis und dem Primitiven, sondern durch den mit der Zivilisation, die jene Pioniere eingeführt hatten, die nun über den Stromschnellen von Kinshasa auf dem Mont Ngaliema liegen.27

Wahrscheinlich kommt es nicht darauf an, von welcher Seite man sich ihr nähert: An dem Punkt, an dem Zivilisation und Wildnis sich begegnen, entlädt sich die Gewalt, die im Wort civilisation schon immer angelegt war. In der Konfrontation mit diesem dichotomischen und damit letztlich homogenen Gegenüber kehrt die in dieser Konstellation ausgeschlossene Heterogenität als Gewalt zurück: welcher Seite man sie auch zurechnet – der Zivilisation oder ihrem imaginären Pendant, der Unzivilisiertheit. In der gleichzeitigen Wiederholung und Subversion der Übertragung der binären Konstellation von Wildnis und Zivilisation auf den von ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ folgt Naipaul der Inszenierung dieser Dichotomien bei Conrad. Dessen Heart of Darkness erzählt letztlich die Implosion dieser Oppositionen, der gesamten binären Struktur, der sie entstammen, indem es ihren Spuren bis zu diesem Schnittpunkt der unmittelbaren Konfrontation der Zivilisation mit der von ihr entfesselten Gewalt im Herzen eines bei Conrad namenlosen Kontinents folgt. Es ist die Spur einer Kontamination, die zur Aufhebung der (imaginären) Trennungen führt, und die die Lichtmetaphorik der Erzählung im Triumph eines nebligen Zwielichts – greyness 28 – (de-)figuriert. Der Kampf zwischen Licht 27 V.S. Naipaul: Ein neuer König, S.57f. 28 »I have wrestled with death. It is the most unexciting contest you can imagine. It takes place in an impalpable greyness, with nothing underfoot, with nothing around, without spectators, without clamour, without glory, without the great desire of victory, without the great fear of defeat, in a sickly atmosphere of tepid scepticism, without much belief in your own right, and still less in that of your adversary. If such is the form of ultimate wisdom, then life is a greater riddle than some of us think to be.« Joseph Conrad: Heart of Darkness, edited with an Introduction and Notes by Robert Hampson, Penguin Books 1995, S.113 »Ich habe mit dem Tod gerungen. Einen weniger erregenden Zweikampf kann man sich gar nicht vorstellen. Er findet in einem unfaßbaren Grau statt, ohne festen Boden, ohne irgendwelche Dinge um einen herum, ohne Zuschauer, ohne Lärm, ohne Ruhm, ohne eine starke Sehnsucht nach dem Sieg, ohne große Angst vor der Niederlage, in einer krankhaften Atmosphäre lauer Skepsis, ohne einen starken Glauben an das eigene Recht und mit einem noch viel schwächeren an das deines Gegners. Wenn das die Gestalt ist, die die höchste Weisheit annimmt, dann ist das Leben ein noch größeres Rätsel, als einige von uns denken.« Joseph Conrad: Herz der Finsternis, übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer, Zürich: Haffmanns 1992, S.135f.

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WÖRTER

und Dunkelheit, auf dem der Text aufbaut, endet in der Auslieferung an das Grau des Todes. Und es ist keineswegs zufällig, das Conrad diese Bewegung von Anfang an als eine Lektüre von Flüssen anlegt. Der Fluss bietet die Oberfläche, an der sich Licht und Dunkelheit ständig durchkreuzen, gegenseitig hervorbringen und wieder verschwinden. Schon die Beschreibung des Sonnenuntergangs über der Themse zu Beginn inszeniert den Fluss als den eigentlichen Schauplatz der Erzählung.29 Die Reihen von Adjektiven, aus denen das Netz des Textes geknüpft ist, und in denen sich Ironie und Pathos ständig kreuzen, umkreisen die verschiedensten Erscheinungen, die sich im glitzernden Dunkel des Flusses spiegeln: die Küsten fremder Länder und ferner Zeiten, die Bequemlichkeiten einer wohl eingerichteten Welt und das Grauen unkultivierter Wildnis. Dem Fluss scheint so das Licht, die Zivilisation, die Kultur, aber ebenso deren Schatten, die Dunkelheit eines unheimlichen Ursprungs zu entsteigen. Es ist nicht immer ganz klar, ob es sich – jedenfalls in der Metaphorik des Textes – dabei wirklich um Effekte der Brechung des Lichts auf der Oberfläche des Wassers handelt. 30

Das Schiff Der Fluss eröffnet so auch in Heart of Darkness einen heterotopen Raum, den der Text zugleich anzustreben und auf Abstand zu halten versucht. Die metaphorische Phänomenologie des Flusses, der Sprache, des Lichts, verweist auf die ambivalente Beziehung zu dieser Öffnung und bringt eine spezifische kulturelle Topographie hervor: Orte, die die Instabilität des gesamten Systems eher betonen als auflösen, da sie als deren Produkt erscheinen – traumhafte Trugbilder, von den Nebelschleiern der Worte auf die gleiche Weise errichtet, in der in Marlows Geschichten (Nicht-)Sinn produziert wird. Der liege nämlich – so der Erzähler über die spezifische Weise Marlows, den Seemannsgarn zu spinnen – »[...] not inside like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow brings out a haze«.31 Dieser ungreifbare Raum aus Licht und Wasser kann befahren werden, darin liegt die eigentliche Aufgabe dessen, der daraus Bücher zu stricken gedenkt. Die zerbrechlichen 29 Joseph Conrad: Heart of Darkness, S.16ff. 30 »Light came out of this river since – you say Knights? Yes; but it’s like a running blaze on a plain, like a flash of lightning in the clouds. We live in the flicker – may it last as long as the old earth keeps rolling.« Joseph Conrad: Heart of Darkness, S.19 »Licht strahlte seitdem aus diesem Fluß auf – wer hat eben von Rittern gesprochen? Ja; aber das ist wie ein rasendes Feuer in einer Ebene, wie ein Blitz in den Wolken. Wir leben in diesem jähen Licht – möge es leuchten, solange sich die gute alte Erde dreht!« Joseph Conrad: Herz der Finsternis, S.12 31 Joseph Conrad: Heart of Darkness, S.18

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und unzulänglichen Schiffe, die sich von Stadt zu Stadt, von Station zu Station hineinbewegen in das Zwielicht und den Nebel, angezogen von den Versprechen der Wörter, den vermeintlichen Reichtümern des Landesinneren, den Verlockungen möglicher Herrschaft, der Unterwerfung von Land und Menschen, erscheinen als hölzerne oder eiserne Figurationen der heterotopen Dimension (oder – um hier ein wenig vorzugreifen – der liminalen Prozessualität) von Kultur. Ihre Bewegung entspricht aber auch der der Hand, die den Stift über die Leere des Papiers führt. Schiffe richten sich in der Bewegung auf ungesichertem Gelände ein. Sie befahren eine sich zur Schwelle öffnende Grenze, eben den Fluss, oder überschreiten einen zur Grenze gewordenen beinahe unendlichen Schwellenraum, das Meer. Indem sie die weißen Flecken der Landkarten – ihre blank spaces – aufsuchen, von denen in Heart of Darkness die Rede ist, schreiben sie die Umrisse der Meere und Flüsse selbst, denen sie später folgen werden. Die Spuren, die sie im Wasser hinterlassen, verschwinden, während sie entstehen; und beschriften doch die Küsten und die Karten sowohl der Seeleute als auch derjenigen, die nie ein Schiff betreten haben. Michel Foucault lässt in dem Text, in dem er die Topographie der heterotopen Orte entwirft, das Schiff als »die Heterotopie schlechthin« erscheinen. Bordelle und Kolonien sind zwei extreme Typen der Heterotopie [beiden hat Foucault sich zuvor gewidmet, S.T.], und wenn man daran denkt, daß das Schiff ein schaukelndes Stück Raum ist, ein Ort ohne Ort, der aus sich selber lebt, der in sich geschlossen ist und gleichzeitig dem Unendlichen des Meeres ausgeliefert ist und der, von Hafen zu Hafen, von Ladung zu Ladung, von Bordell zu Bordell, bis zu den Kolonien suchen fährt, was sie an Kostbarstem in ihren Gärten bergen, dann versteht man, warum das Schiff für unsere Zivilisation vom 16. Jahrhundert bis in unsere Tage nicht nur das größte Instrument der wirtschaftlichen Entwicklung gewesen ist (nicht davon spreche ich heute), sondern auch das größte Imaginationsarsenal. Das Schiff, das ist die Heterotopie schlechthin.32

An den Ufern des Schwellenraums des Flusses beginnt in Heart of Darkness die Konfrontation mit einer absoluten Alterität. Immer wenn Marlow, der Erzähler und Protagonist, das Schiff verlässt, sieht er sich dem Tod ausgeliefert. Er erkennt ihn in den Metropolen der westlichen Welt ebenso wie in der Brutalität und Unwirklichkeit der kolonialen Siedlungen und den bedrohlichen Lauten des Dschungels. Alles wird ihm zur Atopie des Buschs, zur abjekten Gefährdung des zerbrechlichen Ge32 Michel Foucault, Andere Räume, in: Aisthesis – Wahrnehmung, a.a.O. S.34 – 46, hier, S.46

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WÖRTER

häuses des Schiffes. Bis zum Ende gibt es keine Möglichkeit, das Festland unbeschadet zu betreten. Diese ausweglose koloniale Topographie ist es, deren Erbe das Naipaulsche Zaire antritt. Und vielleicht liegt gerade in der im Authentizitätspostulat verleugneten Künstlichkeit und Hybridität dieses Wortes eine Chance, die sich in der postkolonialen Situation bietet. Der koloniale Text ist auch ein aussichtsloser Kampf gegen diese beiden Bedrohungen – Inauthentizität und Hybridbildung –, die in Heart of Darkness Lüge und Finsternis heißen. Dieses Zaire, das von Mobutu missbrauchte und von Naipaul denunzierte Wort Zaire, könnte dann die Flagge eines neuen Schiffes sein, ausgesandt in ein neues Land, neue Karten zu schreiben, neuen Verheißungen zu folgen, von denen es vielleicht gar nicht so falsch ist zu behaupten, es seien immer auch die alten.

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2. K U L T U R

ALS

TEXT?

D[idier] E[ribon]: Wären sie gern Joseph Conrad gewesen? C[laude] L[évi]-S[trauss]: Jedenfalls hätte ich gern seine Bücher geschrieben.1 Die Anthropologie wartet also noch immer auf ihren Conrad.2

Vorerst möchte ich jedoch von Bord gehen, mich diesem schaukelnden Stück Raum sozusagen von Land aus nähern, indem ich mich einer scheinbar bodenständigeren Frage zuwende. Wenn Naipaul in einem journalistischen Essay eine historische Figur in der Gestalt einer literarischen auftreten lässt, dann verwischt er die Differenz von Literatur und Geschichte. Während der literarische Text von Heart of Darkness die Bewegung von Kultur figuriert, scheinen diese Figurationen innerhalb des Textes der Naipaulschen Reportage zu einer Form dessen zu werden, was man historische Wirklichkeit nennt. Die Grenzen beginnen jedenfalls zu verschwimmen. In meiner Lektüre des Flusses und der Parallelität von Schiff, Kultur und schreibender Hand habe ich diese Andeutung versucht auszuführen. Dahinter verbirgt sich allerdings eine komplexe Diskussion um das, was man als die Textualität von Kultur oder – in anderer Perspektive – als den Zusammenhang von Text und Kontext bezeichnen könnte.

1

2

Claude Lévi-Strauss/Didier Eribon. Das Nahe und das Ferne – Eine Autobiographie in Gesprächen, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S.136f. James Clifford: Über ethnographische Selbststilisierung: Conrad und Malinowski, übers. v. Anne Middelhoek, in: Bachmann-Medick, Kultur als Text, Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. (Fischer) 1996, S.194-225, hier: S.199 Als eines der beiden Motti seines Aufsatzes zitiert Clifford Conrads Roman Victory: »[...] das Zeitalter, in dem wir einquartiert sind wie verirrte Reisende in einem unruhigen Grand-Hotel.«

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BLANK SPACES

Intertextualität und Geschichte Die Differenz zwischen literarischem Text und dem ihn hervorbringenden kulturellen Kontext scheint auf den ersten Blick als eine zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Eine solche Annahme dürfte aber bereits nach dem bisher Gesagten über den sprachlichen Charakter kultureller Prozesse zumindest erschüttert worden sein. Wirklichkeit ist notwendig eine kulturelle, also sprachliche Konstruktion, die weder ausschließlich imaginär noch einfach nichtfiktiv ist. Zur Bestimmung dieser Beziehung taugt diese Opposition von Fiktion und Wirklichkeit nicht. So wie der Text, auch der literarische Text nicht das homogene Ergebnis eines intentionalen Schöpfungsaktes ist, ist auch das, was man als seinen Kontext bezeichnet, kein klar begrenz- und bestimmbares homogenes Gebilde. Im Gegenteil: Der Kontext ist unabschließbar; er setzt sich aus einer unbestimmbaren Menge textueller Interventionen zusammen, von denen eine (vielleicht nicht irgendeine) der literarische Text selbst ist.3 Diese Fragestellungen und Probleme beschäftigen die Debatte um den Zusammenhang von Schrift, Sprache und Kultur, die in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts unter der Losung »Kultur als Text« auch Deutschland erreicht hat.4 Im Zeichen dieser Formel wird schon länger versucht, semiotische oder/und hermeneutische interpretative Methoden 3 4

Vgl. Jacques Derida: Signatur Ereignis Kontext, in: Ders., Randgänge der Philosophie, übers. v. Donald Watts Tuckwiller, Wien: Passagen 1988, S.291-314 Doris Bachmann-Medick ist als Autorin eines Artikels in der Frankfurter Rundschau und als Herausgeberin eines Buches hervorgetreten, die beide die Formel von Kultur als Text propagieren. (vgl. Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text - Zur Diskussion um »Writing Culture« in der Ethnologie, Frankfurter Rundschau vom 6.10.92 und: Dies. (Hg.): Kultur als Text - Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, darin: Dies., Einleitung, S. 7-64.) Ohne darauf an dieser Stelle näher eingehen zu wollen, zeigt sich dort das Problem recht deutlich, über den Umweg der Ethnologie eine hermeneutisch motivierte Beherrschbarkeit des Textes in die Literaturwissenschaft wiedereinzuführen. Bachmann-Medick deutet das in Formulierungen wie »Wenn die Ethnologie aus rhetorischen Verselbständigungen und Sackgassen poststrukturalistischer Diskurse hinausführen könnte [...]« an. (Bachmann-Medick, »Writing Culture«, a.a.O.) Es mutet mitunter wie ein Zirkelschluss an, wenn die hermeneutischen Strategien eines Clifford Geertz von der Kulturanalyse als Neuerung in die Literaturwissenschaft reintegriert werden, um dort den Anspruch der Hermeneutik zu bekräftigen. Das soll den Verdienst nicht schmälern, der dem Buch von Bachmann-Medick zukommt, das neben dem von Eberhard Berg und Martin Fuchs herausgegebenen Band zur »Krise der ethnographischen Repräsentation« eine für Ethnologie, Literatur- und Kulturwissenschaft bedeutsame Debatte dem deutschsprachigen Raum zugänglich macht. Letzterer hat allerdings den Vorteil, dass er sich – äußerst kompetent – auf die Debatte innerhalb der Ethnologie beschränkt und so einigen schwerwiegenden Kurzschlüssen aus dem Weg geht. (Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text – Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993.)

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KULTUR ALS TEXT?

in den Dienst der Analyse von Kulturen zu stellen. Einer der einflussreichsten Vertreter dieser Richtung ist der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz. Die von ihm entwickelten Modelle einer hermeneutischen Kulturanalyse machten auch in anderen Disziplinen Schule. So hat bspw. der Historiker Robert Darnton mit den Mitteln, die Geertz in seinem wohl bekanntesten Aufsatz anwendet – einer Interpretation des Hahnenkampfes auf Bali –, versucht, sich einem historisch überlieferten Text zu nähern: dem Bericht eines Beteiligten über ein sogenanntes Katzenmassaker, das von Druckerlehrlingen in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. begangen wurde.5 Ich erwähne das vor allem, weil der französische Historiker Roger Chartier gerade an diesem Beispiel auf die Probleme hingewiesen hat, die sich aus einer Vermischung des Textbegriffs mit seiner metaphorischen Übertragung auf die Kulturanalyse ergeben können. Ohne diese Debatte hier in Bezug auf den Text von Darnton nachzeichnen zu wollen, erscheint es mir doch lohnend, auf die Argumentation Chartiers einzugehen. Der metaphorische Gebrauch von Ausdrücken wie »Text« oder »Lektüre« ist immer riskant, erst recht dann, wenn einzig ein geschriebener Text Zugang zum Gegenstand der anthropologischen Untersuchung gewährt. Nicht nur verlieren sich dabei die Weisen des Redens oder Tuns, die dem Märchen oder Ritus ebenso sehr (wenn nicht mehr) Sinn verleihen wie die schriftliche Fixierung, sondern vor allem besteht zwischen dem Beobachter und dem angeblichen »Text«, mündlicher Erzählung oder Elementen des Festwesens, ein wirklicher Text, der seinen eigenen Stellenwert besitzt. So gesehen ist das Katzenmassaker doch nicht dem Hahnenkampf gleichzusetzen. Der Historiker, der es erzählt und deutet, zehrt schon von einer bereits vorliegenden Erzählung, einem Text, der schon da ist, der bestimmten Zwecken dient und, indem er das Ereignis darstellt, es zugleich zu einem geschriebenen macht.6

In der Geschichtswissenschaft stellt sich diese Frage auf eine etwas andere Art als beispielsweise in der Ethnologie, da ihr Medium überwiegend schriftliche Erzeugnisse vergangener kultureller Praktiken sind. Insofern erscheint es relativ einleuchtend, davor zu warnen, mit der Interpretation eines bestimmten Textes bereits die der Kultur, in der er entstanden ist, mitgeliefert zu haben. Chartier scheint aber, wenn er vom metaphori5

6

Robert Darnton: Arbeiter proben den Aufstand: Das große Katzenmassaker in der Rue Saint-Séverin, in: Ders., Das große Katzenmassaker – Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, übers. v. Jörg Trobitius, München: Hanser 1989, S.91-124 Roger Chartier: Text, Symbol und Frenchness: Der Historiker und die symbolische Anthropologie, in: Ders., Die unvollendete Vergangenheit – Geschichte und die Macht der Weltauslegung, übers. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.70-87, hier: S.75

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schen Gebrauch des Textbegriffs spricht, davon auszugehen, diese Kultur sei eigentlich von einer anderen Beschaffenheit und nur in einem riskanten metaphorischen Manöver als Text beschreibbar. Chartiers sicherlich sinnvolle Differenzierungen zwischen Literalität, Oralität und Ritus blenden aus, dass es sich dabei um verschiedene Weisen der Benutzung und der Produktion von Zeichen handelt. Genau das aber behauptet die symbolische Anthropologie eines Clifford Geertz. Die Kultur oder der historische Kontext nimmt so die Position einer nichttextuellen Wahrheit ein, über die der Text lediglich einige beschränkte Hinweise zu geben vermag. Nimmt man jedoch einen erweiterten Textbegriff ernst, der sowohl Kultur als auch ihre schriftlichen Hinterlassenschaften bis hin zu literarischen Texten im Hinblick auf ihre Gebundenheit an Schrift und Sprache und den damit verbundenen notwendigen und zugleich prekären Prozess der Produktion und Organisation von Zeichen – eben ihrer Textualität – zu denken versucht, werden die Differenzen, auf die Chartier zu recht besteht, nicht verwischt. Es geht dann nicht mehr um die Rekonstruktion eines einzigen, weitgehend homogenen Textes, an seiner Statt erscheint vielmehr ein unabschließbares Gemenge von Texten: literale, orale, rituelle, überlieferte, fragmentierte und vor allem verlorene Texte, die sich allerdings durchqueren, kreuzen, kontaminieren (oder verraten). Ein solches Verständnis des Textes wäre eben nicht metaphorisch, es verwiese vielmehr auf einen Zusammenhang von Kultur, Schrift und Sprache, der vor der letztlich willkürlichen Grenze zwischen Text und historischem kulturellen Kontext zu denken ist. Alle Texte entstammen dieser komplexen und widersprüchlichen Konstellation. Sie können gelesen werden und sie sind selbst Lektüre, Lektüre einer Vielzahl anderer Texte, die ihre Spuren in ihnen hinterlassen, sie ermöglicht oder geradezu hervorgebracht haben. Es geht deshalb eben nicht um die Beziehung eines Textes zu seinem Kontext, sondern um die Unabschließbarkeit einer intertextuellen Bewegung, die alle Formen kultureller Redeweisen erfasst.7 Alle Texte sind insofern Effekte einer Differenz, die sich nicht

7

Ich beziehe mich hier – wenn auch sehr frei – auf das semiotische Konzept der »inter-textualité«, das vor allem Julia Kristeva im Anschluss an Michail Bachtin in ihren frühen Texten ausgearbeitet hat. Kristeva hat diesen Begriff zurückgenommen, der ihres Erachtens im literaturwissenschaftlichen Diskurs zwar aufgegriffen, jedoch reduziert und letztlich missbraucht wurde, und ihn durch den spezifischeren der Transposition ersetzt. Gleichzeitig ist dies auch der Ausarbeitung der eigenen Theorie in Kristevas ›mittlerer Phase‹ geschuldet. An diesem Punkt meiner Arbeit scheint es mir sinnvoller, weiter von Intertextualität zu sprechen, da der Bezug auf die Debatte um Kultur als Text dadurch deutlicher wird und ich außerdem erst später den Begriff der Transposition in seinem Zusammenhang werde erörtern können. Siehe vor allem: Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, übersetzt und mit

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KULTUR ALS TEXT?

zwischen den Texten und ihrem historischem Kontext auftut – wie Chartier nahe legt –, sondern eingewoben ist in jedes Zeichen, jedes Wort, aus dem sie geknüpft sind. Diese Differenz, so jedenfalls verstehe ich Jacques Ranciéres an die Arbeiten Michel de Certeaus anknüpfenden Essay über die Namen der Geschichte, ist die Bedingung dafür, dass es überhaupt Geschichte gibt. Es gibt Geschichte gerade deshalb, weil kein ursprünglicher Gesetzgeber die Wörter mit den Dingen in Einklang gebracht hat. Der Wille, die untauglichen Namen abzuschaffen, läuft, genaugenommen, auf den Willen hinaus, die Untauglichkeit und den Anachronismus abzuschaffen, die bewirken, daß Subjekten im allgemeinen Ereignisse zustoßen. Die Erklärung, daß die Wörter der Geschichte »keinen Bezug« zu ihren Realitäten haben, bedeutet letztlich die Selbstzerstörung der Geschichtswissenschaft.8

Mit der Notwendigkeit der Untauglichkeit der Namen versucht Ranciére die Geschichtswissenschaft von der Fixierung auf eine sich hinter den Wörtern befindliche Wahrheit, die in bestimmten Varianten auch das Soziale heißen kann, zu befreien. Es ist vielmehr der Anachronismus der Rede, das Wiederaufgreifen von Wörtern, die aus der Zeit und damit der Wahrheit herausfallen, die das historische Ereignis hervorbringen. Wörter, die die Wahrheit ihrer Geläufigkeit berauben, die dort ein Stimmengewirr entfachen, wo Wahrheit sich vorgeblich von selbst versteht. Im Anachronismus geben sich die Wörter als das zu erkennen, was sie sind – eben nicht Wahrheit, sondern Wörter. Geschichte ist dieses Stimmengewirr, in dem die Wahrheit sich vervielfältigt, vielstimmig wird, bzw. in dem sich eben dieser ins Unendliche weisende kontingente Prozess als »Wahrheit« erweist. Mit dem Versuch einer imaginären Rekonstruktion einer homogenen, also einstimmigen Wahrheit erweist sich die Geschichtswissenschaft zwar als Teil dieses Prozesses, begibt sich aber – so Ranciére – ihres Gegenstands. Die Hervorbringung dieser Wahrheit bedeutet nichts anderes, als die Homogenisierung und damit Stillstellung der Zeit, da sie in ihrer sich ewig erhaltenden Selbstpräsenz das geschichtliche Ereignis, das zur Unzeit gesprochene Wort (und in gewisser Weise wird jedes Wort zur Unzeit gesprochen, da sich in ihm und in diesem Sprechen eine andere, nichthomogene Zeit öffnet), ausschließen würde.

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einer Einleitung von Reinold Werner (Teilübersetzung), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S.69 Jacques Ranciére: Die Namen der Geschichte – Versuch einer Poetik des Wissens, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 57

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Hahnenkämpfe: Die »Bürde des Autors« Das Festhalten an der Differenz von Oralität, Literalität und Ritus bei Chartier könnte allerdings noch auf einen anderen Aspekt verweisen, der seinem Einspruch eine gewisse Berechtigung gibt. Die Konjunktur der Auffassungen von Kultur als Text oder – und damit kann etwas anderes gemeint sein – Text als Kultur, die sich vor allem auf die Arbeiten von Clifford Geertz als Anthropologen (auf ihn beziehen sich ja Darnton und Chartier) stützt, ist in dessen Fassung außerordentlich problematisch. Geertz hat vor allem in seinen bekanntesten Essays über Dichte Beschreibung und den balinesischen Hahnenkampf ein vorwiegend hermeneutisch inspiriertes Modell einer an der Interpretation von Texten geschulten Kulturanalyse dargelegt.9 Geertz ist damit ein Vorreiter der sogenannten textuellen Wende in der Ethnologie gewesen, die sich allerdings in ihrem Verlauf zunehmend gegen ihn selbst wandte. In seiner faszinierenden Darstellung des Hahnenkampfes auf Bali, den er in seiner kulturellen Funktion mit den Tragödien Shakespeares vergleicht, hat er exemplarisch die Möglichkeiten einer solchen interpretatorischen Ethnologie dargelegt. Dabei zeigt sich allerdings, dass sich dieses Verfahren ausgezeichnet dazu eignet, den ethnographischen Text gegen die Gefährdung eines Einbruchs verstörender Andersheit – der anderen als auch ›ihrer‹ Wörter – abzuschließen. In der Organisation des Hahnenkampftextes werden diese irritierenden Momente einem einleitenden Initiationskapitel vorbehalten, in dem dargestellt wird, wie sich die Untersuchungsgegenstände – die Wörter der anderen – dem Zugriff ihres Autors – dem ethnologischen Interpreten – entziehen. Nach gelungener Initiation ist diese Blockade aufgehoben. Die Objekte bieten keinen Widerstand mehr, sie fügen sich willig den Finessen ihres Interpreten. Dieser kann nun als auktorialer Erzähler seinen Figuren den jeweiligen Ort zuweisen, den sie in seinem Text einzunehmen haben.10 Es drängt sich folglich der Verdacht auf, dass die Formel von der Kultur als Text hier vor allem die 9

Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur; und: »Deep play«: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf, beide in: Ders., Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S.7-43 (Dichte Beschreibung) und S. 202-260 (Deep play) 10 So merkt Vincent Crapanzano zur Rhetorik von »Deep play« an: »Mit seinem Leser geht er einen Dialog ein, den er, wenigstens in seiner Darstellung, mit den Balinesen nicht führt. Sie bleiben Figuren aus Pappe.« Vincent Crapanzano, Das Dilemma des Hermes: Die verschleierte Unterwanderung der ethnographischen Beschreibung, übers. v. Anne Middelhoek, in: Bachmann-Medick, Kultur als Text – Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, a.a.O., S. 161-193, hier: S.181.

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Funktion hat, den Ethnologen mit der Omnipotenz eines allwissenden Autors eben dieses Textes auszustatten. Geertz’ Buch über die Schreibstrategien bedeutender Ethnologen – Works and Lives (Die künstlichen Wilden) – bestätigt diesen Eindruck.11 Es geht ihm darin weniger um das Problem der Schriftlichkeit von Kulturen und in den Texten über Kultur, als um die Auflösung jener Krise der ethnographischen Repräsentation, die das Ergebnis eines erwachenden Bewusstseins für dieses Problem ist, in einer – von ihm beschworenen – heroischen Bürde der Autorschaft. Der Ethnograph muss sich der Verantwortung als Autor stellen – so Geertz – und ihr nicht durch Schreibweisen, die diese Autorität zu unterlaufen scheinen – seien sie nun dialogisch oder fragmentarisch konzipiert –, zu entfliehen versuchen. Geertz’ folgert dementsprechend – immerhin gegen Ende eines für die textuellen Strategien anderer Ethnologen höchst sensiblen Buches – mit bestechender Schlichtheit: Was immer Ethnographie sonst noch sein mag – Malinowskische Erfahrungssuche, Lévi-Straussche Ordnungswut, Benedictsche Kulturironie oder EvansPritchardsche Kulturvergewisserung –, sie ist vor allem eine Wiedergabe des Wirklichen, eine in Worte gefaßte Vitalität.12

Damit wischt er die Ergebnisse seiner eigenen Analysen beiseite. Ethnographien mögen – und darin liegt die überraschende Pointe bei Geertz – nebenbei, quasi nach Feierabend, wenn sie Mantel und Jacke abgelegt haben und nach Sherryglas und Pfeife greifen, auch noch selbst Texte sein, im Grunde ist es die Wirklichkeit selbst, die sich ihrem Autor in das jeweilige Schreibgerät diktiert hat. Auch wenn der hermeneutische Wirklichkeitsbegriff, auf den Geertz sich hier zu beziehen scheint, komplexer ist als ich es hier darstelle, so hat diese Wendung doch einen offensichtlichen Nutzen für das Geertzsche Unternehmen: Die Geste, mit der er die spezifische Textualität, der Ethnographie leugnet, obwohl er sie doch einer eingehenden Analyse unterzogen hat, ist auf eine andere Verleugnung aus: Die Bewegung der Intertextualität kann so ersetzt werden durch den einen rekonstruierbaren Text – die Wirklichkeit oder die ›Kultur‹ –, dessen Autor letztlich der Ethnograph selbst ist. Diese Geertzsche ›Hermeneutik‹ funktioniert nur, wenn es sich um einen Text handelt und sie ergibt nur Sinn, wenn dieser Text ›die Wirklichkeit‹ selbst ist. Renate Schlesier deutet das an, wenn sie mit Bezug auf Geertz meint, der Ethnograph sei »demnach gleichzeitig Interpret und Autor der Kultur als 11 Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden – Der Anthropologe als Schriftsteller, übers. v. Martin Pfeiffer, München: Hanser 1990 12 Clifford Geertz: Die künstlichen Wilden, S.138

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Text«.13 Geertz wäre dann Interpret und Autor eines einzigen Textes – seines eigenen. Kultur als Text bedeutet in diesem Sinne, dass sich das intertextuelle und interkulturelle Verhältnis zwischen Kultur und Ethnographie und ihr Stimmengewirr unzähliger Autoren zur Monotextualität einer einsamen Autorschaft verzerrt, die sich als Wiedergabe des Wirklichen ausgibt. Es ist dieselbe Struktur, die Edward W. Said in seinem paradigmatischen Buch über den abendländischen Orientalismus beschreibt: »Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass die Gegenwart des Orientalisten durch die effektive Abwesenheit des Orients möglich wurde«. 14 Diese monologische Homogenisierung der ethnographischen Texte ist es, die in den letz-

13 »Der Ethnographie betreibende Anthropologe ist nämlich nicht allein ein schreibender Leser, er ist vor allem ein lesender Schreiber. Nicht nur übersetzt er beim Lesen die Kultur in einen zu verstehenden Text, um, wie dies der klassischen Aufgabe der Hermeneutik entspricht, das Fremde verständlich zu machen. Während er die Kultur als Text liest und interpretiert, stellt er vielmehr die Kultur überhaupt erst her. Das Interpretieren des Textes fällt also mit dem Schreiben des Textes zusammen. Das Schreiben wird zum Übersetzen von etwas Vorhandenem und zum Produzieren von etwas Neuem zugleich. Der Ethnograph ist demnach gleichzeitig Interpret und Autor der Kultur als Text.« Renate Schlesier, Kultur-Interpretation – Gebrauch und Mißbrauch der Hermeneutik heute, in: Österreichisches Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Hg.), The Contemporary Study of Culture, Wien (Turia und Kant) 1999, S.157-166, hier: S.163. Schlesier kritisiert Geertz aus hermeneutischer Sicht und kann so auf bestimmte Ausblendungen hermeneutischer Problemstellungen bei ihm hinweisen. Ihre Kritik vermeintlicher Beliebigkeit, die sie sowohl auf Geertz als auch auf seine Kritiker bezieht, macht zugleich die Begrenztheit ihrer Position aus. Ihr geht es letztlich darum, der Wahrheit jene Rolle einzuräumen, die sie Geertz vorenthält: allmächtiger, wenn auch dem Verständnis nur unvollkommen zugänglicher Autor der jeweiligen Texte zu sein. Noch interessanter ist der Aufsatz von Martin Fuchs im gleichen Band, der – mit ethnologisch/soziologischem Hintergrund – Geertz und die Ambivalenz der Kultur als Text ›Metapher‹ ebenfalls kritisiert: Die Vorstellung von Kultur als einem abgeschlossenen Ganzen, das der Beobachter – wie es in einem wichtigen Bild von Geertz heißt – über die Schulter derer, die ihm angehören, zu lesen in der Lage ist, kontrastiert Fuchs mit einer Vorstellung von Kultur als einem unabschließbaren Prozess der Produktion verschiedenster kultureller ›Texte‹, zu denen eben auch der des Ethnographen gehört. An die Stelle der Geertzschen Autorschaft oder der Wahrheit von Schlesier hebt er die reflexive Bedeutung eines im Prozess der kulturellen Interaktion situierten Zwischen-Raums hervor: »Culture is not just representation and explication of identity, through a third party or through oneself. Culture refers to an inter-space – Zwischen-Raum – of reflexivity. Culture as interactive interpretation means an opening out – towards ›the Other‹, towards new meanings, and towards the world (Merleau-Ponty). Culture is a metaphor for difference.« Martin Fuchs: Textualising Culture: Hermeneutics of Distanciation, in: The Contemporary Study of Culture, S. 145-156, hier: S.153 14 Edward W. Said: Orientalismus, Frankfurt a.M./Berlin/Wien (Ullstein) 1981, S.234, zitiert nach Johannes Fabian: Präsenz und Repräsentation – Die Anderen und das anthropologische Schreiben, übers. v. Antje Linkenbach, in: Berg/Fuchs, Kultur soziale Praxis Text, S.335

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ten Jahren – beginnend mit Saids Orientalismus-Buch – innerhalb der Disziplin scharf kritisiert wurde. James Clifford, der wichtigste Protagonist dieser kritischen Selbstreflexion innerhalb der Disziplin, hat bspw. versucht, so etwas wie eine Geschichte der Herstellung ethnographischer Autorität zu schreiben und dabei herausgearbeitet, dass es sich dabei in erster Linie um eine Geschichte der Autorschaft handelt. Wenn die Ethnographie Kulturinterpretation aufgrund intensiver Forschungserfahrungen hervorbringt, wie wird dann eine unlenksame Erfahrung in einen autoritativen schriftlichen Bericht verwandelt? Wie genau wird eine wortreiche, überdeterminierte Begegnung, die kulturelle Grenzen überschreitet und mit Machtverhältnissen und persönlichen gegenseitigen Mißverständnissen durchsetzt ist, als die adäquate Version einer mehr oder weniger abgegrenzten ›anderen Welt‹ umschrieben, verfaßt von einem einzelnen Autor? Analysiert man diese komplexe Transformation, so muß man der Tatsache gegenwärtig sein, daß Ethnographie vom Anfang bis zum Ende ins Netz des Schreibens verstrickt ist. Noch das mindeste dabei ist die Übersetzung einer Erfahrung in die Gestalt eines Textes. Kompliziert wird dieser Prozeß durch das Tätigwerden vielfacher Subjektivitäten und politischer Einschränkungen, die nicht der Kontrolle des Schreibenden unterliegen. Auf diese Kräfte reagiert die schriftliche Ethnographie mit der Inszenierung eines besonderen Autoritätsmodus. Traditionell gehört dazu der nicht in Zweifel gezogene Anspruch des Verfassers, im Text als Wahrheitslieferant aufzutreten. Eine komplexe kulturelle Erfahrung wird von einem Individuum formuliert [...].15

Die Geertzsche Textstrategie führt wieder ein, was sie eigentlich vorgibt, kritisch zu reflektieren: sie konstruiert eine ethnographische Autorität, die die Möglichkeit der Repräsentation des anderen, seiner Kultur, seiner Praktiken behauptet. Die Ethnologie ist aber gleichzeitig die Disziplin, in der am deutlichsten wird, inwiefern ›Wirklichkeit‹ nicht repräsentiert, sondern in der Repräsentation produziert wird, da in ihr die Erfahrung von Fremdheit, die Begegnung mit den anderen, mit der Darstellbarkeit von Kultur in der Schrift und ebenso der Schriftlichkeit von Kultur unmittelbar verbunden sind.

15 James Clifford, Über ethnographische Autorität, in: Berg/Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text, a.a.O., S.109-157, hier: S.114; siehe bspw. auch: Ders., Halbe Wahrheiten, übers. v. Gabriele Rippl, in: Gabriele Rippl (Hg.), Unbeschreiblich weiblich – Texte zur feministischen Anthropologie, Frankfurt a.M. (Fischer) 1993, S.104-135

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Der »andere Schauplatz« Auch gegen die Geschlossenheit des Geertzschen Textmodells richtet sich innerhalb der Ethnologie die Forderung nach Dialogizität. Sie soll es dem Ethnographen ermöglichen, der Krise der ethnographischen Repräsentation zu begegnen. Die Stimme der anderen soll auch in der fertigen Ethnographie hörbar gemacht, ihre Abwesenheit aufgehoben werden. Wichtige Protagonisten eines solchen Programms, so etwa Kevin Dwyer oder Dennis Tedlock, hoffen dabei auf eine Intervention, die helfen soll, die koloniale Monologizität des Ethnologen aufzubrechen und die Ethnographie mit neuer Legitimität auszustatten: die Präsenz des authentischen Vertreters der jeweiligen Kultur im Text. Darunter wird bspw. die Verwendung von direkter Rede in der Ethnographie verstanden, ein möglichst wortgetreues Zitieren sowie – vor allem – die Inszenierung eines Dialogs Hauptinformant-Ethnograph, der auch die veröffentlichte Textfassung noch strukturieren soll. Die Frage ist aber, ob eine derart konstruierte (und den Bachtinschen Begriff missverstehende) Dialogizität nicht auch an der Ausschließung der Vielstimmigkeit zugunsten einer klaren zweipoligen Struktur arbeitet; ob so die Anwesenheit des anderen ermöglicht und das »Sprechen für« beendet werden kann, oder ob diese Modelle auf einem noch größeren Vertrauen in die Repräsentation beruhen, als das interpretatorische Verfahren eines Clifford Geertz. Denn worum es in der Debatte um die »Krise der ethnographischen Repräsentation« geht, ist wohl weniger die Suche nach einem Ausweg aus dieser Krise, als – ganz im Gegenteil – ihre Zuspitzung auf die Frage, ob die Repräsentation selbst so etwas wie der textuelle Effekt ihres kolonialen Kontextes ist. Ob die Dialogizität aus diesem – letztlich ethischen – Dilemma herausführt, also ob sie den kolonialen Monolog nur verdoppelt oder ihn unterläuft, ist zumindest umstritten.16 16 »Die Repräsentation des Dialoges mit Menschen anderer Kulturen hat keinerlei moralische Bedeutung; sie findet vollständig innerhalb eines Diskurses der Repräsentation statt, dessen Ethik der Ontologie und Epistemologie entlehnt und untergeordnet ist, der Aufzeichnung des Realen, das die wahre Erkenntnis in der monologischen Stimme der reinen Vernunft erzeugt. Aus diesem Grunde muß die dialogische Repräsentation ihren Anspruch nicht aus dem Wert moralischer Wiedergutmachung beziehen – der antikolonialen Befreiung der Stimme der Eingeborenen –, sondern aus dem imperialistischen Anspruch der aufgeklärten Repräsentation.« Stephen Tyler: Zum »Be-/Abschreiben« als »Sprechen für« – Ein Kommentar, in: Berg/Fuchs, Kultur, soziale Praxis, Text, S.288-296, hier: S.289 Man muss hier gerechterweise, die Antwort von Tedlock auf diese Kritik anführen: »Ich beeile mich hinzuzufügen, daß der dialogische Anthropologe, dessen einzges Ziel in der Publikation unmttelbarer Dialoge zwischen ihm und den Menschen anderer Kulturen besteht, eine Erfindung von ihnen (also Tyler, S.T.) ist.«

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Kein Text – besonders kein ethnographischer – ist jedoch tatsächlich monologisch, jeder treibt auf dem Fluss der intertextuellen Bewegung, hat unzählige Autoren, antwortet auf unzählige Stimmen. Die Fiktion des Dialogs zwischen zwei Subjekten kann also bereits der Versuch einer Homogenisierung dieser Situation sein, wenn die in Anspruch genommene Authentizität die Position der einen Wahrheit besetzt, um die Autorität eines Textes abzusichern, der seine inter-textuelle/-kulturelle Herkunft, gerade indem er sie hervorzukehren scheint, stillstellt. Damit vergäbe die Ethnographie ihre spezifische Chance tatsächlich zum Ort von (Bachtinscher) Dialogizität zu werden: Also zum Ort eines Dialogs der Autoren und Stimmen, die ihn hervorgebracht haben, und der in der Lage ist, »jenen anderen Schauplatz zu eröffnen, auf dem die dem Sinn vorausliegende Sinnproduktion stattfindet«.17 Erst diese ›Dritte‹ Perspektive ermöglicht einen Dia-(oder Poly-)log jenseits der kolonialen Vereinnahmung des ›anderen‹. Ethnologische Texte zeichnen sich auf ganz besondere Weise darin aus, inwieweit sie den Zusammenhang von Fremdheit (den anderen und ihren Wörtern) und dem Anderen (dem was dem Prozess der Stiftung von Sinn und Ordnung vorausgeht, ihn bedingt und als nichtintegrierbarer Rest bewohnt) entweder als Gewaltverhältnis herstellen (indem sie sich vollständig auf die Seite des Sinns und der Ordnung, die nur die ihres eigenen Sinns, ihrer eigenen Ordnung sein kann) oder aber einen Raum eröffnen, der den Dialog mit dem Anderen (des Sinns und der Ordnung) ermöglicht. Dies wäre ein Weg, der von der Repräsentation des anderen über die radikale Nichtrepräsentierbarkeit des Anderen zu einer Dialogizität führte, die keine noch so monumentale Bürde der Autorschaft zu bewältigen in der Lage wäre. Geertz’ heroisches Projekt würde insofern gerade darin bestehen, sich diesen Paradoxien und Aporien zu verweigern und stattdessen eine letzte Trutzburg zu errichten, in der die Autorität der Repräsentation und der Autorschaft Zuflucht suchen kann: Gerade diese Festung aber gilt es zu schleifen. Doch dazu bräuchte es Schiffe, die über Land segeln...

Dennis Tedlock: Über die Repräsentation des Diskurses im Diskurs – Eine Replik, in: Berg/Fuchs: Kultur, soziale Praxis Text, S.297-299, hier: S.299 Es ist sicher richtig, dass die Grundsätze der dialogischen Anthropologie hier auch von mir vereinfacht dargestellt worden sind, die Kritik von Tyler kann Tedlock jedoch auch in seiner Replik im Kern nicht wirklich entkräften. 17 Julia Kristeva, Semiologie – Kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik, in: Kristeva/Eco/Bachtin u.a., Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S.35-53, hier: S.47

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Das Theater der Textualisierung Ich möchte versuchen, den Kurs dieses unmöglichen Schiffes nachzuzeichnen. Dazu muss allerdings das Schiff, die Metapher des Schiffs oder eher das Schiff als Figuration der Heterotopie verlassen und stattdessen ein anderer Raum, ein Raum öffentlicher Inszenierung, betreten werden: das Theater. Es handelt sich dabei um einen zugleich virtuellen als auch realen Schauplatz, an dem alles tatsächlich geschieht und doch unrealisiert bleibt; einem Schauplatz also, an dem die Unterscheidung zwischen Potenz und Akt aufgehoben ist und der gerade deshalb zu einem Laboratorium des kulturellen Raums, seiner Gesten und seiner Viel-stimmigkeit werden kann. Die Lektüren des Shakespeareschen Theaters des amerikanischen Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt deuten jedenfalls in diese Richtung. Bei Greenblatt scheinen die Dinge zunächst ähnlich zu liegen wie bei Clifford Geertz, erwecken doch seine Shakespeare-Interpretationen zuweilen den Eindruck, als wolle er nun, nachdem Geertz den Hahnenkampf wie eine Shakespearesche Tragödie analysiert hat, diese Tragödien als Hahnenkämpfe interpretieren, zumal er die Literaturprofessoren – und damit natürlich sich selbst – als »bestallte Schamanen der Mittelklasse« bezeichnet.18 Tatsächlich aber arbeitet Greenblatt dem Konzept einer Bürde des Autors entgegen. In gewisser Weise handelt es sich bei seinem Programm eines new historicism oder einer Kulturpoetik um das genaue Gegenteil dessen, was Geertz vorschlägt. Greenblatt geht es um eine partielle Auflösung des Kunstwerks und der Autorschaft in kulturelle Prozesse. Kultur erscheint bei Greenblatt als ein ständig in Bewegung befindliches System des Austauschs der verschiedensten Zeichen. Alles, was im menschlichen Zusammenleben Bedeutung gewinnt, wird von diesem Austausch erfasst. In seinen wichtigen Verhandlungen mit Shakespeare findet Greenblatt dafür den Begriff der Zirkulation sozialer Energie, wobei er Energie, dem Gebrauch des Wortes in der englischen Renaissance gemäß, als eine rhetorische Qualität definiert, die einen bestimmten Effekt des Gebrauchs von Sprache bezeichnet. Diese Energie erscheint denn auch als eine rhetorisch hervorgebrachte affektive Qualität, die zwischen den Menschen und ihren Institutionen hin und her getauscht, verhandelt und gebunden, akkumuliert wird. Doch es sind eben nicht nur Wörter und Geld, die als mit sozialer Energie aufgeladene Zeichen zirkulieren, sondern die Institutionen und Menschen selbst werden zur Ver18 Stephen Greenblatt: Die Zirkulation sozialer Energie, in: Verhandlungen mit Shakespeare – Innenansichten der englischen Renaissance, übers. v. Robin Cackett, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 9-33, hier: S.9

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handlungsmasse, also zu Zeichen, deren Bedeutungen stets neu ausgehandelt werden und denen sich nur fließende, ewig wandelnde Identitäten abringen lassen. Alles wird somit in diesen Strudel eines beständigen Austauschs gezogen, der den Menschen und seine Hervorbringungen vollständig erfasst. Das Kunstwerk ist eingebunden in diesen Prozess. Es ist sowohl dessen Schauplatz als auch eine Intervention, indem es die an sich gebundene Energie in die allgemeinen Verhandlungen einbringt. Der Austausch durchquert das Kunstwerk und zieht es hinein in seine historisch vermittelten Formen und Verhandlungsweisen. Es ist in die vielstimmigen und in kontingenter Bewegung befindlichen Texte eingewoben, die es geschrieben haben und an denen es schreibt. »Oder wie Louis Montrose in einer handlichen Formulierung sagt: Unser Ziel besteht darin, gleichzeitig die Historizität von Texten und die Textualität von Geschichte einzufangen.«19 Damit wird der Künstler aus der Autorschaft eines abgeschlossenen, autonomen Textes entlassen. Die Ökonomie der historischen Austauschmodi geht durch ihn ebenso hindurch, wie durch das Kunstwerk selbst. Wenn man, wie ich, auf die Rekonstruktion dieser Verhandlungen bedacht ist, träumt man unwillkürlich davon, jenen originären Moment aufzuspüren, in dem die Hand des Meisters aus der konzentrierten sozialen Energie das erhabene Kunstwerk gestaltet. Aber die Suche nach diesem originären Moment ist vergeblich, denn es gibt ihn nicht, diesen reinen, unbeschränkten Schöpfungsakt. Statt der glänzenden Schöpfung erhascht man etwas ganz anderes, das auf den ersten Blick weit weniger spektakulär erscheint: ein subtiles, schwer faßbares Ensemble von Tauschprozessen, ein Netzwerk von Wechselgeschäften, ein Gedränge konkurrierender Repräsentationen, eine Verhandlung zwischen Aktiengesellschaften. Allmählich haben sich diese komplexen, unablässigen Leih- und Verleihgeschäfte als wichtiger, ja gar als aufschlußreicher und spannender entpuppt als alle anfänglich erhoffte Epiphanie.20

Die Kunst geht allerdings nicht restlos in dieser kulturellen Ökonomie auf, die sie hervorbringt. Vielmehr nimmt sie, jedenfalls in der Form des Shakespeareschen Renaissance-Theaters, das Greenblatt in diesem Zusammenhang behandelt, eine privilegierte Stellung ein. Dieses Theater wird zum exponierten Ort und zwar sowohl in der Kultur, der es seine Entstehung verdankt, als auch in der spezifischen historischen Konstellation dieser Kultur an der Wende zur Neuzeit. Zwar stellt es auf der einen Seite eine Institution unter anderen dar, mit den Interessen und den vor 19 Stephen Greenblatt: Resonanz und Staunen, in: Ders., Schmutzige Riten – Betrachtungen zwischen Weltbildern, übers. v. Jeremy Gaines, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S.7-29, hier: S.15 20 Greenblatt: Die Zirkulation sozialer Energie, S.16

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allem kommerziellen Notwendigkeiten, die eine solche Institution im allgemeinen Austausch kennzeichnen. Ihm wird aber gleichzeitig eine gewisse Sonderstellung eingeräumt, da die Verhandlungen auf der Bühne des Theaters keinen unmittelbaren Eingriff in die Machtkonstellationen der äußeren Welt darzustellen scheinen. Die Sphäre der Nutzlosigkeit eines der Unterhaltung dienenden Spiels ermöglicht bestimmte Interventionen, die nur dort vorgenommen werden können.21 Dieser besondere Ort bleibt provisorisch, er ist selbst einer ständigen Verhandlung über die ihm zukommende Rolle, seine Befugnisse und Möglichkeiten ausgesetzt. Die ihm gesetzten Grenzen entstehen erst in ihrer Überschreitung. Eine Bewegung, die sich ständig verschiebende Zwischenräume entstehen lässt, die es dem Theater ermöglichen, Riten, Diskurse und Sprechweisen spielerisch in immer neuen Konstellationen zu verwerten. Es wiederholt oder verändert sie, löst sie auf, setzt sie neu zusammen, konterkariert sie, soweit die eigenen Interessen als Institution es zulassen. Das Theater ist eine gesellschaftliche Institution, aber eine solche, in der ein spielerischer (vielleicht nicht-institutioneller) Umgang mit gesellschaftlichen Institutionen möglich wird, der in der Welt, die als wirklich betrachtet wird, unannehmbar erschiene.22 Das Theater erscheint demnach als eine Hybridisierungsmaschinerie, die Trennungen aufheben kann, auf deren Einhaltung ansonsten mit 21 »Das Theater läßt die Zuschauer vergessen, daß sie an einer durchaus praktischen Veranstaltung teilnehmen, es erdichtet eine Sphäre, die aller Manipulationen des Alltags enthoben scheint. Shakespeares Theater wird in dem Maße wirksam und mächtig, in dem sein Publikum an seine Nutzlosigkeit und praktische Wertlosigkeit glaubt. Und dieser Glaube verschafft dem Theater einen ungewöhnlich großen Freiraum für seine Verhandlungen und Tauschgeschäfte mit den umliegenden Institutionen, Autoritäten, Diskursen und Praktiken.« Greenblatt: Die Zirkulation sozialer Energie, S.30 22 »Vor allem jedoch erfreute sich die Sprache des Theaters – und erst sie macht die ganze Bandbreite von Repräsentationsressourcen möglich – einer bemerkenswerten Offenheit: Da fanden die feierlichsten Formeln aus Kirche und Staat ihren Weg auf die Bühne und vermischten sich mit den Redensarten des Marktplatzes, ebenso wie im selben Stück gehobene Verse und einfachste Prosa miteinander abwechseln. Das Theater ist zwar von der »Außenwelt« abgegrenzt und operiert als ein eigenständiger, behördlich konzessionierter Bereich, aber die Grenzen zu dieser Außenwelt erweisen sich als erstaunlich durchlässig. Denn die Zirkulation sozialer Energie durch und über die Bühne war nicht Teil eines einzigen, einheitlichen, totalisierenden Systems. Sie war vielmehr partiell, fragmentarisch, widersprüchlich; einzelne Elemente wurden ausgewechselt, auseinandergerissen, neu zusammengesetzt, einander gegenübergestellt, bestimmte soziale Praktiken wurden durch die Bühne hervorgehoben, andere zurückgestuft, übertrieben oder entleert.« Greenblatt: Die Zirkulation sozialer Energie, S.31 Greenblatt knüpft hier direkt an die Arbeiten Michail Bachtins an, der – vor allem in seiner großen Rabelais–Monographie – diese Heteroglossie der kulturellen Welt (nicht nur) der Renaissance und deren literarische Übersetzung analysiert hat. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt – Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987

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Sorgfalt geachtet wird. Es eröffnet folglich so etwas wie eine Metaebene, in der sich die kulturellen Prozesse figurieren, ohne dass es aufhört, selbst ein Teil dieser Prozesse zu sein. Damit eröffnet es die Möglichkeit von kultureller Selbstreflexion, indem es erkennen lässt, dass es die kulturellen Praktiken sind, der gesamte Zirkulationsprozeß, der sich im »nutzlosen« Spiel des Theaters in seiner Kontingenz und Hybridität zu erkennen gibt. Die Vielsprachigkeit oder Heteroglossie wird zum Gegenstand der theatralen Inszenierung. Die Polysemie des kulturellen Zeichens, seine Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Tauschprozessen, die Heterogenität der so generierten Redeweisen wird auf die Bühne gestellt und in ihrer Bewegung lesbar gemacht.

Der Tausch und das Mycelium Es ist die Bewegung der Intertextualität, die Greenblatt aus deren Übersetzung in die hinterlassenen Texte herausliest. Das, was er als Zirkulation sozialer Energie bezeichnet, ist diese Art der Verknüpfung völlig heterogener Orte im Tausch. Darin – und nicht im homogenisierenden Bestreben der Autorschaft – gibt sich ihm der Prozess der Textualisierung zu erkennen. Greenblatts Interesse gilt aber der Textualität literarischer und außerliterarischer Texte, von denen aus er erst die Akteure und die historischen Konfigurationen des gesellschaftlichen Systems perspektiviert. Das Konzept der Zirkulation sozialer Energie macht hier die exponierte Intertextualität literarischer Repräsentation als Interdiskursivität lesbar und erlaubt zugleich, die in ihr als literarische Repräsentation artikulierten sozialen Strategien mit dieser Interdiskursivität ihrerseits zu vermitteln. Unter der Prämisse, die Differenz des literarischen Sektors zu den »surrounding institutions« nicht einzuziehen, kann Greenblatt die strukturelle Überdeterminierung des singulären Akteurs in die Figuralität der Texte (ihre Metaphorizität, ihre Dialogizität, ihre Intertextualität, ihre Interdiskursivität) übersetzen und sodann als Skepsis gegenüber den normierenden Theorien gesellschaftlicher Prozesse ausspielen. Das heißt: der Verweisungszusammenhang zwischen den sozialen Institutionen mit ihren historischen diskursiven Regulativen und den durch sie ermöglichten konkreten überdeterminierten Tauschakten wird in den literarischen Text eingetragen und dort als diskursives Netzwerk beschrieben, das den Text trägt.23 23 Ulla Haselstein: Poetik der Gabe: Mauss, Bourdieu, Derrida und der New Historicism, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S.272-289, hier: S.279

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Ulla Haselstein betont hier zwar die Differenz des »literarischen Sektors« gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen, doch wird auch deutlich, dass Greenblatt sich bemüht, diese Differenz der Ökonomie des Tauschs selbst abzugewinnen. Die gebundene soziale Energie im literarischen Text erscheint so als eine Überhitzung dieser Prozesse, in der etwas Überschießendes entsteht, das aus den Bahnen des Tauschs herausfällt, eine Differenz markiert und eine andere (Nicht-)Ökonomie ins Spiel bringt. Vielleicht versteht Greenblatt bisweilen die Historizität der Texte zu sehr von den Institutionen, anstatt die Textualität der Institutionen von den Texten her zu lesen.24 In seinen Lektüren wird jedenfalls die Prozessualität einer unabschließbaren Ökonomie kultureller Tauschakte sichtbar, der der literarische Text angehört und die er zugleich ›übersetzt‹. Der literarische Text wird also geknüpft von und knüpft selbst an diesem Netz und ist doch zugleich unverknüpfbar, ›untauschbar‹. Er entzieht sich dem Kontext, reißt das Gewebe auf, trennt die Naht im Moment der Verknüpfung oder besser: Er bildet Knoten, die sich nicht im Netz der Verweise auflösen lassen, Wucherungen, dunkle Stellen, die, wie Freuds Nabel des Traums, auf ein untergründiges Mycelium verweisen.25 24 Man muss sich davor hüten, hier einen den Text ein- oder umschließenden Kontext zu vermuten, der die Vielstimmigkeit der Heteroglossie bzw. Intertextualität unterschlagen und vortäuschen würde, hinter den einzelnen Texten verberge sich ein einziger, den zu entschlüsseln die eigentliche Aufgabe sei und zu dem seine Teile die Hinweise gäben. Der Kontext träte dann in die Fußstapfen der Autorschaft, die er aus dem Werk vertrieben hat. Ihm würde (wie in der hermeneutischen »Wahrheit«) die Autorität eingeräumt, über so etwas wie einen Ur-Sinn der im Text vorgenommenen Operationen zu verfügen. In bestimmten Formulierungen scheint auch Greenblatt einer solchen verkürzten Auffassung des Kontextes Vorschub zu leisten, wenn er z.B. davon spricht, dass es manchen literarischen Texten gelingt, »kraft der in ihnen codierten sozialen Energie über Jahrhunderte hinweg die Illusion der Lebendigkeit wachzurufen«.(Greenblatt: die Zirkulation sozialer Energie, S.16) Wenn man Greenblatt auch schwerlich unterstellen kann, dass er sich Illusionen über die Heterogenität der von ihm untersuchten Texturen mache, so scheint er doch nicht ganz davor gefeit, seinen Texten ein gewisses Heimatrecht in ihrer spezifischen historischen Konstellation zuzusprechen, anstatt sich ihrer unaufhebbaren Fremdheit auszuliefern, die sie zugleich heimatlos, aber auch lesbar macht. (»Es gibt keinen Ausdruck ohne Ursprung und Ziel, ohne woher und wozu«, schreibt Greenblatt bspw. Ebd., S.22). Jacques Derrida hat den wohl schwerwiegendsten Einwand gegen die Einsperrung der Sprache in ihren Kontext erhoben. Er definiert das Zeichen (in der Schrift) geradezu als Bruch mit seinem Kontext: »Diese Kraft des Bruches ist kein akzidentelles Prädikat, sondern die Struktur des Geschriebenen selbst. [...] Es gehört zum Zeichen, schlechterdings lesbar zu sein, selbst wenn der Augenblick seiner Produktion unwiederbringlich verloren ist und selbst wenn ich nicht weiß, was sein angeblicher Autor-Schreiber in dem Augenblick, da er es schrieb, das heißt es seiner wesentlichen Führungslosigkeit überließ, bewußt und mit Absicht hat sagen wollen. [...] Kein Kontext kann es einschließen.« Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext, übers. v. Donald Watts Tuckwiller, in: Ders., Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S.291-314, hier: S.300 25 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, in: Ders. Gesammelte Werke Band II/III Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.530

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Der Tausch ist ein Phänomen des Zwischen, der Bewegung zwischen zwei Orten, wobei Greenblatts Lektüren trotz allem nahelegen, dass diese Orte keineswegs feste Positionen bezeichnen, sondern sich selbst dieser Bewegung verdanken. In einem solchen beweglichen Zwischen nistet das Theater als Bühne der Textualisierung. Es eröffnet somit einen anderen Schauplatz inmitten der kulturellen Ökonomie: eine Bühne der Sprache, der Fremdheit der Sprache. Diese Sprache repräsentiert nichts, nicht einmal den Austausch. Die Texte Shakespeares, deren Bühne dieses Theater hier ist, »übersetzen« die Differenzialität (oder die différance), die sich im Austausch artikuliert. In ihnen textualisiert sich gewissermaßen die Textualisierung.

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3. B Ü H N E N D E R T E X T U A L I S I E R U N G : RITUS, GEWALT UND MIGRATION Meines Erachtens machen jedoch die analytische Zerlegung der Kultur in Faktoren und die freie oder »spielerische« Neukombination dieser Faktoren zu jedem nur möglichen Muster, wie verrückt dieses auch sein mag, das Wesen der Liminalität, die Liminalität par excellence aus.1 Moreover, when travel [...] becomes a kind of norm, dwelling demands explication.2

Wenn ich im Titel dieses Kapitels von Bühnen spreche, dann deshalb, weil ich davon ausgehe, dass es sich – wie im Zusammenhang der Greenblattschen Shakespeare-Lektüren angedeutet – bei der Textualisierung um ein Ereignis handelt, welches ohne ein gewisses inszenatorisches Element nicht auskommt. Die Bühnenmetapher beschreibt genau diese inszenatorische Dimension, dieses Zur-Aufführung-Bringen eines Ereignisses, in dem versucht wird unter der genauen Einhaltung spezifischer Regeln etwas hervorzubringen, was über diese Regelhaftigkeit hinausgeht. Die öffentliche Bühne bietet diese Möglichkeit Wiederholung in Singularität, in Ereignis umschlagen zu lassen, ohne den dafür vorgesehenen kulturellen Raum zu verlassen. Sie gibt gewissermaßen einer Verortung der Ortlosigkeit statt, einer Gleichzeitigkeit von kultureller Begrenzung und Entgrenzung. Die Ermöglichung dieser paradoxen Prozessualität der Verortung der Ortlosigkeit ist vielleicht die zentrale Aufgabe von Kultur.

1 2

Victor Turner: Vom Ritual zum Theater – der Ernst des menschlichen Spiels, übers. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S.42 James Clifford: Routes – Travel and Translation in the Late Twentieth Century, London/Cambridge: Harvard University Press 1997, S.4

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Rites de passage Während das Shakespearesche Theater in der Theorie Greenblatts die Textualisierung ausstellt, erscheint das Ritual als ihr eigentlicher kultureller Ort. In der Vorbereitung des ethnologischen Paradigmenwechsels von der Immobilität sozialer Systeme im Funktionalismus hin zu einem dynamischen Modell von Kultur kommt dem Werk Arnold van Genneps bzw. seinem schmalen Buch über Les rites de passage 3 zentrale Bedeutung zu. In diesem Text versucht van Gennep eine Systematisierung von Riten, die die verschiedensten Formen von Übergängen begleiten, soziale, jahreszeitliche oder geographische. Er gliedert sie in ein Drei-PhasenModell, das all diesen Riten zugrunde liegen soll: 1.) die Ablösungsoder Trennungsriten (rites de séparation); 2.) die Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge) und 3.) die Angliederungs- oder Inkorporationsriten (rites d’agrégation). Diese Riten erlauben das Überschreiten kulturell gesetzter Grenzen. Zu Beginn und am Ende dieses Übergangs warten feste Positionen im sozialen Gefüge der entsprechenden Gesellschaft, im Übergang jedoch tritt man in Kontakt mit den antagonistischen Kräften, denen sich diese Ordnung verdankt. Van Gennep konstatiert, dass von diesen Übergängen Gefahr ausgeht, da sich in ihnen eine Dynamik des kulturellen Lebens äußert, die dem Anspruch der kulturellen Klassifikation zuwiderläuft, eine unabänderliche kosmische Ordnung der Dinge und Menschen einzusetzen. Man kann die Grenzen zwischen den verschiedenen kulturellen Orten nur überschreiten, indem man zumindest zeitweise die kulturelle Ordnung verlässt, sich in einen anderen, nichtkulturellen Bereich begibt, von dem aus man als »neugeboren« wieder eintritt in die Ordnung. Die Funktion der Übergangsriten ist es also, die Störungen des individuellen und sozialen Lebens, die von diesen Übergängen ausgehen, zu bewältigen. Daß solche Veränderungen als real und schwerwiegend angesehen werden, beweist die Vielzahl der bei den verschiedensten Völkern und in allen möglichen Zeremonien vorkommenden Riten, die Übergänge von der alten in die neue Welt als Tod und Auferstehung dramatisieren. Diese Riten [...] stellen die dramatischste Form der Übergangsriten dar.4

Dieses ›Außerhalb‹ des Übergangs, des ›Zwischen-den-Positionen‹, kann folglich als völliger Austritt aus der Gemeinschaft der Lebenden imagi3

4

Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage), übers. v. Klaus Schomburg und Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York: Campus 1999 van Gennep: Übergangsriten, S.23

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BÜHNEN DER TEXTUALISIERUNG

niert werden. Der Tod als radikales Anderes der Kultur wird so in ihren Dienst genommen. Er ist es, der an der Grenze wartet bzw. ihre Überschreitung ermöglicht, indem er die Illusion einer leeren Seite, eines völligen Neubeginns erweckt. Die Kultur erscheint sich so als Überwinderin des Todes sowie als Herrscherin über die Grenzen. Bereits bei Van Gennep deutet sich allerdings an, dass es darum geht, diese in der Ethnologie reproduzierte Illusion auf den Kopf zu stellen. Van Gennep entwirft ein Bild traditionaler Gesellschaften, das diese in der Dynamik einer ständigen Konfrontation von Übergang und Fixierung zeigt. Indem er scheinbar einfach eine auf den Übergang fokussierte vergleichende Untersuchung verschiedener Riten vorlegt, verkehrt er die Perspektive des ethnologischen/kolonialen Blicks auf diese angeblich statischen Gesellschaften und eine ständige Bewegung wird sichtbar, der die sicheren, festen Positionen im kulturellen Gefüge nur mühsam und unter großem rituellen Aufwand abgerungen werden können.

Liminalität Victor Turner hat die Anregungen von van Gennep in seinen Texten aufgenommen, ausgearbeitet und zugespitzt. Er legt dabei sein Hauptaugenmerk – sehr viel stärker als van Gennep – auf das Zwischen dieses Übergangs, das er als Grenzerfahrung, als Liminalität definiert. Mit den von ihm ausgearbeiteten Begriffen des Liminalen und Liminoiden, der Communitas und des Sozialen Dramas versucht er »Kultur als Prozeß« in Bewegung zu verstehen. Er sieht – analog zu Greenblatt – die Herstellung von Klassifikationssystemen, die Grundlage kultureller Ordnung, als sich ständig veränderndes Ergebnis von Verhandlungen, in denen sich eine Kultur im Prozess konstituiert und verändert.5 Im Ritual wird dieser Prozess der Produktion von Bedeutung von den jeweiligen Akteuren vollzogen. Auch wenn der Rahmen des Ritus genau reglementiert ist, so gibt er doch einem Ereignis statt, das über diese Regelhaftigkeit erneut 5

»Man muß sich davor hüten, Kultur als eine starre Einheit zu verstehen und so zu verdinglichen, was – prozeßhaft betrachtet – eine endlose Reihe von Verhandlungen ist, mittels derer sich die Akteure über die Bedeutungen verständigen, welche sie ihren Handlungen zuschreiben. Bedeutung wird verbal durch Sprache und nichtverbal durch rituelle und zeremonielle Handlungen erstellt. Auch Symbole, die in späteren Situationskontexten gleichsam zu Indexziffern werden, transportieren Bedeutung. Nichtsdestoweniger müssen das Zu- und das Umschreiben von Bedeutung als Prozesse betrachtet werden, durch die jede Population auf dynamische Weise eine kulturelle Kontinuität herstellt.« Victor Turner: Prozeß, System, Symbol: Eine neue anthropologische Synthese, übers. v. Robin Cackett, in: Rebekka Habermas/Niels Minkmar (Hg.) Das Schwein des Häuptlings – Beiträge zur Historischen Anthropologie, Berlin: Wagenbach 1992, S.130-146, hier: S.130f. Auf die Probleme, die mit dieser Auffassung verbunden sind, komme ich weiter unten zu sprechen.

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Bedeutung zu produzieren in der Lage ist: Wie beim Greenblattschen Theater handelt es sich um einen performativen Akt.6 Gerade im Übergangsritus vollzieht sich diese kulturelle Performanz. Er stellt den kulturellen Schauplatz zur Verfügung, in dem, in Konfrontation mit dem Anderen, die Herstellung kultureller Ordnung nicht nur nachvollzogen, sondern vollzogen wird. Performativität des Ritus meint folglich, dass im Ritus die Texte erst geschrieben bzw. verknüpft, die kulturellen Bedeutungen hergestellt, die Differenzen immer wieder neu gesetzt werden, die dann das scheinbar stabile Universum der kulturellen Ordnung konstituieren. Victor Turner hat sich zunehmend darauf konzentriert, dieser performativen Prozessualität nachzuspüren. In den direkt auf diese kulturelle Bewegung bezogenen rites de passage meint er eine Gegensphäre der strukturierten sozialen Welt erkennen zu können, die, als notwendige Ergänzung zur Sozialstruktur, diese wandlungsfähig und lebendig erhält. In der Liminalität der Übergangsphase erhält diese andere Sphäre Einlass ins Gefüge ihres geordneten Gegenübers. Turner konstruiert sie als ein Reich des Zwischen, »Betwixt and Between«, wie er seinen ersten wichtigen Aufsatz zu diesem Thema benannt hat.7 In seinem Buch The Ritual 6

7

Über die Ritualtheorie hat der aus der sprachwissenschaftlichen Sprechakttheorie stammende Begriff der Performativität oder Performanz Einzug gehalten in die Erklärungsmodelle der Kultur- und Sozialwissenschaften. Er bezieht sich darauf, wie im Handeln, ob sakral oder profan, alltäglich oder herausgehoben, die soziale Wirklichkeit auf nichtintentionale Weise produziert wird. In einem neueren Sammelband zur Ritualtheorie heißt es bspw. in diesem Zusammenhang: »Um menschlichem Verhalten eine Ordnung zu geben, wird die Beliebigkeit und Willkür subjektiver Intentionen durch eine Verschmelzung des Akteurs mit der rituellen »Rolle« überwunden. Individuen führen nicht mehr Skripte aus, sondern sie werden zum ausführenden Organ des Einschreibens von Ordnung in die Welt. Durch rituelles Handeln wird die Konvention selbst etabliert. Indem der Mensch die rituelle[n] Handlungen ausführt, entsteht Ordnung. [...] Rituelle Handlungen weisen eine Autonomie auf, die nicht durch das Gebundensein an vorgegebene Regeln erklärt werden kann. Offenbar reagieren Menschen auf die stets sich verändernde Umwelt mit neuen Handlungsformen, die ihnen erlauben, sich in der Welt zu orientieren.[...] Die Welt wird nicht beschrieben, sondern rituell ›gestaltet‹.« David J. Krieger/Andréa Belliger: Einführung, in: Dies., Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S.7-33, hier: S.24f. S. J. Tambiah hat (neben Turner selbst) die Sprechakttheorie Austins – der der Begriff der Performanz bzw. des illokutionären Aktes entstammt –mit einigen Aufsätzen in den siebziger Jahren im Zusammenhang der angloamerikanischen Debatte um die Relativität von Rationalität – für die kulturanthropologische Theoriebildung fruchtbar gemacht. Siehe hierzu: S.J. Tambiah: Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt, übers. v. Brigitte Luchesi, in: Magie – Die sozialwissenschaftliche Debatte über das Verstehen fremden Denkens, Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S.259-296 Victor Turner: Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage, in: Ders., The Forest of Symbols – Aspects of Ndembu Ritual, Ithaca/London: Cornell University Press 1970, S.93-111

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Process versucht er diesen Grenzraum genauer zu bestimmen und zu universalisieren. Er wendet ihn nicht mehr nur auf seine eigene Feldforschung an, sondern darüber hinaus auf die abendländische und außereuropäische Geschichte, Religion und sozialen Bewegungen der Gegenwart (»Bob Dylan und die BƗuls«8). Im Mittelpunkt steht jedoch die Beschreibung des Zwischen der Liminalität, des Betwixt and Between, das er folgendermaßen zu fassen sucht: Die Eigenschaften des Schwellenzustands (der »Liminalität«) oder von Schwellenpersonen (»Grenzgängern«) sind notwendigerweise unbestimmt, da dieser Zustand und diese Personen durch das Netz der Klassifikationen, die normalerweise Zustände und Positionen im kulturellen Raum fixieren, hindurchschlüpfen. Schwellenwesen sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen. Viele Gesellschaften, die soziale und kulturelle Übergänge ritualisieren, verfügen deshalb über eine Vielzahl von Symbolen, die diese Ambiguität und Unbestimmtheit des Schwellenzustands zum Ausdruck bringen. So wird der Schwellenzustand häufig mit dem Tod, mit dem Dasein im Mutterschoß, mit Unsichtbarkeit, Dunkelheit, Bisexualität, mit der Wildnis und mit einer Sonnenoder Mondfinsternis gleichgesetzt.9

Schwellenräume und -personen siedeln an den Grenzen, den Trennungen. Sie sind abhängig von diesen Markierungen und bringen sie hervor. Sie wohnen dort, wo kein Haus Platz finden würde, auf der imaginären Linie, die das Zuhause eines anderen (etwa desjenigen, der sie einmal waren) von der Fremde (bzw. dem Heim eines anderen anderen) trennt. Turner behauptet nun, dass diese Grenzerfahrung eine Ent-grenzungserfahrung sei. Die Individuen erlebten sich untereinander als Gemeinschaft, frei von allen strukturellen Beschränkungen. Diese Erfahrung einer Parallelgesellschaft bezeichnet er quasi-religiös als Communitas und nach Turner verdanken sich alle religiösen Bewegungen tatsächlich diesem Erlebnis innerer und äußerer Entgrenzung. Die Einzelnen sind im Taumel der Entgrenzung in der Lage den Angehörigen der Communitas auf eine Weise zu begegnen, die innerhalb der Struktur bzw. – um hier mit Marcel Mauss zu sprechen – zwischen Personen10 nicht möglich wä8

Victor Turner: Das Ritual – Struktur und Antistruktur, übers. und mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000, S.157 9 Victor Turner: Das Ritual, S.95 10 »Es hat durchaus den Anschein, als sei der ursprüngliche Sinn des Wortes ausschließlich Maske.« Marcel Mauss: Eine Kategorie des menschlichen Geistes: Der Begriff der Person und des »Ich«, übers. v. Henning Ritter, in: Ders., Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.223-252, hier:

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re.11 Wenn Communitas die unmittelbare Begegnung zwischen Menschen meint, dann wird deutlich, und darin scheint mir die Qualität dieses Begriffs zu liegen, dass in dieser zwischenmenschlichen Beziehung eine Sprengkraft liegt, gegen die sich die Ordnung abzusichern hat, ohne auf sie verzichten zu können. Hier scheint ein grundsätzlicher Konflikt auf, den Turners Text – analog zu dem, was er über die Struktur sagt – immer zugleich aufzurufen und zu unterdrücken scheint: einem solchen Manöververdankt sich in gewisser Weise die Umschreibung des »betwixt and between« der Liminalität in Communitas. Am Ende münden Turners Beschreibungen der ›unheimlichen‹ Wesen und Räume des Zwischen in der Konzeptionalisierung einer Communitas als Antistruktur, von deren Beziehung zur Sruktur sich schließlich sagen lässt, Gesellschaft sei »ein dialektischer Prozeß mit aufeinanderfolgenden Struktur- und Communitasphasen.« 12 S.240. Mauss zeichnet darin die für ihn typische Entwicklung eines Begriffs nach, hier: eben »Von einer einfachen Maskerade zur Maske, von einer Figur (personnage) zu einer Person, zu einem Namen und einem Individuum, von diesem zu einem Wesen metaphysischen und moralischen Werts, von einem moralischen Bewußtsein zu einem heiligen Wesen und von diesem zu einer Grundform des Denkens und Handelns – damit ist der Gang vollendet.« Ebd., S.252 Entgegen (?) der evolutionären Perspektive Mauss’, lässt sich diese Reihenfolge leicht verkehren, um den umgekehrten Zusammenhang zwischen Denken und den Akteuren kultureller Textualisierung zu verdeutlichen. So wie Mauss das antisoziale Moment der Individualität in dieser sozialen Kategoriengeschichte zu unterschlagen scheint, zeigt er zugleich, wie das, was Turner als Communitas bezeichnet, eben der Etymologie seines Gegenübers bereits angehört. 11 Turner verweist dabei u.a. auf die Apologie des Naturzustands bei Rousseau und Martin Bubers »wesenhaftes Wir«: »Hier begegnen wir der, später von Rousseau am weitesten entwickelten Annahme, daß Menschen, die im besitzund strukturlosen Zustand der absoluten Gleichheit leben, von Natur aus gut sind. [...] Hier wie in ähnlichen Formulierungen macht Buber deutlich, daß das ›wesenhafte Wir‹ eine, wenn auch äußerst starke, so doch vorübergehende Form der Beziehung zwischen ganzen Personen ist. Meines Erachtens hat das ›wesenhafte Wir‹ Schwellencharakter, da Dauerhaftigkeit Institutionalisierung und Wiederholung voraussetzt, Gemeinschaft aber (die etwa der spontanen Communitas gleichzusetzen ist) immer völlig einzigartig und deshalb sozial vergänglich ist. Manchmal scheint Buber zu glauben, diese Erfahrung der Gegenseitigkeit könne in strukturelle Formen überführt werden. Spontane Communitas kann niemals adäquat in einer Strukturform zum Ausdruck gebracht werden, sie kann jedoch jederzeit unvorhergesehen zwischen Menschen entstehen, die institutionell als Mitglieder der sozialen Gruppierungen betrachtet bzw. definiert werden oder auch nicht.« Turner, Das Ritual, S.132f. 12 Turner: Das Ritual, S.193 Es handelt sich dabei um den Beginn des Schlussabsatzes des Buches, seine letzten Worte. Turner schließt wie folgt: »Die Teilnahme an beiden Modalitäten scheint ein menschliches »Bedürfnis« zu sein – falls man einen so kontroversen Begriff überhaupt verwenden kann. Menschen, die in ihren funktionalen Alltagshandlungen eine der beiden Modalitäten entbehren, suchen sie im rituellen Schwellendasein. Die strukturell Inferioren streben im Ritual nach symbolischer struktureller Superiorität; die strukturell Superioren dagegen

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Struktur und Antistruktur Von hier aus erscheint die Liminalität als Energieschub für eine ermüdete Struktur, scheinen beide Sphären in effizienter Arbeitsteilung fugenlos ineinander zu greifen, während doch nach Turners eigenem prozessualen Modell die Kultur insgesamt ständig von der Zirkulation sozialer Energie produziert wird, sich in einem ständigen liminalen Taumel befindet, dem sie die scheinbare Statik ihrer Texte abringen muss. All sein Insistieren auf Prozessualität, auf Beweglichkeit und Aushandeln wird so in ein binäres Modell überführt, das in der Lage ist, die Totalität menschlichen Lebens zumindest in Gesellschaft zu erfassen. Damit begibt er sich jedoch in genau die binäre Struktur der kulturellen Ordnung und ihrer Institutionen, gegen die seine Formel von der Kultur als Prozess gerichtet gewesen ist. Seine Metaphorik ist an diesem Punkt jedenfalls sehr beredt: Sozialstruktur bedeutet nicht bloß, daß die Menschen überall auf der Welt in Ketten gebunden sind, vielmehr ist Sozialstruktur gerade das kulturelle Instrument, das die Würde und Freiheit ebenso wie die körperliche Existenz eines jeden Menschen, ob Mann, Frau oder Kind, ermöglicht. Die strukturellen Mittel, die man anwendet, sowie die Art und Weise ihrer Anwendung mögen in vielerlei Hinsicht unvollkommen sein, doch seit dem Beginn der Menschheitsgeschichte gibt es Belege dafür, dass gerade diese Mittel den Menschen zum Menschen machen. Das soll nicht heißen, dass spontane Communitas bloß »Natur« ist. Spontane Communitas ist Natur im Dialog mit Struktur, sie ist mit ihr verheiratet, wie eine Frau mit einem Mann verheiratet ist. Zusammen machen sie den Strom des Lebens aus, die eine sorgt für Energie, die andere für Fruchtbarkeit.13

Turners Gegenüberstellungen – Natur/Soziales, Communitas/Struktur, Dialog/Heirat, Frau/Mann, Energie/Fruchtbarkeit, Menschheitsgeschichte/Strom des Lebens – mäandern zwischen der Thematisierung der Grenze und ihrer Zwischenräume – dem Liminalen – – und den Dichotomien einer sich endlos als Antistruktur reproduzierenden Struktur hin und her.

verlangt es nach symbolischer Communitas, und um sie zu erreichen, nehmen sie selbst Qualen auf sich.« Turner: Das Ritual, S.193 Diese Dichotomie zweier gleichzeitiger Ebenen der menschlichen Erfahrung zeigt, wie sehr diese von Turner zunehmend in den Vordergrund gerückten Phänomene bereits Teil einer ordentlich gegliederten Sozialstruktur sind, die sich ihr Gegenüber selbst konstruiert hat. Damit wären wohl alle Lücken geschlossen, alle Räume versiegelt, in denen sich ein Betwixt and Between, das ja nicht das Gegenüber der Ordnung, also ein Teil von ihr, sondern deren eigene Liminalität ist, hätte artikulieren können. 13 Turner: Das Ritual, S.136

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Turners prozessuales Modell von Kultur ernst zu nehmen, würde aber heißen Bewegung und Statik, Öffnung und Schließung nicht als einander entsprechende harmonische Gegenstücke zu denken, sondern stattdessen ihre konflikthafte Verwiesenheit anzuerkennen, deren zentraler Schauplatz der Nicht-Ort der Liminalität wäre: ein sich selbst zugleich hervorbringendes und auslöschendes Zwischen, eine unabschließbare Bewegung des Öffnens und Schließens, der Grenzziehung und Entgrenzung. Es entgeht dieser Dialektik mitunter, dass Antistruktur immer schon Zugriff der Struktur auf das Nichtstrukturierte ist, es sich bei beiden um verschiedene ›Dimensionen‹ eines einzigen Vorgangs handelt: Weder Struktur noch Antistruktur können Anspruch auf Autonomie erheben, auch wenn sie sich kulturell so darstellen und den AkteurInnen so erscheinen. Die relative Eigenständigkeit ist eher ein für die Effektivität des Prozesses notwendiger Mythos. Die Textualisierung ist beides bzw. bringt beides erst hervor: Strukturierung und Zu-Strukturierendes, d.h. ihre Einheit besteht in der Notwendigkeit einer Verdopplung, die zugleich trennt und verbindet. Der so entstandene Raum ist das Zwischen, welches von Turner vorschnell einer Seite dieses Paares zugeordnet wird. Das Präfix ›Anti‹ enthüllt und verbirgt diesen Zusammenhang gleichermaßen; es enthüllt die Abhängigkeit und es verbirgt die Art dieser Abhängigkeit; es bringt das Zwischen zwar hervor, aber es ist nicht identisch mit ihm. Antistruktur kann letztlich nichts anderes als die dichotomische Verdopplung der Struktur sein oder, nach Turner: seine dialektische Antithese. Die Liminalität des Zwischen hingegen ist nicht ein Moment dieser dialektischen Bewegung, sondern das, was jede dialektische Prozessualität außer Kraft setzt, sich ihr entzieht, weil es weder die Struktur, noch ihr Doppel, das ›Anti‹, ist. In der kulturell hervorgebrachten Liminalität öffnet sich die Nichtkulturalität, die von der Vorstellung einer Antistruktur bereits wieder geschlossen wird. Und dennoch ist sie die Ortlosigkeit, die die Verortung überhaupt erst produziert. »Schwellenwesen, sind weder hier noch da; sie sind weder das eine noch das andere, sondern befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Positionen.«14 Das, was Turner als Antistruktur bezeichnet, könnte man vielleicht als die Herstellung eines Schriftkörpers bezeichnen. Die Übergangsriten wären demnach Produktionsstätten von Zu-Beschriftendem bzw. ZuStrukturierendem, das seine Beschriftung resp. Strukturierung evoziert. Diese zu ermöglichen und zu inszenieren, dafür stellt der Ritus die Bühne zur Verfügung. Das Zu-Strukturierende ist das natürliche Gegenüber der Struktur, aber es ist nicht sein Gegensatz, es entsteht erst in der Beschriftung, es ist bereits Schrift, seine Vorgängigkeit ist imaginär. Es ist 14 Turner: Das Ritual, S.95

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ein Moment in dieser Auffaltung des Raumes der Verdopplung und des Zwischen. Ohne die Öffnung auf das Nichtkulturelle – und das ist wahrscheinlich der entscheidende Punkt in der Konzeptionalisierung der Übergangsriten bei Turner – wäre dieses Manöver jedoch unmöglich. Die Verdopplung gehört der Struktur an und sie ist deshalb abhängig von der Differenz, der Liminalität, dem Zwischen, weil damit etwas ins Spiel kommt, was der Struktur nicht ohnehin schon angehört, etwas, das in der Wiederholung die Erscheinung des Neuen ermöglicht, das ermöglicht, das sich etwas ereignen kann. Insofern ist die Schrift, in ihrer Abhängigkeit vom Ereignis der Beschriftung, niemals nur Struktur (oder Antistruktur). Sie bezeichnet hier vielleicht gerade die Kluft zwischen Struktur und Ereignis, Wiederholung und Singularität, die in jedem performativen Akt überschritten werden muss. In ihr erscheint sie zugleich aufgehoben, archiviert, ohne aufgehört zu haben stattzufinden. Ohne das hier ausführen zu können, wäre die Schrift dann der Name der Unmöglichkeit des Gedächtnisses dieser spaltenden Verdopplungen, dieser Erschaffung und Verleugnung des Zwischen. Performanz wäre der Name der geregelten Aufführung des Ereignisses, der Energie, die es in seiner Öffnung auf das Nichtstrukturierte und das Neue freisetzt, gleichzeitig aber auch der Versuch, die Gefahr, die von diesem Ereignis ausgeht, zu kontrollieren, sie in kulturelle Bahnen zu lenken. Der Text ist der Name der so ermöglichten Intervention im Gesamtgeflecht des intertextuellen Gefüges der Kultur, gleichzeitig aber auch der Ort, an dem die so gebundene Energie gleichsam gespeichert vorliegt. Seine Produktion ist das angestrebte und notwendige Ergebnis und alles kommt darauf an, dass er integrierbar bleibt in die der Intertextualität abgerungene Ordnung. Die ›Funktion‹ oder eher Aufgabe des Ritus besteht folglich darin, die Performanz in den Dienst kultureller Textualisierung zu nehmen. Der Ritus inszeniert eine zugleich imaginäre als auch »reale« Transposition (um einen Begriff Julia Kristevas zu benutzen, den ich etwas später erst erläutern werde), bei der er in der Verdopplung Struktur/Antistruktur das Zwischen hervorbringt und verleugnet. Die, die ihn vollziehen, sind es, die die Alterität ihres Körpers, ihres Lebens als ein Zu-Strukturierendes ausgeben und damit einem Ereignis stattgeben, aus dem die Ordnung der Welt hervorgehen soll. Sie bieten ihre Körper der Einschreibung dar, und indem sie dies tun, sind sie zugleich diejenigen, die schreiben. Sie sind die Verdopplung und das Zwischen. Sie sagen sich selbst aus, oder besser: sie schreiben sich selbst auf. Nicht in dem Sinne, dass sie über sich selbst als Zeichen verfügen könnten, ganz und gar nicht, sondern indem sie die Kultur unter der Einhaltung genauer und detaillierter Regeln auf die Nichtkulturalität ihrer eigenen Körper hin öffnen, um so gleichzeitig

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das Nichtkulturelle als Potentialität erscheinen zu lassen und an die Kultur zu binden. Dass es sich dabei um eine für die kulturelle Ordnung höchst gefährliche Operation handelt, in der nie klar ist, ob das Zwischen oder seine Ausschließung die Oberhand behält, lässt sich noch in den Ambivalenzen von Turners Texten erkennen, wenn man bereit ist, sie als Bühnen dieses anhaltenden Konflikts zwischen Liminalität und Antistruktur zu lesen. Turners Text funktioniert vielleicht wie der Ritus selbst: Er versucht der Liminalität des performativen Ereignisses stattzugeben, auf dem jede Textualisierung gründet, und sie gleichzeitig einzudämmen, um einen sinnvollen, d.h., einen der kulturellen Ordnung integrierbaren Text hervorzubringen. Man kann diesen Vorgang als einen notwendigen Akt der Gewalt bezeichnen, die darin besteht, das Zwischen, das Nichtkulturelle, das Heterogene hervorzubringen, um es auszuschließen, zu verwerfen – zu töten.

Gewalt und Reziprozität René Girard hat in seiner Theorie des Heiligen15 diese Gewalt, die ihm als unhintergehbare Voraussetzung des Sozialen erscheint, zum Gegenstand gemacht. Auch bei ihm sind diese festen Grenzen mühevoll einer Bewegung abgerungen, die als drohende Gefahr hinter allen sozialen Erscheinungen lauert: der unkontrollierbaren Reziprozität menschlicher Gewalt. Ist diese einmal entfesselt – und laut Girard muss sie das in allen menschlichen Gemeinschaften zumindest einmal gewesen sein –, zerstört sie alle den Zusammenhalt ermöglichenden Differenzen und würde direkt zur Selbstauslöschung führen, gelänge es der jeweiligen Gemeinschaft nicht, sie zu kanalisieren, sie auf ein Individuum zu verlagern, demgegenüber die Gemeinschaft ihre Einigkeit (minus eins, wie Girard hinzufügt) konstituieren kann: den Sündenbock. Dieser eine muss getötet werden, um die Stabilität der Ordnung zu erhalten. Dieser Mord ist nach Girard der Ursprung jeder sozialen Ordnung und im Opfer-Ritual wird er wiederholt und so am Leben erhalten, um eine erneute Entfesselung der Gewalt zu verhindern. Im Opfer wird der ›Urmord‹ also zugleich wiederholt und vergessen, bzw. verkannt. Die Auswahl des Opfers und seine Vorbereitung auf die Opferung selbst ermöglichen es, den Mechanismus der Ritualität nachzuvollziehen: Das Opfer muss zugleich dem Außen angehören, vom Inneren der Gemeinschaft getrennt sein, um die Entfesselung der Reziprozität der Gewalt zu verhindern, es muss aber ebenso 15 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a.M.: Fischer 1992

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mit dem Innen in Verbindung stehen, um seiner Stellvertreterfunktion gerecht zu werden: Es muss sich also um ein Schwellenwesen handeln oder zu einem solchen gemacht werden. Nur an einem solchen ›Zwischen‹ kann die Setzung der Differenz, der Grenze exekutiert werden. Es geht folglich um ein ständiges Auslöschen der Schwelle, die die scheinbare Statik der Differenzen bedroht, und doch vor allem um deren Hervorbringung – als Voraussetzung ihrer Auslöschung. Darin liegen für Girard die zwei Gesichter des Heiligen: Es sichert die Grenzen und kann das nur tun, indem es sich eben dort situiert. Das Opfer als Schwellenwesen ist heilig und in seiner Opferung vollzieht sich seine Sakralität, seine differenzsetzende Macht. Die Macht des Heiligen bemisst sich nach der Bedrohung, die von der Entfesselung der Gewalt ausgeht, und seine Macht zum Guten leitet sich aus der Gewalt des Urmordes her: Das Heilige und die Gewalt sind somit eins – beide sind sowohl Macht der Entdifferenzierung als auch der Differenzsetzung, Bedrohung und Rettung, Gift und Gegengift – Pharmakon. Die dauernde Gefährdung durch die Reziprozität der Gewalt leitet Girard aus der spezifischen Struktur des menschlichen Begehrens her, das sich – so Girard – nur in mimetischer Identifizierung mit dem Begehren eines Dritten – des Rivalen – auf sein Objekt beziehen kann. Die Mimesis des Begehrens des Anderen verspricht dessen Zugang zum Geheimnis der imaginierten Fülle des Seins auch dem Nachahmer. Hinter dieser Mimetik verbirgt sich für Girard sowohl eine Dimension des Vatermords als auch des Inzest16: der Dritte ermöglicht erst die Richtung des Begehrens und wird zugleich zu dessen Hindernis. Das Begehren verlangt folglich die Beseitigung des Hindernisses, es verlangt die Gewalt und so erscheint das Begehren dem Menschen immer als Verlangen nach der Gewalt: Begehren ist Mimesis eines anderen Begehrens und Begehren nach der Überwindung des Hindernisses, das der Rivale darstellt; es ist Begehren nach Gewalt. Darin liegt die doppelte Verstrickung des Wunsches, die der Reziprozität der Gewalt zugrundeliegt: »das eigentliche Fundament aller Beziehungen der Menschen untereinander«.17 Kann der Wunsch sich dort festsetzen, wo er will, dann gerät er aufgrund seiner mimetischen Struktur zumeist in die Sackgasse des double bind. Die freie mimesis stürzt sich blindlings auf das Hindernis eines konkurrierenden Wunsches; sie bewirkt ihr eigenes Scheitern, und dieses Scheitern wiederum wird seinerseits die mimetische Tendenz verstärken. Hier besteht ein Prozeß, der sich aus sich selbst nährt, der sich immer mehr steigert und immer mehr 16 Die eigentliche Funktion des Mythos von Vatermord und Inzest nach Girard ist es, die Entdifferenzierung, die Reziprozität der Gewalt zu übersetzen, sie zu figurieren und zu verkennen. 17 Girard: Das Heilige und die Gewalt, S.217

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BLANK SPACES vereinfacht. Jedesmal wenn der Nachahmer das Sein vor sich zu sehen glaubt, wird er es dadurch zu erreichen suchen, dass er das begehrt, was ihm der andere bezeichnet; und jedes mal begegnet ihm die Gewalt des feindlichen Begehrens. Durch eine ebenso logische wie unsinnige Verkürzung wird er sich bald davon überzeugt haben, dass die Gewalt selbst das sicherste Zeichen jenes Seins ist, das ihn immer meidet. Gewalt und Wunsch sind nun miteinander verbunden. Das Subjekt kann erstere nicht mehr erleiden, ohne letztere erwachen zu sehen. [...] Die Gewalt wird zum Bedeutungsträger für das absolut Wünschenswerte, für die göttliche Selbstgenügsamkeit, die »schöne Totalität«, die nicht mehr als schön erschiene, wäre sie nicht mehr undurchdringlich und unerreichbar. [...] Indem die kulturelle Ordnung die Energien auf rituelle Formen und vom Ritus sanktionierte Aktivitäten lenkt, verhindert sie die Konvergenz der Wünsche auf ein und dasselbe Objekt; insbesondere schützt sie das Kind vor den verheerenden Auswirkungen des double bind.18

Während die freie Mimesis des Begehrens also zu einer sich endlos potenzierenden Konzentration von Gewalt führen würde, transformiert das im Opfer-Ritual kulturell abgeleitete Begehren die Gewalt in den Himmel der unerreichbaren Totalität: des Göttlichen, auf dem die kulturelle Ordnung sich gründet. Es sind also genau die Mechanismen, die die Gewalt kanalisieren und ableiten, die zum eigentlichen Ort der Gewalt werden, aber als Sakrales unantastbar und somit dem Zugriff des einzelnen entzogen sind. Es ist die gleiche Verschiebung bzw. Transformation, die Turner vornimmt, wenn er aus dem Zwischen ein ›Anti‹, eine quasireligiöse Communitas zu rekonstruieren sucht, nur das Girard genau diese Verschiebung zum zentralen Gegenstand seiner Lektüre macht. Die kulturellen Formen, die symbolische Ordnung verdankt sich dieser Transformation der Gewalt, die das Heilige ist. Man kann diesen Vorgang auch als einen Akt der Übersetzung lesen, ›Übersetzung‹ einer ›ursprünglicheren‹ Gewalt, die diese ›Übersetzung‹ notwendig gemacht hat.

Masken und Doppelgänger Es liegt also nahe, in der die Differenzen bedrohenden Reziprozität der Gewalt Girards, das eben diesen Differenzen innewohnende Zwischen Turners zu vermuten. Girard versucht den Transformationen dieses Zwischen, die es der kulturellen Ordnung integrierbar machen, nachzuspüren. Er kommt dabei zu dem scheinbar überraschenden Ergebnis, dass es 18 Girard: Das Heilige und die Gewalt, S.218f.

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sich gerade im Zentrum dieser Ordnung, ihrem zentralen begründenden Bereich auffinden lässt: dem Sakralen. Girard sieht den Zusammenhang von Liminalität und Verdopplung sehr genau: Er ersetzt die Schwellenwesen Turners durch den monströsen Doppelgänger, der so etwas wie die nach außen projizierte Reziprozität der Gewalt ist, die Entäußerung des double bind: ein Wesen, das zugleich das Subjekt verdoppelt und den ihm unmöglichen Ort der Schwelle bewohnt.19 Der Doppelgänger ver19 Girard interpretiert dementsprechend auch die Übergangsriten van Genneps und deren liminale Phase als ein Eintauchen in die Entdifferenzierung der Opferkultkrise. Der Initiand muss der Erfahrung des Schwankens ausgesetzt, er muss in das Schwellenreich geworfen, zum monströsen Doppelgänger werden bzw. ihm begegnen, die Gefährdung der Differenzsetzung wiederholen, um »die bösartige Energie in die von der Gemeinschaft bereits vorgezeichneten Bahnen zu lenken«. (Girard, Das Heilige und die Gewalt, a.a.O., S.416) Der Übergang, die Passage, ist Übersetzung und es muss deutlich werden, dass sie, die die Reziprozität der Gewalt eindämmen soll, nur um den Preis der Gewalt, der absoluten Gefährdung: des Todes, erreichbar ist. Die Gewalt der Strukturierung muss am Körper des Initianden vollzogen werden und er muss sich von der dräuenden Reziprozität der Entdifferenzierung erlösen. Aber er taucht damit auch ein in die Ambiguität der Schwelle, des Heiligen, wird zum mächtigen Zeugen und Teilhaber ihrer Macht (das ist es, was Turner als communitas bezeichnet und stillstellt): »Die vergängliche, verunreinigte, unstrukturierte Störung, die schließlich gebannt werden wird, um das System zu erhalten, ist zerstörerisch für bestehende Strukturen, hat aber auch eine eigene Macht. Die Person, die in einen marginalen Zustand, in eine ungeordnete Sphäre jenseits der äußeren Grenzen der Gesellschaft eintritt, erwirbt eine Macht, die jenen unzugänglich bleibt, die in der Sphäre der Ordnung bleiben. Doch der Übergangszustand gilt als gefährlich, weil er nicht in eine feste Position zu bringen ist. Jene, die zwischen fixierten Zuständen hin und her wechseln, gefährden sich selbst und bringen Gefahr für andere.« Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche – Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, übers. v. Thomas Lindquist, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1994, S.292f. In ihrer hier zitierten Carmen-Interpretation unternimmt es Bronfen, das Girardsche Opfermodell mit der Theorie Julia Kristevas von der semiotischen Chora und dem thetischen Einschnitt des Symbolischen (siehe mein nächstes Kapitel: Übersetzen) sowie den rites de passage van Genneps und Turners in Zusammenhang zu bringen. Bronfen analogisiert relativ unbestimmt das Lacansche Reale mit der Reziprozität der Gewalt und die Girardsche Strukturierung mit dem Symbolischen. Letzteres ist bereits von Girard so vorgegeben, ersteres lässt einige Fragen offen, die ich hier aber nicht erörtern kann. Mit der Einführung der semiotischen Chora gewinnt dieses Modell aber an Komplexität, da sich mit ihr gewissermaßen die Prozessualität der Textualisierung, die ihr innewohnende Ambiguität des Heiligen, bezeichnen lässt. »Das Opfer inszeniert die der Repräsentation gegebene Macht, Gewalt einzudämmen, indem es diese auf eine Bezeichnung konzentriert und damit einen Schutz eindeutiger Hierarchie vor der vom nicht-semiotisch Realen drohenden Gewalt bietet. Außerdem beruht die Sozialordnung auf einem Mord und auf dem Akt der Repräsentation, denn das Eindringen des Symbolischen ist eine Form der Gewalt, vorausgesetzt, daß es die Substanz tötet, um sie zur Bezeichnung zu machen. In den Repräsentationen, die ich hier behandle, wird dieser Zusammenhang zwischen Gewalt, Repräsentation und Ordnung auf thematischer wie auf struktureller Ebene inszeniert, um zu zeigen, daß die am Schluß jeder Narration wiederhergestellte soziale Norm produziert wird über die Rhetorik in Zeichen verwandelter Körper.« Bronfen: Nur über ihre Leiche, S.284

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weist auf die Verdopplung des Menschen in und außerhalb der rituellen Ordnung, vor der rituellen Ordnung. In ihm figuriert sich der Zusammenhang des Anti(poden) mit der von ihm entfalteten Ortlosigkeit des Liminalen, des Zwischen. Er ist eine Figuration der Schwelle, die die Grenze evoziert und deren Evokation sie ist. Von ihm geht immer noch eine Gefahr aus, da er die Grenze zur Liminalität des Göttlichen offenhält, das Subjekt mit der verkannten Gewalt, der Möglichkeit der epidemischen Entdifferenzierung konfrontiert. Er ist gewissermaßen derjenige, der sich am Urmord beteiligt hat, Teil der gewalttätigen Einmütigkeit der Verdopplung, die der Subjektivität vorausgeht, und deren mögliches Opfer, das Schwellenwesen, an dem die Ausschließung des Liminalen exekutiert wird und er figuriert dessen Rückkehr: Im Doppelgänger scheint sich das Subjekt zwar von der der Reziprozität der Gewalt zugrundeliegenden Mimetik des Begehrens zu trennen, doch gleichzeitig sucht dieses Außen, dieser Dämon, das Innerste des Subjekts heim, stellt es in Frage und scheint es zu steuern. Der Doppelgänger ist eine Abspaltung, die zugleich befriedet und bedroht, indem er die Innen/Außen-Grenzen durchkreuzt. Es ist diese Struktur, die der Opferung zugrunde liegt: Dieser Doppelgänger muss in Form eines stellvertretenden Opfers immer wieder getötet, die Grenze der Schwelle abgerungen werden. Es besteht ein Zusammenhang – so konstatiert Girard – zwischen dem Doppelgänger und der Verwendung von rituellen Masken. Die Maske partizipiert an dem gleichen Zusammenhang von Verdopplung und Zwischen, Differenzsetzung und Liminalem. In ihr verwischen die Differenzen. Es ist, als ob die Differenz in der Maske ihr ›wahres‹ Gesicht zeige: Sie trennt die Dinge nicht, sondern zwingt sie zusammen, als ob die Maske, die Performanz des Maskenswesens, die ihr vorausgehenden Differenzen überschreiben wolle, um so die Differenzialität auf sich selbst hin zu öffnen. Die Maske vereint Mensch und Tier, Gott und das unbelebte Objekt. In einem seiner Werke erwähnt Victor Turner eine Ndembu-Maske, die gleichzeitig eine menschliche Figur und eine Steppe darstellt. Die Maske stellt Wesen und Objekte, die die Differenz voneinander trennt, nebeneinander und vermischt sie. Sie steht über den Unterschieden und begnügt sich nicht damit, diese zu übertreten oder zu tilgen, sondern sie nimmt sie in sich auf und stellt sie in eigener Weise wieder her. Mit anderen Worten: die Maske und der monströse Doppelgänger sind eins.20

20 Girard: Das Heilige und die Gewalt, S.246 Turner erwähnt diese Maske in Betwixt and Between: »I have myself seen Ndembu and Luvale masks that combine features of both sexes, have both animal and human attributes, and unite in a single representation human characteristics with those of the natu-

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Der Ritus verlangt den Doppelgänger bzw. die Maske. Alle, die an ihm teilnehmen, müssen sich der Schwelle ausliefern und – als Opfer – einen wirklichen oder – als Akteure, bspw. Initianden – einen symbolischen Tod sterben. Die Textualisierung, die Inszenierung der Schwelle, muss vollzogen, aber sie muss auch beendet werden. Der Doppelgänger und die Maske sind Phänomene des Übergangs; sie befinden sich sozusagen auf dem Weg zum Text und sie weisen darauf hin, dass sich jeder Text – sind die Masken und Doppelgänger doch seine Voraussetzung – immer auf dem Weg befindet. Deshalb müssen sie sterben: Im Ritus muss das Fortleben der Reise, des Übergangs zugleich hervortreten und verleugnet werden, er muss in einer Ankunft münden. Das Heilige ist das Versprechen dieser Ankunft und es ist zugleich ihre Unmöglichkeit, da seine Macht auf der Bindung der zerstörerischen Kräfte der Entdifferenzierung beruht. Das Heilige muss also immer zugleich aktiviert und auf Distanz gehalten, seine Erschaffung und Ausschließung wiederholt werden. Genau dies vollzieht sich im Opfer-Ritual. Das Heilige – und das ist vielleicht die Pointe in Das Heilige und die Gewalt – ist das Versprechen und die Verweigerung der Ankunft. Es ist die erwartete Fülle einer Totalität, zu der allein der Ausschluss, das minus eins, einen partiellen Zugang gewährt.

Der (Ur-)Mord Was hat es jedoch mit der zentralen These Girards auf sich, der Urmord sei keineswegs ein Phantasma, sondern ein singuläres Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hat? In Girardscher Entschlüsselungspose ließe sich sagen: Die Vorstellung eines Urmordes bliebe eine Verdopplung des Mythos, ein Nachgeben gegenüber der Sehnsucht nach einem reinen Ursprung, einem sauberen Schnitt, den die Gesellschaft an sich selbst vornimmt (wie das rituelle Abtrennen der Vorhaut, dass den Penis in den Glanz des Phallus stellen soll), wenn nicht Girard immer wieder andeuten würde – und gerade dann, wenn er am heftigsten auf der Tatsächlichkeit des Ereignisses besteht –, dass seine Hypothese die einzige Erklärung bietet, die in der Lage ist, alle von ihm vorgebrachten kulturellen Erscheinungen in eine logische und nachvollziehbare Struktur zu überführen. Man könnte – Derrida paraphrasierend – sagen: Es verhält sich alles so, als ob ein Urmord begangen worden wäre, die Gründungsgewalt stattgefunden hätte, denn dann hätte die kulturell ausgeübte Gewalt eine Funktion, wäre sie tatsächlich Pharmakon. In Wahrheit jedoch (eine beral landscape. One ikishi mask is partly human and partly represents a grassy plain.« Turner, Betwixt and Between, S.105

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liebte Wendung bei Girard) ist diese Gewalt in genau den kulturellen Techniken ständig anwesend, die sie zu vermeiden suchen: Jedes Opfer, jeder Sündenbock, die ganze metonymische Verschiebung, die durch das versöhnende Opfer hervorgebracht wird, scheint evoziert von einer angeblich prähistorischen Gründungsgewalt, die jeder Gegenwart notwendig vorauszugehen scheint ohne jemals selbst Gegenwart gewesen zu sein. Jedem Ausschluss scheint ein anderer vorauszugehen, jede Gewalt einer ihr vorhergehenden zu folgen. Die Einmütigkeit, die nach ihren Opfern verlangt, scheint immer schon Wiederholung einer Gewalttat zu sein. Das ist die Nachträglichkeit der Gewalt, der Stiftung der Einheit und ihrer Erhaltung: »Sobald es Eines gibt, gibt es Mord, Verletzung, Traumatisierung.«21 Die Textualisierung bzw. die Intertextualität muss immer wieder anknüpfen an jenen Operationen, die die Produktion von Bedeutung überhaupt erst ermöglichen. Wenn Girard zeigt, wie durch die Urmordhypothese alle unverständlichen kulturellen Formen Bedeutung gewinnen, dann wird deutlich, inwiefern die Produktion von Bedeutung auf Gewalt beruht. Alle diese rituell hervorgebrachten Texte beziehen sich auf oder wiederholen einen Ur-Text, nur ist er – anders als Girard zu postulieren scheint – nie geschrieben worden. So wie das Opfer das Ereignis der Textualisierung beenden soll, so wird es von einem Mord erst initiiert: der Verdopplung und Spaltung, aus der die Einmütigkeit, die Ordnung, die Struktur hervor- und mit der Errichtung des Zwischen, des Schwellenreiches, der Verwandlung der Materialität der Körper in Zu-Strukturierendes einhergeht. Kurz: indem das oder der Dritte, der Rivale – wie Girard sagt – in die Sprache überführt, zu Sprache wird. Nur: Ist das ein singulärer Mord? Girard ent-übersetzt die kulturellen Texte, indem er sie beim Wort nimmt, die Verkennung ent-stellt: Diese Texte beruhen auf der Gründungsgewalt und sie ist folglich identisch mit ihrer Hypostasierung im Text Girards. Sein Insistieren auf den einen Ursprung verweist so eben auf diese Ereignishaftigkeit der Übersetzung und die Gewalt, die sie übersetzt. Es ist dieses Ereignis, das allen kulturellen Formen zugrundeliegt, das sich überall auffinden lässt, das nicht verschoben und immer verkannt wird. Wenn man – wie wir es hier zu tun glauben – entdeckt, daß sich hinter den Metaphern und ihren entsprechenden Objekten ein und derselbe Gegenstand verbirgt, dann entdeckt man, daß der metaphorische Prozeß letzten Endes nichts verschiebt und dass es immer der gleiche Vorgang, das gleiche Spiel

21 Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben, übers. v. Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann und Bose 1997, S.141

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BÜHNEN DER TEXTUALISIERUNG der physischen oder geistigen Gewalt ist, das sich hinter allen Metaphern und allen austauschbaren Objekten abspielt.22

Der Ritus als Textualisierung ist eine sprachliche Intervention. Auf seiner Bühne behandelt sich die rituelle Gemeinschaft als ihre eigenen kommenden Zeichen – als Worte. Wenn die Gewalt Bedeutungsträger oder Zeichen des Seins ist, dann partizipiert jedes Zeichen, jede Sprache an diesem in ihr artikulierten Begehren. Es ist jedoch nicht einfach die Partizipation der Sprache an der Gewalt, die verkannt wird, sondern die Verkennung ist diese Partizipation. Die Reziprozität der Gewalt übersetzt sich in die Sprache als Verkennung, wobei sie selbst schon auf so etwas wie einem Missverständnis beruht: dem anderen Begehren als Zugang zur Fülle des Seins. Wenn sich dieser Zugang in der Sprache als Begehren des Anderen übersetzt, ist das folglich so etwas wie eine doppelte Verkennung, die verkennende Übersetzung einer Verkennung. Wörter sind immer auch Masken, sie sind monströse Doppelgänger. Sie verweisen auf die Notwendigkeit, gerade in der Maskerade und der Verdopplung die Einmaligkeit des Übersetzungsereignisses zu wiederholen. Girard betont die Notwendigkeit dieser Verkennung als Ausweg aus der unerbittlichen Reziprozität, der sie – wiederum nach Girard – nicht ist, da sie die Gewalt zur Grundlage ihrer Ordnung, ihrer Texte macht. Die Zirkulation sozialer Energie (Greenblatt) und die Reziprozität der Gewalt beziehen sich auf dieselben kulturellen Phänomene: das Schwanken der Welt (Girard) angesichts der immer prekären Fixierung von Bedeutung im kulturellen Tausch. Die von Girard beschriebene Krise des Opferkults, die Bedrohung durch die epidemisch grassierende Entdifferenzierung, ist immer. Girard verweist aber zusätzlich darauf, dass sowohl dieses Schwanken als auch die permanente Arbeit an seiner Stillstellung gewalttätig sind. So lese ich auch sein Beharren auf die singuläre Tatsächlichkeit des Ursprungs: Die einzig sinnhafte Entübersetzung der kulturellen Texte, der originale Text, der ihnen zugrunde liegt, ist ein Gewaltakt, der eine Einigkeit über einen Ausschluss, einen Mord, herstellt. Es ist dieser Text bzw. diese Lücke im Text, den die Kultur ständig übersetzt, indem sie ihn verkennt und wiederholt. Diese Entübersetzung will Girard leisten: Der Ursprung muss aufgedeckt, er muss entschlüsselt werden als die ursprüngliche Gewalt, er muss sichtbar werden und unleugbar. Um dies zu erreichen, muss Girard vor allem eines tun: Er muss diesem Ereignis stattgeben, er muss einen Mord begehen. Er – darin liegt die performative Dimension seines Textes – begeht deren viele und weist nach, dass es sich immer um ein und denselben Mord 22 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, S.436f.

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handelt. Jedesmal, wenn er von der Wahrheit, der Tiefe und der Kohärenz seiner These spricht, schlägt er zu: die griechische Tragödie, der Mythos, die Ethnologie, die traditionalen Gesellschaften und vor allem Freud werden bei lebendigem Leibe seziert und ihre noch zuckenden Herzen triumphierend dem hellen Licht der Wissenschaft, deren langen Schatten sie entstammen, dargebracht: Seht! Dies ist die Gewalt! Dies ist die Wahrheit! Dies ist der Ursprung! Dies – so möchte ich hinzufügen – ist das Scheitern der rituellen Übersetzung: Jede so gewonnene und zum Zeichen geronnene Bedeutung bleibt im double bind von Gewalt und Begehren verstrickt bzw. ist Teil der mimetischen Struktur, die sie verkennt. Die Produktion von Bedeutung in der Performanz des Ritus verlangt immer nach einem Opfer, es muss ein Mord, eine Ausschließung, stattfinden, um die Lücke zu wiederholen, die die Dinge hinterlassen, wenn sie verdoppelt, gespalten und sinnhaft (zu »einem«) gemacht werden. Es ist die Gewalt der Textualisierung, einer Übersetzung minus eins, die über den Abgrund ihrer Unmöglichkeit gewaltsam hinweggeht: Die Verkennung der Gewalt ist die Gewalt selbst. Um ihre strukturierende Kraft aufrechtzuerhalten, darf die Gründungsgewalt gerade nicht in Erscheinung treten. Dies ist die mit jeder religiösen und postreligiösen Strukturierung unabdingbar verbundene Verkennung.23

Die Worte selbst sind Schwellen, Doppelgänger, Masken, die das Material der Differenz bereitstellen, und denen die Struktur doch erst abgerungen werden muss. Man kann und muss Girards Formulierung über die Einheit von Maske und Doppelgänger umdrehen: Sie besteht in den anderen Worten, in der Andersheit der Worte. Als Worte können sie zum Schauplatz der Ausschließung werden, zum Zeichen der gewalttätigen Einmütigkeit, wenn sie zur Stiftung des Einen miss-(ge-)braucht werden. Aber sie sind – wie der monströse Doppelgänger – Teil dessen, was ausgeschlossen wird: der Fremde, das Schwellenwesen. Sie siedeln an den Übergängen zwischen dem Profanen und dem Sakralen, in ihnen kann sich das Versprechen der Ankunft der Totalität figurieren und sie sind zugleich selbst Artikulationen der Unmöglichkeit dieser Ankunft. Wenn die Differenz das, was sie trennt zugleich aneinander kettet, so sind die Wörter doch immer auch der Abgrund, das Zwischen dieser Differenzen. Dennoch ist die Sprache, sind die Wörter – Girard zufolge – der Schauplatz der Verkennung dieses Ursprungs, die Sprache ist geradezu diese Verkennung. Zugleich hat dieser Ursprung keinen anderen Ort als die Verkennung, die Sprache. Ihre Struktur ist die Kreisbewegung der verkennenden Interpretation, die Zirkularität des Opferkults: Sprache ist 23 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, S.458

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die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit der Übersetzung von etwas, was Girard als Heiliges und Gewalt zu fassen versucht und das sich diesem Zugriff entzieht. Girards Postulat der Möglichkeit der Entübersetzung aller Texte in das ursprüngliche Ereignis, den originalen Text des Ursprungs, der allen anderen Texten zugrunde liegt, hebt die Notwendigkeit hervor und verschärft die Unmöglichkeit. Er leuchtet den anderen Schauplatz grell aus und findet dort die Gewalt seines eigenen Vorgehens, die Gewalt seiner eigenen gewaltsamen Übersetzung.

Ortlosigkeit und Migration Homi K. Bhabha hat in seinem furiosen Essay zur Bestimmung der (post-)modernen Nation24 Turners Begriffe der Liminalität und der Performanz so konsequent verschärft bzw. ent-stellt, dass er mit ihnen Kultur in ein Licht tauchen kann, dass sie insgesamt in ihrer Abhängigkeit von der Grenze, als ein Phänomen der Schwelle, sichtbar wird. Er erwähnt Turner nicht, scheint seine Begriffe anderswoher zu haben, und doch wirkt sein ganzer Text, als ob hier ernst gemacht würde mit den Postulaten Turners, dessen Bemühungen um die Darstellung von kultureller Dynamik einer Zerstreuung anheimgegeben werden, die Turners textuelles Universum quasi von innen her zerreißt. Ich habe jenen Augenblick des Zerstreuens von Menschen durchlebt, der zu anderen Zeiten und an anderen Orten, in den Nationen anderer zu einer Zeit des Sammelns wird. Des Sammelns von Exilierten und émigrés und Flüchtlingen; des Sammelns am Rand von »fremden« Kulturen; des Sammelns an den Grenzen; des Sammelns in den Ghettos oder Cafés der Innenstädte; des Sammelns in der fragmentarischen Existenz und im Halbdunkel fremder Sprachen oder im unbehaglichen Fluß der Sprache eines anderen; des Sammelns der Zeichen von Anerkennung und Akzeptanz, Diplomen, Diskursen, Disziplinen; des Sammelns der Erinnerungen an Unterentwicklung, an andere Welten, die nun retroaktiv gelebt werden; des Sammelns der Vergangenheit in einem Wiederbelebungsritual; des Sammelns der Gegenwart.25

Der Migrant betritt hier die Szene der Kulturtheorie – der Zerstreute, der an den Grenzen, in den Passagen, den Schwellenräumen Versammelte, derjenige, der im Sammeln die Zerstreuung und in der Zerstreuung die 24 Homi K. Bhabha: DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation, in: Ders., Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg 2000, S.207-254 25 Homi K. Bhabha: DissemiNation, S.207

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Sammlung zu lesen in der Lage ist. Der Migrant als Theoretiker und der Theoretiker als Migrant, die Theorie als Migration, der Text als Passage. Ihm zerreißt die homogene Leere der Geschichte zur Jetztzeit und er selbst »huscht vorbei« wie das »Aufblitzen des wahren Bildes der Vergangenheit« in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte.26 Er ist der millionenfach vermehrte Doppelgänger, den keine Einmütigkeit mehr zu opfern in der Lage ist. Das Opfer, das nicht zum Schweigen gebracht werden kann, sondern selbst das Wort ergreift. Mit dieser Perspektive, von der Grenze, der Liminalität her, lässt sich zeigen wie die Nation, die kulturelle Konstruktion der Moderne, in einer dauernden Konfrontation zwischen Pädagogik und Performanz, also Exekution und Produktion von Bedeutung 27 – als einer ganz und gar nichtdialektischen ›Herr/Knecht-Beziehung‹ –, ihre unmögliche Einheit zu wahren, sich ihrer schwankenden Stabilität zu versichern sucht. Damit führt Bhabha mit dem Migranten die Spaltungen und Verdopplungen, also die heterogenen Dimensionen des Performativen in das klassische Muster der Stiftung von Homogenität in der Moderne ein: der Nation. Das Pädagogische als der Versuch homogenisierender Selbsterzeugung – als die die Nation sich ausgibt – wird davon ständig durchkreuzt und unterlaufen. In der Fremdheit des Exils, in der liminalen Perspektive des Migranten, wird offenbar, welcher Gefährdung die Rites de passage zu begegnen trachten: Die Liminalität, der unbestimmte Raum des Zwischen, die kulturellen Ränder stehen der Ordnung nicht gegenüber; sie sind auch nicht deren notwendige Ergänzung, sondern befinden sich im Innern jeder ihrer Orte, jedes ihrer Zeichen. Die Inkommensurabilität dieser Ortlosigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass Orte, dass Sinn und Bedeu26 Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Illuminationen – Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 251-261, hier: S.253 und 258 Bhabha bedient sich selbst dieser Benjaminschen Bilder, wenn auch diskreter. 27 »Das Performative greift in den souveränen Prozeß nationaler Selbsterzeugung dadurch ein, daß es einen Schatten wirft zwischen das Volk als »Bild« und seiner Signifikation als einem differenzierenden Zeichen des Selbst, das sich von dem Anderen unterscheidet, der außerhalb ist. An die Stelle der Polarität zwischen einer präfigurierten, sich »aus sich« selbst erzeugenden Nation und extrinsischen anderen Nationen setzt das Performative eine Zeitlichkeit des »Dazwischen«. Die Grenze, die die nationale Selbstheit markiert, unterbricht die selbsterzeugende Zeit der nationalen Produktion und sprengt die Signifikation des Volkes als homogener Gruppe. Das Problem liegt nicht nur in der nationalen »Selbstheit« im Gegensatz zur Andersheit anderer Nationen. Wir haben es mit der in sich selbst gespaltenen Nation zu tun, in der die Heterogenität ihrer Bevölkerung deutlich zum Ausdruck kommt. Die in Sie/Selbst getrennte Nation, die ihrer ewigen Selbsterzeugung entfremdet wurde, wird zu einem liminalen, bedeutungskonstituierenden Raum, der intern durch den Diskurs von Minoritäten gekennzeichnet ist, durch die heterogenen Vorgeschichten rivalisierender Völker, antagonistischer Autoritäten und spannungsgeladener Verortungen kultureller Differenz.« Homi K. Bhabha: DissemiNation, S.220f.

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tung, also Ordnung entstehen kann. Die Rites de passage ziehen diese Grenzen, indem sie sie aufheben. Sie entwerfen ein Außen, dem sie ein Innen abringen, eine Struktur und eine Antistruktur, wie Turner schreibt. D.h. aber, dass das Turnersche weder hier noch da, weder das eine noch das andere, die so entfaltete Ortlosigkeit des Zwischen sowohl außerhalb als auch innerhalb der Mauern arbeitet, dass diese Mauern, diese Grenzen, eben dieses »weder hier noch da, weder das eine noch das andere« in Gang setzen. Die Rites de passage versuchen folglich in ihrer liminalen Phase genau dieses »weder hier noch da« in einem ins Innere führenden Außen zu errichten. Sie stülpen die Dinge gleichsam um, von Innen nach Außen und umgekehrt, um an einem Innen überhaupt festhalten zu können. In diesem unmöglichen Akt der Errichtung von Grenzen und Schwellen, der Produktion von Bedeutung und ihrer hybriden Subversion, liegt die Performativität des Rituals, seine Intervention in dem von ihm errichteten Raum der Intertextualität, der Sprache. Die Nation – so Bhabha in Bezug auf Benedict Anderson28 – versucht eine synchrone homogene Zeitlichkeit zu installieren, die jenen gewaltsamen Einbruch des Performativen, dem auch sie sich verdankt, zu verleugnen und seine Wiederholung auszuschließen versucht. Durch die Ausschließung von Bruch und Wiederholung, der Zeit der Nachträglichkeit also, entsteht der Eindruck einer Leere, die der Einschreibung der nationalen Identitäten keinen Widerstand bietet. Diese Leere ist imaginär wie die Vorstellung des unbewohnten Landes, der sozialen tabula rasa, des weißen Blatts, in das sich die kulturellen Homogenitäten eintragen ließen, die die homogene leere Zeit der Nation hervorbringen.29 Diese Leere ist die Verkennung der ursprünglichen Gewalt, des minus eins, das der Einmütigkeit inhärent ist. Das Ritual, als exemplarischer Ort der Performanz, ermöglicht viel eher eine Übersetzung des Ausschlusses, der Lücke des minus eins, als die man die Textualisierung verstehen muss: also einer Nicht-Übersetzung von etwas, das man als das schlichtweg Nichtübersetzbare bezeichnen könnte. Die von Girard behauptete doppelte Gewalt dieses Vorgangs bezieht sich auf die doppelte Verkennung dieses Nichtübersetzbaren, auf dem seine »Übersetzung« in die Struktur beruht: die Herstellung der Schwelle und ihre vermeintliche Auslöschung in der Grenze. In jedem Sprechakt, jedem Austausch von 28 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation – Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, übers. v. Benedikt Burkard und Christoph Münz, Berlin: Ullstein 1998 29 »Den Platz des mittelalterlichen Denkens einer überzeitlichen Simultaneität hat, wiederum in Benjamins Worten, eine Vorstellung von ›homogener und leerer Zeit‹ eingenommen, in der Gleichzeitigkeit sozusagen querliegt, die Zeit kreuzt. Gekennzeichnet ist sie nicht durch Präfiguration und Erfüllung, sondern durch zeitliche Deckung, messbar durch Uhr und Kalender.« Anderson: Die Erfindung der Nation, S.29

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Zeichen, in denen sich das, was Greenblatt die Zirkulation sozialer Energie nennt, ereignet, liefern sich die kulturellen Institutionen jedoch dieser Liminalität aus. Der Tausch muss immer zugleich diesen liminalen Bereich überschreiten und diese Überschreitung verdrängen, die gegenseitige hybride Durchkreuzung der Diskurse als einen homogenen Monolog ausgeben, in dem Identitäten sich gegenseitig ihrer Identität versichern. Die Hervorbringung der Liminalität in der Textualisierung, im performativen Akt des Rituals und ihre Durchquerung im Tausch (eine eher formale Unterscheidung, da jede Textualisierung am intertextuellen Geflecht anknüpft) ist das, was ich ( vorerst und hier noch relativ unvermittelt) als Ereignis der Übersetzung bezeichnen möchte. Die Übersetzung ist der Schauplatz, an dem die kulturellen Texte, die Sprache selbst, ihrer Liminalität, ihrer eigenen Fremdheit, ihrer Unmöglichkeit begegnen. Diese Gleichzeitigkeit von Performanz, Liminalität, Übersetzung und Fremdheit macht Bhabha aus der Perspektive der Migration sichtbar. Der schlecht sitzende Mantel der Sprache verfremdet den Inhalt dergestalt, daß er ihn des unmittelbaren Zugangs zu einem stabilen oder holistischen Bezugsgegenstand »außerhalb« seiner selbst beraubt. Dies legt nahe, daß soziale Bedeutungen selbst im Akt der Artikulation konstituiert werden, in der disjunktiven, nicht-äquivalenten Spaltung in énoncé und énonciation, wodurch die Aufteilung sozialer Bedeutung in Innen und Außen unterminiert wird. Inhalt wird zur verfremdenden mise-en-scène, welche die bedeutungskonstituierende Struktur sprachlicher Differenz offenbart: Dieser Prozeß ist nicht isoliert betrachtbar, man erhascht ihn nur flüchtig in der Lücke oder der Öffnung von Benjamins Königsmantel oder dann, wenn die Ähnlichkeit des Symbols die Differenz des Zeichens en passant streift. Benjamins Argumentation kann zu einer Theorie kultureller Differenz ausgearbeitet werden. Erst wenn wir uns auf das einlassen, was er die ›reinere sprachliche Luft‹ nennt, – das Zeichen als eine Größe, die jeglichem Ort von Bedeutung vorausgeht – kann der Realitätsbezug des Inhalts kraftvoll überwunden werden, wodurch alle kulturellen Sprachen sich selbst »fremd« werden. Und aus dieser Perspektive des Sich-Selbst-Fremdseins ist es möglich, die spezifische Lokalität kultureller Systeme – ihre inkommensurablen Differenzen – einzu schreiben und durch dieses Erfassen von Differenzen den performativen Akt kultureller Übersetzung zu einer Aufgabe (im Original deutsch – d.Ü.) werden, die immer mit ihrem Doppel konfrontiert ist, dem – fremden und unvertrauten – Unübersetzbaren.30 30 Homi K. Bhabha: DissemiNation, S.244 Die Differenz, auf die Bhabha in Benjaminscher Metaphorik abhebt, ist eben dessen Vielheit der Sprachen, der verschiedenen Arten des Meinens. Erst wenn man sich über die Differentialität der kulturellen Texte klar geworden ist, wird die einzige Sprache als Virtualität oder als ›Kommende‹ denkbar.

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II. B LANK S PACES

1. Ü B E R S E T Z E N

Damit ist allerdings zugestanden, daß alle Übersetzung nur eine irgendwie vorläufige Art ist, sich mit der Fremdheit der Sprachen auseinanderzusetzen.1 Die Fiktion besteht also nicht darin, das Unsichtbare sichtbar zu machen, sondern zu zeigen, wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist.2 She knows there’s no success like failure And that failure’s no success at all3

Wenn die Textualisierung als performatives Ereignis einer Bühne bedarf, so gibt es doch noch eine andere Art der Bewegung der intertextuellen »Verknüpfung«. Homi Bhabha spricht in diesem Zusammenhang mit Walter Benjamin von der »reineren sprachlichen Luft«, in der die Bewegung der Übersetzung angesiedelt sei und in der »das Zeichen als eine Größe, die jeglichem Ort von Bedeutung vorausgeht« thematisiert wird. Bhabha geht davon aus, dass die von Benjamin aufgeworfene Frage nach der Aufgabe des Übersetzers »zu einer Theorie kultureller Differenz ausgearbeitet werden« kann.4 Ich möchte mich in diesem Kapitel – nach einigen theoretischen Anmerkungen zu den diesbezüglichen Konzepten Julia Kristevas und Walter Benjamins – an einer vorläufigen Lektüre von Joseph Conrads Erzählung Heart of Darkness im »Lichte« dieser Frage der Übersetzung versuchen. Manches mag hier etwas dunkel erscheinen. Im abschließenden 3. Kapitel dieses Teils werde ich die hier angedeuteten Motive unter 1 2

3 4

Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, in: Ders., Illuminationen – Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1977, S.50-62, hier: S.55 Michel Foucault, Das Denken des Außen, übers. v. Michael Bischoff, in: Ders., Dits et Ecrits – Schriften I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001., S.670-697, hier: S.678 Bob Dylan: Love Minus Zero/No limit, in: Ders., Lyrics – Songtexte 1962-1985, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1987, S.460 Homi K. Bhabha: DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation, in: Ders., Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg 2000, S.244 (siehe oben)

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Einbeziehung des im 2. Kapitel erarbeiteten psychoanalytischen Zugangs wieder aufnehmen und – so hoffe ich – das, worauf ich hinaus will, etwas klarer machen können.

Transposition Übersetzung – so könnte man vielleicht sagen – bezieht sich auf jenen Moment der Textualisierung, in der die intertextuelle Verknüpfung mit der Produktion der Texte zusammenfällt. Diesen Moment jedenfalls hat Julia Kristeva in ihren Begriffsbildungen versucht zu konzeptionalisieren. In ihrem Buch La révolution du langage poétique5 ersetzt sie dabei ihr früheres Konzept der inter-textualité durch das der Transposition, womit – so Kristeva – »die Transformation der thetischen Setzung: die Zerstörung der früheren und die Bildung einer neuen«6 gemeint sei. Kristeva will damit die Notwendigkeit betonen, dass beim Übergang eines Textes in einen anderen, dieser sich immer wieder neu in der symbolischen Ordnung der Sprache positionieren und alle damit einhergehenden Strukturierungsprozesse erneut durchlaufen muss. Diese Transpositionen verweisen darauf, dass jeder Text ein ganzes Geflecht von Beziehungen produziert. Er ist intertextuell verknüpft mit unzähligen anderen. Vor allem aber betont dieser Begriff, dass diese Verknüpfungen über das, was sie verknüpfen hinausgehen und einen Übergang, eine Überschreitung zwischen den Positionen markieren. Übersetzen bezeichnet diesen Übergang, sozusagen die Prozessualität zwischen den Setzungen, wo Zerstörung und Bildung ineinander fallen. Kristeva reflektiert in diesem Zusammenhang eine für sie zentrale Dimension dieses Prozesses: Sie spezifiziert den Schauplatz der Sinnproduktion, indem sie ein von ihr als das Semiotische bezeichnetes vom Symbolischen unterscheidet. Das Symbolische meint dabei den im thetischen Einschnitt (den Eintritt ins/das Einbrechen des Symbolische(n)) hervorgebrachten Zeichencharakter des sprachlichen Symbols. Damit schließt Kristeva an den Strukturalismus an. Ihre Ausdeutung des Semiotischen erweitert diesen jedoch um eine entscheidende Dimension, die sowohl das Postulat der Arbitrarität der Zeichen im klassischen Strukturalismus als auch dessen Begrenzung auf linguistische Gesetzmäßigkeiten unterläuft. Mit dem – Kristevaschen – Semiotischen ist die Gesamt-

5 6

Julia Kristeva: La révolution du langage poétique – L’avant-garde à la fin du XIXe siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris: Édition du Seuil 1974 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, übersetzt und mit einer Einleitung von Reinold Werner (Teilübersetzung), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S.69.

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heit jener Prozesse gemeint, die dem Symbolischen sowohl logisch als auch zeitlich vorausgehen (Kristeva denkt diese ersten Bahnungen und Stasen mit Freud vor allem triebtheoretisch und – über Freud hinausgehend – im Zusammenhang einer vorursprünglichen Verwiesenheit auf den mütterlichen Körper: der »mütterlichen Chora«), es ermöglichen und als potentielle Instabilität fortan bewohnen. Das – ›mütterlich‹ konnotierte – Semiotische ist folglich sowohl das, was dem ›väterlichen‹ Symbolischen ›vorausgeht‹ und das ›Material‹ einer Heterogenität bereitstellt, in der sich die Zeichen einnisten und die sie organisieren und mit Sinn ausstatten, als auch seine fortwährende und ihm inhärente Bedrohung bzw. Überschreitung7. Im Anschluss an die Freudsche Triebtheorie (und in Auseinandersetzung mit Jacques Lacans Lehre von der väterlichen Konnotation des Symbolischen) entwickelt Kristeva somit einen Dualismus, der es ihr erlaubt, die verschiedenen Dimensionen der Textualisierung zu denken, ohne in die Turnerschen Essentialisierungen zurückzufallen: Weder das Semiotische noch das Symbolische treten in dem uns einzig zugänglichen sprachlichen Universum diesseits des thetischen Einschnitts jemals rein auf, sie sind aufeinander angewiesen, wenn sie sich artikulieren wollen. Das Semiotische ist somit nicht Antistruktur, nicht befruchtender Widerpart, sondern die in den Zwischenräumen des Symbolischen nistende und es überhaupt erst ermöglichende Alterität desselben. Analog dazu entwickelt Kristeva die Unterscheidung zwischen Geno- und Phänotext, womit die jeweilige semiotische und symbolische Dimension des Textes gemeint ist. Übersetzen als Transposition meint also vor allem den Prozess des spezifischen Neuarrangements oder besser: der Produktion dieser untrennbaren Ebenen im fortwährenden Durchlaufen der mit einer jeweils neuen Setzung des Thetischen einhergehenden Strukturierungsprozesse. Der Prozess der Textualisierung wird also immer gleichzeitig von zwei verschiedenen asynchronen ›Ökonomien‹ beherrscht, deren Verhältnis zueinander einem ständigen Wandel unterworfen ist. Wenn Transposition das Zwischen dieser Prozessualität meint, dann bezeichnet sie vor allem die Beziehung bzw. die Differenz zwischen Semiotischem und

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»Wir sehen, daß das Semiotische – ursprünglich Bedingung des Symbolischen – jetzt in den signifikanten Praktiken funktioniert, und zwar als Übertretung des Symbolischen. Demnach handelt es sich bei dem der Symbolisierung ›vorgängigen‹ semiotischen um eine theoretische Annahme, deren Notwendigkeit sich aus den Erfordernissen der Beschreibung erklärt; praktisch gesehen ist es dem Symbolischen inhärent, dessen Einschnitt es fordert, um sich sodann in jene komplexe Artikulation zu begeben, wie sie gewisse Praktiken – Musik oder Poesie – erkennen lassen.« Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S.77

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Symbolischem, zwischen Genotext und Phänotext, die in jeder Übersetzung neu produziert wird. Übersetzen als Transposition ist jeder sprachlichen Äußerung inhärent, insofern sie Produktion von Text, eben Textualisierung ist. Jeder Text erschafft dieses Zwischen neu. Es findet auf der Rückseite seines Sinns, seiner Syntax ständig statt, begleitet ihn wie ein Schatten. Jede Positionierung in der Sprache ist damit eine Trans-Positionierung, eine Produktion von Zwischenräumen, von Nicht-Orten. Diese Differenz, dieses Zwischen, diese Nichtübereinstimmung des Textes, der Sprache mit sich selbst, erscheint als Fremdheit: Diese Fremdheit ist insofern das, was man als die Sprachlichkeit der Sprache bezeichnen könnte, obwohl und weil sie darin – indem sie sich auf sich selbst bezieht – über sich hinausweist.

Die ›Aufgabe‹ des Übersetzers Mit einer gewissen Vorsicht ließen sich in der eben angedeuteten Weise auch die scheinbar hermetischen Äußerungen Walter Benjamins in seinem Übersetzer-Aufsatz interpretieren: Die reine Sprache, von der Benjamin spricht, wäre eine, in der es die Differenz zwischen Semiotischem und Symbolischem nicht mehr gibt, die Textdimensionen zusammenfallen, letztlich aufhören Text zu sein. In diesem Sinne bezeichnet die reine Sprache genau den ›Ort‹ der Differenz, des Zwischen, der Fremdheit, der grundlegenden Nichtidentität der Sprache mit sich selbst: Sowohl die Differenz als auch die reine Sprache verweisen zuallererst auf die Sprachlichkeit von Sprache. Die Aufgabe des Übersetzers besteht bei Benjamin nun darin, die Beziehung eines Textes zu dieser reinen oder wahren Sprache aufscheinen zu lassen. Das kann, auch wenn es paradox klingen mag, nur im Hervorkehren ihrer Unreinheit, ihrer Nichtübereinstimmung, ihrer Differentialität geleistet werden. Insofern bezieht sich die messianische Kategorie der reinen Sprache immer auf das Ungenügen in den uns zur Verfügung stehenden Einzelsprachen. Im Bezug auf die Einheit des Gemeinten tritt die Differenz der Art des Meinens hervor, die sich wiederum auf die Einheit der Sprache bezieht. Die herkömmliche Übersetzung scheint das Gemeinte übersetzen zu wollen, sie transformiert es in die ›eigene‹ Sprache und löscht somit ihre Fremdheit aus. Die ›wahre‹ Benjaminsche Übersetzung überträgt demgegenüber die Art des Meinens, also eben diese Fremdheit, in der sich die Sprachen begegnen. Genau hier, wo sie auf das verweisen, was jeder Übereinkunft, jeder Form von Zugehörigkeit vorausgeht, überschneiden sich kulturelle und sprachliche Differenz.

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Sowohl die Art des Meinens als auch das Kristevasche Semiotische versuchen folglich die Dimensionen der Sprache zu bezeichnen, die sich der Einheit des minus eins der Gründungsgewalt entziehen, die das durch die Spaltungen der Differenz entfaltete Zwischen artikulieren. Während Kristeva jedoch einen kunstvoll verschränkten Dualismus entwickelt, der über die Dichotomien Turners hinausgeht (wenn er auch dort bereits angedeutet wird), versucht Benjamin eine Sprache anzukündigen, die sich keinem thetischen Einschnitt, keiner Gründungsgewalt verdankt, sondern direkte Artikulation des Zwischen der Übersetzung ist: Die eine Sprache, die in den Differenzen, der Vielheit, der Fremdheit der Sprachen aufscheint. Benjamins Differenz zwischen der Art des Meinens und dem Gemeinten korrespondiert also nicht direkt den verschiedenen Dimensionen des Textes bei Kristeva.8 Die reine oder Namens-Sprache ist nicht das Semiotische, sondern die unmögliche Einheit von Symbolischem und Semiotischem, der Nicht-Ort, an dem die Sprache sich selbst begegnet. Sie ist eher eine Radikalisierung dessen, was Kristeva mit dem Semiotischen zu benennen versucht, sozusagen ein Zwischen des (semiotischen) ›Zwischen‹. Das zu übersetzende Original ist in Benjamins Text eben dieser Nicht-Ort, der die Übersetzung ermöglicht, ja notwendig macht, ihr notwendig vorausgeht, ohne dass er irgend etwas übersetzte. Alles in der Sprache ist Übersetzung außer der Sprachlichkeit selbst, sie ist – wie die heiligen Texte bei Benjamin – »übersetzbar schlechthin«, da sie von keinem Sinn verstellt wird: Sie ist immer Erwartung, Potenz, kein Akt wird sie jemals auslöschen können. Bei Benjamin ist deshalb das Heilige als das Messianische nicht die erwartete Ankunft einer gefürchteten Totalität, die hienieden nur als Gewalt in Erscheinung treten kann, wie bei Girard, sondern eher die Erwartung selbst, die jeden Anspruch auf Totalität, auf Übereinstimmung, außer Kraft setzt. Sprachlichkeit ist der unmögliche Ort, an dem die Sprache in ihrem Inneren ihr Anderes, ihr Außen, könnte man sagen, berührt, so wie die Übersetzung ihr Original. Das Wort, als Bruchstück der Sprache, als Scherbe des Gefäßes, drückt dies am deutlichsten aus: Die eine Sprache ist die unmögliche Einheit, das Gefäß dieser Bruchstücke, dieser materialisierten Differenzen. Und so ist die wörtliche Übersetzung, in der die scheinbare Einheit des Sinns in ihre Bestandteile zerfällt und in diesen Bruchstücken der Bezug der Sprache auf ihr Verborgenes aufscheint,

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In Deutschland hat vermutlich Sigrid Weigel zuerst auf diese Korrespondenzen hingewiesen, die zwischen dem Benjaminschen Sündenfall und dem thetischen Einschnitt sowie der Namenssprache und dem Semiotischen bestehen. Sigrid Weigel: Topographien der Geschlechter – Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S.26ff

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»[...] der Sinn von Abgrund zu Abgrund [stürzt], bis er droht in bodenlosen Sprachtiefen sich zu verlieren«9, wie Benjamin zu den SophoklesÜbertragungen Hölderlins anmerkt, das »Urbild der Übersetzung«. Sie ist Durchquerung der Sprache durch die Sprache selbst: reine Differenz.

Übersetzung einer Flussfahrt: Heart of Darkness Übersetzung? Nicht solange wir die Übersetzung als das Durchqueren des Flusses begreifen, der einen Text vom anderen trennt, wobei man in der Flussmitte die Sprache wechselt.10

Dieses Verdikt des amerikanischen Ethnologen Stephen Tyler wäre sicherlich berechtigt, gäbe es einen solchen Fluss, der in der Mitte die Sprache wechselt. Wenn man den Fluss aber als Teil einer komplexeren Konstellation zwischen zwei von ihm selbst hervorgebrachten Ufern zu lesen bereit ist, ist es vielleicht doch möglich, an diesem weiteren Sinn von Übersetzung festzuhalten. Gerade in der Metaphorik Joseph Conrads – zu dessen Heart of Darkness ich nun zurückkehren möchte – liegt es nahe, sich darunter das Befahren einer Wasserfläche vorzustellen (der Duden bietet für übersetzen das treffende Beispiel: »er hat den Wanderer übergesetzt«). Es ist dabei allerdings nicht ausgemacht, ob Conrad auf das ›Über-Setzen‹ des Gemeinten, des Referenziellen aus ist (das immer von der von Tyler beschriebenen Illusion abhängig ist) oder ob das Wasser, das hier befahren werden soll, die Differenz, die Sprachlichkeit ist. Also das, was in der ›wahren‹, der ›Benjaminschen‹ Übersetzung, als »Bezug der Sprache zu ihrem Verborgenen« – zu sich selbst – aufscheint und dem der Text sich anvertrauen könnte, bis er am Ende die Ufer aus den Augen verliert.

Die Enttäuschung des Lesers V.S. Naipaul hat in einem Essay über Conrad’s Darkness von seinen eigenen Schwierigkeiten mit Conrad berichtet, seiner Enttäuschung über die Erfindungskraft dieses Schriftstellers und seinen Vorbehalten gegenüber der Methode Conrads, eine Verdunkelung der Geschichte durch ihre Worte zu betreiben, gerade indem diese möglichst genau eine Begeben-

9 Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, S.62 10 Stephen A. Tyler: Das Unaussprechliche – Ethnographie, Diskurs und Rhetorik in der postmodernen Welt, übers. v. Thomas Seibert, München: Trickster 1991, S.206

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heit oder besser die Erinnerung eines Ereignisses zu schildern vorgeben.11 Naipaul weist darauf hin, dass die Phantasie, die Conrad in die Erfindung seiner Geschichten investiert, zumeist dürftig sei, er seine ganze Energie in die – wie Naipaul sagt – Veranschaulichung stecke. Ich glaube, dass Naipaul damit das zentrale Motiv des Conradschen Schreibens benannt hat: Conrads literarische Antriebskraft besteht eben nicht in der Erfindung von Geschichten, sondern in dem Versuch, etwas Nichterzählbarem, Unsichtbarem, sagen wir vorläufig: einem »erinnerten Ereignis«, mit den Mitteln der Sprache so nahe wie nur irgend möglich zu kommen. Edward Said wiederum hat herausgearbeitet, dass Conrad die Hervorbringung dieses Ereignisses in der Sprache durch eine besondere sprachliche Präzision zu bewältigen sucht. Said zeigt, wie diese ›Veranschaulichung‹, dieser Versuch, in der Sprache etwas hervorzubringen, was jenseits von ihr zu liegen scheint, umschlägt in eine differenzierte Vielsprachigkeit, eine möglichst genaue Verwendung verschiedener, sich überlagernder Stimmen.12 Conrad verleiht diesen Stimmen bzw. dieser

11 »Ich hatte bei Conrad das Gefühl, daß ich nicht mitbekam, worum es ging. An sich einfache Geschichten schienen sich mir irgendwann immer zu entziehen. Und dazu kamen Worte, die dem Bedürfnis des Schriftstellers entsprangen, der Wahrhaftigkeit seiner eigenen Gefühle zu entsprechen. Die Worte schoben sich dazwischen; sie verdunkelten.« V.S. Naipaul: Conrads Finsternis, in: Ders.: Dunkle Gegenden – Sechs große Reportagen, Zusammengestellt und übers. v. Karin Graf, Frankfurt a.M.: Eichborn 1995, S.5-30, hier: S.10 12 »Conrad scheint die Sprache oder jedenfalls die Macht, die sie über ihn hatte, überbewertet zu haben. Das soll kein negatives Urteil gegen ihn sein, denn von dieser Überbewertung rührt die außerordentliche Sorgfalt her, mit der er seine Erzählungen übermittelte. Herz der Finsternis ist beispielsweise eine komplexe Konstruktion, die ein halbes Dutzend verschiedener ›Sprachen‹ enthält, jede mit der ihr eigenen Erfahrungssphäre, ihrer Zeit, ihrem Bewußtseinszentrum. Zu sagen, Conrad habe auf englisch geschrieben, heißt daher in Wirklichkeit, daß er höchst schöpferische Differenzierungen innerhalb des Englischen vornahm, Differenzierungen, die vor ihm kein anderer Schriftsteller für nötig erachtet hatte, Differenzierungen, die es ihm ermöglichten, die immer außerhalb seiner selbst liegenden sprachlichen Quellen einer Geschichte physisch ›zu erkennen‹. Diese Differenzierungen waren Conrads Schutz gegen den Ansturm der Sprache: Indem er Sprache verschiedenen Stimmen neu zuordnete, sie auf diese Stimmen neu verteilte und sie dann wieder neu zusammensetzte, konnte Conrad sein schriftstellerisches Werk inszenieren. Die Pluralität narrativer Komponenten hat man sich daher als ein mannigfaches Einkreisen eines Gegenstands vorzustellen. Die Wirkung ist schließlich, wie Mallarmé in Crise de vers sagt, »den Worten durch die Kollision ihrer in Bewegung gebrachten Ungleichheiten die Initiative« zu überlassen. Was bei den Wörtern ausgespart bleibt, ist der intransigente und der Sprache nicht zugängliche Rest der Identität des Schriftstellers. Eine eigenartige Ironie, die einen Schriftsteller, der uns sehen machen will, sicher gereizt hat, will es, daß der ausgesparte Rest die schreibende Person, der Autor selbst, ist, von dem Conrad dennoch behauptet, er sei sekundär.« Edward W. Said: Conrad: Die Präsentation des Erzählens, in: Ders., Die Welt, der Text und der Kritiker, S.115f.

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den Wörtern abgerungenen Differenzen eine eigene Dynamik, die, wie Said, die Crise de vers Mallarmées zitierend, schreibt, »den Worten durch die Kollision ihrer in Bewegung gebrachten Ungleichheiten die Initiative« überlässt.13 Paradoxerweise leitet sich diese sprachliche Präzision, diese Arbeit an der Differenz bei Conrad aus einer programmatischen Negation der Sprache ab. Said bezieht das in seinem Essay über die Präsentation des Erzählens bei Conrad auf den sowohl in Conrads programmatischen Äußerungen als auch in seinen literarischen Texten erhobenen Anspruch, mit den Mitteln der Sprache ›Sehen‹ zu ermöglichen. Die Verwendung von Sprache soll am Ende dazu führen, dass sie sehend macht. Das scheint zu heißen: dass sie selbst unsichtbar wird. Conrads »Überbewertung der Sprache«, von der Said schreibt, ist ein Ergebnis dieses Bemühens, das geschriebene Wort ›unsichtbar‹ zu machen, um uns das, was es verbirgt, sehen zu lassen. Deshalb auch das für Conrad typische Arrangement der Narration als mündliche Erzählung, an deren vermeintlichem Realismus er gegen jede offenkundige Wahrscheinlichkeit, bspw. im Vorwort zu Lord Jim, festhält (einem Text von über 300 Seiten, der an einem Abend von einem mündlichen Erzähler vorgetragen worden sein soll). Conrad verfolgt kein realistisches Programm, er ist an etwas in der Sprache interessiert, das er als Sehen beschreibt, das er aber nur in der Sprache finden kann. Was das sein könnte, lässt sich vielleicht als ›innere Referenz‹ einer »inneren Erfahrung« bezeichnen, die sowohl die Vorstellung von Referenzialität als auch die eines Innen verunmöglicht. Im Pathos des programmatischen Vorworts zu seinem dritten Buch, The Nigger of the Narcissus, äußert sich dieses Bestreben ganz direkt. Es scheint fast, als ob die Überwindung der Sprache für Conrad ein Weg sei, zu einer anderen Sprache zu gelangen bzw. überhaupt erst zur Sprache vorzudringen: Der Künstler wendet sich hingegen an jenen Teil unseres Wesens, der nicht von Gelehrsamkeit abhängt, an das in uns, was Gabe, nicht Errungenschaft – und daher von weit beständigerer Dauer ist. [...] Deshalb wendet sich alles, was Kunst bedeutet, hauptsächlich an unsere Sinne; drückt sie sich im geschriebenen Wort aus, muß sie somit auf unsere Sinne zielen, wenn sie ernsthaft danach strebt, den geheimen Quell unserer den Ruf erwidernden Gefüh-

13 Die vollständige Passage bei Mallarmée lautet: »Das reine Werk impliziert das sprechende Hinwegtreten des Dichters, der die Initiative den Wörtern überläßt, den durch den Anprall ihrer Ungleicheit mobilisierten; sie entzünden sich im gegenseitigen Widerschein wie ein virtuelles Gleiten von Feuern über Edelsteine, die im früheren lyrischen Wehen hörbaren Atemzüge oder die persönliche-enthusiastische Satzführung ersetzend.« Stephane Mallarmée: Verskrise, übers. v. Rolf Stabel, in: Ders., Sämtliche Dichtungen, Zweisprachige Ausgabe, München: dtv 1995, S.277-288, hier: S.285

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ÜBERSETZEN le zu erreichen. [...] nur vermöge einer unermüdlichen und nie entmutigenden Sorge um Gestalt und Klang der Sätze kann man der Plastizität und der Farbigkeit sich nähern und kann das Licht magischer Suggestionskraft für einen flüchtigen Augenblick die gemeinplätzige Oberfläche der Worte überspielen: der alten, alten Worte, die verschlissen sind in Jahrhunderten nachlässigen Gebrauchs. [...] Die Aufgabe, die ich zu erfüllen trachte, ist, durch die Macht des geschriebenen Worts euch hören, euch fühlen und, dies vor allem, euch sehen zu machen. Das, und nichts weiter, und darin liegt alles.14

Die Überwindung der Sprache, ihre Hinwendung auf das andere des Sinns – die Sinne, verlangt eine sehr genaue Aufmerksamkeit für die in der Sprache verborgenen Differenzen: Alles was sich in der Sprache dem Sinn entzieht, ihre Materialität, ihr Rhythmus, muss in den Dienst des Sehens genommen werden. Diese Überwindung der Sprache besteht in der Hervorkehrung dessen, was sich der Einheit der Bedeutung entzieht, dabei aber gleichzeitig auf einen Zustand der Fülle, einer magischen Aneignung, verweist. Conrad inszeniert also so etwas wie eine Überschreitung der Sprache in der Sprache, die auf eine außersprachliche Referenz zielt, die durch die dauernde Überbietung der sprachlichen Mittel erreicht werden soll. Diese Referenz, die angeblich sichtbar, farbig, plastisch gemacht werden soll, funktioniert aber wie ein Mc Guffin: Der Text beginnt zu rotieren, bringt immer neue Reihen von Wörtern, überwiegend beschreibende Adjektive, hervor und kehrt schließlich zum Ausgangspunkt zurück. Es entstehen Kreise, die ihr Zentrum solange verschieben, bis nicht mehr klar ist, was innerhalb und was außerhalb ihrer liegt. Die Rückkehr der Wörter bezeichnet den Punkt, an dem im Akt der Überschreitung, also im Grenzbereich der Liminalität, Innen und Außen zusammenfallen. Dies ist letztlich genau die Dramaturgie der Veranschaulichung, die der sprachlichen Bewegung selbst folgt, nicht einer Handlung. Es entsteht eine Welt aus Wörtern, die zwar immer etwas hervorzubringen suchen, tatsächlich aber vor allem eines produzieren: neue Wörter, die sich den vorherigen entgegenwerfen. Das daraus entstehende ›Missverhältnis‹ zwischen sprachlichem Aufwand und ›Inhalt‹ ist wahrscheinlich der Grund für Naipauls Enttäuschung über Conrads »mangelhafte Phantasie«: Die Dinge, oder eher die Worte, die sie zu bezeichnen vorgeben, beginnen zu verschwimmen und versinken schließlich im unheildräuenden Schwellenraum aus Licht und Wasser.

14 Joseph Conrad: Der Nigger von der Narzissus – eine Seemannsgeschichte (Vorwort), übers. v. Ernst Wagner, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S.8ff.

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Die Rückkehr der Worte: Jewels Geschichte In Lord Jim gibt es eine sehr prägnante Szene, in der sich diese Bewegung verdichtet. Conrad lässt Marlow eine Erzählung der Geliebten von Jim, die dieser Jewel nennt (Marlow nennt sie einfach: »the girl«), erzählen. Und Marlow erzählt, wie sie das erzählt. Sie vertraut ihm eine für sie zentrale Erfahrung, man kann wohl sagen, ihre »Urszene« an: Sie befindet sich in einem Zimmer mit ihrer sterbenden Mutter und durch die einzige Tür versucht deren zweiter Mann, eine ziemlich zweifelhafte koloniale Existenz, die von Jewel verlangt, dass sie sie Vater nennt (was sie in einer frühen Fassung des Textes auch ist15), sich Einlass zu verschaffen. Während Jewel sich gegen die Tür stemmt, um das Eindringen des ›Vaters‹ zu verhindern, wie es ihre Mutter weinend verlangt, stirbt diese. Dann endet die Erzählung: »The tears fell from her eyes – and then she died,« concluded the girl in an imperturbable monotone, which more than anything else, more than the white statuesque immobility of her person, more than mere words could do, troubled my mind profoundly with the passive, irremediable horror of the scene. It had the power to drive me out of my conception of existence, out of that shelter each of us makes for himself to creep under in moments of danger, as a tortoise withdraws within its shell.16

Diese Erzählung hat drei Dimensionen: Marlows Beschreibung der Erzählerin, die Erzählung selbst und den knappen, nur aus zwei Worten bestehenden Hinweis auf das eigentliche Ereignis – die Stimme. Sie ist es, die Marlow aus der Fassung bringt, die ihn die Sicherheit der Grenzen seiner Welt verlieren, die ihn ›sehen‹ lässt. Dieses Sehen steckt in dem, was die Wörter in Berührung bringt mit ihrem ›Anderen‹. Die Stimme, der Akt der Artikulation, der Hervorbringung von Wörtern, ist der Punkt an dem Körper, Performanz und Zeichen in einer einzigen liminalen Be15 Vgl.: Robert Hampson: Note on the Text, in: Conrad, Lord Jim – A Tale, S.3439, hier: S.35 16 Joseph Conrad: Lord Jim – A Tale, edited by Cedric Watts and Robert Hampson, London (Penguin) 1989, S.274 »Tränen fielen ihr aus den Augen – und dann starb sie«, schloß das Mädchen in unerschütterlicher Monotonie, die mich mehr als alles andere, mehr als die weiße, statuengleiche Unbeweglichkeit ihrer Gestalt, mehr als bloße Worte es vermocht hätten, das erlittene, nicht wiedergutzumachende Grauen dieser Szene fühlen ließ. Sie hatte die Macht, meine Lebensanschauung zunichte zu machen, mich aus jenem Schutzwall zu treiben, den jeder von uns aufrichtet, um sich in Augenblicken der Gefahr dahinter zu verkriechen, wie sich eine Schildkröte in ihre Schale zurückzieht.« Joseph Conrad: Lord Jim, übers. v. Fritz Lorch, Zürich: Diogenes 1974, S.260

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wegung miteinander verschmelzen und es spricht einiges dafür, das Problem der Mündlichkeit bei Conrad für den Ort zu halten, an dem die Liminalität der Performanz innerhalb seiner Texte thematisiert wird. Hier scheint die Stimme aber auf eine noch fundamentalere Grenze zu verweisen. Die beiden auf sie bezogenen Wörter – imperturbable monotone – bringen ein ganzes Schwellenuniversum hervor, Bilder und Adjektive, die über sich hinausweisen sollen, von denen aber klar ist, dass sie nie in der Lage sein werden, dieses imperturbable monotone, diesen (Nicht-) Ort, einzuholen, der sich wie ein jäher Abgrund unter der Oberfläche der Worte auftut. For a moment I had a view of a world that seemed to wear a vast and dismal aspect of disorder, while, in truth, thanks to our unwearied efforts, it is as sunny an arrangement of small conveniences as the mind of a man can conceive. But still – it was only a moment: I went back into my shell directly. One must – don’t you know? – though I seemed to have lost all my words in the chaos of dark thoughts I had contemplated for a second or two beyond the pale. These came back, too, very soon, for words also belong to the sheltering conception of light and order which is our refuge.«17

Es sind Wörter, die hier einem imaginären »don’t you« vorgetragen werden, und der Augenblick ist über 300 Seiten lang. Es gibt also keinen Anlass von der Rückkehr der Worte ein sunny arrangement of small conveniences zu erwarten. Vielmehr ist es genau diese Dimension der Worte, das Versprechen von Sicherheit, die in Conrads Texten ständig von jenem Nicht-Ort aus infrage gestellt wird, den die Stimme vertritt: den Punkt der Liminalität oder der Sprachlichkeit, der grundsätzlichen Fremdheit von Sprache, an dem offenbar wird, dass das Innen, das sie errichtet, zugleich immer ein Außen ist. Was Conrads Texte kennzeichnet ist, dass – während sie sie ständig hervorzubringen suchen – diese Bewegung immer als Abgrund, als Zusammenbruch jeder Grenzziehung in ihnen erscheint.

17 Joseph Conrad: Lord Jim – A Tale, S.274 »Einen Augenblick lang sah ich eine Welt vor mir, die das Gepräge ungeheuerlicher und schrecklicher Unordnung trug, während sie doch in Wirklichkeit, dank unserer unermüdlichen Anstrengungen, eine so sonnige Anordnung kleiner Bequemlichkeiten darstellt, wie der Menschengeist sie nur ersinnen kann. Und dennoch – es war nur ein Augenblick: ich zog mich gleich wieder in mein Gehäuse zurück; man muß es, verstehen sie? – obwohl ich all meine Worte in dem Chaos dunkler Gedanken verloren zu haben schien, in die ich jenseits der Grenzpfähle eingetaucht war. Doch auch die Worte kehren zurück, denn Worte gehören ebenfalls zu unserer schützenden Anschauung von Licht und Ordnung, die unsere Zuflucht ist.« Lord Jim: S.260f

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Das Nicht-Nichts W. G. Sebald hat die unheimlichen Landschaften aus Heart of Darkness in einem biographischen Essay über Conrad und Roger Casement (ein kolonialismuskritischer britischer Regierungsbeamter aus Irland und die – geht man nach Conrads Tagebuch – einzige erfreuliche Bekanntschaft, die er im Kongo gemacht hat) in Verbindung gebracht mit der Verbannung von Conrads Vater nach Sibirien. Der kleine Konrad ist ihm mit seiner Mutter dorthin gefolgt, wo sie nach langer Krankheit an Tuberkulose verstirbt.18 Der sumpfige Morast dieses Landes, aus dem sich die Pfahlbauten der Verbannten erheben, in dem es ständig regnet oder schneit, gibt – so legt Sebald nahe – das Vorbild ab für die Schwellenräume in Heart of Darkness. Alles ringsum versinkt, verfault und verrottet. Es gibt nur zwei Jahreszeiten, einen weißen und einen grünen Winter. Neun Monate lang fährt die Eisluft vom Nordmeer herunter. Das Thermometer sinkt auf unvorstellbare Tiefen. Man ist umgeben von einer endlosen Finsternis. Während des grünen Winters regnet es ohne Unterlaß. Der Schlamm dringt bei den Türen herein. Die Leichenstarre geht über in einen grauenhaften Marasmus. Im weißen Winter ist alles tot, im grünen Winter alles am sterben.19

Folgt man Sebald, so erscheint Conrads Aufenthalt am Kongo als Wiederholung seiner eigenen traumatischen Kindheitserfahrung, in der sich der politische Ausnahmezustand (die Verbannung und die Erklärung eines Landes und seiner Menschen zu Privatbesitz) in der Natur zu spiegeln scheint. Es gibt auch bei Conrad selbst eine weitere Beschreibung einer solchen Topographie, die die Lesart Sebalds unterstützt: seine Charakterisierung Russlands in Autocracy and War, einer Schrift, die im Umfeld von Under Western Eyes 20, seinem Russland-Roman, entstanden ist. Hier verbindet sich die Unbestimmtheit des Schwellenraums mit dem inneren Abgrund des Traumas der Verbannung sowie der Krankheit und dem Tod der Mutter. Russland – so wird deutlich – ist für Conrad eine

18 Nach einem Erholungsaufenthalt auf dem Anwesen ihres Bruders muss sie mit ihrem Sohn zurück ins Exil. »Der Wagenschlag steht offen, und drinnen, auf dem rissigen Lederpolster, sitzt seit einiger Zeit schon der Knabe Konrad und sieht, aus dem Dunkel heraus, das, was er später beschreiben wird.« W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn, S.129 19 W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S.128 20 Deutsch: Joseph Conrad: Mit den Augen des Westens, übers. v. Günther Danehl, Frankfurt a.M.: Fischer 1984

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ihn verfolgende Obsession wie das Schreiben, und es sind manchmal ähnliche Metaphern, die er für beides findet: Das Wort Néant vermittelt eine ehrfurchtgebietende Vorstellung des Grenzenlosen – und in Rußland gibt es eine solche Idee nicht. Rußland ist kein Néant, es ist und war immer schon schlicht die Negation all dessen, wofür zu leben sich lohnt. Es ist auch kein leeres Nichts; es ist ein gähnender Abgrund, der sich zwischen Ost und West auftut; es ist ein endlos tiefer Schlund, der alle Hoffnungen auf Barmherzigkeit verschlungen hat, jedes Streben nach persönlicher Würde, nach Freiheit, nach Wissen, jede edle Regung des Herzens, jedes erlösende Flüstern des Gewissens. Jene, die in diesen Schlund hinabgeschaut haben, in dem die Träumerei des Panslawismus, von Welteroberung, vermischt mit dem Haß und der Verachtung für die Ideen des Westens, kraftlos wie Nebelschwaden umhertreiben, sie wissen wohl, daß der Abgrund bodenlos ist; daß es hier keinen Grund für irgend etwas gibt, das auch nur im entferntesten den niedrigsten Interessen der Menschheit dienen könnte.21

Dieser gähnende Abgrund des Noch-nicht-einmal-Nichts, des NichtNichts, einer vollständigen bindungslosen Leere, in der sich die Erfahrung der Verbannung und des frühen Todes der Mutter verbinden, beschreibt auch die Situation des Schriftstellers Conrad. In diesen Schlund, diese Leere geworfen, gilt es, ihn mit Worten auszufüllen, ohne jede Hoffnung, dies jemals zu erreichen. In einem Brief schreibt Conrad über seine Schreiberfahrung: La solitude me gagne; elle m'absorbe. Je ne vois rien, je ne lis rien. C'est comme une espèce de tombe, qui serait en même temps un enfer, où il faut écrire, écrire, écrire.22

Das Schreiben versetzt ihn quasi in den Zustand des Todes, setzt ihn dem russischen Nicht-Nichts aus: »der Negation all dessen, wofür zu leben sich lohnt«. Wohin das Schreiben ihn führen soll, bleibt in dem BriefZitat offen, seine programmatische Beschwörung der Fülle weist jedoch darauf hin, dass es ihm ermöglichen soll genau diesen Zustand absoluter 21 Joseph Conrad: Autocracy and War, zitiert nach: Frederick R. Karl: Joseph Conrad – Eine Biographie, übers. v. Christian Spiel (Teilübersetzung), Hamburg: Hoffmann und Campe 1983, S.26 22 Joseph Conrad: Lettres françaises, Paris 1930, S.50; zit. nach: Edward Said: Die Präsentation des Erzählens, in: Ders., Die Welt, der Text und der Kritiker, übers. v. Brigitte Flickinger, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S.103-132, hier: S.301f. (d.i. die Anmerkung zu S.107: »Die Einsamkeit übermannt, absorbiert mich. Ich sehe nichts, ich lese nichts. Es ist wie eine Art Grab, das zugleich eine Hölle ist, in der man schreiben, schreiben, schreiben muss.«)

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Entbindung zu überwinden, das absolute Nicht-Nichts in ein »leeres Nichts«, in ein Gefäß zu transformieren, das in der Lage wäre seine Worte aufzunehmen, von ihnen gefüllt zu werden. Mehr noch aber erscheint der das Sehen ermöglichende Schreibakt – im Vorwort zum Nigger of the ›Narcissus‹ (ein wirklich sprechender Titel) jedenfalls – als magische Aneignung einer Fülle, die der Sprache in ihrer Selbstüberschreitung quasi abgepresst wird. Die Topographie von Heart of Darkness lässt sich also in dreifacher Hinsicht auffalten: als persönliche Geschichte einer innerpsychischen Topographie, als deren Transformation in politische und literarische Geographie und schließlich in das Schreiben selbst. Dabei verwendet der Text das Material einer tatsächlichen Reise, die Conrad auf der Schwelle vom Seemann zum Schriftsteller unternommen hat. Es war Conrads einziger Versuch, sich als Binnenschiffer zu betätigen, den Weg ins Landesinnere zu finden und sie scheint ihn direkt in die Aktualisierung jener Traumen geführt zu haben, vor denen er aufs Meer – als dem anderen leeren Nichts – geflohen ist. Es gibt für ihn wohl keinen Weg ins Innere dieses Landes, das sich dreist als sein eigenes Inneres ausgibt. Es erscheint als extremes inneres Außen, als Grab oder Abgrund, der die zitternden Grenzziehungen zugleich einfordert und bedroht aus denen er den Text seiner Identität zu knüpfen sucht (und in den Conrad seinen Lord Jim springen lässt). Die innere Erfahrung, um deren Sichtbarmachung oder Veranschaulichung es in diesen Texten geht, scheint dieser Kerker zu sein. Und das Begehren des Textes scheint darin zu bestehen, den Blick in diesen Kerker zu ermöglichen, ihn zu öffnen.

Der »ausgesparte Rest«: Die Identität des Autors Edward Said weist auf einen notwendigen »ausgesparten Rest« hin, der das sein soll, was sich dem sprachlichen Zugriff vollkommen entzieht und in dem Said die Identität des Autors selbst zu erkennen meint. Dieser ausgesparte Rest scheint mir, viel eher als das von Conrad beschworene »Licht magischer Suggestionskraft«, zu dem seine Texte angeblich aufbrechen, jenen Punkt zu bezeichnen, an dem die scheiternden, zurückkehrenden Wörter auf sich selbst treffen, auf ihre – das Conradsche Textuniversum konstituierende – Fremdheit. Diese Wörter gehören der Sprache von Conrads Exil an. In seinen Romanen sind es weitestgehend englische Wörter.23 Sein Gespür für die 23 Abgesehen von einigen – bspw. deutschen Brocken – die deutlich einen verfremdenden, halluzinatorischen oder denunziatorischen Effekt haben wie in Lord Jim (»To follow the dream, and again to follow the dream – and so –

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Liminalität der Wörter, hat sicherlich mit seiner eigenen unsicheren Position zwischen den Sprachen des Vaters und des Onkels (Polnisch), der Jugend und der Briefsprache (Französisch) und der des selbsterwählten Exils auf den Meeren und in der Literatur (Englisch) zu tun. Polen war – jedenfalls zu Zeiten der Niederschrift von Heart of Darkness – als Name von den Landkarten zwar nicht verschwunden wie heute Zaire, es hatte aber – anders als dieses – als staatlich verfasstes Territorium aufgehört zu existieren. Fremde Grenzen gingen mitten hindurch, zerteilten das Land und brachten einen heroischen Patriotismus seiner BewohnerInnen hervor, den man in Conrads Texten nicht findet. Als er im Anschluss an einen Aufenthalt in diesem Land der Schwellen und Grenzen und durch Ausnutzung der Kontakte seiner Verwandtschaft das Territorium des späteren Zaires bereiste, befand dieses sich im Privatbesitz eines Mannes: Es schien ein Land ohne Geschichte, ohne Zukunft, ohne eigenen Namen zu sein – ein »espace vide de droit«24, ein rechtsfreier Raum, ein Land im Ausnahmezustand. Und der Mann, der dieses Land am 12. Juni 1890 betritt, trägt einen Namen, dessen für Ausländer unverständliches Gemurmel erst auf dem Rücken seiner Bücher zu dem ebenso (für Westeuropäer) verständlichen wie erfundenen Namen Joseph Conrad übersetzt wird.25 Dies ist der Name eines Autors von Büchern, deren Texte ewig – usque ad finem...« Joseph Conrad: Lord Jim – A Tale, S.201) oder die französischen Worte, mit denen Marlow in Heart of Darkness von dem belgischen Arzt verabschiedet wird: »Du calme, du calme. Adieu.« Joseph Conrad: Heart of Darkness, edited with an Introduction and Notes by Robert Hampson, Penguin Books 1995, S.28 24 Giorgio Agamben : L’étàt d’exception, in: Le Monde vom 11.12.2002 25 Conrads Umgang mit seinem eigenen Namen ist geradezu exemplarisch für seine Auffassung von Sprache, denn er beginnt mit den verschiedenen Partikeln desselben ein Spiel, das seinen knappen Künstlernamen als das erscheinen lässt, was er ist: eine Chiffre, die von dem, was sie bezeichnet – eben die ›Person‹ oder die Bücher, den Autor von Texten – in einen Strudel der Nichtbestimmbarkeit gezogen wird. »Selbst als er schon seine Romane und Erzählungen mit Joseph Conrad signierte, schrieb er an polnische Freunde und Verwandte noch unter dem Namen Korzeniowski, allerdings mit ungewöhnlichen Abwandlungen. Er unterzeichnete abwechselnd mit Konrad Korzeniowski, J.C. Korzeniowski, K.N(alecz). Korzeniowski, Konrad N. Korzeniowski, einfach Konrad, Conrad Korzeniowski, Conrad N. Korzeniowski, Joseph Conrad (Korzeniowski), J. Conrad K., Konrad Korzeiniowski (Joseph Conrad); oder gelegentlich auch mit J. Conrad, Conrad, Joseph Conrad. Wenn er an nichtpolnische Freunde schrieb, unterzeichnete er mit Jph. Conrad, Conrad: J. Conrad, Conrad und sogar mit Jph. Cd.« Karl: Conrad: S.28 In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen weiteren Hinweis aus Karls Biographie aufgreifen. Das Konrad, das er später in der anglisierten Fassung zu seinem eigentlichen Namen macht, sein Taufname lautete übrigens Józef Teodor Konrad Korzeniowski (Nalecz), entstammt der romantischen polnischen Poesie, nämlich zwei Gedichten von A. Mickiewicz. »Schon der literarische Hintergrund an sich ist interessant, denn Conrad sollte seinem Taufnamen nach ein ›Konrad‹ werden, und das hieß, ein romantischer Held, ein ritterlicher und an der Tradition seines Volkes orientierter Erlöser seines ver-

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um die Wiedergabe der inneren Erfahrung eines Mannes ringen, der einen anderen Namen – oder besser: viele Namen – trägt. Ein Heimatloser, der ein Land bereist, das niemandem mehr eine Heimat ist. Es ist nicht verwunderlich, durch sein gesamtes Werk hindurch ein Gespür für die Künstlichkeit und zugleich Notwendigkeit kultureller und linguistischer Konventionen zu entdecken. Sein Werk, sein lebenslanger Versuch, ein englischer Schriftsteller zu werden, bildet geradezu ein Paradigma für ethnographische Subjektivität: Es ist beispielhaft für die Struktur einer von unablässigem Übersetzen geprägten Existenz, für ein verschärftes Bewußtsein der Beliebigkeit von Konventionen, für einen neuen säkularen Relativismus.26

Conrad ist ein Migrant, seine Grunderfahrung die des Exils. Er ist der Übersetzer schlechthin; sein Leben ein unablässiges Über-Setzen; seine Identität nicht einmal durch die scheinbare Eindeutigkeit eines Namens verbürgt. Diese Identität ist ein äußerst fragiles Gebilde, das er der Vielsprachigkeit seiner Welt abgerungen hat: In ihr kreuzen sich die Texte seines Lebens, die Texte, an denen er geschrieben, und die, die ihn geschrieben haben. Eine Identität, die nicht viel mehr ist als das fiktive Festhalten eines Moments in dieser Bewegung, deren einzige Konstante die Erfahrung eines Abgrundes ist, an dessen Rändern Conrad sich einzurichten versucht. Insofern ist sein Leben bestimmt von der Notwendigkeit der Übersetzung und konfrontiert mit ihrer Unmöglichkeit. Conrad leugnet diese Aporie, indem er britischer Kapitän wird und versucht, dieses Leben in

sklavten Volkes. Wie Samson sollte er sein Volk erretten, selbst wenn er dabei sein eigenes Leben hingeben müßte; ein Pole inmitten von Russen, war nicht unähnlich einem Semiten unter Philistern. Ein Konrad zu sein bedeutete demnach, ein Leben zu führen, welches das eines Odysseus oder eines Samson und die Seele eines Dichters oder des ›unverbesserlichen Don Quichotte‹ in sich vereinte.« Karl: Conrad: S.25f. Und weiter unten resümiert Karl: »Um Verwechslungen (mit einem anderen polnischen Dichter, S.T.) zu vermeiden, setzte Conrad seinen Namen aus verschiedenen Elementen zusammen; er legte sich nie wirklich auf einen einzigen fest, was schon daraus hervorgeht, dass seine Briefe an Polen wie auch an Nichtpolen kein einheitliches Muster in der Art der Unterschrift aufweisen. In der Vielzahl der Namen manifestieren sich die Persönlichkeits- und Lebensvielfalt und auch die Vielzahl der Haltungen, die Conrad sich zurechtgelegt hatte. Während der ganzen Spanne seines Lebens sah er sich den unvereinbaren Zwiespältigkeiten seiner Identität gegenüber. Die Sprache selbst wurde zu einem Ingredienz dieser Spaltung, denn in der Schreibweise und Aussprache seiner polnischen Namen kamen Buchstaben, Klänge und Akzente vor, die weitab von den englischen Sprachgewohnheiten lagen [...].« Karl: Conrad: S.26 26 James Clifford: Über ethnographische Selbststilisierung: Conrad und Malinowski, übers. v. Anne Middelhoek, in: Bachmann-Medick, Kultur als Text, Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S.194-225, hier: S.198

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die scheinbar festgefügte koloniale Topographie des Empire einzutragen. Und doch wird sein ständiges Gleiten zwischen den Orten angetrieben von der Verheißung, tatsächlich jenen Bereich aufzufinden, an dem das Gleiten selbst Ort, die Übersetzung möglich wird. Darin – so meine ich – liegt das Motiv seiner von Naipaul und Said konstatierten textuellen Operationen, die eine Fremdheit zu bewältigen suchen, die er mit seinen Figuren auch dann noch teilt, wenn er jede körperliche Bewegung aufgibt und sich in Britannien selbst niederlässt, um die Leere unbeschriebener Seiten zu bereisen: »Die Sprache ist nicht das ›Haus des Seins‹ (Heidegger), sondern der Ort einer reisenden Veränderung«.27

Schwellenräume Heart of Darkness ist bereits auf seiner inhaltlichen Oberfläche als Initiationsritus angelegt. Eine Überfahrt in ein untergründiges Reich, in dem der Erzähler seinem Antipoden begegnet, in einen Schwellenraum, bewohnt von einem Schwellenwesen. Marlow, der Erzähler als Wanderer, begibt sich in den Schwellenraum des Flusses und folgt ihm bis an jene Biegung, an der eine von Pfählen mit aufgesteckten Totenköpfen umfriedete Behausung wartet, von dessen Bewohner er zugleich angezogen und abgestoßen zu sein scheint. Es ist eine – jedenfalls nach herkömmlichen Kriterien – scheiternde Initiation, denn die Unbestimmtheit der Schwelle dringt ein in die festgefügte Ordnung der Herkunft und lässt jene unhomeliness um sich greifen, als die Homi Bhabha Freuds Unheimliches übersetzt hat.28 Marlows Initiation scheitert wie die Integration des Migranten. Der Text scheint eingesperrt in einen ständigen Übergang, ohne Hoffnung, jemals die Gestade des Homogenen zu erreichen, »[...] die bösartige 27 Michel de Certeau: Die Fiktion der Geschichte – Das Schreiben von »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in: Ders., Das Schreiben der Geschichte, übers. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S.240-288, hier: S.251f. 28 »Unheimlich ist nicht dasselbe wie ohne Heim, und es kann auch nicht einfach in die gängige Unterscheidung des sozialen Lebens in private und öffentliche Bereiche eingepaßt werden. Das Unheimliche schleicht sich verstohlen wie der eigene Schatten an einen heran, und plötzlich ergeht es einem wie Henry James’ Isabel Archer in Bildnis einer Dame: man mißt seine Wohnung in einem Zustand ›ungläubigen Entsetzens‹ aus. Und in diesem Augenblick zieht sich die Welt für Isabel erst zusammen und weitet sich dann enorm aus. In ihrem Überlebenskampf in den unergründlichen Wassern, den reißenden Strömen führt James uns in das Unheimliche ein, das diesem Ritus extraterritorialer und gemischtkultureller Initiation innewohnt.« Homi K. Bhabha: Einleitung: Verortungen von Kultur, in: Ders., Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg 2000 S.1-28, hier: S.13f.

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Energie in die von der Gemeinschaft bereits vorgezeichneten Bahnen zu lenken«29. Die Grenzen beginnen sich aufzulösen. Es wird zunehmend schwerer, die Richtung der Bewegung des Textes und seiner Motive zu bestimmen. Schon die Inszenierung des Ortes der Erzählung zu Beginn des Textes – ein kleines Schiff, ein Fluss, das Meer, der Himmel und einige alte Bekannte, verbunden durch the bond of the sea, wird durch Marlow aus der Sicherheit scheinbarer Vertrautheit und der Erwartung auf the turn of the tide30 gerissen, wenn er beginnt, die Geschichte eines römischen Boten im keltischen Britannien auszuspinnen: Imagine him here – the very end of the world, a sea the colour of lead, a sky the colour of smoke, a kind of ship about as rigid as a concertina – and going up this river with stores, or orders, or what you like. Sandbanks, marshes, forests, savages, – precious little to eat fit for a civilised man, nothing but Thames water to drink. No Falernian wine here, no going ashore. Here and there a military camp lost in a wilderness, like a needle in a bundle of hay – cold, fog, tempests, disease, exile, and death, – death skulking in the air, in the water, in the bush. They must have been dying like flies here. [...] Land in a swamp, march through the woods, and in some inland post feel the savagery, the utter savagery, had closed round him, – all that mysterious life of the wilderness that stirs in the forest, in the jungles, in the hearts of wild men. There’s no initiation into such mysteries. He has to live in the midst of the incomprehensible, which is also detestable. And it has a fascination, too, that goes to work upon him. The fascination of the abomination – you know. Imagine the growing regrets, the longing to escape, the powerless disgust, the surrender, the hate.31

29 René Girard: Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.416 30 Conrad: Heart of Darkness, S.15 31 Conrad: Heart of Darkness, S.19f. »Stellt ihn euch hier vor – am Arsch der Welt, das Meer wie aus Blei, der Himmel rauchfarben, auf einem Schiff, das so widerstandsfähig wie eine Ziehharmonika ist –, wie er mit Nachschub oder Befehlen oder was auch immer diesen Fluß hochfährt. Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde – verdammt wenig zu essen für einen zivilisierten Menschen, und nur Themsewasser zu trinken. Kein Falerner Wein hier, kein Landurlaub. Dann und wann ein Militärlager, das wie eine Nadel in einem Heuhaufen in der Wildnis verloren liegt – Kälte, Nebel, Stürme, Seuchen, Exil und Tod – ein Tod, der in der Luft, im Wasser, im Busch lauert. Sie müssen hier wie die Fliegen gestorben sein. [...] Geht mal in einem Sumpf an Land, marschiert durch die Wälder, und spürt dann in einem Stützpunkt im Inneren des Lands, wie die Wildnis, die reine Wildnis sich rings um euch geschlossen hat – dieses ganze geheimnisvolle Leben der Wildheit, die sich in den Wäldern, in den Sumpfdickichten, in den Herzen der Eingeborenen regt. In solche Geheimnisse wird man ja auch nicht eingeweiht. Er muß mitten im Unverständlichen leben, das zudem widerwärtig ist. Faszinierend ist es allerdings auch, und er beginnt das zu spüren. Die Faszination des Grauens – ihr versteht schon, was ich meine. Stellt euch die

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Conrads Worte werfen, indem sie um ihr unheimliches Zentrum rotieren, einen Schleier über die scheinbar alltäglichen Dinge und in diesem Schleier verwandeln sie sich zu Geheimnissen, zu Finsternis, Wildheit und Tod. Aus dem Halt gebenden Inneren wird so eine Welt an der Grenze: Die Männer, die behaglich auf einer cruising yawl (was immer das ist) namens Nellie inmitten der Themsemündung sitzen und sich alte Geschichten erzählen, verwandeln sich in dem von Marlow ausgeworfenen Wort-Schleier zu um ihr Leben kämpfenden römischen Reisenden im barbarischen antiken Britannien. Aber das ist keine abenteuerliche Zeitreise, kein Kostümspiel. Die ganze Erzählung über bleibt immer deutlich, dass sich die Welt nicht einfach verkehrt hat, einst statt des Südens der Norden das Herz der Finsternis barg, vielmehr zeigt sich, dass dieses Umschlagen der Selbstverständlichkeit in das zutiefst Fragwürdige, der Sicherheit in tödliche Gefährdung immer, zu jeder Zeit, an jedem Ort stattfindet. Die Worte und ihre in Heart of Darkness gebrauchten Metaphern aus Licht und Wasser (die metaphorische Bewegung verläuft allerdings in beide Richtungen) verweisen auf sich selbst: Die Welt der Sicherheit und des Alltags ist aus ihnen erbaut und indem Conrad sie so genau wie möglich benutzt, sie dreht und wendet, um hören, fühlen und sehen zu machen, werden sie zu jener unheimlichen Finsternis – zu Schwellen oder Pforten dieses Totenreiches. Den Dingen wird so eigentlich kein Schleier mehr übergeworfen, sie existieren nur in diesem Schleier aus Sumpf, Nebel und Tod, in dem sich die Sicherheiten umfriedeter Forts wie Stecknadeln in einem Heuhaufen ausnehmen; wie Pfahlbauten, in die »der Schlamm durch die Türen dringt«32. Nichtsdestotrotz sind es diese kläglichen Militärbasen, errichtet aus denselben Wörtern wie die sie umgebende Wildnis, auf denen diese Kultur gründet. Es gibt vielleicht keine genauere Beschreibung der imperialistischen Kultur, des kolonialen Worts.33 immer größer werdende Reue vor, die Sehnsucht abzuhauen, den ohnmächtigen Abscheu, die Unterwerfung, den Haß.« Joseph Conrad: Herz der Finsternis, Übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer, Zürich: Haffmanns 1992, S.12f. 32 Sebald: Die Ringe des Saturn, S.129 33 In seiner großangelegten Studie über Kultur und Imperialismus, der Heart of Darkness gewissermaßen als Leittext dient, hat Edward Said genau dies als die Überschneidung zweier Territorien interpretiert. Conrad bediene sich zwar in umfassender Weise des imperialistischen Diskurses seiner Zeit, führe ihn aber zugleich an einen Punkt, an dem seine Prekarität, seine Unsicherheiten überhand nehmen. Conrad kann sich – so Said – zwar keine nichtimperialistische Welt vorstellen, aber er übersetzt bereits den Raum, den dieses Jenseits des Imperialismus innerhalb desselben einnimmt. »Da Conrad jedoch auch ein dauerhaftes Restgefühl seiner eigenen Exilanten-Marginalität besaß, stattete er Marlows Erzählung sorgsam (manche würden sagen: verrückt sorgsam) mit Vorläufigkeit aus – die Erzählung bewegte sich auf dem Schnittpunkt einer vertrauten, festgefügten Welt mit einer anderen, unspezifizierten.«

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»Conrads Erfahrung war zu diffus; er kannte viele Gesellschaften von außen, doch er kannte keine gründlich von innen«34, sagt Naipaul, aber so blieb ihm, dem Herumtreiber – »Wehe ihnen«, wie es in Lord Jim heißt35 – die Möglichkeit verwehrt, von diesem Innen etwas anderes zu erwarten, als jene Fremdheit und Ausgeschlossenheit, mit der die Welt ihm gegenübertrat. Die einzige Möglichkeit des Dialoges mit dieser Welt ist die Ernsthaftigkeit und Genauigkeit der Beschreibung seiner eigenen Reise in ihr. »Sein Blick für Menschen war vollkommen«, fährt Naipaul fort.36 Dieser genaue Blick ist sein Zugang zu den Menschen: sie bieten sich ihm, dem Ausgeschlossenen, in ihrer eigenen Ausgeschlossenheit dar. Kein von einem wie auch immer gearteten Sinn errichtetes Innen, kein geschütztes Zuhause verstellt diesen Blick. Es ist ein Blick von Außen, der überall das Außen sieht; ein Blick, in dem die Wörter auf sich selbst schauen, und der den Text der Identität in seine Bestandteile zerfallen lässt. Anders als die beiden Kolonialisten seiner Erzählung An Outpost of Progress37 schlägt ihn seine Ausgeschlossenheit nicht mit Blindheit. Conrad sieht durch den Schleier auf den Schleier. Er misstraut seinen Worten und er macht dieses Misstrauen zur Grundlage einer nicht enden wollenden Reise, indem er diese zum Schwellenraum erweiterte Welt zuerst lesend, dann mit Schiffen und schließlich schreibend durchquert. Die Ankunft, das Ende aller Reisen, verspricht nur der Tod.

34 35 36 37

Edward W. Said: Kultur und Imperialismus – Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S.62 Naipaul: Conrads Finsternis, S.29 Conrad: Lord Jim, S.187 Naipaul: Conrads Finsternis, S.29 Deutsch: Joseph Conrad: Ein Vorposten des Fortschritts, in: Ders., Geschichten der Unrast, übers. v. Fritz Lorch, Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S.92-125

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»Blank Spaces«: Die Zirkulation des Scheiterns Der Ausgangspunkt dieser Reise war die imaginäre Leere der noch unentdeckten Räume dieser Erde, die auf den Karten durch ›weiße Flecken‹ – blank spaces – repräsentiert wurden. Sowohl in Heart of Darkness als auch in dem autobiographischen Text A Personal Record schildert Conrad die Faszination, die für ihn (bzw. Marlow) als Kind von Karten, insbesondere aber von diesen scheinbar unbetretenen und weißen Räumen ausging.38 Sein ganzes Leben verlief in den Bahnen dieser (nachträglich 38 »Now when I was a little chap I had a passion for maps. I would look for hours at South America, or Africa, or Australia, and lose myself in all the glories of exploration. At that time there were many blank spaces on the earth, and when I saw one that looked particularly inviting on a map (but they all look that) I would put my finger on it and say, ›When I grow up I will go there.‹ The North Pole was one of these places, I remember. Well, I haven't been there yet, and shall not try now. The glamour's off. Other places were scattered about the Equator, and in every sort of latitude all over the two hemispheres. I have been in some of them, and ... well, we won't talk about that. But there was one yet – the biggest, the most blank, so to speak – that I had a hankering after. »True, by this time it was not a blank space any more. It had got filled since my boyhood with rivers and lakes and names. It had ceased to be a blank space of delightful mystery – a white patch for a boy to dream gloriously over. It had become a place of darkness. But there was in it one river especially, a mighty big river, that you could see on the map, resembling an immense snake uncoiled, with its head in the sea, its body at rest curving afar over a vast country, and sit tail lost in the depths of the land. And as I looked at the map of it in a shop-window, it fascinated me as a snake would a bird – a silly little bird. Then I remembered there was a big concern, a Company for trade on that river. Dash it all! I thought to myself, they can't trade without using some kind of craft on that lot of fresh water – steamboats! Why shouldn't I try to get charge of one? I went on along Fleet Street, but could not shake off the idea. The snake had charmed me.« Joseph Conrad: Heart of Darkness, S.21f. »Als kleiner Junge hatte ich eine Leidenschaft für Landkarten. Ich konnte stundenlang auf Südamerika oder Afrika oder Australien schauen und mich in all den Herrlichkeiten meiner Forschungsreisen verlieren. Damals gab es noch viele weiße Flecken auf der Erde, und wenn ich auf der Karte einen sah, der besonders einladend aussah (aber das tun sie eigentlich alle), legte ich meinen Finger darauf und sagte: Wenn ich groß bin, geh ich dort hin. Der Nordpol war einer dieser Orte, ich erinnere mich. Nun, ich bin noch nicht dort gewesen, und ich werde es auch nicht mehr versuchen. Der Glanz ist weg. Andere Orte waren am Äquator verstreut, und auf jedem beliebigen Breitengrad auf den beiden Erdhälften. Ein paar von ihnen habe ich aufgesucht, und... na, darüber wollen wir nicht sprechen. Aber da gab es immer noch einen – den größten, den weißesten sozusagen –, der es mir besonders angetan hatte. In Tat und Wahrheit war er längst kein weißer Fleck mehr. Er war seit meinen Kindertagen mit Flüssen und Seen und Namen angefüllt worden. Er war nun kein leerer Raum für köstliche Geheimnisse mehr – ein lichtes Stück Land, über dem ein Junge von Ruhm und Ehre träumen konnte. Er war ein Ort der Finsternis geworden. Aber in ihm gab es einen Fluß, einen mächtigen, gewaltigen Fluß, den man auf der Karte sehen konnte und der einer riesigen eingerollt liegenden Schlange glich, deren Kopf im Meer lag, während ihr ru-

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konstruierten?) Kindheitserinnerung. Sowohl Marlow als auch Conrad folgen den Spuren dieser frühen Karten über die Meere und Flüsse, um sich schließlich einem der ehemals größten weißen Flecken, mitten im ›Herzen‹ Afrikas gelegen, zuzuwenden. Auch wenn dort inzwischen kein weißer Fleck mehr ist, so zeichnen sich an seiner statt doch die Umrisse des Verlaufs eines mächtigen Flusses ab. Es fahren Schiffe auf diesem Fluss, europäische Schiffe: Sie erscheinen ihm als die letzte Gelegenheit, die Leere zu erreichen und sie in Beziehung zu setzen zu jener fantastischen Fülle, die sie einst für das Kind bedeutete. Die Kongoreise wird für Conrad jedoch zu einem Wendepunkt, der sein ›Scheitern‹ als Seemann besiegelt. Die blank spaces der Kindheit lassen sich nicht, jedenfalls nicht mit den herkömmlichen Mitteln des Reisens, aufsuchen. Der Ausweg aus der Fremdheit der Welt bleibt auch in der Fremde unauffindbar; kein Schiff wird ihn jemals dorthin bringen. Das Verhältnis von blank space und heart of darkness, das fortwährende Umschlagen des Weißen, der Leere in Finsternis, ist der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung. Das über die literarische Figur Kurtz inszenierte Ineinanderfallen beider Dimensionen bestimmt die Metaphorik des Romans von der ersten Zeile an, wenn auch am Ende die vage Hoffnung des Anfangs wegfällt. Die gesamte Dramaturgie strebt scheinbar einer Katharsis entgegen: der Begegnung Marlows, der seine Faszination für weiße Flecken auf den Bewohner eines solchen übertragen hat, mit diesem selbst. Doch an diesem äußersten Punkt der Begegnung implodiert die Topographie des Textes, die sorgsame Trennung, die beispielsweise in der künstlichen Topologie von Poes Arthur Gordon Pym vorgenommen wird,39 um eine reine Weißheit vor der Beschriftung durch das

hender Körper sich über ein weites Land ringelte; und der Schwanz lag irgendwo im Landesinneren verloren. Und als ich durch das Glas eines Schaufensters auf die Karte schaute, faszinierte sie mich so, wie eine Schlange einen Vogel verhext – einen dummen kleinen Vogel. Dann fiel mir ein, dass es einen großen Konzern gab, eine Gesellschaft, die auf jenem Fluß Handel trieb. Mein lieber Mann! dachte ich, sie können doch keinen Handel treiben, ohne so etwas ähnliches wie Schiffe auf dem Süßwasser dort zu verwenden – Dampfschiffe! Warum sollte ich nicht versuchen, das Kommando von so einem zu kriegen? Ich ging weiter, durch die Fleet Street, aber ich konnte den Gedanken nicht loswerden. Die Schlange hatte mich verhext.« Conrad: Herz der Finsternis, S.15f. Siehe auch: Joseph Conrad: Über mich selbst – Einige Erinnerungen (A personal Record), übers. v. Günther Danehl, Frankfurt a.M.: Fischer 1982, S.40: »Als ich im Alter von ungefähr neun Jahren eine zeitgenössische Landkarte Afrikas betrachtete, legte ich den Finger auf den weißen Fleck, der damals das ungelöste Rätsel dieses Kontinentes darstellte, und versprach mir mit absoluter Selbstsicherheit und staunenswerter Dreistigkeit, die beide mir heute nicht mehr zur Verfügung stehen: ›Dort will ich hin, wenn ich mal groß bin.‹« 39 »Nichts Weißes dagegen befand sich auf Tsalal; und auf der anschließenden Reise in die Regionen jenseits, wiederum nichts anderes.« Edgar Allan Poe,

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Schwarze zu bewahren: einen zeichenfreien, unbeschrifteten Raum, den der Roman konstruiert und in dem er verschwindet, gibt es bei Conrad nicht. Er kann die Finsternis nicht von der Unberührtheit, das heart of darkness nicht von den blank spaces trennen: Weiß bleibt schwarz oder: Fair is foul and foul is fair: Hover through the fog and filthy air. (Conrad führt einen Band mit den Shakespeareschen Tragödien auf all seinen Reisen mit sich.) Conrad ist sich im Klaren darüber, dass er das Betreten der blank spaces nur in einer literarischen Figur, eine Ausgeburt der Lektüre von Reise- und Abenteuerromanen, darstellen kann: Er muss sich in den Bereich der Literarizität begeben, seine eigene Lektüre übersetzen. Diese Räume können dennoch nur als Leerstelle Eingang in die Handlung finden: als ein im Inneren eines Kontinents errichtetes extremes Außen. »I was on the threshold of great things«40, sagt Kurtz, doch diese Schwelle findet, wenn überhaupt, nur über Dritte – den Harlekin bspw. – Eingang in die Erzählung. Gleichzeitig ist klar, dass der ganze Text nichts anderes ist als diese Schwelle und dass hinter ihr der Abgrund eines ›unaussprechlichen‹ Grauens der Gewalt zu warten scheint. Der Text steuert damit auf sein eigenes Zentrum zu und stellt fest, dass es dort nichts zu geben scheint als eine gewalttätige Ausschließung – eine Lücke, eine Leerstelle. Seine Wörter scheinen das von der ersten Zeile an zu wissen und doch halten sie ebenso verbissen wie der Protagonist daran fest, über sich hinaus zu gelangen, ein Jenseits von Sprache zu erreichen. Vom Scheitern an dieser Aufgabe scheint die düstere, unheimliche Bedrohung auszugehen, von der die Schwellenräume dieses Textes gezeichnet sind. Und doch: fast scheint es so, als sei dieses Scheitern das eigentliche Ziel des Textes, als strebe der Text sein Ziel nur an, um es zu verfehlen, als sei genau dies das Mittel, seine Wörter dennoch in Schwellen zu verwandeln und so zumindest die Bewegung der Auslöschung der Grenzen, des Ineinanderfallens von ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ aufrecht zu erhalten. Dem Text gelingt es nicht, sein eigenes Begehren zu erfüllen: die Erwartung, die die blank spaces für das Kind bedeuteten. Gerade darin, in diesem Begehren, bleibt er verstrickt in das double bind der mimetischen Gewalt. Durch alle Ritzen dringt sie in den Text ein und droht die Trennungen und Differenzierungen aufzuheben, bis alles in Grau versinkt. Diesen Abgrund – so scheint es – versucht der Text zu übersetzen, indem er das Sehen, das Überschreiten der Sprache in der Sprache, als Rettung der Sprache vor sich selbst, vor der Gewalt inszeniert.

Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, übers. v. Arno Schmidt, Zürich (Haffmanns) 1994, S.266 40 Conrad: Heart of Darkness, S.106

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Conrad möchte mit seinen Worten ›sehend‹ machen, und ich glaube, es ist deutlich geworden, dass das, was er sehen lassen will, eben die Unsichtbarkeit dessen ist, was jeder sehen kann. Er will in der Schrift die Mündlichkeit, den Klang der Stimmen, der in Heart of Darkness zu der einen Stimme wird, hören lassen. Es bleiben geschriebene Worte. Wenn überhaupt, dann liegt in diesem mehrfachen Scheitern, dieser Enttäuschung so etwas wie die Öffnung dieses Textes. Denn indem Conrad sich diesem Scheitern ausliefert, verlängert er zwar die Zirkularität tendenziell ins Unendliche, verweigert aber ihren Vollzug, die Illusion ihres Abschlusses in einem Akt der Gewalt: die Auslöschung der Schwelle. In diesem Scheitern berührt der Text vielleicht das, was er selbst als blank space bezeichnet. Hier nimmt er die Unmöglichkeit der Übersetzung an und wird übersetzbar: an dem Punkt, an dem er verstummt, an dem er nichts mehr mitteilt. He was just a word for me. I did not see the man in the name any more than you do. Do you see him? Do you see the story? Do you see anything? It seems to me I am trying to tell you a dream – making a vain attempt, because no relation of a dream can convey the dream-sensation, that commingling of absurdity, surprise, and bewilderment in a tremor of struggling revolt, that notion of being captured by the incredible which is of the very essence of dreams...« He was silent for a while. ... »No, it is impossible; it is impossible to convey the life-sensation of any given epoch of one's existence – that which makes its truth, its meaning – its subtle and penetrating essence. It is impossible. We live, as we dream – alone...41

Geste des Übergangs Bettine Menke hat die Metaphorik der blank spaces – der weißen Flecken, wie es auch in der Übersetzung von Heart of Darkness heißt – als metatextuell und als mythopoetische Selbstthematisierung der Poesie

41 Conrad: Heart of Darkness, S.50 »Er war nur ein Wort für mich. Ich konnte den Mann im Namen nicht mehr sehen, als ihr es tut. Seht ihr ihn? Seht ihr irgendwas? Mir kommts so vor, als versuchte ich einen Traum zu erzählen – vergeblich, weil kein Bericht eines Traums das Traumgefühl vermitteln kann, jenen Mischmasch aus Absurdität, Überraschung und Bestürzung, wenn wir in hilfloser Empörung beben und zittern, jene Vorstellung, vom Unfaßbaren eingefangen worden zu sein, was ja tatsächlich das Wesen der Träume ist...‹ er schwieg eine Weile lang. ›... Nein, es ist unmöglich, das Lebensgefühl einer x-beliebigen Epoche unseres Daseins zu vermitteln – das, was ihre Wahrheit, ihren Sinn ausmacht – ihr zartes und durchdringendes Wesen. es ist unmöglich. Wir leben, wie wir träumen – allein...« Conrad: Herz der Finsternis, S.53

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bezeichnet.42 In einer Lektüre verschiedener ›Polarfahrten‹ in der Literatur untersucht sie, welche Bedeutung die Vorstellung einer exterritorialen Leere, die kein menschlicher Fuß je betreten hat, sowohl für die literarischen als auch die ›tatsächlichen‹ Polarfahrer hatte. Menke stellt dar, inwiefern diese Räume in der intertextuellen Bewegung hervorgebracht werden bzw. wie sie selbst diese hervorbringen. Der Nordpol als blank space ist dabei ein besonders extremes Beispiel, da es sich bei ihm um ein Phantasma, einen rein imaginären Ort handelt. Dabei galt er in der abendländischen Kultur zugleich am längsten als der spurlose, unbetretene Raum schlechthin. Dieses Phantasma einer blank space interpretiert Menke als den Punkt, an dem die Texte sich selbst begegnen, ihrer eigenen (Inter-)Textualität: in der Zitation, die sie als Geste des Übergangs bezeichnet. Damit ist jener Punkt gemeint, der die Unmöglichkeit der Übersetzung – unmöglich insofern, als es gerade das Unübersetzbare ist, das sie fordert – in den Texten figuriert. Dieses Paradox, das darin besteht, dass gerade die Reinheit eines singulären Ereignisses, der erste menschliche Fußabdruck auf einer vormals nie betretenen Fläche, die Wiederholung, die Nachträglichkeit, die Übersetzung figuriert, öffnet den Raum des Zwischen. Diese Rolle kommt dem Phantasma eines Territoriums zu, das keines ist, frei von jedweden Einschreibungen, Schraffuren oder sonstigen Vertiefungen seiner unberührten weißen Oberfläche, die phantasmagorisch gesteigerte Summe jenes Drittels der Seite, von der Mallarmé im Vorwort zu Un coup de dés spricht: »Les ›blancs‹ en effet, assument l’importance«.43 Die Vorstellung eines vom Schwarz der Schrift zu Löchern und Zwischenräumen zerteilten Weiß der papierenen Seite ist die extremste Vorstellung einer reinen, nichts benennenden, nichts aussagenden ›Sprache‹, die reine Materialität wäre. Wenn es dieses Weiß ist – und das legt Menke nahe –, auf das sich das Phantasma der blank spaces gerade in der intertextuellen Bewegung der vorletzten Jahrhundertwende bezieht, dann wird deutlich, warum sie immer zugleich bereits betreten und unbetreten sein müssen: Sie figurieren gleichzeitig ein Phantasma und eine Potentialität, die mit dem Betre-

42 Bettine Menke, Die Polargebiete der Bibliothek – Über eine metatextuelle Metapher, Vortrag, gehalten auf der Fachtagung Brüche-, Faltungen-, Sprünge: Topologien der (Jahrtausend-)Wende an der Universität Hannover, 6.1.8.1.2000 Eine überarbeitete – leider gerade um die »Geste des Übergangs« gekürzte – Fassung dieses Vortrags ist erschienen als: Dies.: Die Polargebiete der Bibliothek – Über eine metapoetische Metapher, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte – LXXIII. Band, 74.Jahrgang, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S.545-599 43 »Das ›Weiß‹ ist tatsächlich von Bedeutung [...]« Stéphane Mallarmé: Un coup de dés jamais n’abolira le hasard/Ein Würfelwurf niemals je auslöschen wird den Zufall, übers. v. Carl Fischer, in: Ders., Sämtliche Dichtungen, Zweisprachige Ausgabe, München: dtv 1995, S.221-265, hier: S.222/223

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ten selbst bzw. dem Akt des Schreibens einhergehen, von dem sie hervorgebracht werden und den sie gleichzeitig erst hervorbringen: Jeder Schreibakt hängt von der Illusion einer weißen, unbeschriebenen Fläche ab, der quasi ein Opfer, eine Ausschließung vorausgegangen ist und er ist nur möglich, weil etwas an dieser Fläche tatsächlich leer, unbeschrieben geblieben ist. Dieses letztere ist somit gerade das Gegenüber der phantasmatischen Leere: Es ist das Außen, die Ex-Territorialität, die sich im Inneren der Texte, in ihren Zwischenräumen, öffnet, wie Menke sagt.44 Dieses Weiß verheißt insofern auch die Un-Möglichkeit einer Sprache, die immer schon ›Schrift‹ ist, ohne jemals Zeichen zu werden, ein Zwischen im Stillstand oder ein ›Trans-‹ ohne ›Position‹. Insofern ›figuriert‹ es die Prozessualität der Textualisierung, die Materialität jenes immateriellen Nicht-Ortes der sprachlichen Differenz. Und die Unmöglichkeit, diesen jemals anders als in der radikalen Nichtrepräsentierbarkeit der Zwischenräume zu schreiben, wäre dann die Unmöglichkeit der Übersetzung (als dem Movens der Intertextualität). Die blank spaces in Heart of Darkness sind die Metaphern der Hoffnung und des Scheiterns des Textes. Das Scheitern ist sein einziger Weg, sichtbar zu machen »wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist«45 und es wird in diesem Text immer wieder hervorgebracht: als Scheitern an der Unmöglichkeit ›sehen‹ zu machen, an der Unmöglichkeit, sich zu verständigen, an der Unmöglichkeit, die blank spaces zu betreten. All diese Unmöglichkeiten sind in der einen enthalten, die unaufhebbar ist und sich dennoch immer wieder ereignen muss: die Unmöglichkeit der Übersetzung. Und es ist diese Unmöglichkeit, mit der der Text sich konfrontiert sieht, der er zu begegnen trachtet – jeder Text ereignet sich in dieser Begegnung – und die er immer wieder verfehlt.

Schwarz und Weiß Sowohl das Weiß als auch das Schwarz – Conrad übersetzt, und das ist nicht bedeutungslos, blank und darkness – sind in diesem Text immer auch Metaphern einer kolonialen und rassistischen Gewalt, eines Ausschlusses, der den Bezug zur erlösenden Gabe einer reinen Sprache auslöscht, also seine eigene Sprachlichkeit verleugnet. Das vom ›Schwarzen‹ gereinigte ›Weiß‹ hat also einen doppelten Boden: Hinter den Mallarméschen »blancs« erscheint die rassistische Einmütigkeit, die Gewalt des Ausschlusses. 44 Menke: Die Polargebiete der Bibliothek – Über eine metapoetische Metapher, S.591f. 45 Foucault, Das Denken des Außen, S.678

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Dass sich das Verhältnis von ›Schwarz‹ und ›Weiß‹, von Licht und Finsternis, in Heart of Darkness immer als gewaltsam erweist, gehört zu den Bedingungen seiner Entstehung. In der imperialen Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezeichnet es einen bis dahin beispiellosen Gewaltzusammenhang. So wie Toni Morrison das »Bibliotheksphänomen« der Poeschen Südpolarfahrt in Arthur Gordon Pym – vielleicht anders als Menke – durchaus als Teil der Genese eines spezifisch kolonialen und rassistischen Diskurses liest46, so ist es Conrad nicht möglich, von dieser Dimension des ›Weißen‹ und des ›Schwarzen‹ abzusehen. Im Gegenteil: Das, was Conrad im Kongo gesehen haben muss, hat es ihm unmöglich gemacht, in der Inkommensurabilität des Zwischen etwas anderes als die Heraufkunft einer alles verschlingenden Gewalt zu lesen. Dies ist die konkrete historische Form der »sozialen Energie«, die in Heart of Darkness zirkuliert und seine Möglichkeiten und Grenzen produziert. Aber der springende Punkt alles dessen, worüber Kurtz und Marlow sprechen, ist tatsächlich imperiale Herrschaft – von weißen Europäern über schwarze Afrikaner und ihr Elfenbein, der Zivilisation über den primitiven schwarzen Kontinent. Indem er die Diskrepanz zwischen der offiziellen »Idee« des Imperiums und der bemerkenswert desorientierenden Wirklichkeit Afrikas unterstreicht, verwirrt Marlow das Gefühl des Lesers nicht nur in bezug auf die Dinge selbst. Da Conrad zeigen kann, daß alle menschliche Tätigkeit von der Kontrolle einer instabilen Realität abhängt, der Worte nur durch Willen oder Konvention nahe kommen, zeigt er dasselbe auch für das Imperium und so fort. Bei Conrad bewegen wir uns in einer Welt, die mehr oder weniger fortwährend gemacht und zugleich rückgängig gemacht wird. Was stabil und sicher erscheint – beispielsweise der Polizist an der Ecke –, ist nur wenig sicherer als der weiße Mann im Dschungel und erfordert denselben fortgesetzten

46 »Kein anderer früher amerikanischer Schriftsteller ist so wichtig für den Begriff des amerikanischen Afrikanismus wie Poe. Und kein Bild ist so vielsagend wie das soeben beschriebene: die sichtbar gemachte, aber irgendwie in sich geschlossene und unerkennbare weiße Gestalt, die am Ende der Reise aus den Nebeln aufsteigt – oder jedenfalls am Ende der eigentlichen Erzählung. Die Bilder des weißen Vorhangs und der ‚verhüllten, menschlichen Gestalt ›mit einer Hautfarbe, die dem vollkommenen Weiß des Schnees‹ gleicht, erscheinen erst nach der Begegnung mit der Schwärze. Das erste weiße Bild scheint mit dem Ende und der Auslöschung der dienstbaren und dienenden schwarzen Gestalt, Nu-Nu, in Zusammenhang zu stehen. Beide sind Darstellungen eines undurchdringlichen Weiß, die in der amerikanischen Literatur immer dann auftauchen, wenn eine afrikanische Präsenz im Spiel ist. Diese in sich geschlossenen weißen Bilder finden sich häufig, wenn auch nicht immer am Ende der Geschichte.« Toni Morrison: Im Dunkeln spielen – Weiße Kultur und literarische Imagination, übers. v. Barbara von Bechtolsheim und Helga Pfetsch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S.57ff.

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BLANK SPACES (aber widerruflichen) Triumph über eine alles durchdringende Dunkelheit, die sich gegen Ende der Erzählung als dieselbe für London und Afrika erweist.47

Ohne allzu historistisch argumentieren zu wollen, lässt sich wohl sagen, dass im Zeitalter des Imperialismus, in einem Text, der sich letztlich innerhalb der davon bestimmten Koordinaten bewegt, sich die Eigendynamik des imperialistischen Diskurses, des von ihm hervorgebrachten Sichtbaren, nur als Scheitern inszenieren lässt. Es gelingt Conrad, dieses Scheitern in einem literarischen Text als Scheitern an der Unmöglichkeit der Übersetzung zu lesen, als Zerstörung jeder Möglichkeit einer ›reinen‹, sich den Gewaltverhältnissen entziehenden Sprache dieses Zwischen. Das ist eine andere Unmöglichkeit der Übersetzung: Es ist das Ende der Übersetzung und der Anfang der Gewalt. Dass diese Erfahrung sowohl mit Conrads persönlichen Traumen und Schreibimpulsen als auch mit seinen Erlebnissen im Kongo korrespondiert, ist vielleicht der Grund für die eindrucksvolle Dichte und Wirkungsmacht dieses Textes.

47 Said: Kultur und Imperialismus, S.68 Die bekannteste, geradezu paradigmatische Äußerung in diesem Zusammenhang stammt von Chinua Achebe: »Der wesentliche Punkt meiner Beobachtungen dürfte nunmehr ziemlich klar sein, nämlich, daß Conrad durch und durch Rassist war. Daß diese einfache Wahrheit bei der Kritik seines Werkes übertüncht wird, liegt an der Tatsache, daß der weiße Rassismus gegen Afrika eine derart normale Denkweise ist, daß seine Manifestationen gänzlich unbemerkt bleiben.« Chinua Achebe: Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads »Herz der Finsternis«, übers. v. Thomas Brückner und Wulf Teichmann, Berlin: Alexander Verlag 2000, S.25. Wobei ich diesem Diktum Chinua Achebes nur z.T. (nämlich seiner Formulierung: »durch und durch«, Conrad hatte – durch und durch – Angst) widersprechen möchte.

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2. »U R -S P R I N G E N «

»Are you an alienist?« I interrupted. »Every doctor should be – a little,« answered the original, imperturbably.1

Psychoanalyse und Übersetzung Wenn ein erstes »zu Übersetzendes« den ganzen Sinn gleichsam im Keime enthalten würde, wäre es ein Passepartout, das zu entdecken wäre, ein Schlüssel zu jeder Tür. Wenn aber umgekehrt ein erstes »Zu-Übersetzendes« die Stumpfheit des Faktum brutum besäße, wäre es für jeden Sinn und alle Bedeutungen offen, und infolgedessen wäre die Sinngebung rein arbiträr. Wenn ein erstes »Zu-Übersetzendes« eine sich selbst unbekannte Botschaft ist, die vom Anderen kommt und von ihm implantiert wurde, dann bringt es in ursprünglicher Weise die Bewegung der Übersetzung/Entübersetzung, die der menschlichen Zeitlichkeit, in Gang.2

Dies ist die Fassung, die der französische Psychoanalytiker Jean Laplanche dem Problem der Übersetzung in der Psychoanalyse gibt. Man kann sicherlich genauso gut sagen, es handele sich dabei um die Fassung, die er der Psychoanalyse gibt, denn das Problem der Übersetzung bzw. die Unmöglichkeit der Übersetzung ist der konstituierende Gegenstand der Psychoanalyse. Ein Problem, das sich immer in einer doppelten Fragestellung darstellt: wie übersetzen? aber gleichzeitig auch: was übersetzen? Die Entwicklung der Psychoanalyse von der Hypnosetechnik hin zur freien Assoziation und zur Traumdeutung ist der Versuch einer Antwort auf das wie. Die eigentliche Tragweite des psychoanalytischen Unternehmens liegt vor allem darin, dass in diesem wie das was sich erst konstituieren musste, es in der Übersetzungsbewegung erst entstand.

1 2

Joseph Conrad: Heart of Darkness, edited with an Introduction and Notes by Robert Hampson, Penguin Books 1995, S.27 Jean Laplanche: Die Zeit und der Andere, in: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, übers. v. Udo Hock, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S.114-141, hier: S.137f.

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Darin liegt natürlich eine Schwierigkeit: Wie kann man eine Wissenschaft als Übersetzung etablieren, wenn das, was übersetzt werden soll, ihr eigentlicher Gegenstand, die eigentliche Unbekannte ist. Freud hat in einem recht frühen Brief an Fließ geschrieben, bei der Verdrängung handele es sich um eine »Versagung der Übersetzung«.3 Diese Versagung bildet gewissermaßen ihr Zentrum, von hier aus nimmt das psychoanalytische Unternehmen seinen Ausgang. Das heißt, von einem Komplex aus, der weder diesseits noch jenseits der Übersetzung liegt, sondern ihrer Bewegung, hier: ihrer Nicht-Bewegung, selbst angehört. Ohne allzusehr zu übertreiben ließe sich die Intervention der Psychoanalyse als Entdeckung sowohl der Notwendigkeit der Übersetzung als auch ihrer Unmöglichkeit in der psychischen Konstitution des Menschen bezeichnen. Diese Entdeckung eines – wie Laplanche sagt – »Zu-Übersetzenden«, einer das Ich bewohnenden Fremdheit, die der Psychoanalyse im Prozess ihrer Übersetzungen gelang, stattete sie mit jenem unsicheren Gegenstand aus, der ihren wissenschaftlichen Status begründete und in Frage stellte. Damit wurde aber zugleich die Instanz in Frage gestellt, die die einzig zugänglichen Texte lieferte, ebenjene Texte, die als die Übersetzungen des »Zu-Übersetzenden« angenommen wurden: das Ich bzw. das Bewusstsein. Freuds Aufgabe der Hypnosetechnik lässt sich allerdings als Anerkennung der Notwendigkeit interpretieren, diese Texte zu nutzen: der Versuch ihrer Umgehung in der Hypnose, also das direkte Eintauchen in einen halluzinativen Zwischen-Raum, der sich vielleicht gerade dadurch auszeichnet, dass in ihm die Übersetzung stillgestellt ist, hatte sich als Sackgasse erwiesen. Es gibt anscheinend keine Möglichkeit, an dem, was Freud als Versagung bezeichnet hat, vorbei, zu einem 3

»Ich will hervorheben, daß die aufeinanderfolgenden Niederschriften die psychische Leistung von sukzessiven Lebensepochen darstellen. An der Grenze von zwei solchen Epochen muß die Übersetzung des psychischen Materials erfolgen. Die Eigentümlichkeiten der Psychoneurosen erkläre ich mir dadurch, daß diese Übersetzung für gewisse Materien nicht erfolgreich ist, was gewisse Konsequenzen hat. Wir halten ja an der Tendenz zur quantitativen Ausgleichung fest. Jede spätere Überschrift hemmt die frühere und leitet den Erregunsvorgang von ihr ab. Wo die spätere Überschrift fehlt, wird die Erregung nach den psychologischen Gesetzen erledigt, die für die frühere psychische Periode galten, und auf den Wegen, die damals zu Gebote standen. Es bleibt so ein Anachronismus bestehen, in einer gewissen Provinz gelten noch ›Fueros‹; es kommen ›Überlebsel‹ zustande. Die Versagung der Übersetzung, das ist das, was klinisch ›Verdrängung‹ heißt. Motiv derselben ist stets eine Unlustbindung, die durch Übersetzung entstehen würde, als ob diese Unlust eine Denkstörung hervorriefe, die die Übersetzungsarbeit nicht gestattet.« Sigmund Freud: Brief an Wilhelm Fließ vom 6.12.1896, in: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a.M.: Fischer 1986, S.218f.

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unverstellten oder unentstellten Text zu gelangen, in dem sich die Geheimnisse der menschlichen Psyche offenbaren. Insofern ist diese Versagung der Übersetzung und das Verständnis von ihr tatsächlich ein zentraler Begriff psychoanalytischer Praxis und Theorie, an dem die verschiedenen Wege ihrer Schulen sich trennen.4 Freuds Formulierung von der »Versagung der Übersetzung« verweist erst einmal darauf, dass die der psychoanalytischen Praxis zugänglichen Texte zwar »Übersetzungen« eines wie auch immer gearteten »Zu-Übersetzenden« darstellen, aber eben auch misslungene, unvollständige, auf dem Weg befindliche NichtÜbersetzungen sind. Mir geht es darum, sie – mit Laplanche – in eben diesen Zusammenhang zu stellen, sie von der Übersetzung, ihrer Bewegung her zu denken. Eine Bewegung, die zwischen zwei zugleich völlig heterogenen und doch aufeinander verwiesenen Bereichen stattfindet. Deshalb scheint die Versagung/Verdrängung Grundlage dieser Bewegung zu sein: Sie scheint relativ präzise die Art einer Verbindung wiederzugeben, die sich selbst negiert. Laplanche bestimmt die Grundkoordinaten dieser Beziehung, dieses Raums oder dieser Bewegung als Gleichzeitigkeit von Alterität und Botschaft des »Zu-Übersetzenden«, eines Fremden, ja eines Außen, das das Innen des Subjekts bildet, das beständig die Notwendigkeit seiner Übersetzung einfordert und sich ihr gleichzeitig verschließt. Alterität und Botschaft sind, so könnte man sagen, nur andere Namen für Unmöglichkeit und Notwendigkeit der Übersetzung, für die Laplanche eine (vielleicht etwas eindimensionale) psychoanalytische Erklärung vorschlägt. Er konstruiert diese Gleichzeitigkeit als Ergebnis der asymmetrischen intersubjektiven Beziehungen in der Welt des Kindes. Aufgrund seiner Entwicklung ist das Kind – so Laplanche – nicht in der Lage, die sexuellen Signale der es umgebenden Erwachsenen zu deuten. Sie können sich nur als unentschlüsselbar in seiner Psyche einlagern, ausgestattet mit dem beständigen Bedürfnis entschlüsselt, gedeutet, gehört zu werden. Es ist jedoch unmöglich, die diesen Botschaften zugrundeliegende Asymmetrie eines gescheiterten Übersetzungsverhältnisses jemals aufzuheben, sie bleibt als Botschaft des Anderen (eines anderen Unbewussten) notwendig unübersetzbar.5 Das »Zu-Übersetzende« ist somit selbst Produkt einer gescheiterten »Übersetzung«.6 4

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Verdrängung, die Übersetzung der Nicht-Übersetzung, die Freud selbst vorschlägt und fortan benutzt, ist dabei noch widersprüchlicher, da sie – klarer noch – darauf abzuheben scheint, die psychoanalytische Kur sei in der Lage, sie rückgängig zu machen, was letztlich hieße, das Bewusstsein zu einer vollständigen, restlosen Übersetzung des Zu-Übersetzenden zu befähigen oder zumindest darin die ideale Finalität der Kur anzunehmen. »Dem Kind sind in der Kommunikation mit der Welt der Erwachsenen grundlegende Rätsel aufgegeben (Laplanche spricht in diesem Sinne von rätselhaften Signifikanten), die es versucht zu theoretisieren. Die von den Erwachse-

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Laplanche versucht diesen Prozessen folgerichtig in einem Rückgriff auf Benjamins Übersetzer-Aufsatz näher zu kommen. Im Anschluss daran schlägt er vor, das Verfahren der Psychoanalyse als Ent- und Wiederübersetzung zu verstehen.7 In den Wörtern scheint bei Benjamin (wie ich oben versucht habe darzustellen) der Bezug der Sprache auf ihre Voraussetzung, ihr Anderes auf – der Bezug auf das, was er die reine Sprache nennt. Laplanches Entübersetzung weist in eine ähnliche Richtung: Es geht ihm um das Aufbrechen psychischer Fixierungen, Stillstellungen der psychischen Prozessualität, um so in den Texten, die uns das Bewusstsein zur Verfügung stellt, bestimmte Versagungen, die in deren Syntax eingelagert sind, bearbeiten zu können (nicht: sie aufzuheben) und zu einer neuen, reicheren »Wiederübersetzung« zu kommen. Keine

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nen an das Kind herangetragenen Rätsel, die auch für sie selbst undurchschaut sind, stellen in sich schon eine Verführung dar. [...] Der Prozeß der Übersetzung der ›rätselhaften Signifikanten‹ ist prinzipiell unabschließbar (bzw. nur durch den Tod abzuschließen), zu bestimmten Zeiten müssen die Rätsel neu bearbeitet und umgeschrieben werden. Bei jeder dieser ›Umschriften‹ (erinnert sei erneut an den Brief Feuds an Fließ vom 6. Dezember 1896) entsteht ein nicht integrierbarer Rest, der zur Verdrängung führt. Ohne diesen Rest ist die Notwendigkeit einer immer wieder anstehenden Umschrift nicht erklärbar.« Wolfgang Hegener: Die Ur-Verführung und das verlorene Objekt – Zum Modell der Einschreibung in der Theorie Freuds, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 56. Jahrgang, Heft 8 Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S.721-755, hier: S.750 Die Analogie dieser asymmetrischen Intersubjektivität, dieser notwendig scheiternden Kommunikation, die keiner der an ihr beteiligten zu kontrollieren in der Lage ist, zur Bewegung der Intertextualität, ist offensichtlich. Vielleicht ist es mehr als eine Analogie und vielleicht wirft sie auch ein Licht auf die Intertextualität, indem sie den anderen Schauplatz thematisiert, an dem sich die Subjekte/Texte begegnen bzw. diese Begegnung sich ereignet. Dies ist der Schauplatz der Performanz und der Übersetzung; es ist diese Begegnung, aus der die Subjekte und die Texte oder eher: die Subjekte als Texte hervorgehen, und die sie zugleich unsichtbar machen müssen, bzw. deren Übernahme ins Bewusstsein versagt bleiben muss, damit sie sich als Subjekte/Texte konstituieren können. Die allgemeine Verführungstheorie Laplanches ist insofern exemplarisch, da diese Asymmetrie, die Laplanche aus den Freudschen Annahmen über die Entwicklung der kindlichen Sexualität herleitet, keineswegs mit einem bestimmten ‚Reifungsgrad‹ aufgehoben werden kann: Intersubjektivität erscheint mir insgesamt als ein grundlegend asymmetrisches Verhältnis, da sie sich nicht nur auf ein doppeltes Nichtverstehen gründet, das der Verdrängung geschuldet ist, sondern sich in ihr ein in diesen Textualisierungen oder »Subjektivationen« (So Judith Butler im Anschluss an Michel Foucault in: Judith Butler: Psyche der Macht – Das Subjekt der Unterwerfung, übers. v. Reiner Ansén, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001) Ausgeschlossenes artikuliert, dass keine Symmetrie je einzuholen in der Lage wäre. Viel eher ist die Vorstellung einer symmetrischen Intersubjektivität als Kommunikation gewissermaßen Produkt dieser Ausschließungen. Was sich in der Intersubjektivität – als Zwischen den/r Subjektivität(en) – ereignet, ist die Begegnung dieser sich einander durchkreuzenden radikalen Heterogenitäten – und der Name dieser Begegnung ist Übersetzung. Jean Laplanche: Die Mauer und die Arkade, in: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, S.45-65

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dieser Übersetzungen ist aber jemals in der Lage, die vollständige »Botschaft« des Zu-Übersetzenden zu entschlüsseln, ihre Aufgabe scheint eher darin zu bestehen, die Übersetzung in Bewegung zu halten, die Verbindung zum Zu-Übersetzenden aufrechtzuerhalten. Ent-Übersetzung würde demnach bedeuten, dem Drängen nach Beendigung der Übersetzung, nach ihrer Ankunft in der Syntax des Bewusstseins Widerstand zu leisten, eben sowohl ihrer Notwendigkeit als auch ihrer Unmöglichkeit stattzugeben. Es ist unmöglich, das Zu-Übersetzende zu übersetzen und es ist notwendig, es als beständige Aufgabe anzunehmen. Dies ist vielleicht wichtiger als die tatsächliche Qualität der in der Therapie angebotenen Wiederübersetzungen. Wie bei Benjamin wäre es demnach eher eine bestimmte Bewegung, eine Erwartung, die die Entübersetzung in Gang setzt und die – so Laplanche – der Zeitlichkeit der menschlichen Psyche entsprechen würde. Diese Zeitlichkeit – so Laplanche – kann nichts anderes sein als die bereits von Freud entwickelte Vorstellung vom Ablauf der psychischen Zeit: die Nachträglichkeit. Und darin liegt die eigentliche These Laplanches: dass die Nachträglichkeit das ist, was der Bewegung der Übersetzung, ihrer Zeitlichkeit, im Psychischen Rechnung trägt (bzw. das eigentlich spezifische des Psychischen ausmacht). Beide – sowohl Nachträglichkeit als auch Übersetzung – bezeichnen das Verhältnis von Differenz und Wiederholung, von dem Bettine Menke in ihrer Lektüre der ›weißen Flecken‹ spricht. Das Paradox, dass es sich bei dem, was zum ersten Mal geschieht, um eine Wiederholung von etwas handelt, das nicht wiederholt werden kann (sich aber in der Wiederholung dieser Unmöglichkeit ereignet).

Freud und Conrad In Heart of Darkness versuchen die blank spaces diese unmöglichen Orte oder Potentialitäten zu bezeichnen, die ich mit Laplanche vorläufig das Zu-Übersetzende nennen möchte. Sie figurieren die Nachträglichkeit als Zeitlichkeit der Übersetzung, indem sie die Leere bereitstellen in der die Wiederholung als erstmaliges Ereignis stattfinden kann. D.h., sie sind gleichzeitig das Phantasma, das von der Wiederholung als ihr vorhergehend erst produziert wird (hier natürlich: die Leere), und die Leerstelle, die die Unmöglichkeit der Wiederholung im Text ›repräsentiert‹. Die blank spaces sind sozusagen doppelt ›blank‹, ihre Leere figuriert die notwendige Lücke des Ausgeschlossenen, Verworfenen, notwendig Unübersetzbaren – das, was ›weiß‹ bleiben wird – und sie gibt sich gleichzeitig als imaginärer Ursprung der Erzählung aus. Diese Doppelheit wird

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in der Erzählung in blank space und heart of darkness gespalten, jedoch nicht nach dieser von mir rekonstruierten Trennlinie (imaginärer Ursprung – Lücke des Ausgeschlossenen, des Unübersetzbaren), diese geht vielmehr mitten durch beide Figurationen hindurch. Die Verdopplungen durchkreuzen sich also gegenseitig, d.h., sie bilden Chiasmen, in denen die Reihen der Verdopplungen kollidieren, die aber gleichsam unterhalb der inhaltlichen Oberfläche des Textes zu wuchern beginnen. Es sind diese Chiasmen, in die alle Wörter der Erzählung verstrickt sind und die ihre Verortungen unterlaufen. Diese sich gegenseitig durchkreuzenden Verdopplungsreihen korrespondieren mit der von mir im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Zirkularität des Scheiterns. Die Wörter der Erzählung kehren in ihrem aussichtslosen Unterfangen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, das Unübersetzbare zu übersetzen, die blank spaces zu betreten als Fremde – als Schatten, als unheimliche Doppelgänger – zu sich selbst zurück. Als wäre der Fluss, der in der Erzählung befahren wird und der gleichzeitig der Fluss seiner Sprache ist, so etwas wie ein Tal der Dämmerung (Ende), von dessen Ufern nur die Wörter widerhallen, die man hineingerufen hat. Ein Echo, das die Wörter bis zur Unkenntlichkeit verformt und vervielfacht, bis es zu einem ohrenbetäubenden Murmeln wird. But suddenly, as we struggled round a bend, there would be a glimpse of rush walls, of peaked grass-roofs, a burst of yells, a whirl of black limbs, a mass of hands clapping, of feet stamping, of bodies swaying, of eyes rolling, under the droop of heavy and motionless foliage. The steamer toiled along slowly on the edge of a black and incomprehensible frenzy. The prehistoric man was cursing us, praying to us, welcoming us – who could tell? We were cut off from the comprehension of our surroundings; we glided past like phantoms, wondering and secretly appalled, as sane men would be before an enthusiastic outbreak in a madhouse. We could not understand because we were too far and could not remember because we were travelling in the night of first ages, of those ages that are gone, leaving hardly a sign – and no memories.8 8

Conrad: Heart of Darkness, S.62 »Aber jäh, wenn wir uns um eine Biegung kämpften: Schilfzäune, spitze Grasdächer, ein Geschrei plötzlich, ein Wirrwarr aus schwarzen Beinen, klatschende Hände überall, stampfende Füße, sich wiegende Körper, rollende Augen hinter schwerem bewegungslosem Blattgrün. Der Dampfer keuchte langsam den Rand eines schwarzen und unverständlichen Wahnsinns entlang. Der prähistorische Mensch verfluchte uns, betete uns an, hieß uns willkommen – wer konnte es sagen? Wir waren vom Verständnis unserer Umgebung abgeschnitten; schwebten wie Gespenster vorbei, staunend und insgeheim entsetzt, so wie das gesunde Menschen angesichts einer begeisterungsglühenden Revolte in einem Irrenhaus wären. Wir konnten nichts verstehen, weil wir zu weit weg waren, und wir konnten uns an nichts erinnern, weil wir in der Nacht der Urzeiten fuhren, jener Zeiten, die vergangen sind, fast ohne

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Präziser ließe sich die Wiederholung als Einbruch des Unbekannten kaum beschreiben als in dieser Verbindung von unüberwindlicher Fremdheit und eigener Vergangenheit, die vergangen ist fast ohne ein Zeichen, eine Spur zu hinterlassen und keinerlei Erinnerung. Wie das imperturbable monotone in Lord Jim, das den Worten gleichsam den Boden entzieht, erscheint die Bewegung des Textes auch hier als eine Art »Entübersetzung«, die – auf Umwegen – das Ich dem Unheimlichen einer Wiederholung ausliefert, die es mit seinem eigenen Unbekannten konfrontiert. In Heart of Darkness geschieht das allerdings auf eine etwas andere Weise als in der oben zitierten Passage aus Lord Jim. Es ist – zumindest in dem vorhergehenden Zitat – eine bestimmte, sexualisierte Körperlichkeit, der diese Rolle des unbekannten Bekannten zugeschrieben wird. Sie erscheint in klassisch psychoanalytischer Gestalt als Wiederkehr des Verdrängten, die ihre das Ich überflutende Wucht gerade aus der Dynamik der Verdrängung bezieht. Die Schwellenräume in Heart of Darkness scheinen allesamt von dieser verdrängten ›Sexualität‹ hervorgebracht, denen gegenüber der Text sich nur behaupten kann, indem er die so mobilisierten Energien in den Dienst seiner Dramaturgie nimmt. Der Erzähler meint in diesem unverständlichen Wahnsinn einer dräuenden, ständig hervorzubrechen drohenden sexualisierten Körperlichkeit seine eigene Vergangenheit, seine eigene Herkunft, die Nacht der ersten Zeiten zu erkennen. Eine Vergangenheit also, die in genau dem Sinne unheimlich geworden ist, in dem Freud dieses Wort verstanden hat: »[...] dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«9. Freud hat seinen Aufsatz über Das Unheimliche mit einer etymologischen Untersuchung eingeleitet. So versucht er die von der Psychoanalyse herausgearbeitete Ambivalenz in den Äußerungen des Psychischen in den Wörtern selbst nachzuweisen. Die Verdrängung, die unsere eigentliche Verbindung zu sein scheint zu der »ursprünglichen Botschaft«, die wir ständig zu übersetzen streben, scheint der eigentliche Hüter im Haus der Sprache zu sein. Freuds Ambivalenz referiert auf diese Unbestimmtheit in den Worten: dass sie Ergebnis einer Ver-Sagung sind und somit immer noch etwas anderes sagen, es etwas anders sagen als sie es zu tun scheinen. Bei Freud mündet das in der Vorstellung, dass im Unbewussten die Kategorien von Bejahung und Verneinung außer Kraft gesetzt

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eine Spur zu hinterlassen – eine Erinnerung gar.« Conrad: Herz der Finsternis, S.70 Sigmund Freud: Das Unheimliche, in: Ders., Gesammelte Werke, Band XII, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.229-268, hier: S.254

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sind, und er ist hocherfreut, diesen Befund in der Entwicklung der Sprache bestätigt zu sehen. Diese grundlegende Doppeldeutigkeit der Urworte, die der Sprachforscher K. Abel nachweisen zu können meinte, verweist darauf, dass die Sprache selbst Ort dieser Aufhebung der Urteilskraft, dieses hin und her der Bedeutung ist und – so vermutet Freud – der Sprache des Traumes viel näher steht, als es den Anschein hat.10 Es scheint beinahe, als ob die Wörter, die doch scheinbar der Unterscheidung dienen, eher Ununterscheidbarkeit in die Sprache einführen, eine Ununterscheidbarkeit, die den Differenzierungen der Grammatikalität und des Kontextes vorausgeht. Vielleicht könnte man sagen, die Entdeckung Freuds wäre gerade dies: Die Urworte, also die Worte, die am Anfang stehen, aus denen sich alles ergibt und die zu übersetzen die eigentliche Aufgabe der Sprachen ist, sind – Worte. Die grundlegende Unmöglichkeit der Übersetzung wird von Freud in einer Versagung rekonstruiert, die unaufhebbar ist und die die Verdrängung in Gang setzt: die Urverdrängung, die, wie Freud es in seinen Metapsychologischen Schriften formuliert, »darin besteht, dass der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußtsein versagt wird«.11 Alles beginnt mit einer Versagung der Übersetzung und das bedeutet, dass vor allem eines beginnt: die Übersetzung. Sie ist von nun an sowohl unumgänglich als auch unmöglich, gerade weil dieses erste Zu-Übersetzende sich ihr vollkommen entzogen hat: Die Urverdrängung als Ur-Versagung der Übersetzung fixiert eine unüberschreitbare Grenze, die die Bewegung veranlaßt. Freud nennt diese (Nicht-)Bewegung folgerichtig die sekundäre eigentliche Verdrängung. Die ganze Dynamik der Verdrängung entspringt folglich diesem Einschnitt, dieser unhintergehbaren Grenze: Sie ist die Wasserscheide, die zugleich die Übersetzung in Gang setzt und jeden von ihr hervorgebrachten Text unwiderruflich von seinem Ursprung trennt – sie ist die Bewegung des Sich-entziehens, der Ursprung des Sich-entziehens, der Ursprung als Ur-Entzug oder Ur-Versagung. An dieser Ur-Versagung arbeitet der Text von Heart of Darkness. Aber: Liegt nicht seine Besessenheit, das Unsichtbare sichtbar und das Sichtbare unsichtbar zu machen in dem Verlangen begründet, diesen abgeschlossenen Raum zu öffnen, diese erste Versagung aufzuheben, zu überschreiten, zu übersetzen, dem Text die Fülle magischer Suggestionskraft zu verleihen, ihn zum Herrn über seine Wörter zu machen?

10 Sigmund Freud: Über den Gegensinn der Urworte, in: Ders., Gesammelte Werke, Band VIII, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.212-221 11 Sigmund Freud: Die Verdrängung, in: Ders., Gesammelte Werke, Band X, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.247-261, hier: S.250

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Diese Wörter kreisen um etwas, das leer erscheinen muss, denn die ›Leere‹ ist der Anstoß, der die Bewegung erst veranlasst. Die Wörter selbst sind allerdings zuallererst nichts anderes als diese ›Leere‹. Man hat sowohl bei Conrad als auch bei Freud das Gefühl, dass ihre Texte diesen Zusammenhang ständig hervorbringen und zugleich leugnen. Der sexualisierte Körper, den sie als Inhalt des Verdrängten konstruieren, setzt sich so an die Stelle der Leere, gibt vor sie auszufüllen: Er supplementiert sich der Urverdrängung und ersetzt sie durch die ödipalen Phantasmen der Ökonomie der Ordnung der Geschlechter: den Dualismus von Allmacht und Mangel. Renate Schlesier hat in ihrem Buch über Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud angedeutet, inwiefern Freuds Konzept des Autoerotismus und seine »Kontamination« durch den primären Narzissmus, also der Vorstellung kindlicher Allmacht, genau dies bewerkstelligt: die komplexe Ununterscheidbarkeitszone zwischen Mutter und Kind als präödipale Einheit auszugeben, die nach dem Einschnitt des Ödipus verlangt, der die auf der Geschlechterordnung basierende Objektwahl organisiert.12 Gleichzeitig ist diese narzisstische Kontamination

12 Renate Schlesier: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud: zum Problem von Entmythologisierung und Remythologisierung in der psychoanalytischen Theorie, Frankfurt a.M.: Athenäum 1990 Es handelt sich hier natürlich um meine Lesart des Problems, die mir allerdings erst durch die Lektüre dieser Arbeit, die einige grundlegende Fragen an Freuds Texte stellt, möglich geworden ist. »Freud neigte mehr und mehr dazu, im Bündnis mit den infantilen Halluzinationen sämtliche prägenitalen Sexualäußerungen, einschließlich der des Säuglings an der Mutterbrust und endlich auch die Genitalität des Kindes als autoerotische zu kennzeichnen. Nach Einführung des »Narzißmus« fiel ihm der »narzißtische Urzustand« zunehmend mit der autoerotischen Befriedigungsmöglichkeit zusammen. Die von ihm postulierte »Uranfänglichkeit« der autoerotischen Triebe wurde ihm zum Ausdruck eines primären, die Kinderzeit regierenden Narzißmus, obwohl er die Vermutung aussprach, dass »irgendetwas zum Auterotismus hinzukommen (muß), eine neue psychische Aktion, um den Narzißmus zu gestalten«. Freuds Schwanken zwischen der Kontamination von Autoerotismus und Narzißmus und deren Differenzierung ist ein Symptom der von ihm beschriebenen »Gefahr«, in die der »Begriff der Libido« durch die Einführung des Narzißmus geriet.« Schlesier: Mythos und Weiblichkeit, S.108 Es ist geradezu atemberaubend, wie Freud innerhalb von wenigen Seiten in Zur Einführung des Narzißmus von der Erwähnung der Mutter zu ihrer narzisstischen Ausschließung kommt. So heißt es zu Beginn noch: »Die ersten autoerotischen sexuellen Befriedigungen werden im Anschluß an lebenswichtige, der Selbstehrhaltung dienende Funktionen erlebt. Die Sexualtriebe lehnen sich zunächst an die Befriedigung der Ichtriebe an, machen sich erst später von letzteren selbständig; die Anlehnung zeigt sich aber noch darin, daß die Personen, welche mit der Ernährung, Pflege, dem Schutz des Kindes zu tun haben, zu den ersten Sexualobjekten werden, also zunächst die Mutter oder ihr Ersatz.« Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzissmus, in: Ders., Gesammelte Werke Band X, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.137-170, hier: S.153 Schon hier ist eine Kurzschließung von Sexualobjekt und dem vorursprünglichen Aufeinanderverwiesensein zwischen Mutter und Kind mehr als deutlich, mit der Einführung des Narzissmus wird dies jedoch auf eine Weise radikali-

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natürlich genau der dunkle Ort, an dem sich die Psychoanalyse mit ihrem anderen konfrontiert sieht. Er hinterlässt ›unheimliche‹ Spuren in ihren Texten; er ist insofern, wie Laplanche/Pontalis im Vorwort zu ihrem eigenen Text dazu schreiben, »ein Anzeichen für ein Rätsel und nicht dessen Lösung«.13

Autoerotismus J. Laplanche und J.-B. Pontalis haben in ihrem kleinen Buch über den Begriff der Urphantasien nachgezeichnet, dass man bei Freud, geleitet gerade von diesen Spuren, von einer gemeinsamen Entstehung von Sexualität und Phantasie im Autoerotismus sprechen kann, den sie nicht als Zeitspanne, sondern eher als eine Dimension der psychischen Konstitution verstanden wissen wollen. Diese ›autoerotische‹ Dimension der Psyche ist sozusagen deren Ursprungskoordinate. Sie bezeichnet den Punkt, an dem Sexualität und Phantasie als eigentliche psychische Dynamiken in Erscheinung treten. D.h., der Autoerotismus gibt sich zwar als Ursprung, er schließt tatsächlich aber an die ununterscheidbaren Beziehungen, die sich zwischen Mutter und Kind ereignen, in denen weder Subjekt und Objekt noch die verschiedenen körperlichen Befriedigungen eindeutig voneinander getrennt sind, an. Laplanche/Pontalis schreiben zwar von einer Primärbeziehung zum Objekt, also der Mutter, das dann im Autoerotismus auf den eigenen Körper zurückgezogen wird, sie ma-

siert, die einer Verwerfung gleichkommt. Während nur der Mann zur Objektwahl nach dem Anlehnungstypus fähig ist, versinkt die Frau völlig im narzisstischen Universum und das führt folgerichtig zu Freuds Schlussfolgerung: »Die rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes als der wiedergeborene Narzissmus der Eltern, der in seiner Umwandlung zur Objektliebe sein einstiges Wesen unverkennbar offenbart.« ( Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzissmus, S.158) Wobei das Wort »wiedergeborene« als Markierung der Verdrängung erscheint, da die Frau– zumindest was ihre Objektwahl angeht – ohnehin nie aufgetaucht zu sein scheint aus den narzisstischen Spiegelungen. Das Freud hier plötzlich von Elternliebe statt von Mutterschaft spricht, unterstreicht dies meines Erachtens. Das hier entwickelte Modell der Geschlechterordnung steckt voller Widersprüche und ist wohl gerade in diesen Widersprüchen am überzeugendsten: die Möglichkeit der Objektwahl nach dem Anlehnungstypus beim Mann hat – und das klingt bei Freud zwischen den Zeilen an – wohl etwas zu tun mit dem ersten Objekt des Begehrens, der Mutter. In dieser Beziehung scheint sich – letztlich unabhängig von Geschlechtszugehörigkeiten – etwas zu ereignen, dass im narzisstischen Universum nicht aufgeht, da es ihm vorausgeht und etwas ermöglicht, was mit Objektwahl nach dem Anlehnungstypus höchst unzureichend beschrieben wird. 13 J. Laplanche und J.B. Pontalis, Urphantasie – Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie, übers. v. Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.9

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chen aber meines Erachtens deutlich, dass die Subjekt/Objekt-Trennung erst in der phantasmatischen autoerotischen Dimension des Psychischen entsteht. Die primären Beziehungen zwischen Mutter und Kind sind insofern nicht objekthaft, sondern von einer vorursprünglichen Ununterscheidbarkeit, bzw. eine unmittelbare Aufeinanderverwiesenheit geprägt, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Wichtig erscheint mir, dass diese Beziehungen – und darauf kommt es Laplanche/Pontalis an – der spezifischen autoerotischen Konstellation vorausgehen, der Autoerotismus sie gleichsam auszuschließen sucht, gerade indem er sie zurücknimmt in die eigene psychische und somatische Konstitution. Dieser Ausschluss geht mit einer Spaltung einher, die er in das primäre Begehren einführt und die laut Laplanche/Pontalis die eigentliche Ursache seiner Objektlosigkeit ist, d.h., er ist objektlos »[...] nur weil der natürliche Modus der Objekterfassung eine Spaltung erfährt – der Sexualtrieb trennt sich von der nichtsexuellen Funktion (der Ernährung beispielsweise), an die er sich anlehnt, und die ihm sein Ziel und sein Objekt anzeigten«.14 In diesem Rückzug in die Objektlosigkeit als Ausschluss und Spaltung entstehen also Sexualität und Phantasie als Grundlage der späteren Objektwahl. Ich denke, genau dieser Vorgang steht in direkter

14 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.56 Und sie fahren folgendermaßen fort: »Der ›Ursprung‹ des Autoerotismus wäre demnach jener Moment – der eher abstrakt ist als datierbar, da er sich ständig erneuert und weil man wohl eine erotische Reizung unterstellen muß, um einzuräumen, daß er als solcher angestrebt werden kann –, in dem die Sexualität sich von jedem natürlichen Objekt trennt, sich der Phantasie ausgeliefert sieht, mithin sich als Sexualität erschafft. Umgekehrt kann man ebenso gut sagen, daß gerade der Einbruch der Phantasie diese Disjunktion von Sexualität und Bedürfnis hervorrufe. Zirkuläre Kausalität oder simultane Entstehung? Tatsache ist, daß sie ihren Ursprung, soweit man auch zurückgeht, an einem einzigen Punkt haben. Sofern die autoerotische Befriedigung sich im autonomen Zustand ermitteln lässt, definiert sie sich durch ein präzises Merkmal: als Produkt der anarchischen Aktivität der Partialtriebe, in enger Verbindung mit der Reizung spezifizierter erogener Zonen – einer Reizung, die an Ort und stelle entsteht und befriedigt wird –, ist sie nicht globale Funktionslust, sondern eine vereinzelte Lust, eine streng lokalisierte Organlust.« Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.56f. Es wird also deutlich, inwiefern die Verbindung von Sexualität, Phantasie und Autoerotismus eine Aufteilung des Körpers bewirkt, die vorausgehende umfassende und ungeschiedene Befriedigung am mütterlichen Körper demgegenüber auf eine völlig andere Erfahrung des Körpers verweist. Gleichzeitig ist der autoerotische Körper »Produkt der anarchischen Aktivität der Partialtriebe«, er ist folglich als Ursprung der Phantasie nicht phantasmatisch, sondern ganz im Gegenteil sehr nahe an den organischen Funktionen. Und doch scheint es naheliegend, in diesen organischen Differenzen eine Beziehung zu den Differenzen innerhalb der Objektwelt zu vermuten. Das wiederum würde heißen, dass die »zirkuläre Kausalität oder simultane Entstehung« eben auch zwischen dem so erfahrenen ›Körper‹ und der ›Realität‹ der Objektwelt besteht. Phantasie und Sexualität wären es dann, die diese zirkuläre oder simultane Verbindung herstellten.

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Beziehung zu dem anscheinend so dunklen Phänomen der Urverdrängung. Die Objektlosigkeit des Autoerotismus ersetzt demnach eine primäre Beziehung, die sich nicht in die Strukturen der Subjekt/Objekt-Trennung einfügen lässt, vielmehr ist die Spaltung des Begehrens, dessen Ergebnis die gleichzeitige Entstehung von Sexualität und Phantasie ist, Voraussetzung dieser Trennung. Insofern ist der Autoerotismus eben die Ursprungskoordinate einer ›Realität‹, die auf dieser phantasmatischen Aneignung beruht. Er ist immer auch die Spaltung, die auf die komplexe Verwiesenheit zwischen Mutter und Kind antwortet und er öffnet sie, indem er sie einschließt in das Phantasma (das Phantasma der Subjekt/Objekt-Trennung, deren Ursprung die autoerotische Befriedigung ist). Wenn der Autoerotismus der Ort ist an dem sich die Urverdrängung ereignet, der Übergang zwischen Ununterscheidbarkeit und Struktur, dann beginnt mit der Sexualität und der Phantasie die sekundäre, eigentliche Verdrängung. Diese eigentliche Verdrängung gehört folglich dem Zusammenhang von Sexualität und Phantasie als Ergebnis der Urverdrängung an, sie ist in gewisser Weise selbst phantasmatisch. Ebenso wie die Körper, die sexualisiert zu Objekten, zu Phantasmen werden, die die Leere, den Mangel kompensieren sollen, indem sie auf das Phantasma einer ›ursprünglichen‹ autoerotischen oder narzisstischen Allmacht, dem sie entstammen, verweisen (und die nichts ist als das Phantasma einer Anwesenheit, die auf einer Abwesenheit, einer Ausschließung beruht). Und doch geht der Autoerotismus nicht einfach auf in der Welt der Objekte, die er hervorbringt. Er ist von seiner inneren Struktur her gleichzeitig eine Bewegung des Zurückziehens von den Objekten, der Selbstaffektion, eine Bewegung der Immanenz. Der sexualisierte Körper ist immer schon Phantasma, d.h., er verspricht die phantasmatische Anwesenheit als Objekt; der autoerotische Körper, der von ersterem nicht wirklich zu trennen ist (dessen Ursprung er als Ort der Spaltung des Begehrens, des Ausschlusses ist), ist – zumindest unter Vorbehalt – objektlos, er ist nicht auf die gleiche Weise phantasmatisch wie das Objekt, er oszilliert zwischen der Ununterscheidbarkeit und der Struktur. Das Ideal des Autoerotismus ist, wenn man so sagen kann, »sich selbst zu küssen« – bei dieser scheinbar ganz auf einen selbst bezogenen Lust ist ebenso wie am Grunde der Phantasie, jenes Diskurses, der sich an niemanden mehr richtet, jede Aufteilung in Subjekt und Objekt aufgehoben.15

15 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.57

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Sexualität und Phantasie fußen auf der halluzinatorischen Aneignung dessen, was abwesend ist, also auf jener Ausschließung, die die innere Dynamik des Psychischen in Gang setzt. In der autoerotischen Halluzination soll diese Ausschließung kompensiert werden durch eine Aneignung, die sich nicht auf das Ausgeschlossene – die vorursprünglichen Beziehungen zwischen Mutter und Kind, also eine Abwesenheit –, sondern auf das Phantasma einer imaginären Präsenz – das ›Ich ‹ respektive die ›Mutter‹, also eine Anwesenheit – bezieht. Der Autoerotismus ist insofern genau die psychische Dimension dieser imaginären Anwesenheit, die Ergebnis eines Ausschlusses ist. Er ist zugleich der Ort eines ersten Ausschlusses, der zu den Objekten führt, indem er ein diesen Objekten gegenübergestelltes Subjekt ermöglicht, als auch der Ort an dem dieser Ausschluss z.T. außer Kraft gesetzt ist, weil er sich dort ereignet. Er ist gewissermaßen ein Übergang, eine Passage, die in beide Richtungen zugleich geschlossen und geöffnet ist: Er ist das Bindeglied zwischen vorursprünglicher Verwiesenheit und phantasmatischer Spaltung. Vielleicht könnte man sagen, dass es genau diese Dimension des Psychischen ist, die in den rites de passage aufgerufen wird. Und es ist genau dieser Übergang, eben jener Umschlagspunkt der Urverdrängung, den Laplanche/Pontalis nicht nur als Ort des Ursprungs der Phantasmen, sondern auch als den der Phantasmen des Ursprungs bezeichnen.

Urphantasien Laplanche und Pontalis haben sich in diesem Zusammenhang mit dem Freudschen Begriff der Urphantasie auseinandergesetzt und genau dort versucht, diese unbewusste ›Strukturiertheit‹, die sie der autoerotischen Phantasietätigkeit attestieren, zu verankern. Sie zeigen, wie Freud immer wieder versucht hat, die von ihm in der Analyse aufgefundenen Figurationen des sexualisierten Wunsches auf ein reales traumatisches Ereignis zurückzuführen. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist sicherlich seine Krankengeschichte des Wolfsmanns, in der er meint – gegen Jung – darauf bestehen zu müssen, dass die Urszene tatsächlich stattgefunden hat.16 Diese Unentschiedenheit durchzieht Freuds gesamtes Werk von der vermeintlichen Aufgabe der Verführungstheorie bis zur Rekonstruktion eines historischen Traumas im Mann Moses. Die Urphantasien platzieren sich genau in dieser Unentschiedenheit, sie gehören der psychischen Realität an, liegen aber außerhalb der individuellen Bedingungen der Ontogenese. Sie sind dem Bewusstsein entzogen, aber der psychoanalyti16 Sigmund Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, in: Ders., Gesammelte Werke – Band XII, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.27-157

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schen Entübersetzung zugänglich. Mischwesen, die die Grenzen des psychischen Apparates bewohnen, strukturiert und dennoch dem Anderen des Sinns aufsitzend. Das, was die Urphantasie in ihrer Struktur vom Phantasieren des Tagtraums unterscheidet, ist nicht, dass sie über keine Struktur verfügt, sondern vielmehr, dass ihre Struktur nicht auf ein Subjekt bezogen ist: »[...] daß sie nämlich ein Szenarium mit vielfachen Auftritten ist, in dem nichts darüber Auskunft gibt, daß das Subjekt von Anfang an seinen Platz im Ausdruck Tochter finden wird; man kann es auch im Ausdruck Vater oder sogar in verführt fixiert sehen.«17

Die den Urphantasien zugrundeliegende Struktur bildet somit eine Sprache, die keine hierarchische Ordnung installiert. Sie stellt zwar Positionen zur Verfügung, weist sie aber niemandem zu. Man könnte sagen, es handele sich hier um eine Sprache auf halbem Wege, in der die Spuren einer anderen Gesetzlichkeit auch auf der Oberfläche noch wirksam sind. Die Urphantasien markieren den Bereich des Kontaktes zwischen Botschaft des Anderen und Text der Identität, den sie zugleich offen halten und schließen. Dieser »Satz der Phantasie«, wie Laplanche und Pontalis sagen, den die Urphantasie bildet, ist »der Ort an dem die primitivsten Abwehroperationen ausgewählt werden«18, also der Ort, an dem die Übersetzung beginnt, weil sie unmöglich wird. Auch in ihrem Inhalt, in ihrem Thema (Urszene, Kastration, Verführung...) verweisen die Urphantasien auf dieses rückwirkende Postulieren, sie beziehen sich auf die Ursprünge. Ebenso wie die Mythen geben sie vor, eine Darstellung und eine »Lösung« dessen zu geben, was sich dem Kind als großes Rätsel darbietet; als Augenblicke der Emergenz, als Ursprung einer Geschichte dramatisieren sie das, was dem Individuum als eine Realität vorkommt, die nach Erklärung verlangt, nach einer »Theorie«.19

Die Urphantasien strukturieren somit das Rätsel der Ursprünge, das ZuÜbersetzende erst nachträglich. Sie geben vor, das zu erklären, »was dem Individuum als eine Realität vorkommt«. In Wahrheit entsteht diese Realität erst in ihrer Dramatisierung: eben den Urphantasien. In ihrer Inszenierung erscheint eine Struktur, die vorgibt, dieser Realität schon immer zugrundegelegen zu haben: »der Ursprung der Phantasie ist eingebunden

17 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.50 18 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.58 19 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.42

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in die Struktur der Urphantasie selbst«.20 Die Urphantasien dramatisieren einen Zwischenraum, der die Verbindung, die Affektion zwischen Rätsel, Struktur und ›Realität‹ herstellt. Dieses Zwischen – das in der autoerotischen Dimension der Psyche entsteht und in ihr fortlebt – lässt zwar eine Struktur erscheinen, geht aber nicht mit einer klaren Zuweisung der von ihr bereitgestellten Plätze einher: »Obwohl das Subjekt in der Phantasie ständig präsent ist, kann es darin in einer entsubjektivierten Form vorkommen, d.h. in der Syntax der angesprochenen Sequenz selbst«21. In dieser rückbezüglichen Bewegung, dem dieses ›Zwischen‹ entstammt, öffnet sich folglich – wie in der Übersetzung – der Zugang zu eben jener Alterität, die der Autoerotismus seiner Aufgabe gemäß eigentlich ausschließt. Sowohl die Urphantasien als auch der Autoerotismus installieren folglich eine Gleichzeitigkeit von Öffnung und Schließung. Die Rückbezüglichkeit der von den Urphantasien ausgestellten ›Struktur‹ und die des Autoerotismus antworten einander: Ihnen ist die gleiche zirkuläre Kausalität resp. simultane Entstehung eingeschrieben wie der Beziehung zwischen Phantasie und Sexualität, die sie gewissermaßen verdoppeln. Anders als es Laplanche/Pontalis in ihrem Unterfangen, die Struktur vor dem Strukturalismus und Lacan vor sich selbst zu bewahren, andeuten, ist es aber nicht die Syntax der angesprochenen Sequenz, in der sich diese Entsubjektivierung ereignet, denn auch diese ist abhängig von der Subjekt/Objekt-Trennung, sondern eben die Rückbezüglichkeit, die sich als Subjektivierung des Objekts/Objektivierung des Subjekts vollzieht (und ebenso unmöglich ist, wie Benjamin es von der Übersetzung der Übersetzung behauptet). Es scheint vielmehr so zu sein, dass es das Moment der Dramatisierung, das Szenische der Sequenz ist, die Inszenierung der sequentiellen Struktur, die diesen Kontakt zum Vorursprünglichen offen hält: Die Urphantasien erscheinen so als Bühnen, auf denen eben nicht nur die letztlich ödipalen Inhalte und Strukturen, sondern ihre Hervorbringung aufgeführt werden, eben das Ereignis ihrer Performanz und damit deren Außen. Was Laplanche und Pontalis also als »Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie« (der Untertitel ihres Essays) vorstellen, gewissermaßen eine Entübersetzung psychoanalytischer Texte, rekonstruiert einen heterogenen Raum innerhalb der Psyche, in dem alles Übersetzung ist und nichts übersetzt wird, alles Textualisierung, aber kein Text – jedenfalls im engeren Sinne – entsteht. In der von Lacan geprägten Begrifflichkeit der Autoren handelt es sich um einen Bereich, in dem sich das Symbolische mit den Mitteln des Imaginären in das Reale des Kör20 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.41 21 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.58

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pers einschreibt, d.h., die (Nicht-)Übersetzung nistet sich selbst in diesem inneren Außen ein und verändert somit auch das, was sie vorgibt zu übersetzen: Wenn wir uns fragen, was diese Urphantasien für uns bedeuten, betreten wir eine andere Interpretationsebene. Wir sehen dann, daß man von ihnen nicht nur sagen kann, daß sie in die Symbolik eingebunden sind, sondern, daß sie das Einfügen der im radikalsten Sinne begründenden Symbolik ins Reale des Körpers ausdrücken – mittels eines Szenariums des Imaginären, das vorgibt, sich dieses Einfügens wieder zu bemächtigen.22

Auch wenn diese Formulierung vielleicht etwas zu glatt ist, sie macht doch deutlich, dass die Bewegung in beide Richtungen geht. Die Alterität des Realen, des Außen bleibt nicht unberührt von den Phantasmen, sie wird von ihnen affiziert und verformt. Die »Realität« der Objektwelt kontaminiert das Außen des Realen, das jedoch gleichzeitig in ihr fortwirkt. Wenn man also von einem Ursprung dieser Prozesse spricht, kann nicht ein auf welche Weise auch immer anzueignendes Außen gemeint sein, sondern der Prozess selbst, der Ort der Affektion, an dem sich die verschiedenen heterogenen Dimensionen berühren: Genau dies wäre die aktive Reflexivität des Autoerotismus: objektlose Begegnung einer phantasmatischen Struktur mit der Ununterscheidbarkeit. Es gibt also eine gewisse Verwandtschaft der Präfixe ›ur‹ und ›un‹ bei Freud. Jeder Bezug auf einen Anfang, etwas Ursprüngliches hinter dem Tabu verweist auf die heteronome Struktur dieses ›un‹ als Markierung der Verdrängung, die sich wiederum in der imaginären Rekonstruktion eines ›ur‹ figuriert: als Ur-Worte, Ur-Verdrängung bspw. oder als – UrPhantasie. Es ist dennoch gezeichnet von den Spuren und Markierungen jener vorursprünglichen Beziehung, in der es kein Innen und Außen, keine Anwesenheit und Abwesenheit und kein Vorher und Nachher gibt, und die – durch die Verdrängung hindurch – eine Bewegung des hin und her, des sowohl als auch und weder dieses noch jenes evoziert, die »das Individuum selbst ›urspringt‹«.23 Die Ur-Szene, die ›wirkliche‹ oder phantasierte Bobachtung des elterlichen ›Beischlafs‹, ist vielleicht ein Beispiel dafür, wie die Urphantasie zugleich die ödipale Struktur als auch das, was sie verwirft, thematisiert. Sie bildet die Bühne für die spezifische Verbindung von ›ur‹ und ›un‹ als Ausdruck einer zugleich singulären und universalen Asymmetrie der intersubjektiven und körperlichen Kontakte, in die das Kind und damit auch der/die Erwachsene ge22 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.43 23 Laplanche/Pontalis: Urphantasie, S.43

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worfen ist. Sie inszeniert jene unabschließbare Prozessualität des Urspringens, die man vielleicht in einem bestimmten Sinn als Übersetzung verstehen kann.24

L’écorce et le noyau Nicolas Abraham hat in einer programmatischen Besprechung des Vokabulars der Psychoanalyse, dem monumentalen Projekt von Laplanche und Pontalis, in dessen Umfeld ihr Text über die Urphantasie entstand25, ein komplexes und bewegliches Modell entworfen, das ermöglichen soll, die Topographie dieser Heterogenität der Übersetzungsbewegung zu

24 Ein Aufsatz von Lewis Aaron über die Internalisierte Urszene lässt sich unter Vorbehalt als Ergänzung dieses Konzepts begreifen, denn er weist auf die Prozessualität in der Urphantasie der Urszene selbst hin. Aaron versteht die Urszene sehr weitgehend als die Form, in der sich die Gesamtheit des Verhältnisses von Narzissmus und Objektbeziehungen im familiären Universum des Kindes entwickelt. Die Urszene in ihrer klassischen Definition als tatsächliche oder phantasierte Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehrs ist nach Aaron schon Ergebnis einer fortgeschrittenen, unter dem Einfluss des Ödipus stehenden Entwicklung. Er widerspricht damit der klassischen Lesart, die in der Urszene eher eine Vorform des Ödipus angelegt sehen wollte. Die in der Schule von Melanie Klein entwickelte Metapher von der vereinigten Eltern-Imago repräsentiert demgegenüber ein archaischeres Stadium, in dem Positionen noch nicht entlang des Ödipus gegliedert sind. Beispielsweise – und darauf kommt es Aaron an – sind die Geschlechterbeziehungen in dieser archaischeren Version keineswegs in der Art ausgeschrieben, wie es die ödipale Version der Urszene nahezulegen scheint. Aaron schlägt vor, die Urszene selbst als ein Pastiche der verschiedensten Ausformungen der Beziehungen des Subjekts zu sich und seiner Umwelt zu lesen, also als ein komplexes Gewebe verschiedenster Weisen, diese Beziehung zu gestalten. Die Urszene wäre demnach die psychische Repräsentanz der Prozessualität dieser Beziehung der Intersubjektivität, in der die Subjektivität und damit auch der Text der Identität entsteht. »Ich glaube, daß das Kind in der Urszene lernt, sowohl sich selbst als auch die/den Anderen/n als zugleich Subjekt und Objekt zu integrieren. Die Entwicklung von Intersubjektivität sollte nicht als eine frühe oder ausschließlich präödipale Entwicklung gesehen werden, z.B. als an die anale Annäherungsphase gebunden, die getrennt von späteren ödipalen Themen zu untersuchen ist. Ich glaube vielmehr, daß sich die Ausbildung von Subjektivität und Intersubjektivität mit der ödipalen Entwicklung fortsetzt und sowohl die Transformation von der vereinigten Eltern-Imago zur Urszene fördert als auch umgekehrt von dieser Transformation stark gefördert wird.« Lewis Aaron: Die internalisierte Urszene, in: Jessica Benjamin, Unbestimmte Grenzen – Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter, übers. v. Igor Jasinski, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S.19-55, hier: S.46 Damit geht Aaron allerdings in eine andere Falle: Er scheint von der Möglichkeit einer Intersubjektivität auszugehen, die eben nicht der Asymmetrie und der Unmöglichkeit der Übersetzung anheim gegeben ist, sondern die sich in freier Verfügbarkeit der Identitäts- und Kommunikationsmuster vollzieht und so die notwendigen Abkapselungs- und Ausschließungsprozesse, die der Subjektivation innewohnen ignoriert. Siehe bspw.: Butler, Psyche der Macht 25 J. Laplanche/J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, übers. v. Emma Moersch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973

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denken. Er unterscheidet darin die anasemische ›Sprache‹ der psychoanalytischen Begriffe als Namen, die er (was im Französischen und Englischen möglich ist) durch Großschreibung als solche kenntlich zu machen vorschlägt, von der symbolischen Sprache. Diese anasemische ›Sprache‹ folgt anderen rhetorischen Modi als das Symbol, sie ist antisemantisch, also von anderen Gesetzen beherrscht, sie bleibt dem Symbol gegenüber heterogen, unverständlich. Es ist gerade ihre anasemische Dimension, die den Diskurs der Psychoanalyse von dem anderer Wissenschaften unterscheidet, was heißt: Das Unsagbare, der Nicht-Sinn ist eben ihr Gegenstand und das Anasemische seine Sprache – so wie die Ur-Worte oder die Sprache des Traums, in denen die Urteilskraft, die Unterscheidung zwischen ja und nein, wahr und falsch aber auch die eindeutige und zuweisbare Trennung von Subjekt und Objekt suspendiert ist. Abraham entwickelt die Topographie der Anasemia anhand eines Modells von Kern (»le noyau«), den er vorläufig auf das Soma, die Repräsentanz des Körpers, und Hülle oder Schale (»l’écorce«), die er ebenso vorläufig auf das Psychische bezieht, die sich gegenseitig affizieren. Den Kern charakterisiert Abraham als »radikale Abwesenheit (radical nonpresence)«26 hinter der Hülle. Es geht also um eine Bewegung zwischen Ab- und Anwesenheit, in der sich das Symbol situiert. Es wirkt als Botschafter oder Delegierter dieser Abwesenheit des Kerns, der auf diese Weise die Hülle affiziert. Dem Symbol als Botschafter des Kerns entspricht die Einschreibung der Erinnerungsspur als Botschaft der Hülle. Mit dieser Erinnerungsspur verhält es sich dementsprechend komplementär. Sie dreht die Verhältnisse herum: Gegenüber dem, was der Hülle als Kern erscheint, wird sie selbst zum Kern, der seine Hülle affiziert und umgekehrt. Damit gelingt es Abraham, diese Doppelheit in ein und derselben Spur aufzufinden, quasi eine Verdopplung, die zugleich ihr eigenes Zwischen ist. Beide erscheinen folglich als Übersetzer zwischen zwei ihnen heterogenen Systemen, die sich nicht in die eigene Struktur überführen lassen. Diese Affektion des Anasemischen erscheint sexuell: der Kern ›maskulin‹, ein Phallus, und die Hülle passiv und ›weiblich‹. Allerdings sind diese Zuschreibungen phantasmatisch, d.h., die Phantasie ist nach Abraham Ausdruck dieser mannigfachen Affektionen zwischen Kern und Hülle, sie übersetzt sie in eine imaginäre Syntax und sie ist sexuell, weil

26 Nicolas Abraham: The Shell and the Kernel: The Scope and Originality of Freudian Psychoanalysis, in: Ders./Maria Torok, The Shell and the Kernel, Vol. I – Renewals of Psychoanalysis, edited by Nicholas T. Rand, Chicago: Chicago University Press 1994, S.79-98, hier: S.87 Den Hinweis nicht nur auf diesen Text verdanke ich Kay Sulk.

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sie diese Affektion, dieses Zwischen als Penetration der Hülle (bspw. des Unbewussten) erscheinen lässt. Diese Beziehungen vervielfachen sich allerdings: Letztlich erscheint die Peripherie der Hülle wiederum anderen Hüllen als Kern und diese sind von weiteren Hüllen umgeben. Es bilden sich Subsysteme, etwa die Unterscheidung von Unbewusstem, Vorbewusstem und Bewusstsein. Und was zu Beginn von Abrahams Text als Beschreibung der Beziehung von Soma und Psyche erschien, also scheinbar Urkern und Urhülle, kehrt sich am Ende des Textes um, wenn sich herausstellt, dass das Ich seine mütterliche Hülle aufzugeben habe, um über soziale Kanäle seinen eigenen Kern zu introjizieren. Die Topik des Anasemischen, ein komplexes System von Schachteln, wird umgestülpt: von innen nach außen und von außen nach innen. Phantasie und Sexualität, Symbolisches und Anasemisches sind bei Abraham folglich ineinander verschränkt, sie berühren, vervielfachen und ergänzen sich. Der Sinn, die Bedeutung, die das Symbol hervorbringt, entstehen folglich in einem Zwischen zweier dem Symbol heterogener Pole, als deren Botschafter es hin und her wandert. In gewisser Weise ist das Symbol, der Sinn, die Bedeutung auch eine Hülle, hinter der sich die radikale Abwesenheit dieses Zwischen auftut. Das, was das Symbol symbolisiert, ist insofern die Anasemia selbst: die Anwesenheit einer radikalen Abwesenheit. Und darin besteht womöglich seine intraund interpsychische Funktion. So hell das Licht auch sein mag, in das das Symbolische die Wörter taucht, in ihnen öffnet sich diese Prozessualität des Zwischen, »von Abgrund zu Abgrund«, wie Benjamin schreibt, in welche Syntax sie auch immer eintreten mögen. Insofern korrespondieren Abrahams Topographien der Anasemia mit den Urphantasien von Laplanche und Pontalis und gehen gleichzeitig darüber hinaus. Bei Abraham wird deutlich, dass die Urphantasien selbst schon Objektivationen einer Bewegung sind, die sich gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Wenn Laplanche/Pontalis mit den Urphantasien die Beziehung von Kern und Hülle im Stillstand zu wiederholen versuchen, entgeht ihnen quasi die Pointe des Ganzen, nämlich genau jene Bewegung, auf die sie nur vage verweisen können, und die Abraham in seinem Text vorführt: das Hin und Her des ›Urspringens‹ selbst. Consciousness is not limited to acknowledging the coincidence of diversity in a unifying Ego and a unified object, but brings nucleoperipheral dramas onto the internal stage in the innumerable figures of objective reciprocity.27

27 Abraham: The Shell and the Kernel, S.93

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Damit öffnet sich dieser Text mitunter selbst zur Bühne einer Performanz, in der sich die Ununterscheidbarkeit in die sie ausschließenden Prozesse einschreibt. Wir können aus den Phantasmen der Sexualität nicht einfach austreten, deshalb kann die Mutter nur als phallisch, die Affektion nur als Penetration beschrieben werden. Die Affektion von Hülle und Kern wäre dann das, was den Figurationen der Sexualität, – passiv-aktiv, Phallus-Nichtphallus – zugrunde liegt, eben das Außen einer Performanz, die die Urphantasien von Laplanche und Pontalis erst hervorbringt (man könnte vielleicht sagen: der Kern, deren Hülle die Inszenierungen der Urphantasien sind). Erst in der Mobilisierung der Übersetzung, der Prozessualität selbst, scheint etwas auf, wovon das, was Abraham das Symbol nennt nur als Überbringer einer Botschaft zeugen kann, die – unverständlich weil anasemisch – dem Symbol heterogen bleiben muss und die es dennoch hervorbringt. Dieser Text und seine Modelle geben sich folglich als imaginäre Objektivationen zu erkennen, eben als Anzeichen eines Rätsels, nicht als dessen Lösung: als Hülle eben jenes Kerns, von dessen Wirken er uns Zeugnis ablegen möchte. To fantasize is to translate into an imaginary objectivation – conscious or not – the Kernel’s concrete momentary relation to the envelope. We shall say, again by anasemia, that this relation is sexual to the extent that every fantasy aspires to have contact with the unconscious and thereby concerns the phallus. Along the same lines, the pregenital mother, as the pole of oral and anal relations, is said to be phallic, i.e., the giver of the phallus in these archaic modes.28

Die Sexualität als phallische Penetration erscheint als imaginäre Objektivation der Prozessualität, als ihre Verschiebung in den Bereich der Phantasmen. Und dieses sexuelle Imaginäre versucht Abraham auf eine Weise zu textualisieren, die es zum Anasemischen hin, zu dem, dessen imaginäre Figuration es ist, öffnet. Indem Abraham seine maßlosen Verdopplungen bis zu einem Punkt treibt, an dem sie sich die eigenen Wurzeln ausreißen, stellt er seine eigenen Wörter als performativ aus. D.h., das ganze komplexes Ineinander von Kernen und Hüllen erscheint am Ende selbst als eine phantasmatische Figuration der Prozessualität, die er zu beschreiben sucht, oder besser: als eine anasemische Hülle, hinter der sich die Abwesenheit eines anasemischen Kerns öffnet. Wenn man bereit ist, die Anasemia als eben jenes Außen der Performanz zu verstehen, auf deren Bühne Laplanche/Pontalis die Urphantasien inszeniert sehen, dann wird deutlich, dass der Text Abrahams, indem er seine eigene Performa-

28 Abraham: The Shell and the Kernel, S.90

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tivität, seine eigenen Ausschließungen thematisiert, das hervorbringen, das berühren kann, worauf es mir ankommt: dass die vorursprüngliche Ununterscheidbarkeit sich in das ganze System der Kerne und Hüllen ergießt und deren komplexes Ineinander genau die Simultanität/ Zirkularität aus Öffnung und Schließung figurieren, die Laplanche/ Pontalis der gemeinsamen Entstehung von Phantasie und Sexualität im Autoerotismus attestieren.

Das Inzesttabu Abraham ist somit – so könnte man sagen – einer intrapsychischen Performanz auf der Spur, also der inneren Hervorbringung jener Texte, denen die Subjektivität aufliegt. Allerdings handelt es sich um ein Innen, das von Beginn an ein Zwischen ist, Affektion, Begegnung. Am Ende überschreitet Abraham folgerichtig den intrapsychischen Bereich und schließt mit einer Interpretation des Ödipus und des Inzesttabus. Abraham behauptet, der Mythos von Ödipus sei keineswegs das Urdrama, in das das menschliche Subjekt gestellt sei, der Mythos ist vielmehr eine phantasmatische Ausstellung von Lücken, von »blanks«,29 bei der es nicht darauf ankommt, was sie zeigt, sondern vielmehr auf das, was sie nicht zeigt. Mythen sind, so Abraham, gleichzeitig Instrumente der Verdrängung, als auch der symbolischen Wiederkehr des Verdrängten, deren strukturale Ausarbeitung – und diese Kritik richtet sich meines Erachtens auch noch an Laplanche/Pontalis – ihre wahre Herkunft verschleiert: »[...] the specific tension that arises between the Envelope and the Kernel«.30 In diesem Sinne interpretiert Abraham den Ödipus-Mythos als Geschichte, die dem Kind von der sozialen Ordnung nahegelegt wird, um die Trennung von der Mutter durchzusetzen und zu legitimieren.31 Denn nur auf diesem Wege sei es in der Lage – wie ich bereits oben angedeutet habe –, seinen eigenen Kern über soziale Kanäle zu introjizieren. Dieses Innerste verdankt sich somit der Introjektion eines Außen des Subjekts. Der Ödipus strukturiert das Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Dimensionen des Psychischen und letztlich organisiert er – so Abraham – die Beziehung, die die vorursprüngliche Verwiesenheit mit ihren Aus-

29 Abraham: The Shell and the Kernel, S.94 30 Abraham: The Shell and the Kernel, S.95 31 Damit widerspricht er der noch von Laplanche/Pontalis vertretenen psychoanalytischen Position, es handele sich bei dem Ödipus um eine Geschichte, die das Kind sich selbst erzählte. Vielmehr antwortet der Ödipus zwar auf eine Notwendigkeit in der psychischen Entwicklung des Kindes, wie er es tut wird dem Kind jedoch von den jeweiligen sozialen Strukturen auferlegt. Nicht der Inhalt der Urphantasien ist demnach universal, sondern ihre Form.

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schließungen und Spaltungen in der sexualisierten und phantasmatischen Objektwelt des Sozialen eingehen wird. D.h., er hilft eben diese Ausschließungen durchzusetzen und begründet somit die Einbeziehung des Selbst in den sozialen Raum, der diesem die ödipale Struktur auferlegt hat. Es sind gerade die sexuellen Figurationen, in denen sich das Verhältnis von Kern und Hülle in der Phantasie darstellt, deren Umschlagplatz der Ödipus-Mythos (und damit wohl die Urphantasien insgesamt) in unserer Kultur ist: Die soziale Struktur findet genau in dem Moment Eingang in diese Prozesse, an dem die Mutter durch eben diese Strukturen ersetzt wird. Die soziale Welt knüpft folglich an die Spaltung des Begehrens an, die sich nach Laplanche/Pontalis im Autoerotismus ereignet. Diese Spaltung bereitet gewissermaßen die Attraktivität des Sozialen als Ort der Wunscherfüllung vor. Von nun an erscheint das Verhältnis zwischen Kern und Hülle als phallische Penetration, die jedoch angeschlossen ist an die sich im Sozialen ereignende Transsubjektivität (die sich ohne Bezug auf die Mutter nicht denken lässt32) und deren Ausschließung. Das Inzesttabu ist insofern – analog zu Claude Lévi-Strauss’ Postulat in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft33 – tatsächlich kein Ver-, sondern ein Gebot, dass seinen wahren Inhalt allerdings verschweigt: dass das Kind im ›Vater‹ das Soziale begehren soll, um es an die Stelle der Mutter zu setzen. Während die Urverdrängung sich direkt auf die Ausschließung der vorursprünglichen Verwiesenheit zwischen Mutter und Kind bezieht, die die Prozessualität der Anasemia begründet, ist das Inzesttabu bereits das Ergebnis der Spaltungen und Differenzierungen des Autoerotismus. Es setzt die Projektion der phantasmatischen autoerotischen Befriedigung in den sozialen Raum durch, tritt der Rückbezüglichkeit – man kann vielleicht sagen: der Immanenz – des Autoerotismus entgegen, in der sich die phantasmatischen Figurationen der Sexualität, auf denen die soziale Ordnung gründet, der Ununterscheidbar32 In der Beziehung zur Mutter ist die Antisozialität der zwischenmenschlichen Begegnung vielleicht in ihrer weitestgehenden Form gegeben, und die Durchsetzung des Tabus bezieht sich auch und gerade auf diese antisoziale Komponente. Sowohl die Beziehung zur Mutter als auch das Soziale, oder, psychoanalytisch gesprochen, die Beziehung zum Vater, sind in diesem tiefen Sinne ambivalent. Die eigentliche Ambivalenz des Inzesttabus besteht vielleicht gerade darin, dass es aus der Tabuisierung der zutiefst antisozialen Hermetik der Mutter/Kind-Begegnung die Öffnung zum sozialen Anderen erreichen will. Damit wäre seine Ambivalenz die des Sozialen selbst als einzig möglicher Stätte dieser Begegnung und deren Vereinnahmung und Institutionalisierung also potentielle Verunmöglichung. Die Begegnung mit dem anderen Menschen ist das soziale Ereignis par excellence und es ist zutiefst antisozial. 33 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übers. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993

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keit ausliefern würden und sichert somit den sozialen Raum als Aufenthaltsort der phantasmatischen Versprechungen, gerade indem es den Zugang zu ihnen verbietet. Es konstruiert die ödipale Mutter als sexualisierte Stillstellung der Verwiesenheit, indem es sie tabuisiert. Das Begehren bleibt somit innerhalb des phantasmatischen Zirkels der phallischen Sexualität. Diese Mutter kann begehrt, aber nicht erreicht, penetriert werden. Auf ihr als imaginärem Objekt gründet die Macht des Phallus. Das Inzesttabu erscheint quasi als der doppelte Spiegel, der den abgeschlossenen virtuellen Raum zweier Spiegelbilder erschafft, zwischen denen das phallische Begehren zirkuliert (doch selbst in diesem Zwischen der Zirkulation ist die Prozessualität noch anwesend und entlarvt das Bild des Spiegels selbst als imaginär). Es konstituiert die Binarität des phallischen und des mütterlichen Phantasmas als »imaginary objectivation« des Verhältnisses von Kern und Hülle und begründet so die Herrschaft der Nicht-Mutter, des ›Vaters‹, des Phallus, der symbolischen Ordnung – ohne jedoch auf die vom Ausschluss der vorursprünglichen Beziehung zwischen Mutter und Kind ausgehende Prozessualität verzichten zu können. In reality, the oedipal conflict does not weigh the pros and cons between nature and culture, but rather between the maternal relation and sexual attainment in the social order.34

Introjektion oder Inkorporation: Die Leere des Mundes Es ist gerade diese Prozessualität zwischen Außen und Innen, mit der sich Nicolas Abraham und Maria Torok sowohl in ihren allein als auch gemeinsam veröffentlichten Arbeiten auseinandergesetzt haben. Dabei rücken zwangsläufig die Störungen dieser Bewegung in den Vordergrund, die man (wohl etwas zu stark generalisierend) als traumatisch bedingte Dominanz der Phantasmen bezeichnen könnte, die sich an den Stellen der vom Trauma gerissenen Lücken und Unterbrechungen der Prozessualität einrichten. Erst einmal ist es Abraham/Torok aber darum zu tun, den Andeutungen Freuds in Trauer und Melancholie nachzuspüren, der den Komplex eines traumatischen Verlusts einer nahestehenden Person im Zusammenhang seines Narzissmuskonzepts zu verstehen suchte. Dabei aktualisiert Freud – um die ›pathologische‹ Form, die Melancholie, von der ›normalen‹, der Trauer, in ihrer psychischen Dynamik zu unterscheiden – den von ihm bereits in der Traumdeutung benutzten

34 Abraham: The Shell and the Kernel, S.96f.

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Begriff der Identifizierung, der die verlorene Person in einer phantasmatischen Zone zwischen Narzissmus und Objektwahl situiert. Die Objektbesetzung erwies sich als wenig resistent, sie wurde aufgehoben, aber die freie Libido nicht auf ein anderes Objekt verschoben, sondern ins Ich zurückgezogen. Dort fand sie aber nicht eine beliebige Verwendung, sondern diente dazu, eine Identifizierung des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt herzustellen. Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hat sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich.35

Diesen Vorgang der Rückverlegung der Beziehung zu diesem phantasmatischen anderen ins Ich beschreibt Freud dann im Folgenden als Einverleibung, als eine ›doppelte‹ Regression, da sie die orale Stufe der Libidoentwicklung mobilisiere, um sich des verlorenen anderen als Phantasma zu versichern. Wir haben an anderer Stelle ausgeführt, daß die Identifizierung die Vorstufe der Objektwahl ist und die erste, in ihrem Ausdruck ambivalente Art, wie das Ich ein Objekt auszeichnet. Es möchte sich dieses Objekt einverleiben, und zwar der oralen oder kannibalischen Phase der Libidoentwicklung entsprechend auf dem Wege des Fressens.36

Diese doppelte Rückverlegung des ›Objekts‹ – Identifizierung und Einverleibung – in den narzisstischen Raum des Ich, ist die Reaktion auf den traumatischen Ausfall der Beziehung zu einem anderen Menschen, der so – doppelt gesichert und stillgestellt – phantasmatisch wird. Was bei Freud unbefriedigend bleibt – und darauf beharren Abraham/Torok – ist das fehlende Äquivalent dieses Vorgangs, also: worin besteht die Möglichkeit einer geglückten Trauerarbeit, welche psychische Dynamik liegt ihr zugrunde?37 35 Sigmund Freud: Trauer und Melancholie, in: Ders., Gesammelte Werke Band X, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.427-446, hier: S.435 36 Freud: Trauer und Melancholie, S.436 37 Dieses fehlende Äquivalent verweist auf ein grundsätzliches Problem in der Freudschen Fassung des Objekts. Es wird nicht wirklich klar, worin der Unterschied zwischen Narzissmus und Objektwahl eigentlich besteht. Während er auf der einen Seite einem Dualismus beider Systeme das Wort zu reden scheint, ist die Objektwahl auch in Freuds Verständnis – wie Laplanche und Pontalis zeigen und worauf der Begriff der Identifizierung hinweist – letztlich narzisstischen Ursprungs. Freuds Unterscheidung der Objektwahl in narzissti-

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Genau hier setzen Abraham und Torok an, wenn sie der Einverleibung (Inkorporation) die Introjektion gegenüberstellen. Dieser von Sándor Ferenczi geprägte Begriff wurde in der psychoanalytischen Theorie – so Maria Torok in einem Aufsatz über die Trauerarbeit – zunehmend mit dem der Inkorporation vermengt.38 Torok möchte diesen Begriff Ferenczis wieder ins Recht setzen, indem sie gerade in der Introjektion das ›normale‹ Äquivalent der Inkorporation vermutet. Die Inkorporation wird so gewissermaßen zur Pervertierung der Introjektion.39 Die Introjektion bezeichnet eine Ausdehnung des autoerotischen Ichs auf die Objektwelt, also genau diejenige Bewegung, die auch Laplanche/Pontalis zu beschreiben versuchen. Ferenczi selbst hat diesen Begriff, den er zuerst als eine spezifische neurotische Technik beschrieben hatte, ausgeweitet zu einer allgemeinen Form der Beziehung des Ich zur

schen und Anlehnungs-Typus entlang der Ordnung der Geschlechter spiegelt diese Unklarheit. Wenn auch die Anlehnung in gewisser Weise für eine Öffnung einsteht, die auf ein Begehren vor der Spaltung in Nahrungsaufnahme und Sexualität verweist, also auf die Beziehungen einer vorursprünglichen Ununterscheidbarkeit, so fasst Freud doch die Mutterschaft – zumindest zum Zeitpunkt der Niederschrift von Trauer und Melancholie – als narzisstisch auf. Mir scheint da eine Abwehr Freuds am Werke zu sein, die sich sowohl in seinen Vorstellungen zur Objektwahl als auch in seinem Narzissmus-Konzept äußert. Er weigert sich, ein Zwischen zu denken, das gerade über den scheinbaren Dualismus von Objekt und Narzissmus hinausweisen würde. Mit der Aufgabe eines gesonderten Selbsterhaltungstriebes (auf den der AnlehnungsTypus der Objektwahl verweist), den Freud schließlich – vor allem unter dem Eindruck des Narzissmus – dem Eros zuschlägt und der Entdeckung des Todestriebes, öffnet sich dieser Ausschluss: Eros selbst wird in gewisser Weise zum Namen der Bindung, die dieses Zwischen und damit die Prozessualität ermöglicht, während Thanatos in diesem Zusammenhang die Entbindung der Phantasmen, also die Stillstellung der Prozessualität, die Rückwendung ins Unorganische bezeichnete. Siehe zu Todestrieb und traumatischer Entbindung: Dori Laub: Eros oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas, übers. v. Irmgard Hölscher, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, LIV.Jahrgang, Heft 9/10, Stuttagart: Klett-Cotta 2000, S.860894 38 Selbst Freud bezeichnet die Einverleibung der Identifizierung in Massenpsychologie und Ich-Analyse – und wohl nicht nur dort – als Introjektion. »Das aus diesen drei Quellen Gelernte können wir dahingehend zusammenfassen, daß erstens die Identifizierung die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt ist, zweitens, daß sie auf regressivem Wege zum Ersatz für eine libidinöse Objektbindung wird, gleichsam durch Introjektion des Objektes ins Ich, und daß sie drittens bei jeder neu wahrgenommenen Gemeinsamkeit mit einer Person, die nicht Objekt der Sexualtriebe ist, entstehen kann.« Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders., Gesammelte Werke Band XIII, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.71-162, hier: S.118 (Hervorhebung von mir, S.T.) Ich werde weiter unten auf diesen Text zurückkommen. 39 Maria Torok: Trauerkrankheit und Phantasma des »Cadavre exquis«, übers. v. Stephan Broser, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jahrgang XXXVII, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S.497-519

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Außenwelt.40 Torok und Abraham radikalisieren dies noch, indem sie die Introjektion zur geglückten Öffnung des autoerotischen Selbst auf die soziale Welt der Subjekt/Objekt-Verhältnisse mit den Mitteln der Sexualität/Phantasie erklären. Insofern wäre die Introjektion im Zusammenhang der Argumentation von Laplanche/Pontalis genau der Umschlagspunkt, an dem die Spaltung des Begehrens im Autoerotismus in den sozialen Raum projiziert wird. Was gleichzeitig heißt, dass diese Konstruktionen eben auch Öffnungen sein, eine gewisse Durchlässigkeit bewahren müssen, um funktionieren zu können. Während Ferenczi diese Bewegung als phantasmatische allein von der Selbstliebe ausgehende Anwesenheit beschrieben hatte, wird sie in der Wendung, die Abraham/Torok ihr geben, zu eben jener Prozessualität, die immer auch auf die Abwesenheit eines Kerns verwiesen ist. Der Autoerotismus erscheint auch hier als die Schwelle, die die Simultaneität von Öffnung und Schließung bewerkstelligt, eben als Ort jener Affektion, die sich nach Abraham zwischen den beiden anasemischen Polen ereignet.41 In einem wichtigen späteren Text situieren Abraham/Torok den Ort dieses Zwischen, das die Introjektion ermöglicht, in der Öffnung des Mundes. In ihm ereignet sich die vorursprüngliche Ununterscheidbarkeit am Körper der Mutter (bzw. die unmittelbare Verwiesenheit zwischen Mutter und Kind), die eine Leere hinterlässt, die die Wörter zu füllen vorgeben. Die Wörter erscheinen somit an genau der Stelle, die Laplanche/Pontalis der Spaltung des Begehrens, dem gleichzeitigen Ursprung von Sexualität und Phantasie zuweisen. Die Wörter, auch wenn sie sowohl auf diese Spaltung als auch auf die Phantasie/Sexualität verwiesen sind, füllen diese Leere jedoch auf eine etwas andere Weise.

40 »Im Grunde genommen kann der Mensch eben nur sich selbst lieben; liebt er ein Objekt, so nimmt er es in sein Ich auf. Gleichwie die arme Fischersfrau im Märchen, der infolge einer Verwünschung die Wurst an die Nase gewachsen ist, deren Berührung sie wie die der eigenen Haut verspürt und sich gegen das Abschneiden des unliebsamen Auswuchses energisch wehren muß: so spüren wir alles Leid, das den von uns geliebten Objekten angetan wird, als unser eigenes. Solches Anwachsen, solche Einbeziehung des geliebten Objektes in das Ich nannte Introjektion. Ich stelle mir – wie gesagt – den Mechanismus jeder Übertragung auf ein Objekt, also jeder Objektliebe als Introjektion, als Ichausweitung vor.« Sandor Ferenczi: Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse I, Frankfurt a.M.: Fischer 1970, S.100-102, hier: S.100 Siehe dazu auch: Ferenczi: Introjektion und Übertragung, in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse I, S.12-47 41 »Die Introjektion reserviert, Ferenczi zufolge, dem Objekt – und gegebenenfalls dem Analytiker – eine Vermittlerrolle in Richtung auf das Unbewußte. Wirksam in einem Hin und Her zwischen dem »Narzißtischen und dem Objekthaften«, zwischen Auto- und Hetero-Erotik, verwandelt sie die Triebregungen in Wünsche und Wunschphantasien und befähigt sie somit, Name und Bürgerrecht zu erlangen und sich im Spiel mit dem Objekt zu entfalten.« Torok, Trauerkrankheit und Phantasma des »Cadavre exquis«, S.504

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UR-SPRINGEN Der Übergang vom Mund, den die Brust füllt, zum Mund, den die Wörter füllen, wird durch die Erfahrung des leeren Mundes vollzogen. Die Leere des Mundes mit Wörtern zu füllen lernen ist ein erstes Paradigma der Introjektion. Es versteht sich, daß es dazu der stetigen Unterstützung durch eine Mutter bedarf, die selbst des Sprechens mächtig ist. Ihre Beständigkeit ist – wie die Gottes bei Descartes – der notwendige Garant für die Bedeutung der Wörter. Wenn dies gewährleistet ist, und nur dann, können die Wörter allmählich die mütterliche Anwesenheit ersetzen und neuen Introjektionen Raum geben. Erst wird der leere Mund zu Worten, dann die Abwesenheit von Objekten, und schließlich verwandeln sich Erfahrungen mit den Wörtern selbst in andere Wörter. So heilt die ursprüngliche orale Leere alle Mängel, indem sie im sprachlichen Zusammenhang mit der Gemeinschaft der Sprechenden konvertiert. Einen Wunsch, einen Schmerz, eine Situation zu introjizieren heißt, sie durch das Sprechen in eine Vereinigung leerer Münder eingehen zu lassen. So wird die buchstäblich verstandene Nahrungsaufnahme im übertragenen Sinne zur Introjektion. Um diesen Übergang zu meistern, muß es gelingen, die Anwesenheit des Objekts durch ein Selbsterfassen seiner Abwesenheit zu ersetzen. Die Sprache, die die Stelle der Abwesenheit ausfüllt, indem sie die Anwesenden ins Bildliche überträgt, kann nur in einer »Gemeinschaft leerer Münder« verstanden werden.42

Die Verbindung von Mund und Wörtern wiederholt gewissermaßen die von Hülle und Kern als Gleichzeitigkeit von An- und Abwesenheit. Die Wörter platzieren sich in genau diesem Zwischen, das auf die Abwesenheit der Ununterscheidbarkeit, die hier ›Mutter‹ heißt, verwiesen ist. Es wird allerdings auch deutlich, dass sich die Befähigung zu sprechen bereits aus der Beziehung zu dieser ›Mutter‹ ergeben muss; dass sich dieses Zwischen, das Hin und Her der An- und Abwesenheit, bereits in der dem Autoerotismus bzw. dem leeren Mund vorausgehenden Beziehung ereignet haben muss. Dafür steht die Leere und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, sie auszufüllen, ohne die Abwesenheit, die letztlich die Präsenz dieser Beziehungen ist, zu leugnen. Mit den Worten von Benjamins Übersetzeraufsatz wäre diese Leere das Original, das sich gerade in der Unmöglichkeit der Übersetzung ereignet, in der sowohl seine An- als auch seine Abwesenheit erscheint. Es geht also nicht darum, eine Abwesenheit durch eine imaginäre Anwesenheit zu ersetzen, sondern eine Anwesenheit zu ermöglichen, die eben die einer Abwesenheit ist. Diese Möglichkeit scheint laut Abraham/Torok in der metaphorischen Qualität der Sprache auf (besser wäre vielleicht: in der Sprachlichkeit der Sprache 42 Nicolas Abraham/Maria Torok: Trauer oder Melancholie. Introjizieren – inkorporieren, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, LV. Jahrgang, Heft 6, Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S.545-559, hier: S.548

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selbst), die sie der Anwesenheit der Mutter verdankt. Das Wort beginnt am Ort ihrer Abwesenheit, aber es kann diese Abwesenheit nur füllen, wenn sie Abwesenheit bleibt, d.h., wenn die Präsenz der Mutter die Anwesenheit ihrer Abwesenheit in den Worten ermöglicht. Die Beziehung, in der hier die soziale Welt über die Sprache und die Mutter zum als leerem Mund verstandenen Selbst führt, kommt zunächst ohne den Ödipus und die Struktur aus. Das, was Abraham/Torok ›Mutter‹ nennen, ist eben jene Dimension, die für das Offenhalten des Zugangs zur Prozessualität einsteht, die Ermöglichung eines Übergangs, den man eben nicht einfach hinter sich lassen kann, sondern der ständig stattfinden muss, um diesen Zugang offen zu halten. Das mütterliche Phantasma steht der ›Mutter‹ als Öffnung zur Prozessualität des ›Zwischen An- und Abwesenheit‹ gegenüber. Sie gehört dem phantasmatischen Bereich der imaginären Anwesenheit an, der sich diesen Prozessen widersetzt und einmal bestehende topische Verhältnisse in der Psyche zu retten versucht. Doch gerade darin besteht laut Abraham/Torok die zentrale Funktion der Phantasmen in der psychoanalytischen Kur, die versuchen muss, »durch die Phantasie hindurch zu erkennen, welcher prozeßhaften Veränderung sie sich widersetzt«, bzw. jenen »geometrischen Punkt« einzunehmen, »von dem aus der metapsychologische Ursprung jeder Phantasie bis hin zum ›Ursprung‹ des Ursprünglichen selbst gelesen werden könnte«.43 Die Phantasien sind somit gleichzeitig das Widerlager der Prozessualität als auch bzw. gerade deswegen ihr Ausdruck, die Weise, in der sich die Prozessualität in der Kur resp. im Bewusstsein darstellt, figuriert. Die Prozessualität bringt den ihr entgegengebrachten Widerstand selbst hervor und muss folglich die vorursprüngliche Beziehung zur Mutter sich ständig neu ereignen lassen, die Ununterscheidbarkeit in die phantasmatischen Unterscheidungen sich ständig neu ergießen, um die Verfestigungen dieser umfriedeten Forts des Stillstands erneut zu überwinden und zu verflüssigen. An diesem Punkt und aus dieser Perspektive lässt sich die Phantasie/Sexualität bei Laplanche/Pontalis mit der Introjektion vermitteln: Gerade weil die Phantasie nicht am Anfang steht, ist ihr eine Beziehung zu dem eingeschrieben, was sie auszuschließen sucht. Sie ist es, die die verschiedenen Verhältnisse, die ein ur mit seinen uns (es wird jetzt deutlich, dass man genauso gut sagen kann: ein Kern mit seiner Hülle) eingegangen ist, im psychischen Apparat aufbewahrt und ihre Wiederholung einfordert. Insofern ist sie der Ort jener ›Struktur‹, von der Laplanche/Pontalis sprechen, die die verschiedenen Phantasmen in Szene setzt, die sich auf die ein oder andere Weise auf das in unserer Kultur ›zentra-

43 Abraham/Torok: Trauer oder Melancholie, S.546

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le‹ soziale Phantasma des Phallus beziehen (das die Penetrierbarkeit einer Wirklichkeit behauptet, die zuallererst eine Phantasmagorie ist und dessen Macht genauso weit reicht wie die der halluzinierten Präsenz als Allmacht, die in den Objekten der sozialen Welt gesucht wird). Genau in diesem Sinne bezeichnen Abraham/Torok alle Phantasien als Introjektionsverweigerungen, als Abwehr der Prozessualität zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Abraham/Torok interessieren sich vorwiegend für das insofern radikalste Phantasma, als es direkt der Bewegung der Introjektion antwortet: die Einverleibung, bzw. Inkorporation. Sie ist der Introjektion diametral entgegengesetzt und resultiert, wie oben angedeutet, aus einer traumatischen Störung der Beziehung zur Objektwelt. In der Inkorporation scheitert genau diese Öffnung der Prozessualität. Die Wörter, in denen sie stattfindet, können den Mund nicht füllen, weil sie verworfen wurden, ausgeschlossen sind – verboten, ›tabuisiert‹. Diese Ausschließung leiten Abraham/Torok ähnlich wie Laplanche aus bestimmten Szenen ab, in der eine zentrale Person, deren Aufgabe eigentlich in der Ermöglichung der Introjektion läge und die bereits narzisstisch besetzt ist (Identifizierung), die Introjektion unterbricht (bspw. durch eine inzestuöse Handlung oder einen tatsächlichen oder psychischen ›Tod‹). Man kann, glaube ich, sagen, dass es sich dabei genau um das Ausbleiben oder Ausfallen dessen handelt, was Abraham/Torok als ›Mutter‹ bezeichnet haben (wobei dies keineswegs der Name einer bestimmten Person des kindlichen Universums ist, sondern vielmehr eben das, was die Introjektion überhaupt ermöglicht, über ihre narzisstisch/auterotische Dimension hinausgeht). Das Phantasma der Inkorporation antwortet darauf mit einer ›Regression‹: Nicht zufrieden mit den Wörtern wird nach der ihnen vorausgegangenen Nahrung »gegiert« und wirklich verschlungen, »einverleibt«, d.h., die Abwesenheit wird geleugnet und die Sprache bzw. die Objekte, die sie konstituiert, als stillgestellte ›magische‹ Anwesenheit gewaltsam angeeignet. Damit wird die Prozessualität des ›Zwischen An- und Abwesenheit‹ stillgestellt, die Sprache der Sprachlichkeit beraubt und so Orte des ›Unnennbaren‹, des Unaussprechlichen konstituiert, weil nur so die Unversehrtheit ihrer Anwesenheit gewährleistet werden kann: indem sie vollständig der psychischen Prozessualität entzogen werden. Diese verriegelten Orte oder Räume bezeichnen Abraham/Torok als Krypten. Wollte man ein Sprechen in den Vorgängen erkennen, die eine solche Phantasiebildung steuern, sollte man eine neue Stilfigur erfinden, eine Figur der aktiven Zerstörung der Bildhaftigkeit, für die wir den Namen Antimetapher vorschlagen. Hervorzuheben ist, daß es nicht bloß darum geht, auf den buchstäblichen Sinn der Wörter zurückzugreifen, sondern sie – in den Worten wie

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BLANK SPACES in den Akten – so zu gebrauchen, daß man damit quasi ihre »Übertragbarkeit« zerstört. Das Modell eines solchen Akts wäre die Koprophagie; Modelle für solche Worte ließen sich wohl in manchen Flüchen finden, die die Aufforderung zum Inzest enthalten. Doch die radikalste Antimetapher ist die Einverleibung selbst: Sie impliziert die phantasmatische Zerstörung jenes Akts, der die Metapher überhaupt erst möglich macht: des Akts, der die ursprüngliche orale Leere in Worte faßt, des Akts der Introjektion.44

Man kann vielleicht sagen, dass sich die phantasmatische Seite der Mutter, die auch der Vater, ein Geschwister oder eine andere betreuende Person sein kann, sich selbständig gemacht, sich der psychischen Dynamik entzogen hat. Diese Krypta als von der Prozessualität der Introjektion abgeriegelter Raum entsteht in einem Dreieck aus Narzissmus/Phantasma (Identifizierung), Sexualität/Phantasie (als Begehren nach dem Phantasma) und der traumatischen Unterbrechung der Introjektion, also des ›Zwischen An- und Abwesenheit‹. Durch den Ausschluss der Introjektion fehlt die prozessuale Kraft, die in der Lage wäre, die Phantasmen in Bewegung zu bringen, und so bleibt das Phantasma eingeschlossen in sich selbst, absoluter Stillstand. Es wird zum Fremdkörper ohne ins Unbewusste abzutauchen, es bleibt dem ›Ich‹ als unbetretbarer Raum, als Fremdkörper jenseits der Übersetzung erhalten. Das Phantasma der Inkorporation führt Spaltungen in die Struktur des Psychischen ein; abgetrennte Orte, zu denen der Zugang verwehrt ist und die keiner Übersetzung zugänglich sind; reale Orte also, die ein phantasmatisches Außen im Innen errichten (und zwar genau dort, wo die Prozessualität zwischen Außen und Innen nicht mehr zugelassen wird, also das Außen keinen Eingang in das Innen mehr findet). Sie zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Botschaft des Anderen, das »Zwischen-Menschen«, die vorursprüngliche Verwiesenheit, als dem (unmöglichem) Gefäß jener Scherben, aus denen unsere Welt sich zusammenzusetzen sucht, nur mehr als Lücke, als Ausgeschlossenes in das Subjekt aufgenommen worden ist. Hier ist die Übersetzung an ihr Ende gekommen, ihre Bewegung stillgestellt. Sie bringt allerdings eine Rede hervor, die bis ins kleinste Detail von diesen Lücken, diesen abgetrennten Räumen beherrscht wird. Die so produzierte Sprache ist beherrscht von den lebenden Toten, den Phantasmen, den Gespenstern und sie erscheint als Geheimnis, als das ewige Rotieren und Zurückkommen der Wörter in einer scheiternden Übersetzung, weil in ihr die Übertragbarkeit, wie Abraham/Torok schreiben, die Sprachlichkeit selbst, ausgeschlossen ist.

44 Abraham/Torok: Trauer oder Melancholie, S.552f.

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Der Komplex der toten Mutter Im Anschluss an bestimmte Überlegungen von André Green lässt sich (unter Vorbehalt) zeigen, wie das traumatische Ausfallen der ›Mutter‹, das Außerkraftsetzen der Prozessualität, sich in die psychische Konstitution einschreibt.45 Green knüpft an Abrahams Vorstellung der mütterlichen Hülle an, geht jedoch davon aus, dass sie zur Erhaltung der Stabilität des Ich unabdingbar sei. Damit unterstreicht er zwar ihre Bedeutung, entzieht sie jedoch zumindest teilweise der Prozessualität der Introjektion: Dieser Rahmen garantiert laut Green die Anwesenheit der Mutter in ihrer Abwesenheit. Das Begehren bezieht sich von nun an auf diese rahmengebende Struktur; die Bedrohung, im Sog des Begehrens durch das Primärobjekt verschlungen zu werden, wird so umgelenkt und zur Errichtung – um mit Abraham zu sprechen – des Verhältnisses von Kern und Hülle genutzt. Für das Ausagieren der negativen Phantasien gegenüber der Mutter stellt dieser Rahmen einen von ihm begrenzten Raum zur Verfügung, der aber seine Stabilität – die ja auf dem Begehren des mütterlichen Körpers fußt – nicht gefährdet. Während Green sich auf der einen Seite also dem entscheidenden Problem eines Ausfallens der ›Mutter‹ stellt und versucht, die psychischen Folgen, die das zeitigt, zu analysieren, betreibt er auf der anderen Seite eine Reterritorialisierung jener Bewegung, für die die ›Mutter‹, in der hier von mir vorgestellten Perspektive jedenfalls, gerade einsteht. Besser als in Greens Begriffen lässt sich dieser Zusammenhang mit Abraham/Torok als orale Leere fassen, die eben den Raum bildet, in dem sich die Introjektion ereignen kann. Er ist abhängig sowohl von einer ihm vorausgehenden Vorursprünglichkeit, in der es weder An- noch Abwesenheit gibt, denn er setzt sich genau an dessen Stelle, als auch von einer ›Mutter‹, die mit den Wörtern die Möglichkeit gibt, die Leere zu ›füllen‹, die also die Prozessualität von Anund Abwesenheit bzw. Kern und Hülle eröffnet. Wenn diese Bedingungen nicht gegeben sind – Green geht es um ein durch die Depression der Mutter vorzeitiges Ausfallen der Verschmelzung mit dem Primärobjekt (wie er das, was ich als vorursprüngliche Verwiesenheit bezeichnet habe, in der konventionellen psychoanalytischen Begrifflichkeit ausdrückt) –, stellt sich auch dieser Raum, diese Leere nicht her, die Introjektion kann nicht stattfinden und diese Nicht-Leere, dieses Nicht-Nichts wird zur Bedrohung.

45 André Green: Die tote Mutter, übers. v. Erika Kittler, In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 47. Jahrgang, Stuttgart: KlettCotta 1993, S.205-240

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BLANK SPACES Das Ich wird zwar von der rahmengebenden Struktur begrenzt. Diese umschließt aber einen konflikthaften Raum, dessen Kraftfeld das mütterliche Bild festhalten soll und deshalb gegen sein Entschwinden ankämpft. Abwechselnd leben Erinnerungsspuren der verlorenen Liebe und der Verlusterfahrung wieder auf, was sich als Sehnsucht bzw. als Empfindung einer schmerzhaften Leere äußert.46

In diesem Fall hat sich die – tote – Mutter in einem – toten – Kern, der keine radikale Abwesenheit, sondern eine Nicht-Abwesenheit ist, festgesetzt und der Wunsch, sie wieder zum Leben zu erwecken, manifestiert sich als nie aufgegebenes inzestuöses Begehren. Die Urszene ist dabei eine doppelte Quelle von panischer Angst: als phantasmatische Verwirklichung des eigenen Begehrens und als Auftauchen eines bedrohlichen Rivalen, der anstelle des Ich zu leisten vermag, wozu dieses sich außerstande fühlt: die Mutter wieder zum Leben zu erwecken. Der Ödipus und seine Phantasmen werden wörtlich genommen, ihr Verweis auf die ihnen zugrundeliegende Anasemia kann nicht mehr gelesen werden; sie werden antimetaphorisch, reine, unbewegliche Phantasmen, in die das Subjekt eingesperrt bleibt. Dies ist nach Green der Komplex der toten Mutter. Einer Mutter, die die psychische Organisation des Subjekts als Tote, als Phantasma beherrscht.47 Dieser Komplex ist eng verwandt mit der Krypta: Er unterbricht die Introjektion oder verunmöglicht sie von Anbeginn. Er installiert eine Abgeschlossenheit, die von einer ständigen Instabilität bewohnt wird. Indem das Ich sein Primär-Objekt verschlingt, droht es selbst von etwas verschlungen zu werden, das weder Objekt noch Subjekt ist, weil etwas nicht stattfinden konnte oder fortwährend bedroht wird: die konstitutive Verdrängung, wie Abraham/Torok sagen, die die Dynamik des Psychischen in Gang setzt. Dadurch lassen sich Ununterscheidbarkeit und Phantasie nicht mehr in eine gemeinsame Prozessualität überführen, sondern fallen auseinander als absolute Gefährdung psychischer Stabilität auf der einen und absolutem Stillstand auf der anderen Seite. Mir geht es darum, den Komplex der toten Mutter, also eines Ausfallens dessen, was auch Abraham/Torok als ›Mutter‹ bezeichnen, als Ausschluss der Prozessualität des Zwischen zu verstehen. Dieser Ausschluss spaltet die Anwesenheit von der Abwesenheit, deren Zwischen es ist, das

46 Green: Die tote Mutter, S.233 47 Die Metaphorik Greens ist sehr beredt, wenn er seinen Aufsatz etwa damit einleitet, dass »[...] das unheilvolle Schwarz der Depression« nur ein sekundäres Produkt einer »weißen Angst« sei, »die die Übersetzung des auf der narzißtischen Ebene erlittenen Verlusts darstellt«. Green: Die tote Mutter, S.209

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die Prozessualität ermöglicht.48 Er liefert den psychischen Raum der Bindungslosigkeit von imaginärer Anwesenheit und radikaler Abwesenheit aus, die sich gegenseitig eben nicht in Bewegung bringen, sondern den psychischen Raum kollabieren lassen.

Das Geheimnis Diese abgeschlossenen Räume sollen die konstitutive Verdrängung (der Urverdrängung, die die Dynamik der sekundären Verdrängung hervorbringt), die Abraham/Torok als hysterische Verdrängung bezeichnen, konservieren, entziehen sie damit aber der psychischen Dynamik. Diese Dynamik dankt sich schließlich jenem Ur-Entzug, der in der oralen Leere resp. dem autoerotischen Körper das Spiel zwischen An- und Abwesenheit eröffnet. Deswegen muss es sich bei dem auslösenden Moment auch um ein traumatisches Ereignis handeln, das sich genau auf diese Bedingungen der Prozessualität bezieht: die Auslöschung des ›Zwischen An- und Abwesenheit‹ durch eine inzestuöse Handlung, in der sich die nackte ›Realität‹ des Phantasmas erweist oder einen psychischen oder tatsächlichen Tod, in dem die phantasmatische Anwesenheit einer absoluten Abwesenheit weicht. Dieses traumatische Ereignis, das die Krypten verbergen sollen, ist somit unwiderruflich und unbearbeitbar in der Psyche eingelagert: als ›Realität‹, die von nun an als Geheimnis erscheint, dessen Inhalt das Verbrechen ist, bei dem es keine Rolle mehr spielt, wer es begangen hat oder ob es überhaupt begangen wurde. Seine Realität besteht in seinem Vorhandensein und es begründet die unbewegliche Herrschaft der Phantasmen, die es in seinen Mauern eingeschlossen hat. Jedenfalls zeichnet sich dieser Inhalt [des Geheimnisses, S.T.] dadurch aus, daß er nicht in Form von Worten ans Tageslicht kommen kann. Und doch geht es um Worte. Lebendig begrabene Worte, die zweifellos mit der unermüdlichen Wachsamkeit von Eulen im Bauch der Krypta hocken. Es sind diese Worte, deren okkulte Existenz sich durch ihre offenbare Abwesenheit manifestiert, die den Tatbestand der Realität erfüllen. Was ihnen Wirklichkeit verleiht, ist, daß sie ihrer gewöhnlichen kommunikativen Funktion enthoben sind. Warum? Sicher weil sie, im Gegensatz zu den Worten des Hysterikers, die den Wunsch durch das Verbot bezeichnen, eine Art positive Wertigkeit erlangt haben. Das macht sie zu einer tödlichen Gefahr für die darunterliegende konstitutive hysterische Verdrängung. Diese zu schützen ist die Funk-

48 »Man hat es also mit einem Subjekt zu tun, das zwischen zwei Verlusten gefangen ist: den Tod in der Anwesenheit oder der Abwesenheit im Leben.« Green, Die tote Mutter, S.230

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BLANK SPACES tion der Gruft. Oder, anders gesagt: Das Begrabene bringt die konstitutive Verdrängung in Bedrängnis. Wie, wollen Sie wissen? Indem die Worte des Verbots nicht mehr die Wirkung eines Verbots haben. Über das Sprechen des Subjekts ist eine Katastrophe hereingebrochen, die sie aus dem Verkehr gezogen hat. Und das ist wirklich geschehen. Daß der Wunsch, bevor er begraben wurde, erfüllt worden ist, wird dadurch erwiesen, daß die Worte, die ihn bezeichnen, ihren positiven Sinn erlangt haben – wobei diese Wandlung durchaus auch nachträglich stattgefunden haben kann –, und deswegen diese Worte dem Tageslicht entzogen wurden. Die Existenz der Gruft ist Zeugnis genug für ein reales Ereignis und macht die Repräsentanten der Verbotsinstanzen zu Komplizen der Erfüllung eines Wunsches, der unbefugt bis zum Ende getrieben wurde, zu höchster Lust.49

Damit schließt sich der Kreis: Gerade weil sich etwas ereignet hat, dass das Verhältnis von Wort und oraler Leere einseitig beendet – die Erfüllung eines Verbots (eine Verführung, ein Tod) – wurde den Worten ihre Sprachlichkeit entzogen. Sie sind aus der Prozessualität ausgetreten und stehen buchstäblich für die Realität der Phantasmen ein, deswegen müssen sie begraben werden. Diese Realität eines ›Verbrechens‹ (das mit Sicherheit eine Beziehung zum ursprünglichen Mord Girards unterhält) wirkt fortan als Geheimnis: als Lücke, als verriegelte Leere, die die Realität des Phantasmas bezeugt. Dadurch wird deutlich, inwiefern gerade das Tabu, das Verbot, noch Ort der Prozessualität ist, da es das Begehren nach dem Phantasma immer zugleich konstituiert und verunmöglicht. Es also erschafft, indem es auf Abstand gehalten wird (und so das ›Zwischen An- und Abwesenheit‹ nachträglich ins Spiel bringt). In gewisser Weise handelt es sich beim Inzesttabu als Ursprung der Phantasmen um einen Trick, eine ›Fälschung‹, die einen virtuellen Raum erschafft, der genau dann scheitert, wenn er ›für bare Münze genommen‹, auf seine Echtheit überprüft wird: seine Virtualität, seine ›Falschheit‹ ist letztlich das, worin es die Spuren jenes Zwischen aufbewahrt, das die Prozessualität in Gang setzt. Und es ist wohl dieser virtuelle Raum, der das ermöglicht, was Abraham/Torok als Metaphorizität und Benjamin als Sprachlichkeit der Sprache bezeichnen. Dieser Abstand der ›Falschheit‹ ist es, der sich in der Nachträglichkeit ereignet und in der Übersetzung mobilisiert werden kann, indem sie die Verwiesenheit der Sprache auf die Leere des Mundes wiederholt.

49 Abraham/Torok: Die Topik der Realität: Bemerkungen zu einer Metapsychologie des Geheimnisses, übers. v. Brigitte Große, in: Psyche, Heft 6, 55. Jahrgang, Stuttgart: KLett-Cotta 2001, S.539-544, hier: S.542f.

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3. M U T T E R S P R A C H E N I: »T H E

HORROR«

I could see the cage of his ribs all astir, the bones of his arm waving. It was as though an animated image of death carved out of old ivory had been shaking its hand with menaces at a motionless crowd of men made of dark and glittering bronze. I saw him open his mouth wide – it gave him a weirdly voracious aspect as though he had wanted to swallow all the air, all the earth, all the men before him.1 »Wir sind es, die die Kinder hervorbringen, aber ihr seid es, die sie eßt«, erklärte eine Frau bei einer medizinischen Untersuchung. Übrigens mied die Bevölkerung in der Regel diese ärztlichen Missionen.2 He cried in a whisper at some image, at some vision – he cried out twice, a cry that was no more than a breath: »The horror! The horror!«3

Der Gang zu den Müttern Urs Widmer hat im Nachwort zu seiner Übersetzung von Heart of Darkness als einem »Gang zu den Müttern, im metaphorischen und wohl auch im ganz konkreten Sinn, zur Mutter, zur archaischen Mutter – die,

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Joseph Conrad: Heart of Darkness, edited with an Introduction and Notes by Robert Hampson, Penguin Books 1995S.97 »Ich konnte sehen, wie sich das Gitter seiner Rippen bewegte, wie die Knochen seiner Arme winkten. Es sah aus, als habe eine belebte, aus altem Elfenbein geschnitzte Darstellung des Todes ihre Hand drohend gegen eine reglose Menschenmenge erhoben, die aus dunkler und glänzender Bronze gegossen war. Ich sah, wie er den Mund weit öffnete – er sah wie ein gieriger Dämon aus, als wolle er alle Luft, alle Erde und alle Menschen vor sich verschlingen.« Joseph Conrad: Herz der Finsternis, übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer, Zürich: Haffmanns 1992,S.115f. Joseph Ki Zerbo: Die Geschichte Schwarzafrikas, übers. v. Elke Hammer und mit einem Geleitwort von Jochen R. Klicker, Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S.506 Conrad: Heart of Darkness, S.111f. »Flüsternd schrie er etwas irgendeinem Bild entgegen, einer Vision – er schrie zweimal, nicht lauter als sein Atmen: ›Das Grauen! Das Grauen!‹« Conrad: Herz der Finsternis, S.134

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alles spendend und alles vermögend, dem Kind Alles und Jedes ist – [...]«4, gesprochen. Als ein solcher erscheint Marlows Bootsfahrt in das Herz der Finsternis, in eine phantasmagorische Wildnis mit berechenbaren und unberechenbaren Gefahren, die zumeist einen wohligen, auf Abstand gehaltenen Schauer hervorrufen, der aber mitunter ein tiefes Erschrecken zu verdecken scheint. Dass die Wildnis eine Figuration sowohl des mütterlichen Phantasmas als auch der vorursprünglichen Ununterscheidbarkeit sein kann, ist in der psychoanalytischen Literatur ein Gemeinplatz. Conrads Wildnis inszeniert gerade diese beiden Dimensionen des ›Mütterlichen‹ und ist so auf einer bestimmten Ebene geradezu freudianisch konstruiert. Der Name, der ihr im Text gegeben wird, ist auch der Name des Buches: Heart of Darkness. In einer berühmten Passage seiner Lektüre des Unheimlichen bedient sich Freud einer Metaphorik, die in einem sehr engen Zusammenhang steht mit der Gestalt, die dieser ›mütterlichen Wildnis‹ bei Conrad gegeben wird. Es kommt oft vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Örtlichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. »Liebe ist Heimweh«, behauptet ein Scherzwort, und wenn der Träumer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Traume denkt: das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter einsetzen. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe »un« an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung.5

Die Finsternis besteht also gerade darin, dass sich das Neue als das nichterinnerte Altvertraute entpuppt, also mit Freud, dass sich gerade dort, wo man die Vergangenheit hinter sich lassen will, diese wiederholt, sich die Nachträglichkeit ereignet: als Unheimliches. Durch den vom »un« der Verdrängung markierten mütterlichen/weiblichen Körper ist sowohl die Spaltung des Begehrens als auch der Ausschluss der Verwiesenheit hindurchgegangen. Diese Markierung verweist darauf, dass sich in diesem phantasmatischen, durch die Genitale repräsentierten Körper, die Ambivalenz des Ursprungs wiederholt, der zugleich versprechen und verbieten muss, um die Spannung der Prozessualität aufrechtzuerhalten. Die Öffnung der Schamlippen erscheint dabei zugleich als Objekt einer möglichen Penetration, einer sexualisierten Hülle, an der sich die phantasmati4 5

Urs Widmer: Nachwort, in: Conrad: Herz der Finsternis, S.191-208, hier: S.203 Sigmund Freud: Das Unheimliche, S.259

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schen Versprechen des Phallus erfüllen können, und als radikale Abwesenheit, die die den Nicht-Ort der vorursprünglichen Verwiesenheit wiederholt. Der sexualisierte, phantasmatische Körper der Frau als Mutter bewohnt also immer zwei Orte auf einmal: als Objekt des phallischen Begehrens und als Inkommensurabilität des Zwischen. Es ist wohl eher dieser Zusammenhang, der die Unheimlichkeit des »weiblichen Genitale« als Effekt der Verdrängung bedingt, als die Erinnerung an den Weg des Neugeborenen (wobei es sicherlich bedeutsam ist, dass sich diese Teilung des Fleisches, die dem Ausschluss der Verwiesenheit vorausgeht, in diesem Zwischen ereignet, dass der erste Blick auf jeden Menschen, ein Blick auf diese Öffnung ist). Im Zwischen dieser sich kreuzenden Verdopplungen öffnet sich die Liminalität einer Ortlosigkeit, deren Name dann in einem ganz bestimmten Sinn vielleicht wirklich »Mutter« wäre. »Mutter« als Phantasma einer Heimat, deren Pforten für immer verschlossen bleiben, und der man doch nicht entrinnen kann. Und »Mutter« als Name dessen, was von der Ökonomie und Syntax dieses Phantasmas verworfen, ausgeschlossen wurde: Diese doppelte Liminalität erwartet uns an allen unentdeckten Orten, auf allen unbeschriebenen Seiten. Mutter wäre dann so etwas wie ein Urwort, ein Nicht-Wort, ein Name für die Liminalität des psychoanalytischen Diskurses (und nicht nur dieses Diskurses) schlechthin. In ihm benennen sich die Übergänge und Grenzen des Psychischen, des Subjekts, der Sprache, der Kultur. Es ist ein Name des »Altvertrauten«, das uns zu einer phantasmatischen ›Vergangenheit‹ geronnen ist, also desjenigen, was wir ständig wiederholen und von dem uns doch kaum ein Zeichen und keine Erinnerung geblieben ist, abgesehen von diesem »un« und den von ihm markierten Phantasmen. Und es ist der Schauplatz dieses Textes, der sich genau in diesem Zwischen (von blank space und heart of darkness) ereignet.

Unspeakable Rites Marlow entdeckt auf den Karten an der Stelle, an der früher einer der größten weißen Flecken war, einen Fluss, der, einer Schlange gleich, in diese Leere eindringt. Dieses Bild fasziniert ihn so sehr, dass er seinen Kindheitswunsch verwirklicht, um auf diesem Fluss das, was einst weiß war, zu erreichen. Neben der Verdopplung von blank space und heart of darkness erweist sich hier ein dritter ›Begriff‹ als bedeutungsvoll, der gewissermaßen das »un« selbst thematisiert. Ein ›Begriff‹ oder besser ein Wort, das eine Auslassung im Text bezeichnet, der scheinbar zentrale Bedeutung zukommt: die Handlung, auf die der Text hinarbeitet, das eigentliche Geschehen in der Inner Station. Kurtz habe dort, so heißt es,

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»unspeakable rites« (Hervorhebung von mir, S.T.) beigewohnt. Dieses Unsprechbare scheint das fehlende Stück zu sein, jene innere Erfahrung, der der Text sich verschrieben hat, die er sehen lassen will. Etwas, was Marlows Erzählung motiviert, was sie antreibt und dem sie Gestalt verleihen will. Es findet betont beiläufige Erwähnung, wenn von Kurtz als Schriftsteller die Rede ist. Kurtz hat nämlich geschrieben, dort in der Wildnis, unter widrigen Bedingungen, und Marlow bekommt das siebzehnseitige Manuskript später in die Hände. The original Kurtz had been educated partly in England, and – as he was good enough to say himself – his sympathies were in the right place. His mother was half-English, his father was half-French. All Europe contributed to the making of Kurtz; and by and by I learned that, most appropriately, the International Society for the Suppression of Savage Customs had intrusted him with the making of a report, for its future guidance. And he had written it, too. I've seen it. I've read it. It was eloquent, vibrating with eloquence, but too high-strung, I think. Seventeen pages of close writing he had found time for! But this must have been before his – let us say – nerves, went wrong, and caused him to preside at certain midnight dances ending with unspeakable rites, which – as far as I reluctantly gathered from what I heard at various times – were offered up to him – do you understand? – to Mr. Kurtz himself. But it was a beautiful piece of writing6

Es ist hier also vom originalen Kurtz die Rede, von seinen Eltern und seiner Herkunft aus zugleich verschiedenen und doch sich aufeinander beziehenden Kulturen. Ein Übersetzungswesen, ausgesandt von einer Zivilisation, die sich die ›Erleuchtung‹ (resp. die Unterwerfung) der rest-

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Conrad, Heart of Darkness, S.83 »Der ursprüngliche Kurtz war zum Teil in England erzogen worden, und seine Sympathien waren – wie er selbst es netterweise formulierte – auf der richtigen Seite. Seine Mutter war eine halbe Engländerin, sein Vater ein halber Franzose. Ganz Europa war daran beteiligt gewesen, Kurtz zustande zu bringen; und nach und nach erfuhr ich, daß ihn die Internationale Gesellschaft für die Unterdrückung wilder Bräuche – sehr passend – beauftragt hatte, einen Bericht zu schreiben, an dem sie ihre zukünftige Zielsetzung orientieren wollte. Und er hatte ihn tatsächlich geschrieben, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gelesen. Er war beredt, vor Beredsamkeit bebend, jedoch allzu überdreht, finde ich. Für siebzehn eng beschriebene Seiten hatte er Zeit gefunden! Aber das muß gewesen sein, bevor ihn seine – sagen wir – Nerven im Stich ließen und ihn soweit brachten, daß er den Vorsitz bei irgendwelchen mitternächtlichen Tänzen übernahm, die mit unbeschreibbaren Riten endeten, welche – wenn ich das, was ich ungern genug immer wieder hörte, richtig mitgekriegt habe – ihm selber galten, versteht ihr?, Herrn Kurtz persönlich. Aber es war ein prächtiges Stück Literatur.« Conrad, Herz der Finsternis, S.96

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lichen Welt vorgenommen hat.7 Das Manuskript handelt davon, dass die Weißen den »savages« als Götter erscheinen müssten, die »By the simple exercise of our will [...] can exert a power for good practically unbounded«. Mit diesen Worten beginnt der Text aus dem Inneren des Urwalds, dann hebt sein »magic current of phrases« an, der seine Wirkung auf Marlow nicht verfehlt.8 Er scheint die uneingeschränkte Macht einer Sprache zu verwirklichen, die sich von ihren Beschränkungen befreit, die allmächtig wird, erhaben, vielleicht rein. Kurtz sieht in der kolonialen Situation die Möglichkeit, sich an die Stelle des Heiligen zu setzen, die Sprache der Götter zu sprechen. Eine Sprache, die nicht scheitert, sondern sich selbst erfüllt, magisch wird; eine Sprache, die das ironische 7

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Conrad nimmt hier wohl Bezug auf die Association Internationale du Congo König Leopolds, in deren Auftrag mit Henry Morton Stanley sicherlich eines der historischen Vorbilder für Kurtz sein Unwesen trieb: »Sie verfolgte hochgesteckte Ziele: Die Erforschung des Kontinents, die Unterdrückung des Sklavenhandels und die Einführung der Zivilisation.« Joseph Ki-Zerbo, Die Geschichte Schwarzafrikas, S.443 Diese ominöse Gesellschaft zur Unterdrückung fremder Riten ließe sich aber auch als eine ironische Anspielung auf jene halb subversive Mittwochsgesellschaft lesen, die sich bald in Wien konstituieren wird. Leider gibt es sie zum Zeitpunkt der Niederschrift noch nicht: das Buch, das die Erfindung der Psychoanalyse verkünden wird, erscheint erst 1899, dem Jahr der Veröffentlichung von Heart of Darkness: Die Traumdeutung. Es ist schon sehr merkwürdig, dass diese beiden Doppelgänger nie miteinander in Berührung kamen. Dass Conrads (wohl auch antisemitisches) Ressentiment dies von seiner Seite verhinderte, lässt sich leicht nachvollziehen, dass es aber keinen Beleg dafür gibt, dass Freud Conrad gelesen hat, einen in den Zwanziger Jahren des »letzten« Jahrhunderts äußerst populären Schriftsteller, der in zahlreichen Übersetzungen zugänglich war, lässt vermuten, auch bei ihm zollte eine gewisse Versagung der Übersetzung ihren Tribut. Die Erwähnung und – die Art und Weise dieser Erwähnung – eines Autoren wie Rider Haggard in der Traumdeutung macht jedenfalls deutlich, dass Freud durchaus Interesse für eine Literatur aufzubringen wusste, die sich auf die in Heart of Darkness behandelten Themen bezog – wenn auch in ›etwas anderer‹ Form. »Ich gehe auf den Anlaß des Traumes ein. Es ist ein Besuch jener Dame Louise N., die auch im Traum der Arbeit assistiert. ›Leih mir etwas zum Lesen.‹ Ich biete ihr ›She‹ von Rider Haggard an. ›Ein sonderbares Buch, aber voll von verstecktem Sinn‹, will ich ihr auseinandersetzen; ›das ewig Weibliche, die Unsterblichkeit unserer Affekte –‹ Da unterbricht sie mich: ›Das kenne ich schon. Hast Du nichts Eigenes?‹ – ›Nein, meine unsterblichen Werke sind noch nicht geschrieben.‹ –« Der zuvor geschilderte Traum beginnt mit der Aufgabe, das eigene Untergestell zu präparieren und führt mitten hinein in den Morast der kolonialen Topographie bis zu einer Hütte, die Freud als Grab interpretiert. Und er endet damit, dass dem Träumenden zwei Bretter bereitgestellt werden, die ihm ermöglichen sollen, einen Abgrund zu überqueren. Stattdessen entdeckt er zwei schlafende Kinder. Die Beschreibung des Traums endet mit den Worten: »Als ob nicht die Bretter, sondern die Kinder den Übergang ermöglichen sollten. Ich erwache mit Gedankenschreck.« (Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Gesammelte Werke – Band II/III, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.1-642, hier: S.456) Es wäre sicher lohnend diese Passage unter Einbeziehung von She noch einmal etwas genauer zu lesen: Henry Rider Haggard: She, London: Penguin 1994 Conrad: Heart of Darkness, S.83

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Diktum Conrads vom »rechten Wort«9 umzusetzen in der Lage ist: Kurtz scheint es gefunden zu haben. Kurtz ist es, der das, was unsprechbar bleiben muss, tut: Er ist die Ankunft der Gewalt und das Ende der Erwartung; in ihm wird das Unmögliche möglich in Gestalt des Grauens. Er ist sozusagen die Wahrheit der Möglichkeit der Übersetzung. Kurtz Text ist das Komplement zu den unspeakable rites und er realisiert das Ideal eines Schreibens, das sich tatsächlich die in den blank spaces versprochene Fülle aneignen kann, tatsächlich hören, sehen und fühlen lässt. Es ist ein Schreiben, das die unsagbare Handlung selbst ist: »unspeakable writes«.10 Reynold Humphries hat in seiner Interpretation von Heart of Darkness die unspeakable rites zum Hauptgegenstand gemacht.11 Er referiert vorausgehende psychoanalytische Lesarten dieser »unsprechbaren Riten«, Kannibalismus, Homosexualität und vor allem: die Urszene, als jener Urphantasie, die am direktesten auf ein ›Sehen‹ bezogen ist, das vielleicht niemals stattgefunden hat und uns dennoch als Subjekt konstituiert. Allen diesen Interpretationen ist gemeinsam, dass sie versuchen, das geheime Zentrum des Textes in einer spezifischen, wenn auch unausgesprochenen sexuellen Handlung rekonstruieren zu können (und es lassen sich im Text reichlich Belegstellen für die verschiedensten ›unsagbaren‹ sexuellen Handlungen finden). Diese sexuelle Handlung wäre dann innerhalb der Dramaturgie der Erzählung gleichsam die nie zu enthüllende Wahrheit, in der sich das Sehen erfüllt, in der endlich sich zeigt, was gesehen werden will. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um den Bereich der Urphantasien handelt, den der Text ständig aufruft. Das geheimnisvolle Zentrum des Textes würde dann aber gerade in dem bestehen, was seine Struktur ohnehin evoziert: die Herrschaft der Phantasmen 9

»Man gebe mir das rechte Wort und die richtige Betonung, dann will ich die Welt schon aus den Angeln heben! Welch ein Traum für einen Schriftsteller! Denn auch geschriebene Worte haben ihre Betonung. Ja! Man lasse mich nur das richtige Wort finden! Es muß doch irgendwo unter den Trümmern all der Klagen und all der Jauchzer liegen, die seit dem Tage ausgestoßen worden sind, da Hoffnung, die Unsterbliche, erstmals zur Welt herniederstieg. Vielleicht liegt es da, unbeachtet, unsichtbar, ganz nahebei. Doch nützt das alles nichts. Ich glaube, es gibt Menschen, die beim ersten Versuch die Stecknadel im Heuhaufen finden, doch ich selber habe dieses Glück nie gehabt.« Conrad: Über mich selbst, S.15 In gewisser Weise ist diese Passage eine ironische Wiederholung seines programmatischen Vorworts zum Nigger von der Narzissus (siehe vorheriges Kapitel). 10 Joseph Dobrinsky: The Artist in Conrad’s fiction – A Psychocritical Study, Anne Arbor 1989, S.6; zitiert nach: Reynold Humphries, Restraint, Cannibalism and the »unspeakable rites« in Heart of Darkness, in: L’Epoque Conradienne, Limogues 1990, S.51-78, hier: S.76 11 Reynold Humphries: Restraint, Cannibalism and the »unspeakable rites« in Heart of Darkness

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der Sexualität, die sich im Geheimnis als ihren eigenen Ursprung ausgeben: »der Ursprung der Phantasie ist eingebunden in die Struktur der Urphantasie selbst«.12 Die unspeakable rites bezeichneten in diesem Sinne das ins Zentrum gerückte Phantasma einer Sexualität als Geheimnis, den Punkt der Wahrheit, die Konstituierung eines Zu-Wissenden, das gerade die Diskurse, die vorgeben es zu verschweigen, notwendig und lustvoll zu wiederholen scheinen.13 12 J. Laplanche und J.B. Pontalis, Urphantasie – Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie, übers. v. Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.41 13 Damit scheint der Text eine geradezu idealtypische Version seines Zeitalters in der Foucaultschen Interpretation zu entwerfen. In Der Wille zum Wissen hat Foucault gezeigt, dass die scheinbare Unterdrückung der Sexualität, ihr ›Verschweigen‹, tatsächlich ihre als Geheimnis erfolgte Inthronisation als Wahrheit des Menschen bedeutet, von der unentwegt gesprochen wird. Insofern wäre die Sexualität und – eher noch – die Konstituierung eines ursprünglichen Sex’ zuallererst eine auf die Disziplinierung der Körper, ihre Unterwerfung unter ein bestimmtes Modell des Wissens abzielende Strategie. Das würde allerdings bedeuten, die textuellen Operationen in Heart of Darkness als Ausdruck dieses »Sexualitäts-Dispositivs« zu verstehen, das an der Territorialisierung des Körpers arbeitet, seiner Zurichtung als Zu-Wissendes. Heart of Darkness ist sicherlich die klassische viktorianische Abenteuererzählung, in der sich die Verbindung von Kolonialismus, Sexualität und Wissen resp. Wahrheit am nachdrücklichsten figuriert hat: bis heute ist die Rede vom ›Herz der Finsternis‹, wenn es um einen dieser Bereiche geht, ein Allgemeinplatz. Sein phantasmagorisches Universum, dessen Figuration Kurtz wäre und dessen Vollstrecker Marlow, seine Figurationen der Unmöglichkeit und seine Schwellen arbeiteten demnach immer schon an der Produktion dieses Geheimnisses, das man vielleicht als die spezifisch koloniale Konzeption bzw. Verleugnung der Übersetzung lesen könnte. »Die Gesellschaft, die sich im 18. Jahrhundert entwickelt – man mag sie bürgerlich, kapitalistisch oder industriell nennen – hat dem Sex nicht eine fundamentale Erkenntnisverweigerung entgegengesetzt. Sie hat im Gegenteil einen ganzen Apparat in Gang gebracht, um wahre Diskurse über ihn zu produzieren. Sie hat nicht nur viel von ihm gesprochen und jeden gezwungen, von ihm zu sprechen, sondern ist angetreten, seine geregelte Wahrheit zu formulieren. Als verdächtigte sie ihn eines kapitalen Geheimnisses. Als sei sie auf diese Wahrheitsproduktion angewiesen. Als sei es ihr wesentlich, daß der Sex nicht nur einer Ökonomie der Lust, sondern auch einem System der Wahrheit eingeschrieben ist. Auf diese Weise ist er allmählich zum Gegenstand des großen Verdachts geworden; zum allgemeinen und beunruhigenden Sinn, welcher uns zum Trotz unser Verhalten und unsere Existenzen durchkreuzt; zum schwachen Punkt, von dem uns das Unheil droht; zum Stück Nacht, das jeder von uns in sich trägt. Allgemeine Bedeutung, universales Geheimnis, allgegenwärtige Ursache, Angst, die nie weicht. So daß sich am Ende dieser »Frage« des Sexes (im zweifachen Sinn von Befragung und Problematisierung, von Geständnisforderung und Integration in ein Rationalitätsfeld) zwei Prozesse entwickeln, die stets aufeinander verweisen: wir fordern den Sex auf, seine Wahrheit zu sagen (aber weil er das Geheimnis ist, das sich selbst entgeht, halten wir uns damit zurück, die endlich aufgeklärte, die endlich entzifferte Wahrheit seiner Wahrheit zu sagen), oder vielmehr die Wahrheit, die tief unter jener Wahrheit unser selbst vergraben liegt, die wir im unmittelbaren Bewußtsein zu haben vermeinen. Wir sagen ihm seine Wahrheit, indem wir entziffern, was er uns von sich sagt; er sagt uns die unsere, indem er befreit, was sich davon entzieht. Aus diesem

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In dem Moment jedoch, kurz bevor Marlow sich aufmacht gerade das zu tun, was er bisher weitgehend vermieden hat, nämlich das Land zu betreten, das für ihn einst ein weißer Fleck war, ereignet sich etwas, das Humphries in Zusammenhang mit der Urszene bringt. Marlow wird von einem »abrupt burst of yells, an overwhelming outbreak of a pent-up« 14 aus einem leichten Dämmerschlaf gerissen, schaut in die Kabine, in der Kurtz sich nicht mehr befindet, und doch scheint er etwas zu sehen: eine Abwesenheit – die Abwesenheit eben desjenigen, dessen Anwesenheit der Text ermöglichen wollte. I think I would have raised an outcry if I had believed my eyes. But I didn't believe them at first – the thing seemed so impossible. The fact is I was completely unnerved by a sheer blank fright, pure abstract terror, unconnected with any distinct shape of physical danger. What made this emotion so overpowering was – how shall I define it? – the moral shock I received, as if something altogether monstrous, intolerable to thought and odious to the soul, had been thrust upon me unexpectedly. This lasted of course the merest fraction of a second, and then the usual sense of commonplace, deadly danger, the possibility of a sudden onslaught and massacre, or something of the kind, which I saw impending, was positively welcome and composing. It pacified me, in fact, so much that I did not raise an alarm.15

Spiel hat sich im Verlauf mehrerer Jahrhunderte langsam ein Wissen vom Subjekt gebildet; nicht so sehr ein Wissen von seiner Form, sondern von dem, was es spaltet, was es möglicherweise determiniert, vor allem aber sich selber stets entgehen läßt.« Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1 – Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S.88f. Foucaults Buch bildet den Abschluss einer sich durch sein – mit einer kurzen Unterbrechung – ganzes Werk ziehenden umfassenden Kritik an der Psychoanalyse. Dabei stellt er das gesamte für die Psychoanalyse so zentrale Konzept der Verdrängung und damit auch das der Übersetzung in Frage. Ohne eine wirkliche Lektüre der Foucaultschen Kritik der ›Repressionshypothese‹ unternehmen zu können, möchte ich darauf hinweisen, dass Foucault die spezifischen Mehrdeutigkeiten und Öffnungen innerhalb der psychoanalytischen Texte – warum auch immer – übersieht. Wie ich im vorhergehenden Kapitel zu zeigen versucht habe, stellen gerade die in der Psychoanalyse hervorgebrachten textuellen Strategien Mittel bereit, über die Dichotomien von Repression und Befreiung, Gesetz und Übertretung, Allmacht und Mangel hinauszugelangen. 14 Conrad: Heart of Darkness, S.104 15 Conrad: Heart of Darkness, S.104 »Ich glaube, ich hätte laut losgeschrien, wenn ich meinen Augen getraut hätte. Aber das tat ich zuerst nicht – es schien so unmöglich. Tatsache ist, daß mich eine offene, grenzenlose Panik überschwemmte, reines abstraktes Entsetzen, das mit irgendeinem präzisen Gefühl für eine körperliche Gefahr nichts zu tun hatte. Was dieses Gefühl so überwältigend machte, war – wie soll ich das definieren? – die moralische Erschütterung, die ich verspürte, als sei unerwartet etwas ganz Ungeheuerliches, für das Denken Unerträgliches und der Seele Verhaßtes über mich hereingebrochen. Das dauerte natürlich

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Wir erfahren lediglich, dass Marlow in eine leere Kabine schaut, in der ein Licht brennt, und doch scheint sich hier das vom Text beschworene Sehen zu erfüllen, indem es implodiert: Marlow weigert sich, seinen Augen zu trauen. Die blank fright scheint somit direkt auf den Blick in die blank space zu antworten: Es handelt sich um die genaue Beschreibung einer Traumatisierung, in der das, was geschieht oder gesehen wird, sich dem Vermögen zur Konzeptionalisierung, zur Einbindung – zur Übersetzung – entzieht. Es ist nur ein Augenblick, dann gelingt es Marlow, den von dieser Angst ausgehenden Bruch zu schließen, indem er sich sozusagen in den Dämmer der Gewohnheit, das Phantasma einer Kontinuität zurückzieht: Der Riss dieses Augenblicks jedoch bleibt bestehen. Es spricht viel dafür, mit Humphries ein Wiederauftauchen einer traumatisierenden Urszene anzunehmen, doch worin besteht sie? Das Ungeheuerliche ist, dass die Kabine leer ist, das etwas nicht an seinem Platz ist, sondern anderswo. Und zu diesem Anderswo werden im selben Moment die blank spaces. Was heißen würde: In der ausgeleuchteten Leere der Kabine wiederholt sich die Abwesenheit einer Abwesenheit, die sich in keine Prozessualität überführen lässt, sondern absolute, bindungslose Abwesenheit ist (wie das russische Nicht-Nichts). Diesen Mund kann kein Wort füllen, dieser Kern affiziert keine Hülle, die Introjektion ist verunmöglicht. Abwesenheit und Anwesenheit bleiben getrennt, da die Abwesenheit ein traumatisches Anderswo, einen Bruch wiederholt, der das erzählerische Kontinuum als Lücke, als grundsätzliche Deplatzierung unterbricht. Der Text – und das wäre meine These – verschiebt diese unschließbare Lücke durch das Wörtlichnehmen der Phantasmen der Sexualität (des Kannibalismus, der Homosexualität, der Urszene) ins Imaginäre. Deren Bedrohlichkeit lässt sich in die Dramaturgie des Textes überführen und dennoch wiederholen sie ihrerseits ständig diese Lücke: als das zirkuläre Scheitern an der Unmöglichkeit der Übersetzung. Das eigentliche Unbewusste des Textes jedoch, so Humphries, ist das, worin dieses Anderswo als Spaltung von An- und Abwesenheit sich aufhält: »the ›blank‹ is his [the text’s, S.T.] unconscious desire for the mother’s body«.16

nicht länger als ein Sekundenbruchteil, und dann tröstete und stärkte mich auch schon das Gefühl einer altgewohnten, tödlichen Gefahr, die Möglichkeit, plötzlich abgeschlachtet und in Stücke gehauen zu werden, oder etwas in der Art, gleich jetzt. Es beruhigte mich tatsächlich so sehr, daß ich nicht einmal Alarm schlug.« Conrad: Herz der Finsternis, S.124 16 Reynold Humphries, Restraint, Cannibalism and the »unspeakable rites« in Heart of Darkness, S.75.

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Der Körper der Mutter Wenn der ›mütterliche Körper‹ tatsächlich so etwas ist wie die psychische Repräsentanz oder das Phantasma eines Zu-Übersetzenden, vielleicht sogar die Figuration oder besser das Supplement des Objekts der Ur-Verdrängung selbst (wie bspw. Kristeva nahe legen würde), dann ist das auf ihn gerichtete Begehren, das Begehren nach der Möglichkeit der Übersetzung. Das Inzesttabu in seiner allgemeinsten, sagen wir: vorläufigen Definition, gibt vor, als kulturelle Institution die Trennung von Mutter und Kind durchzusetzen. Es bezieht sich damit auf jene fundamentale Trennung, die das Kind einer Abwesenheit ausliefert, die den psychischen Raum eröffnet: die Ökonomie des Begehrens, den Raum des Phantasmas, der Übersetzung. Dieser Raum ist tendenziell immer inzestuös, er ist angefüllt mit imaginären Orten, die ein unmögliches Außerkraftsetzen des Tabus versprechen, ein Aufheben der Trennungen, der Abwesenheit. D.h., er installiert eine imaginäre Anwesenheit, die verwiesen ist auf die Abwesenheit, die ihn hervorgebracht hat. Die ihn bewohnenden Phantasmen sind Effekte dieser Abwesenheit, aber sie konstituieren sich entlang der vom Tabu vorgegebenen Syntax der Präsenz, und versuchen, das Begehren in ihrer Ökonomie zu figurieren. So ergibt sich die verwirrende Situation, dass das Tabu scheinbar genau jene Figurationen des Begehrens untersagt, die es selbst hervorgebracht hat. Es ist das Tabu, das »un« im Sinne Freuds kursiv zu lesen und es ist zugleich das Tabu, das dieses »un« geschrieben hat. Zu dieser inzestuösen Berührung scheinen die Wörter in Conrads Text aufzubrechen und deren Unmöglichkeit ist die Leere, von der sie zurückkehren. Damit wird aber deutlich, dass der Text sich selbst als Ergebnis eines inzestuösen Begehrens, ja als inzestuöser Akt präsentiert, der Inzest also Ergebnis der Performanz des Textes ist. Edward Said hat im Zusammenhang mit Conrad darauf hingewiesen, dass die Verneinung nach Freud »eine Art [sei], das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen«.17 Said bezieht das auf Conrads Verneinung des Schreibens, das sich in fast allen seinen Texten als Mündlichkeit ausgibt. Wobei Conrad demnach nicht verdrängt, was er schreibt, sondern dass er 17 Edward W. Said: Conrad: Die Präsentation des Erzählens, in: Ders., Die Welt, der Text und der Kritiker, S.126 Bei Freud heißt es: »Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten. Man sieht, wie sich hier die intellektuelle Funktion vom affektiven Vorgang scheidet.« Sigmund Freud: Die Verneinung, in: Ders. Gesammelte Werke Band XIV, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.9-15, hier: S.11

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schreibt. Die Verneinung des Schreibens nimmt folglich seine Verdrängung zur Kenntnis. Mündlichkeit wäre demnach nichts anderes als dieses Zur-Kenntnis-Nehmen als Möglichkeit etwas stattzugeben, das ansonsten unterlassen werden müsste. Verneinung und Verdrängung bilden hier folglich so etwas wie eine doppelte Versagung, eine weitere Verdopplung also, die in ihren Zwischenräumen, die bei Conrad Mündlichkeit heißen, etwas stattfinden lässt, was man vielleicht als die spezifische Gestalt der Conradschen Übersetzung bezeichnen könnte. Kurtz, »the voice«, erscheint als das Außen dieser Mündlichkeit, das der mündliche Erzähler Marlow an Bord der Nellie zu erreichen vorgibt. Er ist die Grenze, die es zu erreichen gilt. Die ganze unter dem Zeichen der Verneinung vorgenommene Selbstthematisierung des Schreibens scheint folglich die Funktion zu haben, diesem inzestuösen Begehren, ja diesem Inzest nicht nur die Möglichkeit zu geben, stattzufinden, sondern es als Begehren überhaupt erst zu produzieren. Das Objekt dieses Begehrens hat hier keinen anderen Ort als den Akt des Schreibens und dieser wird nicht nur zum verdrängten Begehren, sondern selbst zum »verbotenen Objekt«: Wenn das Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus angenommen hat oder wenn das Gehen zum symbolischen Ersatz des Stampfens auf dem Leib der Mutter Erde geworden ist, dann wird beides, Schreiben und Gehen, unterlassen, weil es so ist, als ob man die verbotene sexuelle Handlung ausführen würde.18

Von diesem als ob ist dieser Text gezeichnet, es markiert seine Grenze: Sowohl das Schreiben als auch das Betreten des festen Landes sind hier tatsächlich tabuisierte Handlungen und die Anstrengung, die der Text unternimmt, ist es, dieses als ob – in seinem Netz aus Verneinung und Verdopplung – stattfinden zu lassen. Kurtz ist die Figur, die dieses symbolische und neurotisch/imaginäre als ob durchstreicht, der also die konstitutive Verdrängung aufhebt und von der Introjektion zur Inkorporation übergeht, indem er das Tabu überschreitet: Für Kurtz ist sowohl das Schreiben als auch das Betreten der blank space tatsächlich der Vollzug 18 Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst, in: Ders., Gesammelte Werke band XIV, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.111-205, hier: S.116 Zweifelsohne einer der Texte Freuds, die sich der Unmöglichkeit der Übersetzung am eindrücklichsten ausliefern. Mit obigem Zitat beschließt übrigens Jacques Derrida seinen frühen Freud Aufsatz, in dem er dem Schauplatz der Schrift bei Freud anhand dessen Denken der Bahnung und der Spur nachgeht. Jacques Derida: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S.302-350, hier: S.348

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eines inzestuösen Akts. Doch gerade diese Überschreitung sperrt ihn ein in die Syntax des Tabus, lässt ihn in die Falle des Versprechens der Möglichkeit gehen, der der Text sich zu entziehen, die er zumindest aufzuschieben versucht. Marlow als textueller Ort der Verneinung (des Schreibens) bewegt sich geradezu am Rande dieses ›Geheimnisses‹, in dem die ›Realisierung‹ der Kurtzschen Phantasmagorien eingeschlossen ist, um in seiner Mobilisierung der Sprache, ihrer Zwischenräumen, ihrer Magie, aber auch in der ironischen Brechung und dem Bezug auf die reine Mittelbarkeit des seemännischen Handwerks (Towsons Buch) diesen Aufschub zu ermöglichen. Diese Sprache errichtet in der Rückwendung auf sich selbst so etwas wie einen virtuellen autoerotischen Raum, den sie nicht überschreiten kann, der ihr aber die Möglichkeit gibt, den Stillstand ihrer fetischisierenden Phantasmen durch eine Geste aktiver Reflexivität in Bewegung zu bringen. Diese Rückwendung bewirkt aber zugleich eine Distanzierung oder antwortet vielmehr auf eine solche und produziert diesen Raum, der zugleich vertraut und fremd ist. Der Text, sein sexualisiertes Begehren, tritt sich gewissermaßen als anderer, als Begehren eines Anderen, entgegen, dessen Objekt er selbst ist. In jedem Fall ist der beherrschende Faktor nicht die narrative Energie, sondern ein fatalistischer Wunsch, das Selbst passiv als ein Objekt zu sehen, über das in Äußerungen erzählt, nachgegrübelt, gerätselt und gestaunt wird.19

Dieses Verhältnis zu seinen Figuren, das davon gekennzeichnet ist, »daß man sich weder seine eigene Lebenserfahrung vollkommen vergegenwärtigen noch die eines anderen ganz begreifen kann«20, unterhält der Text auch zu sich selbst: Er ist geprägt von einem grundsätzlichen Misstrauen, einer Distanz seinen Worten, seiner Sprache, vor allem aber dem Begehren, das sich in ihr artikuliert, gegenüber. Aus diesem Misstrauen, dieser Distanz gegenüber sich selbst, gewinnt er die vervielfältigende Bewegung, die Verfremdungseffekte einer auf sich selbst bezogenen Sprachlichkeit: der Übersetzung, auch wenn sie scheitern muss. Dieser eigene Andere, dem das Begehren des Textes zugeschrieben wird, ist natürlich niemand anders als Kurtz, die totale Anwesenheit des Kurtzschen narzisstischen Universums, in dem sich das Begehren nach dem verbotenen Objekt erfüllt. In Kurtz figuriert sich die ›Wahrheit‹ einer gewaltsamen Aneignung des Abwesenden, und der Text inszeniert dies als den anderen Schau19 Said: Conrad: Die Präsentation des Erzählens, S.120 (Said bezieht sich hier auf Lord Jim) 20 Said: Conrad: Die Präsentation des Erzählens, S.120

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platz einer alles verschlingenden Performanz, als Gewalt, die sich gegen genau das richtet, was erreicht werden soll: das Abwesende. Der Blick in die Kabine wäre der Blick auf diesen anderen Schauplatz, der das, worauf das sexuelle Begehren des Textes gerichtet ist, sich immer schon anderswo ereignen lässt. Von dieser Kurtzschen Performanz, in der sich sein eigenes Begehren figuriert, distanziert sich der Text. Und beides: Sowohl diese Performanz als auch die Distanzierung von ihr antworten auf die traumatische Unterbrechung, die der Text in seinem ständigen Scheitern an dem eigenen Begehren zu übersetzen wiederholt. Kurtz erscheint hier als die Wahrheit eines auf die blank spaces gerichteten Begehrens und er ist zugleich der Ausschluss dessen, was sich in ihnen als Potentialität versprach, gerade indem er sie sich einzuverleiben sucht. Die Funktion des unspeakable ist es, an diesem Begehren fest- und es zugleich auf Abstand halten zu können. Es kann und darf in Marlows mündlicher Erzählung nur verneint oder als Scheitern auftauchen. Der Text setzt so an die Stelle des Mordes, der gewaltsamen Aneignung, die Reihen seiner Verdopplungen, seiner scheiternden Zirkularität. Sterben muss das Phantasma des Rivalen, des ›Vaters‹, des Antipoden, als der Kurtz erscheint, damit die Dimension der Unmöglichkeit zumindest als Scheitern aufrecht erhalten, die blank spaces zumindest virtuell offen gehalten werden können. Der Mord, das Trauma, der Tod werden so immer weiter aufgeschoben, ohne dass sie aufgehalten werden könnten. Ihren Supplementen, den sexuellen Fetischen oder Phantasmen, wird dieses auf der Verneinung beruhende ›Zwischen‹ der Mündlichkeit abgerungen, indem sie allesamt dem Rivalen, der Kurtzschen Performanz, zugeschrieben werden. In der Verneinung als Verdopplung der Versagung, die die anderen Verdopplungsreihen konstituiert, öffnet sich der Spalt dieses Aufschubs, dieses virtuellen ›Zwischen‹ der autoerotischen Verdopplung, dieser weißen Flecken. Dafür spricht sicherlich, dass mit dem Ineinanderfallen von Lüge und Grauen der Text endet, die Verdopplungen implodieren und der Mund Marlows als Raum dieses ›Zwischen‹ sich schließt.

Die verdoppelte Frau Nach diesen etwas freischwebenden Behauptungen möchte ich noch einmal näher auf die Ur-Szene des Textes eingehen, indem ich den bisherigen eine weitere Verdopplung hinzufüge, die direkt auf die Figurationen der Sexualität und des Todes innerhalb der Erzählung verweist: die verdoppelte Frau. Frauen tauchen bereits zu Beginn in zentralen Nebenrollen am Eingang zum Herzen der Finsternis auf: Marlows Tante, deren

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Beziehungen ihm die Reise dorthin überhaupt ermöglichen (»I tried the women«21), und die Strickerinnen, die als Schicksalsgöttinen das Tor dorthin zu bewachen scheinen. Neben diesen Hüterinnen am Eingang zum Herzen der Finsternis tauchen zwei Frauen auf, die durch ihre Beziehung zu Kurtz definiert sind: Seine schwarze ›Geliebte‹ – the woman – in der Inner Station und seine weiße Verlobte – the Intended – in der whited sepulchred city. Letztere wird vom Erzähler mit dem Tod und der Lüge, erstere mit dem Eros und der Perversion in Verbindung gebracht. Freud schreibt in seinem Verneinungsaufsatz zu den zentralen Figuren des Urteilens: »Die Bejahung – als Ersatz der Vereinigung – gehört dem Eros an, die Verneinung – Nachfolge der Ausstoßung – dem Destruktionstrieb«.22 Es ist klar, dass die schwarze Frau in unmittelbarer Beziehung zu dem steht, was unsagbar bleiben muss, während Kurtz immer wieder betont, seine Verlobte müsse »out of it« bleiben, sie dürfe nichts damit zu tun haben. Die Verlobte bezeichnet somit eben den Bruch, die Distanz, die den Text von seinem eigenen Begehren trennt. Man könnte also sagen, die Verlobte bezeichnete dieses Nicht-Sagen oder Un-Sagen selbst, in der der Text das unspeakable der schwarzen Frau erscheinen lässt. Demnach wäre die Verlobte die Verneinung der verdrängten und in der schwarzen Frau figurierten Bejahung des Wunsches, des sexualisierten Begehrens. Die schwarze Frau entspräche folglich dem »Zu-Sehenden«, dem Phantasma, dem Bild dessen, was angeblich unsprechbar bleibt (sie bleibt innerhalb der Erzählung stumm), die weiße Frau wiederum der spezifischen Gestalt, in der dieses Verdrängte Eingang in die Erzählung findet. Ich habe bereits oben angedeutet, dass die Verneinung und somit die Verdrängung sich auf das Schreiben selbst beziehen, was in diesem Zusammenhang heißen würde, dass die Geliebte die gewalttätige Aneignung der Schreib-Szene selbst, die Verlobte ihr Nicht-Erscheinen innerhalb des Textes figurierte. Die Verlobte wäre demnach die Figuration der Art und Weise, in der das, wofür die Geliebte zu stehen scheint, das Phantasma einer Sexualität, die sich in der Überschreitung erfüllt, den Text strukturiert. Durch diese beiden Frauengestalten werden geradezu zwei unterschiedliche Reihen der Verdopplung begründet, so dass man von einer Reihe Europa – Tod – Verlobte – Sprache – Verneinung und einer zweiten »Afrika« – Sexualität – the woman – Bild – Bejahung sprechen könnte. Blank space und heart of darkness ließen sich zwar scheinbar diesen beiden (letztlich auf Eros und Thanatos bezogenen) Reihen zuordnen, aber sie brechen zugleich mit dem Anschein dieser Dicho-

21 Conrad: Heart of Darkness, S.23 22 Freud: Die Verneinung, S.324

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tomien und enthüllen den Chiasmus der Verdopplungen. Dieser Chiasmus ist paradoxerweise ein Bruch, ein Spalt, den die Verneinung verdeckt. Und dieser Hiatus ist es, der das Zirkulieren des Anderswo im Text als grundsätzliche Deplatzierung eröffnet. Das Schreiben gibt vor, nichts als das Bild zu wollen, zu sein, während das Bild, als das Unsprechbare, als Geheimnis, die Wörter erst hervorzubringen scheint, dabei aber selbst unsichtbar bleibt. Die Wörter wären demnach der Schauplatz des Chiasmus, der – in gewisser Weise jedenfalls – der Inzest selbst wäre, der in der gegenseitigen Durchkreuzung der beiden Reihen vollzogen würde. Es ist folglich so, als ob es die Wörter selbst sind, in denen sich nicht nur das sexualisierte Begehren nach, sondern die gewalttätige Aneignung des verbotenen phantasmatischen Objekts, das hier der Körper der Mutter genannt wurde, vollzieht. D.h. nichts anderes als das das Begehren des Textes selbst die traumatische Unterbrechung herstellt, die sich im Anderswo der blank fright artikuliert. Für diese doppelte Bewegung des Textes seinem eigenen Begehren gegenüber stehen die beiden Frauen ein. Zwischen ihnen öffnet sich der Hiatus der traumatischen Unterbrechung als grundlegende Deplatzierung, der die Furcht Marlows beim Blick in die Kabine auslöst: eben das sich das, worauf die Erzählung bzw. das sie strukturierende Begehren aus ist, immer anderswo ereignen muss. Und der Schrecken besteht gerade in dem schockartigen Aufblitzen eines ›Wissens‹ darüber, dass dieses Anderswo die Erzählung, ihre Worte, ihre performative oder skripturale Praxis selbst ist. In gewisser Weise – ich komme gleich darauf zurück – setzt die Verneinung als Verdopplung die Dynamik der konstitutiven Verdrängung als Virtualität, als ›als ob‹, wieder ein, obwohl sie vom Bruch, den die koloniale Erfahrung als Aneignung des phantasmatischen Objekts für den Text bedeutet, außer Kraft gesetzt wurde. Der Preis ist die Zirkulation des Anderswo, der Deplatzierung, die den Text und seine virtuelle Bewegung von nun an heimsucht. Sie ermöglicht dennoch jenen Aufschub, in dem es zur Implosion der blank fright und den letzten Worten von Kurtz – »the horror« – kommen kann.

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Die Krypta In der letzten Szene der Erzählung treten beide Frauen und damit beide von ihnen konstituierten Reihen unmittelbar miteinander in Kontakt: Marlow sucht die Verlobte, die ihn wie eine lebende Tote in ihrer Grabkammer erwartet, auf.23 Inmitten dieser Krypta fragt ihn die Verlobte 23 »The dusk was falling. I had to wait in a lofty drawing-room with three long windows from floor to ceiling that were like three luminous and bedraped columns. The bent gilt legs and backs of the furniture shone in indistinct curves. The tall marble fireplace had a cold and monumental whiteness. A grand piano stood massively in a corner; with dark gleams on the flat surfaces like a sombre and polished sarcophagus. A high door opened closed I rose. »She came forward, all in black, with a pale head, floating towards me in the dusk. She was in mourning. It was more than a year since his death, more than year since the news came; she seemed as though she would remember and mourn forever. She took both my hands in hers and murmured, ›I had heard you were coming.‹ I noticed she was not very young – I mean not girlish. She had a mature capacity for fidelity, for belief, for suffering. The room seemed to have grown darker, as if all the sad light of the cloudy evening had taken refuge on her fore-head. This fair hair, this pale visage, this pure brow, seemed surrounded by an ashy halo from which the dark eyes looked out at me. Their glance was guileless, profound, confident, and trustful. She carried her sorrowful head as though she were proud of that sorrow, as though she would say, I – I alone know how to mourn for him as he deserves. But while we were still shaking hands, such a look of awful desolation came upon her face that I perceived she was one of those creatures that are not the playthings of Time. For her he had died only yesterday. And, by Jove! the impression was so powerful that for me, too, he seemed to have died only yesterday – nay, this very minute.« Conrad: Heart of Darkness, S.118f. »Es dämmerte. Ich musste in einem hohen Salon mit drei schmalen Fenstern warten, die vom Boden bis zur Decke reichten und wie drei leuchtende Säulen mit Vorhängen aussahen. Die gebogenen, vergoldeten Beine und Rückenlehnen der Möbel schimmerten undeutlich. Der hohe Marmorkamin war kalt, ein weißes Denkmal. Ein großes Klavier stand wie ein Klotz in einer Ecke; mit dunklen Glanzlichtern auf der spiegelglatten Oberfläche, wie ein düsterer und auf Hochglanz polierter Sarkophag. Eine hohe Tür ging auf – und wieder zu. Ich erhob mich. Sie kam näher, ganz in Schwarz, mit einem bleichen Schädel, schwebte in der Dämmerung auf mich zu. Sie trug Trauer. Seit seinem Tod war mehr als ein Jahr vergangen, mehr als ein Jahr, seit sie die Nachricht erhalten hatte; sie sah aus, als wollte sie immer an ihn denken und ewig um ihn trauern. Sie nahm meine beiden Hände in die ihren und murmelte: ›Ich wusste bereits, dass sie kommen würden.‹ Mir fiel auf, dass sie nicht sehr jung war – ich will sagen, kein junges Mädchen. Sie war reif genug, treu zu sein, zu glauben, zu leiden. Das Zimmer schien dunkler geworden zu sein, als habe all das traurige Licht des wolkenverhangenen Abends auf ihrer Stirn Zuflucht gefunden. Diese blonden Haare, dieses bleiche Gesicht, diese reine Miene schienen von einem aschenfarbenen Hof umgeben zu sein, aus dem mich ihre dunklen Augen ansahen. Sie blickten offen, tief, vertrauensvoll und aufrichtig. Sie trug ihren kummervollen Kopf so, als sei sie auf diesen Kummer stolz, als wolle sie sagen: Ich – nur ich kann so um ihn trauern, wie er das verdient. Aber während wir uns immer noch die Hände schüttelten, wurde ihr Gesicht so schrecklich verzweifelt, dass mir klar wurde: sie war eins jener Geschöpfe, die nicht der Spielball der Zeit sind. Für sie war er erst ges-

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nach Kurtz. Sie will Worte von Marlow, mehr Worte, letzte Worte. Mit diesen Worten will sie ihre Trauer stillen. Denn indem sie sich diese Worte einverleibt, nach denen sie giert wie die ›Kannibalen‹ an Bord des Dampfers nach Menschenfleisch, trauert sie um den Toten »as he deserves«. Sie errichtet ihm eine Krypta, indem sie die Worte desjenigen, der mit seinen Worten alles verschlingen wollte, verschlingt. Marlow sagt es ganz deutlich: »she talked as thirsty men drink«.24. Doch das Szenario dieser Szene macht auch deutlich: Diese Krypta ist nicht einfach Folge einer Melancholie, eines persönlichen Objektverlustes, dieser Verlust spiegelt sich in den kryptophoren Mauern der Totengruftstadt selbst. Der Leser weiß und Marlow erinnert ihn wiederholt daran, dass es sich bei diesen letzten Worten um jenen kaum noch hörbaren, doppelten geflüsterten Schrei handelt: »The horror! The horror!« Und Marlow antwortet: »The last word he pronounced was – your name«.25 Die Verbindung des Grauens mit dieser ›Lüge‹ (es wäre schön für Marlow, wäre es eine) ist so etwas wie die Schwelle, der von der Erzählung selbst konstruierte blinde Fleck des Textes, durch ihn hindurch scheinen sich alle seine Worte, alle seine Figuren zu berühren, indem sie sich verfehlen. Denn genau hier wiederholt sich das Anderswo, indem es zwischen den Frauen, Kurtz und Marlow zirkuliert: das Grauen – man verzeihe mir die etwas umständliche Formulierung – als Reaktion auf das Anderswo des Zwischen der Frauen. Es ist diese grundsätzliche Deplatzierung, als die das Zwischen durch alle Ritzen in den es ausschließenden Text dringt und sich im letzten Atmen eines Sterbenden, dem Paradoxon des geflüsterten Schreis, artikuliert: »He cried in whisper at some image, at some vision [...]«26 Dieses Bild oder diese Vision scheint den Ort des Phantasmas zu »repräsentieren«. Sein ›Ur-Wort‹ antwortet auf dieses Bild, dieses unsichtbare Phantasma, dessen Sichtbarmachung der gesamte Text sich eigentlich vorgenommen zu haben scheint. Doch zugleich markiert das at die Differenz

tern gestorben. Und, weiß der Himmel!, der Eindruck war so machtvoll, dass er auch für mich erst gestern gestorben zu sein schien – quatsch, eben jetzt erst.« Conrad: Herz der Finsternis, S.143f. 24 Conrad: Heart of Darkness, S.120 Hier ist der ganze Komplex des Kannibalismus in diesem Text spürbar, in dessen Zentrum natürlich das sprachliche Einverleibungskonzept Kurtz’ steht. Es treten allerdings auch »echte« Kannibalen in der Erzählung auf: Die Drohung der Einverleibung durch die auf dem Boot anwesenden »Kannibalen«, die mit fauligem Flusspferdfleisch abgespeist werden, ist ein durchgängiges Motiv. Wobei recht deutlich wird, dass die Faszination, die von dem ausgeht, was die Alternative zu diesem fauligen Kadaver wäre, sich durchaus auf den Erzähler zu übertragen scheint (bzw. von ihm auf Kurtz, seine Stimme, seine Wörter, seine Einverleibung des mütterlichen Körpers übertragen wird). 25 Conrad: Heart of Darkness, S.123 26 Conrad: Heart of Darkness, S.112

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der Worte, die Verneinung, die den Schrecken auf Abstand halten soll und der sich doch erst in ihr behauptet. Sowohl das Bild des Phantasmas als auch das zurückweisende Wort sind nur die Schatten jenes eigentlichen Ereignisses des Atmens, des geflüsterten Schreis, des Akts der Artikulation selbst. Dieses Atmen ist die Schwelle schlechthin, das Außen einer Performanz, die nichts mehr textualisiert, reine Materialität: »a cry that was no more than a breath – ...«27 Im Bild und den ihm antwortenden Wort begegnen sich das Phantasma der verlangenden stummen und ihr Doppel, die nach den letzten Worten gierende Frau. Und Kurtz sterbender Körper, sein letzter Atem, entfaltet jenen Raum, der diese Verdopplung aufhebt: in der absoluten Liminalität zwischen Leben und Tod, Innen und Außen. Eine Ortlosigkeit, die alles zu erfassen scheint und die nur in der ›Lüge‹, in der Auslieferung an den Tod (denn vielleicht ist das der wahre Name der Verlobten) beendet werden kann. I saw her and him in the same instant of time – his death and her sorrow – I saw her sorrow in the very moment of his death. Do you understand? I saw them together – I heard them together. She had said, with a deep catch of the breath, »I have survived« while my strained ears seemed to hear distinctly, mingled with her tone of despairing regret, the summing up whisper of his eternal condemnation. I asked myself what I was doing there, with a sensation of panic in my heart as though I had blundered into a place of cruel and absurd mysteries not fit for a human being to behold.28

Hier wiederholt sich die blank fright als panic genau in dem Moment, in dem die narzisstische Supplementierung des Hiatus inkorporiert wird. Dieses Überleben bezeugt nichts anderes als den Triumph des Todes. Hier wird die Verlobte tatsächlich zu diesem Tod, in dem das Zwischen endgültig ausgeschlossen und die Zirkulation des Anderswo im Text beendet wird: Von nun hat es einen festen, ummauerten Ort, die Phantasmen bleiben unverrückbar und ohne irgend eine Anbindung an jedwede

27 Conrad: Heart of Darkness, S.112 28 Conrad: Heart of Darkness, S.119 »Ich sah sie und ihn im selben Augenblick – seinen Tod und ihren Kummer – ich sah ihren Kummer im Augenblick seines Todes. Versteht ihr? Ich sah sie zusammen – ich hörte sie zusammen. Sie hatte, tief einatmend, gesagt: ›Ich habe überlebt‹, während meine überwachen Ohren deutlich – vermischt mit dem Klang ihrer verzweifelten Trauer – das Flüstern hörten, das seine ewige Verdammnis in Worte fasste. Ich fragte mich, wo zum Teufel ich hingeraten war, und spürte eine panische Angst in mir hochsteigen, als habe es mich an einen Ort grausamer und absurder Geheimnisse verschlagen, die ein menschliches Wesen nicht zu Gesicht kriegen durfte.« Conrad: Herz der Finsternis, S.144

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Prozessualität. Das Verlangen, das sich noch in den ausgestreckten Armen ihrer stummen Doppelgängerin am Ufer des Flusses figurierte29, ist vollständig ausgelöscht. In der Krypta gibt es kein Verlangen mehr, keine Sexualität und keine Überschreitung. Anstelle des Atmens herrscht hier nur der Stillstand, die Erstarrung des Todes, eine Sehnsucht nach Worten, die einst gesprochen wurden und nicht wiederholt werden können, da der Schauplatz, an dem sie gesprochen werden konnten, an dem sich die Erfüllung des Begehrens als Trauma ereignete, geheim bleiben muss. Stattdessen sollen sie hier vergraben, versiegelt, nie wieder entlassen werden, um den eigentlichen Skandal zu verbergen: das, was von Kurtz übrig geblieben ist... The voice was gone. What else had been there? But I am of course aware that next day the pilgrims buried something in a muddy hole. And then they very nearly buried me.30

Kurtz ist die Quelle der Wörter, das blank und die Finsternis, der Vollzug der verbotenen Handlung und die Möglichkeit der Übersetzung. Er ist der Name der von Conrad postulierten Macht des geschriebenen Worts, in dem Sehen, Fühlen und Hören eins werden, das die Münder füllen und den Durst stillen wird. Doch erst hier, wo seine »eloquence« versiegt, wird sein Mund zum Schauplatz von dem, was sein Wort oder das fetischisierende Begehren nach diesem Wort verbarg: Das ist das Grauen, dem er sich ausgeliefert sieht, sein Scheitern. Hier steht er an der Schwelle, die er meinte längst überschritten zu haben, und hier ereignet sich das Wort als Atmen, das nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen lässt, sondern nichts ist als Atem. Sein Tod, sein Nicht-mehr-Atmen, schließt diese Schwelle und übrig bleibt nichts als »something in a muddy hole«. Kurtz war nichts als eine Stimme, die Figuration einer totalen Performanz, der Gewalt der Möglichkeit der Übersetzung selbst, die sich ihr anderes immer schon einverleibt hat. Am Ende seiner Worte bleibt das von ihnen Verworfene als das »etwas« zurück, zu dem er es gemacht hat. Diese Stimme erbricht am

29 »Only the barbarous and superb woman did not so much as flinch, and stretched tragically her bare arms after us over the sombre and glittering river.« Conrad: Heart of Darkness, S.109 »Einzig die wilde und großartige Frau tat keinen Wank und streckte ihre bloßen Arme tragisch in unsere Richtung, über den dunklen und glitzernden Fluß hin.« Conrad: Herz der Finsternis, S.131 30 Conrad: Heart of Darkness, S.112 »Die Stimme war verflogen. Was blieb übrig? Aber ich bin mir natürlich bewußt, daß die Pilger am nächsten Tag etwas in einem Schlammloch begruben. ›Und dann hätte nicht viel gefehlt, und sie hätten auch mich begraben.‹ Conrad: Herz der Finsternis, S.135

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Ende den Ort ihrer Artikulation. Er endet damit auf die gleiche Weise, wie jene Körper, denen der Platz des phantasmatischen Objekts zugedacht war. Und sie sind es somit auch, denen das Schließen dieser Schwelle eine Stimme verleiht, die herausspricht aus der Erzählung, über sie und ihre Performanz hinaus, bereits etwas anderem angehört: Der übrig bleibende tote Körper scheint zugleich reines Objekt einer totalen Performanz zu sein als auch das Ende einer bestimmen performativen Praxis zu markieren und den Beginn einer anderen, in der das »something« des kolonialen Diskurses, das von ihm Verworfene sich zu äußern beginnt, eben aufhört »something« zu sein: Suddenly the manager’s boy put his insolent black head in the doorway, and said in a tone of scathing contempt – »Mistah Kurtz – he dead.«31

Das Phantasma der Souveränität Die totale Kurtzsche Performanz, die sich ihr eigenes Außen einzuverleiben sucht, erscheint als die eines Herrschers, der die Welt zum Innen seiner Herrschaft macht, als deren Außen er erscheint. Giorgio Agamben hat auf eben diese Weise die Souveränität definiert und ihr die Figur des Homo Sacer gegenübergestellt.32 Nach Auffassung des römischen Rechts – so Agamben – darf der Homo Sacer nicht geopfert, aber dennoch getötet werden. Er fällt aus der rituellen Ordnung heraus, hat keinen Anteil an der Performanz der kulturellen Textualisierung. Er ist reines Objekt der Herrschaft des Souveräns. Agamben hat nachgewiesen, inwiefern die Vorstellung der Souveränität mit der Figur des Homo Sacer einhergeht. Beide sind Gestalten der Entgrenzung und der Souverän errichtet seine Herrschaft über diesen entgrenzten Raum als Zwischenwesen, das seine Legitimation aus einem imaginären Außen bezieht. Dieser Entgrenzung antwortet der Homo Sacer, der weder über Innen noch Außen verfügt, sondern nichts ist als das reine Objekt der souveränen Herrschaft: vita 31 Conrad: Heart of Darkness, S.112 »Plötzlich streckte der Boy des Direktors seinen unverschämten schwarzen Schädel zur Tür herein und sagte in einem Ton verletzender Verachtung: ›Herr Kurtz – er tot.‹« Conrad: Herz der Finsternis, S.135 32 Giorgio Agamben: Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 Agamben knüpft dabei an die griechische Unterscheidung zwischen der einfachen Tatsache des Lebens (zȆǠ) und der besonderen Lebensweise einer Gruppe oder eines einzelnen (bíos) an. Der Schauplatz der Biomacht – und darauf will Agamben hinaus – ist die Sphäre der Ununterscheidbarkeit beider Formen des Lebens: zȆǠ und bíos vermischen sich, werden ununterscheidbar. Was nichts anderes heißt, als das nun zȆǠ selbst zum Ausgangspunkt des politischen Handelns wird.

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nuda, wie Agamben im Anschluss an Benjamins »bloßes Leben«, dem Gegenüber der mythischen Gewalt in Benjamins Aufsatz Zur Kritik der Gewalt33, schreibt. In dieser Verdopplung von Souverän und Homo Sacer ereignet sich die phantasmatische Dimension der aus der Prozessualität entlassenen Subjekt/Objekt-Verhältnisse. Marlow begegnet diesem aus allen prozessualen Bindungen entlassenen nackten Leben. Bei seiner Ankunft in der Unteren Station, der Handelniederlassung der Company, für die er nun arbeiten sollte, trifft er auf dieses »raw matter«34 aus Menschenfleisch, das hier zu jenem »objectless blasting« benutzt wird, der einzigen »Arbeit«, wie Marlow bemerkt, die hier vor sich zu gehen scheint.35 Marlows kurzer Rundgang durch das Lager konfrontiert ihn gleich zu Beginn mit einer ›Wirklichkeit‹, die sich in keiner Weise in irgendeine Vorstellung vom Betreten der blank spaces, die er sich zuvor gemacht haben mag, einfügen lässt und die sich im weiteren Verlauf der Erzählung als dessen tiefere Wahrheit zu enthüllen scheint.

33 »Denn mit dem bloßen Leben hört die Herrschaft des Rechts über den Lebendigen auf. Die mythische Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.« Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, in: Ders., Angelus Novus – Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S.42-66, hier: S.63 34 Conrad: Heart of Darkness, S.33 35 »I came upon a boiler wallowing in the grass, then found a path leading up the hill. It turned aside for the boulders, and also for an undersized railwaytruck lying there on its back with its wheels in the air. One was off. The thing looked as dead as the carcass of some animal. I came upon more pieces of decaying machinery, a stack of rusty rails. To the left a clump of trees made a shady spot, where dark things seemed to stir feebly. I blinked, the path was steep. A horn tooted to the right, and I saw the black people run. A heavy and dull detonation shook the ground, a puff of smoke came out of the cliff, and that was all. No change appeared on the face of the rock. They were building a railway. The cliff was not in the way or anything; but this objectless blasting was all the work going on.« Conrad: Heart of Darkness, S.32f. »Ich stolperte über einen Dampfkessel, der im Gras lag, und fand einen Weg, der den Hügel hinaufging. Er führte um die Uferfelsen und auch um einen zu klein geratenen Eisenbahnwagen herum, der auf dem Rücken lag und seine Räder in die Luft streckte. Eins fehlte. Das Ding sah so tot wie der Kadaver eines Tiers aus. Ich stieß auf andere verrottende Maschinenteile, einen Stapel rostiger Schienen. Links warfen ein paar Bäume ein bisschen Schatten, in dem dunkle Gegenstände sich schwach zu bewegen schienen. Ich blinzelte, der Weg war steil. Ein Horn tutete rechts, und ich sah, wie die Schwarzen rannten. Eine schwere und dumpfe Detonation erschütterte den Boden, Rauch kam aus der Klippe, und das war alles. Der Fels sah genau gleich wie zuvor aus. Sie bauten eine Eisenbahn. Die Klippe war nicht im Weg; aber diese ziellose Sprengerei war die einzige Arbeit, die getan wurde.« Conrad: Herz der Finsternis, S.30

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BLANK SPACES Black shapes crouched, lay, sat between the trees leaning against the trunks, clinging to the earth, half coming out, half effaced within the dim light, in all the attitudes of pain, abandonment, and despair. Another mine on the cliff went off, followed by a slight shudder of the soil under my feet. The work was going on. The work! And this was the place where some of the helpers had withdrawn to die. They were dying slowly – it was very clear. They were not enemies, they were not criminals, they were nothing earthly now – nothing but black shadows of disease and starvation, lying confusedly in the greenish gloom. Brought from all the recesses of the coast in all the legality of time contracts, lost in uncongenial surroundings, fed on unfamiliar food, they sickened, became inefficient, and were then allowed to crawl away and rest. These moribund shapes were free as air – and nearly as thin. I began to distinguish the gleam of the eyes under the trees. Then, glancing down, I saw a face near my hand. The black bones reclined at full length with one shoulder against the tree, and slowly the eyelids rose and the sunken eyes looked up at me, enormous and vacant, a kind of blind, white flicker in the depths of the orbs, which died out slowly. The man seemed young – almost a boy – but you know with them it's hard to tell. I found nothing else to do but to offer him one of my good Swede's ship's biscuits I had in my pocket. The fingers closed slowly on it and held – there was no other movement and no other glance. He had tied a bit of white worsted round his neck – Why? Where did he get it? Was it a badge – an ornament – charm– a propitiatory act? Was there any idea at all connected with it? It looked startling round his black neck, this bit of white thread from beyond the seas. »Near the same tree two more bundles of acute angles sat with their legs drawn up. One, with his chin propped on his knees, stared at nothing, in an intolerable and appalling manner: his brother phantom rested its forehead, as if overcome with a great weariness; and all about others were scattered in every pose of contorted collapse, as in some picture of a massacre or a pestilence. While I stood horror-struck, one of these creatures rose to his hands and knees, and went off on all-fours towards the river to drink. He lapped out of his hand, then sat up in the sunlight, crossing his shins in front of him, and after a time let his woolly head fall on his breastbone.«36

36 Conrad: Heart of Darkness, S.34f. »Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden, von dem trüben Licht kenntlich und unsichtbar gemacht, in allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweiflung. Eine weitere Mine ging auf der Klippe hoch, und der Boden unter meinen Füßen bebte ein bisschen. Die Arbeit ging weiter. Die Arbeit! Und das hier war der Ort, an den sich einige der Helfer zurückgezogen hatten, um zu sterben. ›Sie starben langsam – es war sehr klar. Sie waren keine Feinde, sie waren keine Kriminellen, sie waren jetzt nichts Irdisches mehr – nur noch schwarze, kranke, verhungernde Schatten, die wirr durcheinander in dem grünen Düster lagen. Sie waren mit völlig lega-

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Diese Zone einer Ununterscheidbarkeit jenseits jeder Grenze, aber auch jenseits jeder Prozessualität, an der die Bindungslosigkeit des nackten Lebens an die Stelle jener Verwiesenheit getreten ist, die Voraussetzung jeder prozessualen Bewegung, jeder Übersetzung ist, produziert das phantasmagorische Universum, das hier innerhalb des Textes seinen Ausgang nimmt: spätestens hier verlässt Marlow den historischen Kongo. Kurtz ist für den Erzähler eben die Stimme, die diese Leere der Vernichtung kompensieren, mit Sinn ausstatten soll. Und so ist es nicht überraschend, dass Edward Said für seinen monumentalen Versuch Kultur und Imperialismus, der die Blindheit der westlichen Kultur, bzw. Literatur für die vom Westen unterworfenen Kulturen thematisiert, ein Zitat aus Herz der Finsternis als Motto ausgewählt hat, worin sich genau dieses Umschlagen von der Entbindung hin zur Beschwörung einer rituellen – gewalttätigen – Ordnung artikuliert. [...] The conquest of the earth, which mostly means the taking it away from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves, is not a pretty thing when you look into it too much. What redeems it is the idea only. An idea at the back of it; not a sentimental pretence but an

len Zeitverträgen aus den vielen Schlupfwinkeln der Küste hergebracht worden, und verloren in einer schrecklichen Umgebung, mit unvertrautem Essen gefüttert, wurden sie krank, uneffizient und kriegten endlich die Erlaubnis, wegzukriechen und sich irgendwo hinzulegen. Diese dahinsterbenden Schatten waren frei wie die Luft – und beinahe so dünn. Ich erkannte nun allmählich das Glänzen der Augen unter den Bäumen. Dann, als ich nach unten blickte, sah ich ein Gesicht neben meiner Hand. Die schwarzen Knochen lagen längelang da, eine Schulter lehnte gegen den Baum, und langsam hoben sich die Augenlider, und die in tiefen Höhlen liegenden Augen sahen zu mir hoch, riesengroß und leer, eine Art blindes, weißes Flackern aus den Tiefen der Augäpfel, das langsam wieder erlosch. Der Mann schien jung zu sein – ein Knabe fast noch – , aber ihr wisst ja, bei denen weiß man nie so recht. Mir fiel nichts anderes ein, als ihm einen meiner guten schwedischen Schiffszwiebacks zu geben, die ich in der Tasche hatte. Die Finger schlossen sich langsam um ihn und blieben dann so – keine weitere Bewegung und kein Blick mehr. Er hatte sich ein Stück weiße Wolle um den Nacken gebunden – warum? Wo hatte er es her? War es ein Erkennungszeichen – ein Schmuck – ein Amulett – ein Versöhnungsangebot? War überhaupt irgendeine Vorstellung damit verbunden? Er sah verwirrend an seinem schwarzen Hals aus, dieser kleine weiße Faden von jenseits der Meere. »Neben demselben Baum saßen noch zwei so spitzwinklige Haufen, mit hochgestellten Beinen. Der eine stützte das Kinn auf seinen Knien auf und starrte auf eine unerträgliche Weise ins Leere; der andere, ein Gespenst wie er, hatte seine Stirn aufgelegt, als habe ihn eine große Müdigkeit übermannt; und überall lagen welche in allen erdenklichen Haltungen schmerzverkrümmter Erschöpfung, wie auf jenen Bildern, die ein Massaker oder die Pest zeigen. Während ich schreckensstarr dastand, rappelte sich eine dieser Kreaturen auf und kroch, um zu trinken, auf allen vieren zum Fluss. Er schlürfte aus der hohlen Hand, setzte sich dann mit gekreuzten Beinen ins Sonnenlicht, und nach einiger Zeit fiel sein Wollkopf auf seine Brust.« Conrad: Herz der Finsternis, S.33f.

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BLANK SPACES idea; and an unselfish belief in the idea – something you can set up, and bow down before, and offer a sacrifice to...37

Dies ist die Beschwörung des Kurtzschen Phantasmas. The idea ist genau die imaginäre Bindung eines gewalttätigen Opferkults, der die Dinge wieder an den rechten Ort rücken soll und doch die Topographie des kolonialen Phantasmas begründet. Kurtz, the voice, soll die sakrale Ordnung wieder herstellen, die Initiation Marlows gewährleisten, die blank space der Prozessualität des Opfers zurückgeben, die Grenzen in der Entgrenzung neu ziehen: diese Bewegung evoziert das Phantasma der Souveränität. Es entsteht ein totaler Raum dessen einzige Öffnung der Souverän ist: als Versprechen einer Autonomie, der sich nichts entziehen kann, als ein Außen, das in der Lage ist, ein reines Innen herzustellen und es mit Sinn auszustatten. Auf diese Weise gibt die Souveränität vor, die Leere dieses zugleich entgrenzten und völlig abgeschlossenen Raums zu füllen. Darin liegt das Paradox der Souveränität: Sie scheint der Leere zu antworten, die sie selbst schafft. Dennoch ist sie ein Phantasma, ein Effekt dieser bindungslosen Leere und nicht in gleicher Weise real, auch wenn sie sich die Ununterscheidbarkeit zum Objekt macht. Das »objectless blasting going on« hat keine Idee, wird von keiner Souveränität beherrscht. Die Souveränität ist eine Fiktion, die diesen Zustand absoluten bindungslosen Stillstands erträglich machen soll, tatsächlich ist sie nichts als Entbindung: Souveränität kann keinen Sinn produzieren, keine Grenzen setzen, vielmehr potenziert sich in ihr die Entgrenzung. Sie erscheint als mythische Gewalt, der man »Opfer bringen« kann, produziert aber – ganz im Gegenteil – eine entdifferenzierte Leere, von der sie schließlich selbst verschlungen wird. Kurtz’ Name und die Faszination, die von ihm ausgeht, leitet sich aus dem phantasmatischen Schließen dieser unschließbaren Lücke her. Dies ist die Weise, in der sein narzisstisches Universum den Bruch supplementieren soll. Das Begehren des Textes von Heart of Darkness verschiebt die Bedrohung der Entgrenzung als Entbindung auf das inzestuöse Objekt, weshalb dessen Einverleibung durch Kurtz als Ausweg erscheint, tatsächlich aber den Bruch, die Zirkulation des Anderswo, in

37 Conrad: Heart of Darkness, S.20 »[...] Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinausläuft. dass man sie denen wegnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen als wir haben, ist keine hübsche Sache, wenn wir ein bißchen genauer hinsehen. Was das ganze erträglicher macht, ist nur die Idee. Eine Idee dahinter: kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an die Idee – etwas woran man sich halten und vor dem man sich verneigen und dem man auch Opfer bringen kann...« Conrad: Herz der Finsternis, S.14

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Gang setzt: der Platz des Herrschers, vermeintlicher Ursprung von und Ausweg aus dieser Welt des Grauens, ist leer. Die Herrschaft der universalen Idee ist in einem bestimmten Sinne eine Maske dieser Souveränität und erweist sich am Ende als Produzent jenes Abfallsproduktes, des something, zu dem Kurtz’ Körper wird und das die Körper der ›Eingeborenen‹ von Beginn an sind. Die Souveränität – und darauf will ich hinaus – versucht insofern auf der Ebene des Politischen die in die Subjekt/Objekt-Welt projizierte Allmacht des Narzissmus zu wiederholen, in dem Sinne, den ihm Freud in Zur Einführung des Narzissmus gegeben hat: Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein. His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte.38

Das Freudsche Konzept des Narzissmus partizipiert damit genau an dem Umschlagspunkt zwischen der allumfassenden Entgrenzung der Souveränität und der fundamentalen Verwiesenheit, in der sich der Säugling befindet. In gewisser Weise supplementiert sich das Konzept des Narzissmus genau diesem Zusammenhang und überschreibt die vorursprüngliche Verwiesenheit mit der Ökonomie von Herrschaft und Unterwerfung. Das abendländische Konzept der Souveränität knüpft wahrscheinlich genau an dieser ökonomischen Umschrift des Psychischen an, um die Leere zu kompensieren, die aus der traumatischen Entgrenzung resultiert.39 Umgekehrt partizipiert die im Autoerotismus beginnende und an 38 Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus, S.157f. Diese berühmte Freudsche Formulierung kehrt die Verhältnisse auf eine Weise um, die daran zweifeln lässt, dass er jemals einem Säugling begegnet ist. 39 »Die Welt, der Globalisierungsprozess der Welt in seinem Verlauf mit all seinen – politischen, sozialen, ökonomischen, rechtlichen, technisch-wissenschaftlichen etc. – Konsequenzen widersteht heute zweifellos der Psychoanalyse. Sie tut dies neuen Formen gemäß, die sie zweifellos zu befragen im Begriff sind. Sie widersteht in einer ungleichmäßigen und schwer zu analysierenden Weise. Namentlich der Psychoanalyse setzt sie außer einem Modell positiver, ja positivistischer, kognitivistischer, physikalistischer, psychopharmakologischer und genetischer Wissenschaft zuweilen auch den Akademismus einer spiritualistischen, religiösen oder seicht philosophischen Hermeneutik, ja sogar, denn alles das schließt sich nicht aus, archaische Institutionen, Begriffe und Praktiken des Ethischen, des Rechtlichen und des Politischen entgegen, die scheinbar noch von einer bestimmten Logik, das heißt von einer bestimmten onto-theologischen Metaphysik der Souveränität (Autonomie und Allmacht des – individuellen oder staatlichen Subjekts, Freiheit, egologischer Wille, bewusste Intentionalität, und wenn Sie so möchten, auch Ich, Ichideal und Über-Ich etc.) beherrscht werden. Diese Souveränität zu erklären um von ihrer Unvermeidbarkeit Rechenschaft abzulegen, wird die erste Geste der Psychoanalyse gewesen sein, obwohl sie zugleich darauf aus ist,

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der Spaltung des Begehrens anknüpfende Subjekt/Objekt-Trennung genau an diesem Phantasma. In diesem Sinne verstehe ich jedenfalls das Modell von Massenpsychologie und Ich-Analyse, wo Freud versucht die Psychologie dessen, was er »primäre Masse« nennt, aus der Identifikation mit einem gemeinsamen Objekt zu erklären. Die Masse wäre demnach eben das, was sich einem kollektiven, nach Außen projizierten Narzissmus unterworfen hätte und damit in eine Zone der Ununterscheidbarkeit, der Auflösung der sozialen Differenzen eingetreten ist.40 Die Ausschließungen des Narzissmus würden somit scheinbar vom Ich auf die Außenwelt verlagert und die Entgrenzung als Ausschluss universal. Allerdings zeigt Freud (zuweilen gegen seine eigenen Beteuerungen), inwiefern diese Projektion des Narzissmus auf einen ›Führer‹ von der Masse selbst ausgeht, der Narzissmus, in dieser Hinsicht jedenfalls, eben kein individuelles Phänomen ist, sondern vielmehr ein soziales. Wenn sich dieses Soziale im Besitz des inzestuösen Objekts, der narzisstischen Allmacht dünkt (und in gewisser Weise ist das in einer Gesellschaft, die sich als solche begreift, notwendig so), liefert es sich den Phantasmen aus, die es und damit die ›Ichs‹, die es konstituiert, hervorbringen: Souveränität ist genau der Name dieses Zustandes der ›Entbindung‹ der Phantasmen von der Prozessualität. Sie zielt auf die ständige Außerkraftsetzung des Inzesttabus. In der abendländischen Geschichte blieb die Anbindung an den Bereich des Tabus durch die Verdopplung des Körpers des Souveräns aufrecht erhalten,41 die Auslöschung dieser letzten, quasi virtuellen Differenz, setzt das Phantasma einer Performanz frei, die in der Lage wäre, sich ihr eigenes Außen restlos anzueignen. Dieses Außen ist im inzestuösen Objekt selbst phantasmatisch geworden – also ausgeschlossen – und seine Aneignung kann nur im Bereich des Phantasmas bewerkstelligt werden: als Inkorporation, als Auslieferung an den Tod.

ihre Genealogie zu dekonstruieren – die ebenfalls durch den grausamen Mord hindurchgeht.« Jacques Derida:Seelenstände der Psychoanalyse – Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit, Vortrag vor den Etats généraux de la Psychanalyse am 10. Juli 2000 im Grand Amphithéâtre der Sorbonne in Paris, übers. v. Hans-Dieter Gondeck, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S.18f. Genau hier erscheint der Schnittpunkt der Analysen Foucaults und Agambens (wobei ich nicht ausschließen möchte, dass dieser ganze Text auch eine kritische Erwiderung auf die Thesen des Letzteren ist) mit der Psychoanalyse. 40 »Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ich-Ideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.« Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse, S.128 41 Siehe Agambens Bezugnahme auf Die zwei Körper des Königs von Ernst Kantorowicz in: Agamben, Homo Sacer, S.101ff. Vor allem aber seine Analyse des »Führers des Dritten Reichs«: Ebd., S.193

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Insofern ist das Kurtzsche Universum, das die entgrenzende Gewalt der entfesselten Ökonomie der imperialistischen Ausbeutung kompensieren soll, tatsächlich dessen phantasmatische Wahrheit. Kurtz erscheint als der Rivale im Sinne Girards, nach dem sich die Mimesis des Begehrens ausrichtet, da er im Besitz des begehrten Objekts zu sein scheint. Seine Überwindung begründet die umfassende Reziprozität der Gewalt, die scheinbar nur das Opfer aufschieben kann. Der Zusammenhang von Opfer und Souveränität allerdings zeigt, dass dieser Aufschub allein im Imaginären stattfindet. Die mythische Gewalt der Souveränität verlangt das Opfer als Unterwerfungsgeste, sie läuft aber – wie Agamben gezeigt hat – auf die Auflösung dieser sakralen Ordnung hinaus (und genau das zeigt Conrad). Während nämlich das Opfer als Gabe an die Götter der Souveränität auf einer phantasmatischen Ebene antwortet, ist die Souveränität eigentlich ein phantasmatischer Effekt der absoluten Ausschließung der Verwiesenheit, ein Effekt der Entbindung. Es wird nun deutlich, wieso es so entscheidend ist, dass ihr Doppel, der Homo Sacer, nicht geopfert werden kann: Er ist das Außerkraftsetzen des Aufschubs und steht damit einerseits für die Ankunft einer allumfassenden, ›totalen‹ Gewalt, verweist aber damit auch auf die Wahrheit jeder mythischen, also auf die Souveränität bezogenen Ordnung. Andererseits ist er das schlechthin nichtgewalttätige, dasjenige, was keine Performanz, keine Prozessualität, damit aber auch keine Reziprozität der Gewalt, sich jemals wird aneignen können. Die autoerotische Rückwendung in Heart of Darkness beschreitet einen etwas anderen Weg, denn indem sie den Souverän selbst erscheinen und scheitern lässt, bewirkt sie jene Verfehlung, die der Text zu einem notwendigen Scheitern ausbauen kann. Der autoerotisch gewendete Inzest wird in diesem Raum zugleich zum einzigen Versprechen von Bewegung und zum eigentlichen Instrument des Stillstands: Er liefert den Text aus an seine eigenen Phantasmagorien. Die Konfrontation mit der absoluten Entgrenzung führt zum Entzug dessen, was vom inzestuösen Objekt (auf der Ebene des Symbolischen könnte man sagen) supplementiert wird. Insofern ist dieser Text tatsächlich so etwas wie ein autoerotischer Körper, der die Bewegung einleitet, indem er sie quasi simuliert, seine eigene Oberfläche zum Objekt der Erfüllung des Wunsches macht. Conrads Text ist auch diese autoerotische Bewegung im Stillstand, die als Zentrum scheinbar das Phantasma der Souveränität umkreist und gleichzeitig dessen imaginären narzisstischen Ursprung offen legt: Das ist die inhaltliche Oberfläche dieses Textes, das, was er aussagt, auch wenn er es nicht benennt, die unspeakable rites, sein Wille zum Wissen, sein Unbewusstes. Seine Verdopplungen, seine scheiternde Zirkulation des Verfehlens, setzen jedoch die narzisstische Allmacht der Souveräni-

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tät außer Kraft. Dieser Text feiert sie wahrlich nicht, wenn er auch beständig deren Faszination und Anziehungskraft hervorbringt. Der Text gründet auf der absoluten und bindungslosen Ausschließung der Gabe, dem Trauma, aber er weicht zugleich dem Verstummen als auch der Inthronisation einer kompensierenden Souveränität, der alleinigen Herrschaft des Phantasmas aus. Und dennoch muss er das Begehren im Bereich des Phantasmas halten. Die Souveränität muss als inzestuöse Aneignung eines imaginären mütterlichen Körpers erscheinen, um so die traumatische Leere zu füllen – doch am Ende nur um ihn immer wieder zu verfehlen...

Das koloniale Phantasma Homi Bhabha hat versucht anhand der Verdopplung der Frau die phantasmagorische Topologie von Heart of Darkness als Bewegung einer grundsätzlichen Deplatzierung zu lesen. Er konstatiert, dass »der lange Schatten von Conrads Herz der Finsternis auf so viele Texte der postkolonialen Pädagogik« falle. Darin zeige sich, so fährt Bhabha fort, dass »radikale Perversion, nicht kluge politische Weisheit [...] den merkwürdigen, für den postkolonialen Diskurs charakteristischen Willen zum Wissen« antreibe.42 Um Perversion geht es allerdings bei dieser gewalttätigen Aneignung des eigenen Außen, auch wenn Bhabha behauptet, die zentrale ›Stimme‹ der Erzählung, Marlow, inszeniere eine »Poetik der Übersetzung, die die Grenze zwischen der Kolonie und der Metropole (be)setzt«, um so »das dämonische ›Wesen‹ des Kolonialismus zu maskieren« und die »brütende Landschaft einer politischen Katastrophe [...] in ein melancholisches Denkmal der romantischen Liebe und der historischen Erinnerung« zu verwandeln.43 Dieses melancholische Denkmal ist

42 Homi K. Bhabha: Wie das Neue in die Welt kommt, in: Ders., Die Verortung der Kultur, S.317-352, hier: S.318 Bhabha verweist unter anderem auf den von Said genannten Text Zeit der Nordwanderung von Tajjib Salich hin, in dem die Geschichte des Sudanesen Mustafa Said erzählt wird, der – gefördert und unterstützt als ›hochbegabter Eingeborener‹ – in den Genuss einer akademischen Karriere in Großbritannien kommt, während der er seine exotischen und intellektuellen Reize einsetzt, um sich die Kurtzsche Verlobte, die weiße Frau zu unterwerfen. Das koloniale Phantasma, das sich Mustafa Said zu eigenen Zwecken zunutze macht, schlägt gewissermaßen zurück auf die Metropole. Gleichzeitig wird aber so auch die Macht dieses Phantasmas über die unterworfene Peripherie selbst beschrieben, die sich ihrer Identität – wie Bhabha sagt – nur über die radikale Perversion entlang der Koordinaten des Phantasmas versichern kann. Tajjib Salich, Zeit der Nordwanderung, übers. v. Regina Karachouli, Basel: Lenox 1998 43 Homi K. Bhabha: Wie das Neue in die Welt kommt, in: Ders., Die Verortung der Kultur, S.317-352, hier: S.318

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aber gerade die Krypta (und eben keineswegs eine »romantische Liebe«, die sich gerade durch die Prozessualisierung der Phantasmen auszeichnen würde), die Einschließung und Versiegelung der Katastrophe des Anderswo und damit der Text selbst. Und mit ihm der eigentliche Schatten des kolonialen Phantasmas. Marlows nach innen gerichteter Blick erfaßt die alltägliche Realität der westlichen Metropole jetzt durch den Schleier der kolonialen Phantasmagorie; die lokale Liebesgeschichte und die zu Hause wartende Erinnerung daran können nur zwischen den Zeilen der tragischen, verdrängten Texte der Geschichte erzählt werden. Die weiße Frau, die Zukünftige, wird zum Schatten der afrikanischen Frau; die von großen Häusern gesäumte Straße nimmt das Profil der auf Stöcke gespießten Stammesschädel an; das pulsierende Pochen eines Herzens wird zum Echo des dunklen Pochens von Trommeln – »des Herzens einer siegreichen Finsternis«. Wenn dieser Diskurs einer dämonischen Verdopplung im Zentrum des metropolitanen Lebens selbst auftritt, sind die vertrauten Dinge des alltäglichen Lebens und der alltäglichen Briefe durch eine unleugbare genealogische Differenz, eine »postkoloniale« Herkunft, markiert.44

Zwischen Metropole und Peripherie wiederholt sich das Verhältnis von Kern und Hülle als phantasmatische sexuelle Perversion. Und zwischen diesen imaginären Verdopplungen zirkuliert das Anderswo der traumatischen Unterbrechung. Der Versuch der Metropole, sich ihr Außen, die Peripherie einzuverleiben, sich zu universalisieren, schlägt folglich um in die bedrohliche und fremde Ortlosigkeit einer absoluten Entbindung der Phantasmen, die den Raum der Metropole selbst deplatziert. Diese Bedrohung erscheint sexuell, da sie auf der Bedrohung der konstitutiven Verdrängung durch den Inzest beruht und zwar in dem Sinne, dass die 44 Homi K. Bhabha, Wie das Neue in die Welt kommt, S.319f. Welche Bedeutung dieses Konzept, das er hier bei Conrad findet, für Bhabhas Theorie der Hybridität und des Kolonialismus insgesamt hat, zeigt eine Passage, die sich in anderem Zusammenhang – einer postkolonialen Lektüre der Satanischen Verse von Salman Rushdie – findet: »Denn die Liminalität der westlichen Nation ist der Schatten ihres eigenen finiten Charakters: der koloniale Raum, der in die fiktive Geographie des metropolitanen Raums mit einbezogen wird; die Wiederholung oder Wiederkehr des postkolonialen Migranten, die dazu angetan ist, die holistische Sicht der Geschichte zu verfremden. Der postkoloniale Raum ist nun ein »Zusatz« des metropolitanen Zentrums; er steht zu ihm in einer subalternen, supplementären Beziehung, welche die Präsenz des Westens nicht vergrößert, sondern seine Begrenzungslinien innerhalb des bedrohlichen, strittigen Grenzgebiets kultureller Differenz neu zieht, die sich nie zu einem Ganzen zusammenfügt, stets weniger als eine Nation und dessen Verdoppelung ist.« Homi K. Bhabha: DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation, in: Ders., Die Verortung der Kultur, S.207-254, hier: S.251

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koloniale Metropole an die Stelle des phantasmatischen inzestuösen Objekts die restliche Welt setzt, um es zu inkorporieren. Es ist vielleicht weniger so, dass die kolonialen Verhältnisse sexuell überdeterminiert sind – was sie zweifelsohne sind –, sondern eher so, dass ihre Sexualisierung verschleiern soll, dass sie eben das wiederholen, was auch die sexuellen Phantasmagorien wiederholen: das Begehren nach absoluter Einverleibung, nach der letztendlichen und vollständigen Entbindung des Todes. Der kolonialen Topographie scheint der Moment ihrer eigenen Auflösung eingeschrieben zu sein, und sowohl die Welt von Heart of Darkness als auch der historische Kongo bilden genau diesen ihr inhärenten Umschlagspunkt, an dem sich die kolonialen Phantasmen selbst deplatzieren, ihr Anderswo, ihren Kongo, könnte man sagen, erreichen. Und doch – glaube ich, ich bin mir nicht sicher – geschieht in Heart of Darkness noch etwas anderes: Denn dieses sexualisierte Begehren wird von einem Schreiben artikuliert, das sich selbst verneint und damit ein Verdrängtes anerkennt, das wahrscheinlich das Begehren nach dem tabuisierten und imaginären ›Körper der Mutter‹ ist, vor allem aber das der Sprache, der Sprachlichkeit selbst, die das inzestuöse Objekt in diesem Text supplementiert, der – zumindest in seinem Scheitern – der Unmöglichkeit der Übersetzung inne geworden ist; der Unmöglichkeit der reinen Sprache, der jedes Schreiben – als Übersetzung – begegnet, und das – in dieser Begegnung – vielleicht in der Lage ist, das Original, die vom Tabu verunmöglichte, aber im Realen wirkende Körperlichkeit zwischen Mutter und Kind, zu berühren. Während das Atmen diese Schwelle, dieses Berühren sein könnte, wäre das »something« ihr Ende. Es löscht den Dualismus von Kolonie und Metropole, von Tod und Eros, Imaginärem und Symbolischem aus. Das »something« ist das Ende aller Phantasmagorien, jeder Prozessualität, das Ende des Todes, der Gewalt: das Ende von Kurtz. »His last words – to live with,« she murmured. »Don’t you understand I loved him – I loved him – I loved him!« I pulled myself together and spoke slowly. »The last word he pronounced was – your name.« I heard a light sigh, and then my heart stood still, stopped dead short by an exulting and terrible cry, by the cry of inconceivable triumph and of unspeakable pain. »I knew it – I was sure!«…She knew. She was sure. […]45

45 Conrad: Heart of Darkness, S.123 »›Seine letzten Worte – damit ich mit ihnen leben kann‹, sagte sie unnachgiebig. ›Verstehen Sie denn nicht, dass ich ihn liebte – ich liebte ihn – ich liebte ihn!‹ Ich riß mich zusammen und sprach langsam. ›Das letzte Wort, das er sagte, war – Ihr Name.‹ Ich hörte einen schwachen Seufzer, und dann setzte mein Herz aus, hielt jäh inne, weil sie einen jubelnden Schrei ausstieß ei-

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Marlows ›Lüge‹ gegenüber der Verlobten – the intended – ist der zentrale Ort, an dem das Anderswo als Ort der absoluten Trennung von Anund Abwesenheit implodiert: das Ende der Übersetzung. Und diesem textuellen Ort gibt Marlow einen Namen – »your name«, den Namen der Verlobten, der Zukünftigen – der in der Gegenwart angelegten Zukunft. Der Ort der Handlung gleicht einer Höhle oder Grabkammer, von der Marlow erwartet, dass sie durch die Lüge über ihm zusammenstürzen, der Himmel ihm auf den Kopf fallen könnte. Aber das tut er nicht, nicht wegen einer solchen Kleinigkeit, »not for such a trifle «. Und stattdessen legt sich dieser dunkle Himmel wie ein Sargdeckel über die Welt der Rahmenerzählung, in der alle Wasser »seemed to let into the heart of an immense darkness«.46 Der Spalt, den die Erzählung geöffnet hat und dem dieser doppelte geflüsterte Schrei entstammt, in dem er sich ereignet, ist wieder geschlossen und man blättert um – auf die letzte, leere, weiße Seite.

nen Schrei unvorstellbaren Triumphs und unnennbarer Qual. ›Ich wusste es – ich war sicher!‹ Sie wusste es. Sie war sicher. [...]« Conrad: Herz der Finsternis, S:149 46 Conrad: Heart of Darkness, S.124

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III. G ABE UND I NZEST

1. G A B E

UND

URSPRUNG

DES

SOZIALEN

Die Überschreitung als Ursprung: das corrobori Bevor ich versuche die Problematik der Gabe und des Gabentauschs zu erörtern, wie sie in Marcel Mauss großem Essai sur le don von 1923/24 erscheint, möchte ich kurz auf die Konzeption des Ursprungs des Sozialen bei Mauss und Durkheim eingehen. Dieser ›Ursprung‹ verdichtet sich in einer zentralen Passage des letzten Hauptwerks von Durkheim – Les formes élémentaires de la vie religieuse –, in dem er versucht dem Ursprung des Sozialen (bzw. des Heiligen, was – wie sich sogleich herausstellen wird – für Durkheim in gewisser Weise dasselbe ist), nachzuspüren und zwar anhand einer »Analyse der einfachsten bekannten Religion, um die elementaren Formen des religiösen Lebens zu bestimmen«: des »Totemismus« der australischen ›Ureinwohner‹. Gleich zu Beginn stellt er dabei fest, dass sein Gebrauch des Wortes Ursprung »ganz relativ« sei: »Wie jede menschliche Einrichtung beginnt auch die Religion nirgends«.1 Durkheim geht es vielmehr darum, wie in einem Laboratorium, in den einfachsten zugänglichen, eben: elementaren Formen, die allgemeinen Funktionsweisen von Gesellschaft freizulegen. Grundlegend für Durkheim und die gesamte von ihm begründete Schule ist dabei die Unterscheidung des gesellschaftlichen Lebens in einen sakralen und einen profanen Bereich, der die Rhythmik des sozialen Lebens bestimmt. Demnach ist das Profane von der beschränkten Ökonomie der Familie und des Privaten bestimmt, während das Heilige dem intensiven sozialen Austausch angehört, der seine höchste Intensität im Rausch und der Ekstase des gemeinschaftlichen rituellen Festes erreicht. Am eindrücklichsten hat diesen Rhythmus des sozialen Lebens wahrscheinlich Marcel Mauss in seinem Aufsatz Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften gezeigt, in dem er darstellt, wie sich das Leben der Inuit in zwei völlig voneinander unterschiedene Lebens1

Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S.26

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formen im Winter und Sommer aufteilt. Während der Winter gemeinschaftlich verbracht und von einem »Zustand der Gärung und Überaktivität« gekennzeichnet ist, zerstreuen sich die Familien im Sommer, um vor allem den Notwendigkeiten der Nahrungssicherung nachzugehen.2 Das Soziale wäre somit die Perpetuierung des Heiligen, der intensiven Momente des Zusammenlebens, des allgemeinen Austauschs, in der die Ökonomie der alltäglichen Beschäftigungen überschritten wird. In Durkheims Elementaren Formen des religiösen Lebens erscheint nun diese Passage, von der ich oben sprach und bei der es beinahe so aussieht, als wolle Durkheim das Sakrale selbst in seinem Buch wiederholen, es sich erneut ereignen lassen. Es handelt sich um die Beschreibung eines Festes und diese Beschreibung, die weniger eine solche als vielmehr das Fest selbst zu sein scheint, bildet das Zentrum des gesamten Textes. Sämtliche Lektüre-Erfahrungen Durkheims die ›Primitiven‹ betreffend scheinen sich hier zu berühren: Von der absoluten Transparenz des Edlen Wilden Rousseaus bis zum Alb des Conradschen ›Afrikas‹, des unspeakable, übersetzen sie sich hier in dieses grundlegende Buch der modernen Sozialwissenschaften und ermöglichen ein intertextuelles Ereignis, dessen Performativität den Diskurs einer neuen Wissenschaft mitbegründet. Diese Passage erscheint ziemlich genau in der Mitte des Textes, wenn Durkheim auf die Feste im rituellen Zyklus der australischen Gesellschaften zu sprechen kommt.3 Durkheim möchte den Verlauf des corrobori, eines dieser bedeutenden Feste, darstellen, die der Ethnograph Howitt überliefert hat. Nun wirkt aber die Ansammlung allein schon wie ein besonders mächtiges Reizmittel. Sind die Individuen einmal versammelt, so entlädt sich auf Grund dieses Tatbestands eine Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt. Jedes ausgedrückte Gefühl hallt ohne Widerstand in dem Bewußtsein eines jeden wider, das den äußeren Eindrücken

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»Der Winter ist eine Jahreszeit, in welcher die stark zusammengezogene Gesellschaft sich in einem chronischen Zustand der Gärung und Überaktivität befindet. Weil die Individuen enger aneinander gerückt sind, sind die sozialen Aktionen und Reaktionen zahlreicher, folgenreicher und kontinuierlicher; die Ideen werden ausgetauscht und die Gefühle verstärken und beleben einander wechselseitig; die immer aktive und in den Augen aller immer gegenwärtige Gruppe hat mehr das Gefühl ihrer selbst und nimmt auch im Bewußtsein der Individuen einen größeren Platz ein. Umgekehrt lockern sich im Sommer die sozialen Bande, die Beziehungen werden seltener und die Individuen, zwischen denen sie sich knüpfen, sind weniger zahlreich; das psychische Leben verlangsamt sich.« Marcel Mauss: Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften, übers. v. Henning Ritter, in: Ders., Soziologie und Anthropologie 1, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.183–276, hier: S.271 In der 597-seitigen deutschen Ausgabe des Textes auf den Seiten 297f.

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GABE UND URSPRUNG DES SOZIALEN weit geöffnet ist. Jedes Bewußtsein findet sein Echo in den anderen. Der erste Anstoß vergrößert sich auf solche Weise immer mehr, wie eine Lawine anwächst, je weiter sie läuft. Und da diese starken und entfesselten Leidenschaften nach außen drängen, ergeben sich allenthalben nur heftige Gesten, Schreie, wahrhaftes Heulen, ohrenbetäubendes Lärmen jeder Art, was wiederum dazu beiträgt, den Zustand zu verstärken, den sie ausdrücken. Zweifellos kann ein Kollektivgefühl nur dann kollektiv ausgedrückt werden, wenn eine bestimmte Ordnung eingehalten wird, die den Einklang und die Gesamtbewegungen erlaubt; darum neigen diese Gesten und Schreie von selbst dazu, rhythmisch und regelmäßig zu werden: daher die Gesänge und Tänze. Aber selbst wenn diese eine regelhaftere Form annehmen, so verlieren sie doch nichts von ihrer natürlichen Heftigkeit; auch der geregelte Tumult bleibt Tumult. Die menschliche Stimme genügt für diese Aufgabe nicht mehr. Man verstärkt sie auf künstliche Weise: Die Bumerangs werden aufeinander geschlagen; bull-roarers (Schwirrhölzer) werden gedreht. Höchstwahrscheinlich haben diese Instrumente, deren Anwendung bei den religiösen Zeremonien in Australien so allgemein ist, dazu gedient, um besser die Gefühlserregung zu verdeutlichen. Aber indem sie verdeutlichen, verstärken sie sie gleichzeitig. Die Erregung wird manchmal derart stark, daß sie zu unerhörten Akten verführt. Die entfesselten Leidenschaften sind so heftig, daß sie durch nichts mehr aufgehalten werden können. Man ist derart außerhalb der gewöhnlichen Lebensbedingungen und man ist sich dessen derart bewußt, daß man sich notwendigerweise außerhalb und über der gewöhnlichen Moral erhebt. Die Geschlechter begatten sich entgegen den Regeln, die sonst den Sozialverkehr regeln. Die Männer wechseln ihre Frauen. Selbst Inzestverbindungen, die normalerweise als verwerflich gelten und schwer bestraft werden, werden bisweilen offenkundig und straflos eingegangen. Dazu kommt, daß diese Zeremonien in der Nacht stattfinden, in der Dunkelheit, die nur hin und wieder vom Schein der Feuer unterbrochen wird. Man kann sich entsprechend leicht vorstellen, welche Wirkung solche Szenen auf die Stimmung jener ausüben, die daran teilnehmen. Das führt zu einer so heftigen Überreizung des physischen und geistigen Lebens, daß es nicht lange ertragen werden kann: Der Akteur, der die Hauptrolle spielt, fällt schließlich erschöpft zu Boden.4

Es handelt sich hier um eine der eindrücklichsten Darstellungen ritueller Performanz und sie wird selbst zu einem intertextuellen performativen Ereignis. Der Text scheint selbst in den beschriebenen Schwellenzustand zu gleiten, in dem »Jedes Bewußtsein sein Echo in den anderen findet«. In diesem Fest, dieser ekstatischen Feier, geht es um die Möglichkeit der Erfahrung von etwas, das die alltäglichen Definitionen dessen, was ein

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Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S.297f.

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Mensch, eine Person ist, zu überschreiten scheint. Diese Szene scheint einen vollkommen anderen Schauplatz zu eröffnen, scheint sich in einem anderen Universum zu ereignen (wobei es von entscheidender Bedeutung zu sein scheint, dass die Verbindung zu den Regeln des Alltags, den kulturellen Grenzziehungen in einer bestimmten Form von Bewusstheit erhalten bleibt): »Man ist derart außerhalb der gewöhnlichen Lebensbedingungen und man ist sich dessen derart bewußt, daß man sich notwendigerweise außerhalb und über der gewöhnlichen Moral erhebt«. Durkheim schließt daraus, dass Gesellschaft den Individuen als Exteriorität, als etwas ›von außen kommendes‹, erscheint, in Zuständen des ›Außer-sich-seins‹, des Rauschs, der Ekstase. In dieser Erfahrung einer von außen kommenden, das Individuelle übersteigenden Macht, erlebt der Einzelne die Realität von etwas, dem er sich fortan unterwirft: das elementare moralische Regelwerk der ersten Religionen. Und in diesen Religionen verehrt der Mensch fortan jenes Gebilde, das einzig in der Lage war, ihn in diesen Zustand der Überschreitung seiner Individualität zu versetzen: die Gesellschaft. Die Wirkungsmacht der Regeln ist folglich abhängig von ihrer Überschreitung, von jenem entgrenzten Raum, in dem sich die Erfahrung des Sozialen als Heiliges ereignet. Das Soziale wird somit zum Gegenüber der Individualität, die es hervorbringt und integriert. Die Individuen konstituieren sich als Teile dieses Ganzen, ihre Orte sind abhängig von der Ortlosigkeit des Sozialen, denn es ist der Raum des Sozialen, der den Individuen/Subjekten ihren sozialen Ort bereitstellt, sie mithin erst zu Individuen/Subjekten macht. In diesem Zusammenhang ist es sicherlich nicht zufällig, wenn Durkheim ausdrücklich den Inzest erwähnt. Aus einer bestimmten Perspektive ist das Inzesttabu geradezu das Signum dieser Verschränkung von Gesetz und Überschreitung. Denn erst das Tabu errichtet jene Zone, die sich die Überschreitung aneignen will. Und es ist natürlich das Verbot, dass seine Überschreitung überhaupt erst möglich macht. Demnach stellte das rituelle Fest nach Durkheim einen zugleich legitimierten und entgrenzten Raum bereit, der die Aneignung dessen, was sich durch das Tabu als Außen konstituiert, ermöglicht. Das soziale, regelgebende Universum bringt sich in einer reflexiven Bewegung selbst hervor: Es ist eben gerade das, was gewöhnlich schwer bestraft würde, was diese von Durkheim als notwendig erachtete Erfahrung des Außen im Innen ermöglicht. Was letztlich hieße, dass sich das Soziale einer Entgrenzung verdankt, die es paradoxerweise mit der Macht, die Grenzen zu ziehen, die Regeln zu setzen, ausstattet. Genau an diesem Punkt nimmt das Soziale bei Durkheim die Position der Souveränität ein, dessen Genese er präzise beschreibt und – vor allem – universalisiert.

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GABE UND URSPRUNG DES SOZIALEN

So sehr er die Exteriorität beschwört, möchte Durkheim doch vor allem zeigen, dass es sich eben um die Exteriorität des Sozialen handelt und zwar in dem Sinne, dass das Soziale diese Exteriorität ist. In dieser Vereinnahmung besteht die Performanz seines Textes: Ihr Außen ist immer schon von der zentralen Kategorie des Textes, dem Sozialen, benannt worden. Deshalb muss die Fest-Passage dieses Außen so eindrücklich hervorbringen: Der Leser soll dem Bann ausgesetzt werden, den das Soziale für den »Primitiven« bedeutet (bedeuten soll). Was hier aber eigentlich geschieht, worin die eigentliche Pointe dieser Passage besteht, ist, das Durkheim meint, zeigen zu können, dass es die Mitglieder der Gemeinschaft selbst sind, die die Totalität des sozialen Universums, die Souveränität des Sozialen erschaffen. Sie sind gleichzeitig – in den Begriffen Agambens – Souverän und nacktes Leben.5 Ja, sie müssen sich quasi in nacktes Leben verwandeln, um die Souveränität – die Einschließung des Ausgeschlossenen – zu produzieren. Durkheim nimmt insofern Freuds Argumentation in Massenpsychologie und IchAnalyse in radikalisierter Form vorweg: Der Zusammenhang von Masse und Führer ist nur die besondere Form eines grundsätzlicheren Vorgangs. Das Soziale wird quasi zu einem externalisierten autoerotischen Körper, als eben jenem Raum, an dem sich Ununterscheidbarkeit und ihre Ausschließung, Entgrenzung und Grenzziehung, Innen und Außen in einer Geste aktiver Reflexivität gegenseitig affizieren.

5

Giorgio Agamben verweist in Homo Sacer im Zusammenhang seiner Kritik am Mythos der Ambivalenz des Heiligen gerade auf die Elementaren Formen des religiösen Lebens: Giorgio Agamben: Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S.85ff. Agamben bezieht sich vor allem auf Robertson Smith, zitiert aber direkt auch aus den Elementaren Formen. Was er mit der erstaunlichen Formulierung einleitet, Durkheim habe der Ambivalenz des Heiligen gar ein ganzes Kapitel gewidmet. Es handelt sich dabei um ein Unterkapitel von 8 (!) Seiten in diesem 600-seitigen Text, in dem es Durkheim darum geht, die damals tatsächlich kanonische These von der Ambivalenz des Heiligen insofern zu entschärfen, als er sie auf die verschiedenen Erscheinungsformen der Einheit des Sozialen zurückführt. »Zusammengefaßt: die beiden Pole des religiösen Lebens entsprechen den zwei entgegengesetzten Zuständen, durch die jedes soziale Leben hindurchgeht. [...] Der grundlegende Prozeß ist immer der gleiche, nur die Umstände färben ihn verschieden. Tatsächlich ist er also die Einheit und die Unterschiedlichkeit des sozialen Lebens, die zugleich die Einheit und die Unterschiedlichkeit der heiligen Wesen und Dinge ausmachen.« Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S.554 Agamben geht es darum, nachzuweisen, dass der Homo Sacer eben nicht diese Ambivalenz repräsentiert, sondern – als Gegenüber der Souveränität – ein Moment der Entdifferenzierung dieser mythischen Ordnung ist. Durkheim zeigt meiner Meinung nach genau letzteres, wenn er auch zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen kommt, die geradezu die Ausblendung dieses Zusammenhangs betreiben.

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Die ursprüngliche Vermengung Nun ist die Durkheim/Maussche Soziologie gleichzeitig eine des Wissens. Sie meint nämlich den Ursprung der Kategorien, des gesamten Klassifikationssystems der Kulturen in den gesellschaftlichen Institutionen, in die dieser Zusammenhang von Innen und Außen eingeschrieben ist, vorzufinden: Am Anfang waren die Dinge wie die Menschen amorph, ungetrennt, ununterscheidbar, erst die soziale Differenzierung ermöglicht die der Natur. Die sozialen Institutionen sind es, die dem Denken erlauben, Kategorien zu entwickeln, die das scheinbare Erkennen der ›Natur‹ ermöglichen. Die so entwickelten Vorstellungen der Wirklichkeit beruhen allein auf der übermächtigen Erfahrung des Sozialen: Dies ist die Wirklichkeit, die die Klassifikationen und Kategorien letztlich darstellen. Die Differenzierungen, die sie einführen, bleiben allerdings gebunden an die ursprüngliche Ununterscheidbarkeit, von der sie ihren Ausgang genommen haben. Freilich ist auch in dieser stärker differenzierten Ordnung immer noch jene ursprüngliche Vermengung der Dinge erkennbar, bei der das menschliche Denken einst seinen Ausgang genommen hat.6

Diese Ununterscheidbarkeit, die hier »ursprüngliche Vermengung« genannt wird, scheint einerseits im Zusammenhang zu stehen mit dem, was ich oben als vorursprüngliche Verwiesenheit bezeichnet habe: etwas, das die Menschen (und die »Dinge«) auf eine Weise zueinander in Beziehung setzt, die den kulturellen Grenzziehungen vorausgeht, ihnen in gewisser Weise fremd bleibt und sie dennoch ermöglicht. Andererseits klingt dabei natürlich auch die im Ritus produzierte Entgrenzung an. Auf diese beiden Dimensionen, gewissermaßen auf die Unbestimmtheit zwischen diesen beiden Dimensionen beziehen sich meines Erachtens Durkheim und Mauss, wenn sie, etwas vage, von den affektiven Bindungen an die und innerhalb der Gesellschaft sprechen. An diesen affektiven Bindungen oder Affinitäten – so behaupten sie jedenfalls – knüpfen die Unterscheidungen an, während deren Ursprung jedoch im Dunkeln bleibt, geradezu eine Leerstelle bildet. Der Moment der Affektion, den Mauss und Durkheim noch in den abstraktesten Klassifizierungen nachweisen zu können meinen, verweist auf diese Gleichzeitigkeit von Überschuss und Entgrenzung. Diese Gleichzeitigkeit ist es, die im corrobori aktuali6

Emile Durkheim und Marcel Mauss: Über einige primitive Formen der Klassifikation, in: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S.169–256, hier: S.188

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siert und ein-/ausgeschlossen werden soll. Auf diese Weise wird das Ganze (als entgrenzter Raum der Grenzziehung) des Sozialen überhaupt erst hergestellt.7 Dieses Ganze schafft – jedenfalls nach Durkheims und Mauss’ Klassifikationsaufsatz – einen Raum, der die Vermengung einschließt in eine absolute soziale Totalität, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Und wenn die Gesamtheit der Dinge als einheitliches System verstanden wird, so weil man auch die Gesellschaft in dieser Weise sieht. Sie ist ein Ganzes, oder genauer: Sie ist das einzige Ganze, auf das alles übrige bezogen ist. So ist die logische Hierarchie nur ein anderer Aspekt der sozialen Hierarchie, und die Einheit des Wissens ist nichts anderes als die aufs ganze Universum erweiterte Einheit des Kollektivs.8

Hier gibt es keinen Rest mehr, die ganze Welt wird in diesen abgeschlossenen Raum des Sozialen überführt und diese totale Gleichzeitigkeit von Ein- und Ausschließung wird von der Performanz dieser Texte immer wieder hervorgebracht. Das Ganze des Sozialen ist immer schon da, es steht an Beginn und Ende ihrer Bewegung. Indem das Soziale also an die Performanz gebunden, diese aber in die Totalität des Sozialen eingeschlossen und es so zum Phantasma seiner eigenen Souveränität gesteigert wird9, entstehen inmitten der gesellschaftlichen Ordnung Zonen der Ununterscheidbarkeit (darauf verweist meines Erachtens Durkheims Konzept der sozialen Unbestimmtheit: die Anomie). Es ist gerade die Totalisierung der Verbindung von Überschreitung und Performanz, die sich in Durkheims Texten ereignet (und die Conrad in Marlows Lektüre von Kurtz bereits versucht hat zu figurieren), aus der sie ihre Wahrheit: die Souveränität des Sozialen, hervorgehen lassen. Die Überschreitung produziert das Ausgeschlossene, um es – in derselben Bewegung – einzuschließen. Ganz im Sinne Foucaults ließe sich so sagen, dass es sich hierbei um eine zentrale Schnittstelle der der Jahrhundertwende eigenen Diskursivität handelt, die den Ursprung des Sozialen in dieser Verbin-

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»Letztlich haben also kollektive Geisteszustände diese Zusammenfassungen hervorgebracht, und diese Zustände waren offenkundig affektiver Natur. Zwischen den Dingen existieren geradeso wie zwischen Menschen gefühlsmäßige Affinitäten und diesen Affinitäten folgt die Klassifikation.« Durkheim/Mauss: Über einige primitive Formen der Klassifikation, S.253 Durkheim/Mauss: Über einige primitive Formen der Klassifikation, S.251f. Auf diesen Zusammenhang stützt sich Bataille in seiner Rezeption von Durkheim und Mauss, wenn er daraus seinen Souveränitätsbegriff bzw. seine Übersetzung des Sakralen und des Profanen als allgemeine und beschränkte Ökonomie entwickelt. Georges Bataille: Der verfemte Teil, übers. v. Traugott König, in: Ders., Die Aufhebung der Ökonomie, München: Matthes & Seitz 1985, S.33–236

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dung von sexueller Überschreitung und ursprünglicher Performanz lokalisiert. Wahrscheinlich ist dieser Raum zwischen unspeakable und something in Heart of Darkness und der Ursprungsfeier bei Durkheim der historische Chiasmus, in dem die Sexualität als Überschreitung und diese als Figuration der Performanz sich zeigt und das Zeitalter der Souveränität des Sozialen – das zugleich das anomische Zeitalter genannt werden könnte – anhebt oder vielmehr sich behauptet.10

10 Wobei mir die Fassung dieses Zusammenhangs in Foucaults relativ frühem Bataille-Aufsatz besonders treffend erscheint, da er sich hier letztlich noch als derselben Erfahrung angehörig fühlt und diese zu textualisieren versucht. Bei Bataille – der sich auf Durkheim und Mauss bezieht – sieht er die Überschreitung als Folge der mit dem Tod Gottes einhergehenden Entgrenzung. Das Geheimnis der Sexualität schließt hier folglich an die Erfahrung einer unmöglichen Überschreitung an. Durkheims Unternehmung besteht meines Erachtens ganz offensichtlich darin, den Tod Gottes zu kompensieren, indem er – an die so ermöglichte ›souveräne‹ Erfahrung der Entgrenzung anknüpfend – das Soziale an die Stelle Gottes setzt. Wobei genau das, worum es in Foucaults Bataille-Lektüre geht, die Erfahrung des Unmöglichen, ausgeschlossen wird. (Deshalb wohl auch die zentrale Bedeutung, die Bataille der Verschwendung des Potlatsch beimisst: hier wird der Gabentausch bis zu seiner paradoxen Spitze getrieben, bis zu dem Punkt, an dem er zur Erfahrung seiner eigenen Unmöglichkeit gelangt. Siehe: Bataille, Der verfemte Teil und: Georges Bataille, Der Begriff der Verausgabung, übers. v. Traugott König, in: Ders. Die Aufhebung der Ökonomie, a.a.O., S.7-32) Darin besteht die eigentliche Differenz zwischen Bataille und den soziologischen Texten, auf die er sich bezieht: Bataille sucht die Möglichkeit einer Erfahrung des Unmöglichen an genau den Orten auf, an denen sie ausgeschlossen wird. »Vielleicht hängen die Bedeutung der Sexualität in unserer Kultur und die Tatsache, dass sie seit Sade so häufig mit den tiefgreifendsten Entscheidungen unserer Sprache in Verbindung gebracht wird, mit dieser Bindung an den Tod Gottes zusammen. Ein Tod, den man keineswegs als das Ende seiner geschichtlichen Herrschaft und auch nicht als die endlich freigesetzte Feststellung seiner Nichtexistenz verstehen darf, sondern den man als den nunmehr beständigen Raum unserer Erfahrung ansehen muss. Indem der Tod Gottes unserer Existenz die Grenze des Grenzenlosen nimmt, führt er sie zu einer Erfahrung zurück, in der nichts mehr die Äußerlichkeit des Seins anzeigen kann, zu einer folglich inneren und souveränen Erfahrung. Doch eine solche Erfahrung, in der der Tod Gottes aufscheint, entdeckt, als ihr Geheimnis und ihr Licht, als ihre eigene Endlichkeit – die grenzenlose Herrschaft der Grenze und die Leere dieser Durchbrechung, in der sie versagt und ausfällt. In diesem Sinne ist die innere Erfahrung ganz und gar Erfahrung des Unmöglichen (das Unmögliche ist das, wovon die Erfahrung gemacht wird, was aber auch die Erfahrung konstituiert). Der Tod Gottes ist nicht nur das »Ereignis«, das in der uns bekannten Form die zeitgenössische Erfahrung hervorrief: Er hebt zudem endlos ihre weite skelettartige Äderung hervor.« Michel Foucault: Vorrede zur Überschreitung, übers. v. Hans-Dieter Gondeck, in: Ders., Dits et Ecrits – Schriften I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001., S.320-342, hier: S.322f. (Hervorhebungen im Original) Siehe auch: Klaus Bock von Wülfingen: Franz Kafka – Die Inszenierung unmöglicher Überschreitung in »Der Process« und anderen Schriften, Frankfurt a.M./Egelsbach/St. Peters Port: Hänsel-Hohenhausen 1995

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Der Gabentausch: das hau Der berühmte Gabentausch-Aufsatz von Marcel Mauss bearbeitet dieselbe Grenze. Er bezeichnet die Ökonomie des Gabentauschs als die zentrale Form der Perpetuierung des Sozialen: als Felsen »[...], auf denen unsere Gesellschaften ruhen«.11 Das Zirkulieren der Gabe im Tausch ist der Versuch, das Heilige in Bewegung zu halten, möglichst viele Bereiche des Zusammenlebens zu durchdringen und so die Zerstreuung der Einzelnen in die Rhythmik des Sozialen einzubinden. Mauss entwickelt aber eine völlig andere Sichtweise auf diese Phänomene, die den Essai sur le don bei aller Nähe als einen Bruch mit der Durkheim-Schule erscheinen lässt. Claude Lévi-Strauss hat versucht in seiner – mehr für sein Werk als für das von Marcel Mauss – grundlegenden Einleitung, diesen als einen Vorläufer des Strukturalismus zu deuten. Im Zentrum dieser Einleitung steht die Neuinterpretation eines Begriffs, den Mauss sich bei den Maori geliehen hatte, um damit das Ganze des Phänomens des Gabentausches analysieren zu können: das »hau«. Lévi-Strauss attestiert Mauss mit der Einführung des hau einer »Inkonsequenz des Denkens« zu unterliegen. Das hau hat – so Lévi-Strauss – bei Mauss die Funktion aus den vielen heterogenen ethnographischen Beobachtungen die Einheit des Gabentauschs zu generieren. Das einzige Mittel dem Dilemma zu entgehen, bestünde darin, den Austausch als das zu begreifen, was das ursprüngliche Phänomen konstituiert, und nicht die unsteten Operationen, in welche das soziale Leben ihn zerlegt. Wie auch sonst, aber vor allem hier, hätte eine Vorschrift zur Anwendung kommen müssen, die Mauss selber bereits in der Theorie der Magie formuliert hatte: »Die Einheit des Ganzen ist noch viel realer als jeder der Teile.« Im Gegensatz dazu versucht Mauss in der Gabe verbissen, ein Ganzes aus Teilen zu rekonstruieren, und da dies sichtlich unmöglich ist, muß er diesem Gemisch ein zusätzliches Quantum hinzufügen, das ihm die Illusion gibt, seine Rechnung ginge auf. Dieses Quantum ist das hau.12

Die Funktion des hau bestünde demnach darin, die Einheit des Disparaten zu bewerkstelligen. Das hau wäre also genau das, was den Teilen 11 Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übers. v. Eva Moldenhauer, in: Ders., Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.11–173, hier: S.14 12 Claude Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, übers. v. Henning Ritter, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.7–41, hier: S.30f.

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fehlt, um zu einem Ganzen zu werden. Man könnte wohl auch sagen, es ist Ausdruck der Uneinheitlichkeit der Teile und – wie Lévi-Strauss anmerkt: der Unmöglichkeit ihrer Beziehung zum Ganzen. Mauss Inkonsequenz würde demnach darin bestehen, gerade aus dem Ausdruck der Uneinheitlichkeit, des Disparaten, Heterogenen einen Beleg für die Unmöglichkeit der Einheitlichkeit zu machen. Für Lévi-Strauss liegt die Lösung dieses Problems auf der Hand: Es ist die Relationalität der strukturalen Differenz und des darauf beruhenden Austauschs von Zeichen, der den von Mauss erstmals zusammengefassten Phänomenen zugrunde liegt: Vom Ganzen aus gesehen erschließt sich die Einheitlichkeit der Teile. Das Bestechende der strukturalen Unternehmung ist vielleicht gerade dies: dass von hier aus alles möglich, alles interpretierbar, übersetzbar wird. »Im Gegensatz dazu« ist Mauss Perspektive nun eine andere und gerade darin liegt auch der von Lévi-Strauss als Inkonsequenz abgeurteilte Bruch mit der Durkheim-Schule und Mauss’ früheren Texten. Ihm (v)erschließt das Ganze sich aus den Teilen und es ist diese Perspektive, der sich die Einführung des hau verdankt. Was ist nun aber dieses hau bzw. – worauf es hier eigentlich ankommt: was versteht Marcel Mauss darunter?13 13 Maurice Godelier hat in seinem Buch L’énigme du don darauf hingewiesen, dass die neuere ethnologische Forschung bereits seit längerem nachgewiesen hat, dass Mauss’ Interpretation des hau auf einem grundlegenden, vor allem Übersetzungsfehlern geschuldeten Missverständnis seiner Maori-Quelle beruht. »Marshall Sahlins, dem das Verdienst gebührt, diese Texte und andere verglichen zu haben, kommt wie Firth lange Zeit vor ihm zu dem Schluß, daß Mauss im Irrtum war, als er die Rückkehr der Gabe als die Wirkung des ›Geistes der Sache‹, der zu seinem Eigentümer zurückkehren möchte, interpretierte. Er fügt im Anschluß an Firth hinzu, daß die Bestrafung durch Zauberei, die als eine Drohung ausgesprochen wird, nicht die Handlung des hau der Sache selbst sein kann, sondern die der wirklichen Personen, die dadurch frustriert sind, daß sie keine Gegengabe empfangen haben, und die also den Schuldigen verzaubern. Sahlins verwirft somit die Hypothese vom Handeln des Geistes der Sache [...]« Maurice Godelier: Das Rätsel der Gabe – Geld Geschenke, heilige Objekte, übers. v. Martin Pfeiffer, München: C.H. Beck 1999, S.77. Insgesamt versucht Godelier in seinem Buch das Behalten dem Tausch entgegenzustellen und – wie er meint – der Betonung der Reziprozität und der Vorherrschaft des Symbolischen im Strukturalismus ein dem Imaginären angehörendes Heiliges: diesem imaginären Heiligen unterstehen, gehören die sozial produzierten Güter. Ihm geht es dabei darum, auf der Grundlage dieses Imaginären, das letztlich das Soziale selbst ist, die Notwendigkeit neuer sozialer Übereinkünfte einzufordern, die sich dem alles erfassenden Tausch entgegenstellen und dem herrschenden »fortwährenden Mangel [...] an Solidarität« entgegenarbeiten. Er beschließt sein Buch mit den folgenden Sätzen: »Die Grenzen des Sozialvertrags sind jedoch klar. Stellt man sich vor, dass ein Kind einen Vertrag mit seinen Eltern schließt, um geboren zu werden? Dieser Gedanke ist absurd. Und seine Absurdität zeigt, dass die erste Bindung zwischen den Menschen, die der Geburt, zwischen denen, die sie betrifft, nicht ausgehandelt wird. Und doch neigt unsere Gesellschaft dazu, über derart unaufhebbare Fakten Stillschweigen zu bewahren.« Godelier: Das Rätsel der Gabe, S.294

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GABE UND URSPRUNG DES SOZIALEN Im Grunde ist es das hau, das zu dem Ort seines Ursprungs, zur geheiligten Stätte des Waldes und des Clans und zum Eigentümer zurückkehren möchte. Das taonga oder sein hau heftet sich an jene Reihe von Benutzern, bis diese aus ihrer Habe, ihren taonga, ihren Besitztümern oder Gütern oder auch aus ihrer Arbeit oder ihrem Handel durch Gastmähler, Feste und Geschenke etwas Gleich- oder Höherwertiges dafür gegeben haben, das seinerseits dem Geber Autorität und Macht über den ersten Geber verleiht, der nun der letzte Empfänger geworden ist. Dies scheint der Leitgedanke zu sein, der in Samoa und Neuseeland der obligatorischen Zirkulation von Reichtümern, Tributen und Gaben zugrunde liegt. Eine solche Tatsache erhellt zwei Reihen wichtiger sozialer Phänomene in Polynesien und selbst außerhalb Polynesiens. Zunächst erkennt man die Natur der rechtlichen Bindung, welche die Übermittlung einer Sache schafft. Wir werden auf diesen Punkt gleich noch zurückkommen und zeigen, wie diese Tatsachen zu einer allgemeinen Theorie der Verpflichtung beitragen können. Doch schon jetzt ist deutlich, daß im Maori-Recht die durch die Sache geschaffene Bindung eine Seelen-Bindung ist, denn die Sache selbst hat eine Seele, ist Seele. Woraus folgt, daß etwas geben soviel heißt, wie etwas von sich selbst geben. Zweitens gelangen wir zu einem besseren Verständnis des Gabentauschs und alles dessen, was wir, den »Potlatsch« eingeschlossen, totale Leistungen nennen. Es ist vollkommen logisch, daß man in einem solchen Ideensystem dem anderen zurückgeben muß, was in Wirklichkeit ein Teil seiner Natur und Substanz ist; denn etwas von jemand annehmen heißt, etwas von seinem geistigen Wesen, von seiner Seele annehmen, es aufzubewahren, wäre gefährlich und tödlich, und zwar nicht allein deshalb, weil es unerlaubt ist, sondern weil diese Sache – die nicht nur moralisch, sondern auch physisch und geistig von der anderen Person kommt, weil dieses Wesen, diese Nahrung, diese beweglichen oder unbeweglichen Güter, diese Riten oder Kommunionen magische und religiöse Macht über den Empfänger haben. Und schließlich ist die gegebene Sache keine leblose Sache. Beseelt, oft individualisiert, hat sie die Neigung, zu dem zurückzukehren, was Hertz ihre »Ursprungsstätte« nannte, oder für den Clan und den Boden, dem sie entstammt, etwas zu produzieren, das sie ersetzt.14

Mauss macht also gerade aus einem ungreifbaren, undefinierbaren Rest, der sich auch seiner Interpretation gegenüber als äußerst sperrig erweist, den zentralen Bezugspunkt seiner Argumentation. Er ortet das hau auf den unterschiedlichsten Ebenen: dem Bereich der intersubjektiven BeGodelier ist insofern Mauss tatsächlich sehr nahe: er versucht in gewisser Weise die Gabe neu zu verrechtlichen, von ihr aus die Ökonomie neu zu denken. Man könnte sagen: er möchte die Gabe auf andere Weise ausschließen, bzw. sie zum Anlass einer neuen sozialen Entübersetzung nehmen, um so eine andere politische Wiederübersetzung der Gabe zu ermöglichen. 14 Mauss: Die Gabe, S.26f.

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ziehungen, dem einer radikalen Intimität und – mit der Verpflichtung – dem des Rechts. All diesen Ebenen ist die Betonung einer Beziehung zu den Ursprüngen gemeinsam und zwar – um genauer zu sein – einer gewissen Schwerkraft, die die Dinge, die Dinge als Seelen, zurückstreben lässt zu ihrem Ursprung. Das hau – oder das so bezeichnete Phänomen – scheint die Dynamik der Kultur anzutreiben ohne ihr im eigentlichen Sinne anzugehören, auch wenn Mauss gerade dies zu leugnen sucht. Das Konzept von Mauss ist dem von Lévi-Strauss also diametral entgegengesetzt: Es geht von etwas aus, dass die kulturellen Bindungen herstellt, ohne selbst gebunden werden zu können, und es bezieht seine Plausibilität aus der Tendenz, zurückzukehren (nicht aus dem Bestreben etwas anderes zu bekommen). Es geht Mauss folglich – jedenfalls auf einer bestimmten Ebene seines Textes – nicht um Relationalität und Reziprozität, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern gerade um diese Beziehung der Unmöglichkeit zwischen den Teilen und dem Ganzen. Dafür steht das hau als »Seelenbindung«. Die Dinge sind nicht abzulösen von demjenigen, der sie zu geben bereit ist. Mauss tendiert dazu (das hat Godelier gezeigt), die Gabe selbst als Person, hier sagt er: Seele, zu verstehen, was auch heißt, dass etwas gegeben wird, was nicht gegeben werden kann. Der Gabentausch als soziale Institution versucht genau diese Unmöglichkeit zu vergessen, indem er eine umfassende Zirkulation in Gang setzt, in der alles zu rotieren beginnt: Dinge, Menschen, Zeichen. Mauss moralischer Impetus (darauf hat Derrida in seiner Lektüre der Gabe in Falschgeld hingewiesen15) arbeitet an der Vermengung der ökonomisch/rechtlichen Ebene und der des Gabenereignisses. So erscheint es bei Mauss, als ob es auf der einen Seite ein sozialer und geographischer Ort sei, der sich auf die Reise des Gabentauschs begibt und dabei den Ruhm und die Macht seiner Herkunft vergrößert (also diesen Ort eigentlich erst herstellt), gleichzeitig aber sich im Akt des Gebens die Singularität des Gebenden öffnet, indem er ›sich selbst‹ zu geben bereit ist. Insofern kehrt die soziale Aneignung des Außen hier wieder. Allerdings nicht als Totalisierung des Zusammenhangs von nacktem Leben und Souveränität, sondern als Verrechtlichung einer Geste der Intimität. Der eigentliche Ort jedoch, von dem aus Mauss seine Anforderungen an die Politik formuliert, ist – so scheint es mir – genau diese intime Geste des Gebens, die eine sich jedem sozialen Zugriff entziehende Ortlosigkeit ins Spiel bringt, die niemals gegeben werden kann und dennoch den ganzen Zyklus des Tauschs, des Sozialen evoziert. Auch wenn diese Lesart etwas übertrieben erscheint angesichts des von Mauss ausgebreiteten ethnologi-

15 Jacques Derrida: Falschgeld – Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Fink 1993

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schen »Materials«, so scheint mir doch gerade darin die vielleicht weniger moralische als theoretische Implikation seines Essai zu liegen.

Der »Felsen« Hier rühren wir an den Felsen. Wir sprechen nicht einmal mehr in Ausdrücken des Rechts, wir sprechen von Menschen und Gruppen, weil sie es sind – die Gesellschaft und die Gefühle der Menschen aus Geist, Fleisch und Bein – die seit jeher und überall handeln und gehandelt haben.16

Es handelt sich hierbei wohl um das eigentliche Zentrum von Mauss’ Text: was hier erscheint, ist die aller Gesellschaftlichkeit vorausgehende Bedingung des Sozialen. Von der Materialität der Körper und der Immaterialität des Geistes, die sich beide in der Affektion ereignen, lässt sich in Begriffen des Rechts nicht sprechen und dennoch sind sie es, die die Institutionen, das Recht, den Tausch produzieren. Ihr Handeln ist es, das nicht aufgeht im Ganzen, in der Totalität des Sozialen, wenn man auch kaum bestreiten kann, dass es sich im sozialen Raum ereignet. Der Zusammenhang zwischen diesem Felsen und dem Ganzen des Sozialen wäre dann die unmögliche Beziehung, die Mauss das hau nennt. Während der frühe Lévi-Strauss seine Konzeption der Reziprozität folgerichtig in einer Universalie gründet, als die er das Inzesttabu bezeichnet, geht es Mauss um die Dimension der Unmöglichkeit in der Herstellung eines Ganzen. Um ein das Ganze konstituierendes Geben, das auf dem beruht, was letztlich nicht gegeben werden kann, gerade deshalb aber den eigentlichen Kern des Gebens ausmacht. Wobei der Moment der Verpflichtung, den Mauss der Erwiderung zuschreibt und den er als zentrale Kategorie des Gebens behauptet, bereits darauf aus ist, dieses Geben des Nichtgebbaren und also auch nicht Erwiderbaren zu beenden. Im Gabentausch überkreuzen sich demnach die radikale Unmöglichkeit des Gebens und die soziale Regelhaftigkeit der Verpflichtung. Er ist zugleich Hervorbringung als auch Vollzug des Sozialen, seine Performanz und seine Ökonomie, die sich folglich nur schwerlich trennen lassen. Diese Doppelheit ist womöglich der Felsen, auf dem – wie Mauss schreibt – unsere Gesellschaften »ruhen«. Der Gabentausch als felsiger Rastplatz ist wohl selbst eine Figuration dieser paradoxen Verdopplung, denn es handelt sich dabei um das, was in keiner Ökonomie restlos aufgeht und dem dennoch der Tausch, bzw. das Soziale als riskante Bewegung antwortet. Auf diesem Felsen kann niemand sich niederlassen, im

16 Mauss: Die Gabe, S.128

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Gegenteil: Im Akt des Gebens öffnet sich eine radikale Asymmetrie und die Erwiderung versucht alles in Bewegung zu setzen, um ein Gleichgewicht herzustellen, dass es vorher nicht gab. Es ist anzunehmen, dass es sich dabei um ein ständig gefährdetes Gleichgewicht handelt, da bestimmte Formen des Gabentauschs – wie bspw. der Potlatsch – darauf aus sind, es zu zerstören, das Erwidern unmöglich zu machen, die Gabe auf ihre eigene Unmöglichkeit zurückzuführen (hier genau schließt Bataille an). Der Gabentausch hat also nicht einfach die Funktion soziale Orte, Identitäten zu befestigen, sondern in ihm konstituiert sich erst das Soziale und zwar in einem außersozialen Ereignis, das ein radikales Ungleichgewicht herstellt, auf das die ganze komplexe zirkuläre Organisation des Tauschs antwortet. Es spielt sich bei Mauss also völlig anders ab als bei Lévi-Strauss, bei dem sich der Tausch quasi naturnotwendig aus den Strukturen des Denkens ergibt (doch auch Lévi-Strauss hat einen mächtigen Tribut an sein Modell allgemeiner Reziprozität zu entrichten: nämlich das, was Derrida als »Heimweh nach dem Ursprung« bezeichnet17). Malinowskis Beschreibung des kula bei den Trobriandern in seinen Argonauten des westlichen Pazifik, der Mauss ein ganzes Kapitel widmet und die den Essai sur le don – neben den Beschreibungen des nordamerikanischen Potlatsch – wohl mit inspirierte, hat vielleicht auch deshalb eine solche Wirkung entfaltet, weil sie eine derart eindrückliche Metapher für das Funktionieren menschlicher Gemeinschaften stiftete: Boote, die über ungeheure Entfernungen hinweg einen Zusammenhalt stiften, der sich allein einer scheinbar sinnlosen Operation verdankt: dem Tausch von Armreifen gegen Halsketten. Anhand von Malinowskis Ethnographie jedenfalls entwirft Mauss das Panorama des Gabentauschs als fait social total, der die Gesellschaft in all ihren Äußerungen ergreift und begründet. Im übrigen ist unserer Meinung nach der ganze intertribale kula nur der auf die Spitze getriebene, feierlichste und dramatischste Fall eines weit allgemeineren Systems. Er zieht den Stamm in seiner Gesamtheit aus dem engen Kreis seiner Grenzen, seiner Interessen und seiner Rechte, während normalerweise die Clans und Dörfer innerhalb des Stammes durch Bande gleicher Art miteinander verbunden sind. [...] Schließlich durchdringt – neben oder auch über, hinter und (unserer Meinung nach) in diesem System das Inlandkula – das System des Gabentauschs das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Trobriander. Es ist ein immerwährendes »Geben und Nehmen«. Es

17 Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, übers. v. Rodolphe Gasché, in: Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S.422–442, hier: S.440

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GABE UND URSPRUNG DES SOZIALEN wird gleichsam von einem kontinuierlichen, nach allen Richtungen fließenden Strom durchflutet, einem Strom aus Gaben, die obligatorisch und aus Eigennutz, aus Größe und als Entgelt für Dienste, als Herausforderung oder als Pfand gegeben, empfangen und erwidert werden.18

Im Tausch konstituiert sich also das Soziale selbst, aber auf eine prekärere Weise als Mauss es im obigen Zitat nahe legt: Das Soziale basiert hier nicht mehr einfach auf grundlegenden kollektiven Vorstellungen, die aus der Totalität des sozialen Raums hervorgegangen sind, wie es die Durkheim-Schule behauptete, sondern es ist eine permanente Intervention im intersubjektiven Raum, eine ständige Antwort auf das, was sich ereignet, wenn gegeben wird, ein Effekt – sozusagen – der Gabe. Der Gabentausch nimmt den Platz des von Durkheim konstruierten Ortes ein, an dem »Jedes Bewusstsein sein Echo in den anderen findet«19, den Ort der Transparenz, der Performanz und der Möglichkeit der Übersetzung. Im Gabentausch scheint sich alles so abzuspielen, als ob er diese Transparenz herstellen würde, stattdessen ist er die Antwort auf die Disparatheit, die Asymmetrie, die Unmöglichkeit der Transparenz. Die Gabe beruht auf einer grundsätzlichen Unmöglichkeit, der sich die Notwendigkeit der Zirkularität des Tauschs verdankt und die über diesen hinausweist. Das ist die besondere Weise, in der die Ökonomie des Gabentausches in sich selbst gefaltet ist: als Zirkularität und als deren Unterbrechung. Der sogenannte Gabentausch entspräche dieser Zirkularität, die scheinbar alles unter dem Signum des Sozialen zu fassen in der Lage ist, die aber gleichzeitig einen Rest gebiert: dass gerade das, worauf sich der Gabentausch beruft, das Geben, von ihm notwendig verunmöglicht wird. Das Soziale ließe sich in diesem Sinne – anders als es Durkheim in seiner Totalisierung der rituellen Performanz entwirft – als Schauplatz sowohl dieser notwendigen und unmöglichen Öffnung als auch ihrer Schließung denken: der Essai sur le don versucht genau diese unmögliche Bewegung nachzuvollziehen, auch wenn er seinen eigenen Aporien am Ende ausweicht.

18 Mauss: Die Gabe, S.53f. 19 Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S.297

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Die Gabe (wenn es sie gibt) Während Claude Lévi-Strauss in seiner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss die mit der Konzeption des hau (bzw. des mana, das – wie Lévi-Strauss sagt – in Mauss’ Theorie der Magie20 die Rolle des hau spielt21) einhergehenden Aporien aus der fehlenden Bereitschaft Mauss’ erklärt, »seine Prinzipien bis zum Ende anzuwenden und [...] stattdessen eine neuseeländische Theorie«22 zu übernehmen, um sie dann aufgehen zu lassen in der reziproken ›Totalität‹ der strukturalen Anthropologie23, 20 Marcel Mauss/Henri Hubert: Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, S.43–179 21 Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, S.32 22 Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, S.30 23 »Alle magischen Vorstellungen beruhen auf der Wiederherstellung einer Einheit, und zwar nicht einer verlorenen (denn nichts ist je verloren), sondern einer Einheit, die unbewußt oder weniger vollständig bewußt ist als diese Handlungen selber. Der Begriff des mana gehört nicht zur Ordnung der Realität, sondern zur Ordnung des Denkens, welches selbst dann, wenn es sich selbst denkt immer nur einen Gegenstand denkt. [...] Was man den Fortschritt des menschlichen Geistes, jedenfalls aber den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis nennt, konnte niemals und wird niemals in etwas anderm bestehen können als darin, bestimmte Zerlegungen zu berichtigen, Neugruppierungen vorzunehmen, Zuordnungen zu definieren und neue Hilfsmittel zu entdecken – alles im Innern einer geschlossenen und in sich komplementären Totalität.« Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, S.37ff. Insofern ist der Strukturalismus genau an diesem Umschlagspunkt von Gabe in Tausch situiert und deshalb steht er sowohl bei Lévi-Strauss als auch bei Lacan dermaßen im Banne des Inzesttabus und des Ödipus. Was die strukturale Wendung in der Interpretation des Gabentauschs einleitet ist wohl in erster Linie eine weitgehende Zerlegung des souveränen Phantasmas. Was sicherlich auch mit ihrem Gegenstand – den traditionalen Gesellschaften – zusammenhängt. Lévi-Strauss’ Interpretation des hau oder vielmehr des ihm verwandten Begriffs des mana bereitet dabei den Boden für die Postulierung jenes »Überschuß’ an Sinn«, jener »supplementären Ration«, die Lévi-Strauss Begriffen vom Typus mana zuschreibt und die bei Lacan als frei flottierender Signifikant der Signifikanten den Zusammenhang von Allmacht und Mangel innerhalb der Struktur bezeichnet. »Wir glauben, daß die Begriffe vom Typus mana, so verschieden sie sein können, in ihrer allgemeinsten Funktion betrachtet (die, wie wir gesehen haben, auch in unserer Mentalität und in unserer Gesellschaftsform nicht verschwindet), eben diesen flottierenden Signifikanten repräsentieren, der die Last alles endlichen Denkens (aber auch die Bedingung aller Kunst, aller Poesie, aller mythischen und ästhetischen Erfindung) ist und den die wissenschaftliche Erkenntnis zwar nicht stillzustellen, wohl aber partiell zu disziplinieren vermag. Das magische Denken verfügt im übrigen über andere Methoden der Kanalisierung mit anderen Resultaten, und diese Methoden können sehr wohl nebeneinander bestehen. Mit anderen Worten, indem wir uns an den Satz von Mauss halten, daß alle sozialen Phänomene der Sprache assimiliert werden können, sehen wir im mana, wakan und orenda und in anderen Begriffen desselben Typus den bewußten Ausdruck einer semantischen Funktion, deren Rolle darin besteht, die Tätigkeit des symbolischen Denkens trotz des ihm ei-

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werden sie von Jacques Derrida in seinem Postulat der Unmöglichkeit der Gabe ernst genommen und zugespitzt. Derrida liest den Gabentausch von vornherein als aporetische Situation: die Zirkularität des Tauschs – so Derrida – ist absolut notwendig, damit es Gabe gibt und doch ist sie zugleich die Verunmöglichung von Gabe. Vor allem aber verhält es sich umgekehrt genauso, denn die Gabe macht den Tausch überhaupt erst möglich. Sie überbordet – so Derrida – den Kreis der Zirkularität des Tauschs als nichtintegrierbarer Rest: Denn am Ende führt das Überborden des Kreises durch die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auf ein bloßes Außen, das völlig unsagbar, transzendent und be-

gentümlichen Widerspruchs zu ermöglichen. So erklären sich die mit diesem Begriff verbundenen anscheinend unlösbaren Antinomien, die die Ethnographen in Staunen versetzt hatten und die Mauss ins rechte Licht rückte: Kraft und Tätigkeit; Qualität und Zustand; Substantiv, Adjektiv und Verb in einem; abstrakt und konkret; allgegenwärtig und lokalisiert. Tatsächlich ist das mana all dies zugleich – doch ist es das nicht gerade deswegen, weil es nichts von all dem ist: bloße Form oder genauer Symbol im Reinzustand und deswegen in der Lage, einen wie immer gearteten symbolischen Inhalt aufzunehmen? In diesem für jede Kosmologie konstitutiven System von Symbolen wäre es einfach ein symbolischer Nullwert, das heißt ein Zeichen, das die Notwendigkeit eines supplementären symbolischen Inhalts markiert, der zu dem bereits auf dem Signifikant liegenden Inhalt hinzutritt und der ein beliebiger Wert sein kann, vorausgesetzt, daß er noch zu dem verfügbaren Vorrat gehört und nicht schon, wie die Phonologen sagen ein Gruppenterm ist.« Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, S.39f. Der flottierende Signifikant ist natürlich nicht gleichzusetzen mit der Souveränität, er bezeichnet aber den ›Platz‹, den dieses Phantasma vorgibt einzunehmen. Lacan hebt dann von hier aus die bei Lévi-Strauss angelegte Verwerfung der Fremdheit, der Unübersetzbarkeit auf, arbeitet jedoch mit aller Macht an ihrer – wen auch virtuellen – Wiedereinschreibung in die väterliche Autorität. Was der Strukturalismus allerdings zeigt, ob bei Lévi-Strauss oder Lacan, ist dies: dieser Platz kann nicht eingenommen werden, er muss leer bleiben. Die Untersuchungen Pierre Clastres bspw. – eines Schülers von Lévi-Strauss – zeigen, inwiefern bestimmte traditionale Gesellschaften über eine Struktur ›verfügen‹, die geradezu auf der Ausschließung der Souveränität – Clastres spricht von der »politischen Funktion« – beruht. Sie konstituieren sich quasi in Verteidigung der Gesellschaft vor den Versprechungen der Souveränität: »Damit nämlich ein Aspekt der sozialen Struktur imstande ist, irgendeinen Einfluß auf diese Struktur auszuüben, darf zumindest die Beziehung zwischen diesem besonderen System und dem Gesamtsystem nicht völlig negativ sein. Nur unter der Bedingung, daß die politische Funktion gewissermaßen der Gruppe immanent ist, kann sie sich wirklich entfalten. In den indianischen Gesellschaften jedoch ist sie aus der Gruppe ausgeschlossen und besteht sogar nur außerhalb ihrer: die Ohnmacht der politischen Funktion wurzelt also in der negativen Beziehung zur Gruppe; daß sie außerhalb der Gesellschaft gestellt wird, ist gerade das Mittel, sie zur Ohnmacht zu verdammen.« Pierre Clastres: Staatsfeinde – Studien zur politischen Anthropologie, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S.43 Damit beschreibt Clastres die Gegenbewegung zu Durkheim: eben nicht die Einschließung des Ausgeschlossenen in der rituellen Performanz, sondern die Ausschließung der souveränen Einschließung in der Struktur.

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BLANK SPACES zuglos wäre. Sondern dieses Außen gerade gibt den Anstoß, setzt den Kreis und die Ökonomie in Gang, indem es (sich) einlässt in den Kreis und ihn (sich) drehen lässt.24

Die Gabe ist folglich der sie ausschließenden Zirkularität des Tauschs immanent. Sie bezeichnet ein Außen, das weder aufgeht in seiner Ökonomie noch außerhalb von ihr verbleibt. Es muss Gabe geben, damit es Zirkularität, Symmetrie, Ökonomie, also Gesellschaft geben kann, und doch ist die Gabe das, was sich der Einbindung in diese Bewegung ständig entzieht. Es ist gerade dieser Entzug, dem sich die Bewegung verdankt. Die Gabe ermöglicht die Bindung, die den Tausch eröffnet gerade dadurch, dass sie sich nicht binden lässt. Die Gabe ist nicht die Vermengung, aber sie ist vielleicht etwas, was mit der ursprünglichen Vermengung gesagt werden sollte: Sie ereignet sich im Raum der Begegnung, der Affektion der anasemischen Pole und gehört damit einer AnaOrdnung an, die sich der von ihr evozierten Ordnung verschließt. Die phantasmatische Ordnung der Dinge erscheint als eine Antwort auf das radikal Andere-der-Ordnung der Gabe. Derrida siedelt die Gabe dementsprechend in einem Bereich an, der noch der Konstituierung eines Subjekts vorausgeht (im doppelten Wortsinn: ihr zuvorkommt). Die Subjekt-Objekt Beziehung ist für ihn bereits ein »Gabenstillstand«, wie er schreibt, sie gehört der Ökonomie, der Zirkularität des Tauschs an, wiewohl sie sich gerade auf die Gabe hin, als Antwort auf die Gabe konstituiert. Man könnte sogar versucht sein zu sagen, daß ein Subjekt als solches eine Gabe weder gibt noch empfängt. Es konstituiert sich im Gegenteil gerade, um durch den Kalkül und den Tausch die Herrschaft dieser hybris oder Unmöglichkeit zu bändigen, die sich in dem Versprechen der Gabe ankündigt. Da, wo es Subjekt und Objekt gibt, wäre die Gabe ausgeschlossen. Nie wird ein Subjekt einem anderen Subjekt ein Objekt geben. Vielmehr sind Subjekt und Objekt stillgestellte Effekte der Gabe: Gabenstillstände (arrêts du don). Mit der Geschwindigkeit null oder unendlich des Kreises.25

Insofern ist der Nicht-Ort der Gabe jene Ortlosigkeit, jener entgrenzte Übergangsraum der Verwiesenheit, der den Trennungen, der Verortung vorausgeht und dem sie sich zugleich verdankt. Die Subjekt/Objekt Ordnung wiederholt diese Begegnung auf der Ebene des Phantasmas als Ausschließung. In diesem Sinne wären Subjekt und Objekt Ausschlüsse jenes Ereignisses, von dem sie ›hervorgebracht‹ werden, das sie evoziert. 24 Jacques Derrida: Falschgeld, S.45 25 Jacques Derrida: Falschgeld, S.36f.

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Wie verhält es sich jedoch mit jener Gabe an die Götter, die René Girard analysiert hat: das Opfer. Darin – so könnte man mit Durkheim sagen – wird dem Sozialen selbst gegeben. D.h., das Opferritual inszeniert die Ausschließung der Gabe selbst, allerdings als gleichzeitige Unterbrechung des Tauschs, als Nichtgeben.26 Der Opferkult gehört insofern gänzlich der Ökonomie des Kreises an, versucht ihn aber zu erhalten, indem er ihn außer Kraft setzt, die Stillstellung sozusagen stillstellt. Das Opfer wäre dann beides: phantasmatisches Gegenüber der Gabe und ihr virtuelles Supplement. Vielleicht ist es so etwas wie der gewaltförmige Tribut, den die mythische Gewalt dem Entzug der Gabe, der Unmöglichkeit ihrer Einschließung zu entrichten hat. Das Denken Girards scheint vollkommen dem, was Derrida als Zirkularität bezeichnet, anzugehören: Bei ihm ist es der Kreis der Gewalt, der allem immer schon vorausgegangen ist, und aus dem sich dann die ganze Effizienz der Opferkulte herleitet. Man könnte vielleicht sagen, dass genau darin die obsessive Allgegenwart der Gewalt bei Girard besteht – dass er nicht von der Gabe, sondern von der Reziprozität ausgeht und somit das Außen dieser Reziprozität, ihre Performanz, allein dem Mord zuschreibt. Jeder performative Akt muss aber eine zumindest virtuelle Potentialität ins Spiel bringen, um die Möglichkeit seines Gelingens zu eröffnen. Ohne diese Vorstellung der Möglichkeiten, der vielen, der unendlichen Möglichkeiten, wäre er sinnlos. Sein eigentliches Gelingen besteht aber gerade darin, eine dieser Möglichkeiten hervorzubringen, die Potentialität also auszuschließen. Es kann keine Gabe geben ohne Bezug auf diese Potentialität, die Unmöglichkeit der Bewahrung dieser Potentialität. Die Gabe bezeichnet gerade den Augenblick, an dem das, was hervorgebracht wird nicht von dem geschieden ist, was nicht hervorgebracht werden wird; den Punkt also, an dem das Mögliche unmöglich, das Unmögliche möglich ist. Gleichzeitig – so Derrida – ist die Gabe jedoch nur im Zusammenhang der Intention zu denken, als intentionaler Akt des Geben-Wollens. Die Gabe ist Voraussetzung dafür, dass es überhaupt Ereignis geben kann, dass nicht immer alles schon von der Zirkularität ergriffen ist, bezeichnet aber zugleich das, was in einem gelingenden intentionalen Akt ausgeschlossen wird: Sie verbindet den Zufall, das Unbewusste, das Chaos aber auch: die Wiederholung, den Kreis, die Ökonomie mit dem, was Derrida »intentionale Freiheit«27 nennt.

26 Ein Zusammenhang, den auch Godelier betont, der in den Göttern vor allem das Imaginäre des Sozialen sieht. 27 »Das ist das Paradox, auf das wir uns von Anfang an eingelassen haben. Es gibt keine Gabe ohne Intention zu geben. Die Gabe kann nur eine intentiona-

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Das Opfer legt Zeugnis ab von der Gabe, sowohl von der Notwendigkeit ihres Ausschlusses als auch von der Unmöglichkeit ihrer Einschließung. Denn – so Derrida – Gabe kann es nur geben, wenn sie vergessen wurde (was etwas anderes ist als verkannt), wenn sie keine Erwartung mehr produziert, keinen Anspruch auf Gegengabe, auch nicht Dankbarkeit, erhebt. Die Gabe kann es quasi nur geben, wenn es sie nicht gibt. Sie ist draußen in einem viel weitgehenderen Sinne als das Unbewusste, das Verbotene, Verdrängte oder Verworfene. Ja, sie kann weder verboten noch verdrängt noch verworfen werden, da sie bereits das Außen des Verbots und der Verwerfung ist. Oder andersherum: Sie ist Draußen, weil sie immer schon ›Drinnen‹ ist. Sie ist allem immer schon vorausgegangen, ohne jemals in einer Gegenwart anzukommen, weder in einer vergangenen noch in einer zukünftigen Gegenwart (und deshalb eine Gegenwart erst möglich macht, die etwas anderes wäre als ein Punkt auf der Achse der Zeit oder endlose Wiederholung und Aufschub des Kreises). Eine Gegenwart, die auf die Potentialität einer wirklichen Zukunft hin geöffnet ist. Derrida knüpft die Gabe eng an eine spezifische Vorstellung der Zeit, wenn er dem iterativen Aufschub, der in Mauss’ Vorstellung der Erwiderung bereits angelegt ist, das notwendige Vergessen der Gabe gegenüberstellt, das so radikal sein muss, dass es jede Erwartung einer Erwiderung ausschließt und damit die ökonomische Vorstellung vom Verstreichen der Zeit als Kreis oder Linearität in Frage stellt (womit Derrida an das Messianische bei Benjamin anknüpft und es radikalisiert).28 Nachträglichkeit bezeichnet dann die Verbindung, die diese beiden Zeitlichkeiten

le Bedeutung haben – im doppelten Sinne dieses Wortes, das ebenso auf die Intention wie auf die Intentionalität verweist. Indessen bedroht auch alles, was aus dem intentionalen Sinn hervorgeht, die Gabe damit, sich zu bewahren, noch in der Verausgabung bewahrt zu werden. Von daher die rätselhafte Schwierigkeit, die dieser gebenden Ereignishaftigkeit innewohnt. Es bedarf des Zufalls, der Begegnung, des Unwillkürlichen, sogar des Unbewussten oder der Unordnung; es bedarf der intentionalen Freiheit und dessen, daß diese beiden Gründe – auf wundersame und angenehme / unentgeltliche (gracieusement) Weise – einer mit dem anderen übereinstimmen.« Derrida: Falschgeld, S.161 28 »Und doch sagen wir »Vergessen« und nicht nichts. Denn obwohl es nichts zurücklassen darf und alles auslöschen muß, auch noch die Spuren der Verdrängung, darf diese Vergessen, dieses Vergessen der Gabe keine bloße Nicht-Erfahrung, kein bloßes Nicht-Erscheinen sein, keine Selbstauslöschung, die mit dem, was sie löscht, einfach verschwindet. Damit es ein Ereignis (wir sagen nicht: einen Akt) der Gabe gibt, muß sich etwas zutragen, und zwar in einem Augenblick, der ganz gewiß nicht zur Ökonomie der Zeit gehört, in einer Zeit ohne Zeit, so daß das Vergessen vergisst, sich vergisst, aber auch so daß dieses Vergessen, ohne etwas Präsentes, Präsentierbares, Bestimmbares, Sinn- oder Bedeutungsvolles zu sein, doch nicht nichts ist.« Derrida: Falschgeld, S.29

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in der menschliche Psyche eingegangen sind: die der Wiederholung und die der Gabe. Das Heilige als Gestalt dieser Erwartung wäre also bereits ein »Gabenstillstand«, ein stillstellender Effekt, eine Zuflucht. Die unter dem Zeichen des Heiligen unternommene Verbindung der Performanz und der Sexualität geht aber noch weiter: Sie ermöglicht (nicht: ist, darin liegt meines Erachtens die Ambivalenz des Heiligen) die Konstituierung eines Ganzen als grenzziehende Entgrenzung, als Raum einer totalen Souveränität, die das gesamte soziale Universum dem Einverleibungsphantasma übereignet. Die Gabe aber, als ›Gestalt‹ eines potentiellen Restes, der keiner ökonomischen Effizienz zugänglich ist, der die ewige Wiederholung des Kreises überbordet, ist Öffnung der Zeit. In ihr kann sich jene unmögliche Beziehung ereignen, die Mauss als das hau bezeichnete, und die in die Geschichte der Ethnologie als Inkonsequenz des Denkens, als Missverständnis, als Fälschung eingegangen ist. Dieser Zeit, so verstehe ich Derridas – wie es heißt – ›labyrinthische‹ Lektüre Baudelaires, die den zweiten Teil seines Buchs über die Gabe bildet, trägt die Literatur, ihre Literarizität Rechnung. Ihr ist diese Gleichzeitigkeit von Vergessen als Bezeugen, Unmöglichkeit als Notwendigkeit, Fälschung als Wahrheit möglich.29

29 Und vielleicht gibt Conrad davon bereits eine Ahnung, in dem er seinem Text einen anderen – fiktiven – Text vorausgehen lässt, von dem wir fast nichts erfahren und von dem es heißt: »The peroration was magnificent, though difficult to remember.« Joseph Conrad: Heart of Darkness, Edited with an Introduction and Notes by Robert Hampson, Penguin Books 1995, S.83 »Der Schluß seiner Ausführungen war großartig, wennn auch schwer zu behalten, versteht ihr.« Joseph Conrad: Herz der Finsternis, Übersetzt und mit einem Nachwort von Urs Widmer, Zürich (Haffmanns) 1992, S.97 Und von hier wird klar, welche Bedeutung Phänomene wie Vergessen, Zeit und Erwartung im Zusammenhang des Erscheinens von Kurtz, der riesige Mengen von Elfenbein anhäuft ohne zu tauschen, in Heart of Darkness hat. Während Marlow versucht, sich zu distanzieren, die Gewalt aufzuschieben, sie in seinen Netz aus Verdopplungen scheitern zu lassen, begibt sich Kurtz quasi an den Ort der Batailleschen Erfahrung der Überschreitung als Erfahrung der Unmöglichkeit. Und vielleicht – wir können es nicht wissen, es hat ja nie stattgefunden, es ist alles nur erfunden – partizipiert die Erfahrung von Kurtz an dem, was immer schon vergessen sein muss, wenn es sich ereignen soll... Zugleich macht die Figur Kurtz allerdings deutlich, worauf die Kopplung der Erfahrung des Unmöglichen an die Überschreitung hinauslaufen kann: auf die Beschwörung der Allmacht einer phantasmatischen Einverleibung – auf das Hervorbringen des Phantasmas der Souveränität. »Allein der«, schreibt Bataille, »dessen Wahl im Augenblick nur vom Gutdünken abhängt, ist souverän.« (Georges Bataille, Die Souveränität, in: Ders., Die psychologische Struktur des Faschismus – Die Souveränität, übers. v. Rita Bischof, Elisabeth Lenk, Xenia Rajewsky, München (Matthes & Seitz) 1978, S.47) Kurtz bezeichnet genau die Gefahr, die in dieser Batailleschen Kopplung von Potentialität und Souveränität besteht.

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Gabe, Inzest und Übersetzung Das Inzesttabu ist die kulturelle Institution, der gesellschaftliche Ort, der die Trennung von Innen und Außen, Tabu und Überschreitung absichert, indem es die Unmöglichkeit zugleich in den Bereich des Imaginären verschiebt und auf Abstand hält. Das Tabu ist gewissermaßen der Gabenstillstand schlechthin, gleichzeitig aber genau der Ort, an dem die Unmöglichkeit der Gabe im Sozialen gehalten wird: als Virtualität. Die strukturale Anthropologie eines Claude Lévi-Strauss versucht, mit der ›Kulturalisierung‹ der Differenz, die das Inzesttabu bezeichnet, diese Virtualität von dem sie eröffnenden Ereignis der Gabe zu trennen. Seine Verknüpfung der Gabe mit dem Inzestverbot stellt die Dinge geradezu auf den Kopf: Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben. Es ist die höchste Regel der Gabe, und gerade dieser allzu oft verkannte Aspekt erlaubt es, ihre Natur zu verstehen.30

Damit gibt Lévi-Strauss vielleicht die Art und Weise, in der die von ihm untersuchten Gesellschaften das Inzesttabu funktionalisieren wieder, nicht aber deren höchste ›Regel‹. Die Gabe evoziert zwar die Regelhaftigkeit, sie tut dies aber, indem sie sich ihr entzieht. Es ist insofern nicht überraschend, dass Lévi-Strauss sein Buch mit der Beschwörung eines Goldenen Zeitalters schließt, in der sich der Inzest als der Ort ausgibt, an dem der Tausch unterbrochen wird und an seiner Statt die Möglichkeit einer reinen Gegenwart, einer zukünftigen oder vergangenen Gegenwart, postuliert wird.31 Der Inzest wird zum Signum des Austritts aus der Öko-

30 Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.643 31 »Bis heute hat die Menschheit davon geträumt, jenen flüchtigen Augenblick zu fassen und festzuhalten, da es erlaubt war zu glauben, man könne das Gesetz des Tauschs überlisten, man könne gewinnen ohne zu verlieren, genießen ohne zu teilen. An beiden Enden der Zeit entsprechen einander der sumerische Mythos vom Goldenen Zeitalter und der Mythos der Andamanen vom zukünftigen Leben: für den einen ist das Ende des ursprünglichen Glücks der Zeitpunkt, da die Verwirrung der Sprachen die Wörter zur Sache aller machte; der andere beschreibt die Glückseligkeit des Jenseits als einen Himmel, in dem die Frauen nicht mehr ausgetauscht werden, d.h. er verweist die dem gesellschaftlichen Menschen auf ewig versagten Freuden einer Welt, in der man unter sich leben könnte, in eine gleichermaßen unerreichbare Vergangenheit oder Zukunft.« Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S.663

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nomie, zum Zugang des phantasmatischen Reichs eines reinen, unbefleckten Ursprungs oder Ziels. Nur an dieser Stelle, der des inzestuösen Phantasmas, findet die Dimension der Unmöglichkeit Eingang in LéviStrauss’ Text: Unmöglich ist allein der Inzest, die Unterbrechung des Tauschs. Diese Unmöglichkeit aber gehört dem Tabu an, der Ebene des Phantasmas. Die Gabe bezeichnet demgegenüber die Unmöglichkeit des Gebens innerhalb der Regelhaftigkeit des Tauschs. Die Verschiebung dieser Unterbrechung auf den Inzest wiederholt diese Unmöglichkeit innerhalb der vom Tabu gesetzten phantasmagorischen Koordinaten. Aber: Den Inzest könnte es geben, er figuriert das Versprechen der Möglichkeit, die genau die Virtualität des Tabus, die die Phantasmen prozessualisiert, außer Kraft setzen würde. Wenn der Inzest in diesem Sinne so etwas ist wie das Phantasma der Möglichkeit der Übersetzung, dann – so ließe sich hinzufügen – ist die Gabe die Gestalt ihrer Unmöglichkeit. Sie ist die Unmöglichkeit selbst und somit die Geste, in der sich das Zu-Übersetzende als Original gibt. Vielleicht könnte man sagen, dass sich in dieser Geste der Gabe die Übersetzung als Unmöglichkeit ereignet. Insofern ist die Gabe nicht zu verwechseln mit der Exteriorität, die Durkheim in der Beschreibung des corrobori hervorbringt, um sie gleich wieder zu vereinnahmen: Sie erscheint vielmehr als ein Außen, dessen Effekt die Herstellung eines Innen ist. Jedes Innen enthält die Falte dieses Außen, die, obgleich sie damit ja das Innerste des Innen ausmacht, nie selbst zum Innen wird. So wie die einzelnen Sprachen – laut Benjamin – die grundsätzliche Fremdheit der Sprache enthalten. Die Gabe steht sicherlich in Zusammenhang mit dieser Fremdheit und ist eher auf der Seite eines unwiederholbaren Originals zu suchen, das die Übersetzung als endlos zu wiederholender Bezug auf ihre Unmöglichkeit evoziert. Dieses Original ist dann das, was immer das Zu-Übersetzende bleibt und niemals übersetzt werden wird: das Erscheinen des Sozialen als Erscheinen der Sprache, vielleicht das, was Giorgio Agamben in Bezug auf Foucault »the pure taking place of language«32 genannt hat. Vielleicht ist die einfachste Definition der Gabe genau dies: das Ereignis des sich Gebens der Sprache, die Gabe der Sprache. Die Gabe gehört der Zirkularität an, die sie überbordet, sie ist das Nicht-Ökonomische der Ökonomie, ihr Außen. So notwendig ihre Anwesenheit ist, so unmöglich ist sie. Der Inzest ist gewissermaßen die entgegengesetzte Geste: Er verdankt sich einem Phantasma, ist Produkt der Illusionen, die die Zirkularität von sich selbst verbreitet: Er erscheint

32 Giorgio Agamben: Remnants of Auschwitz: The Witness and the Archive, übers. v. Daniel Heller-Roazen, New York: Zone Books 1999, S.139

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zugleich regressiv und transgressiv.33 Er will die Zirkularität unterbrechen, sich ihr entgegenstellen, insofern ist er eine Figur des Anti, der Verdopplung, und doch will er in die Zwischenräume ihrer Chiasmen einbrechen. Doch vor allem ›will‹ er, was ihn von der auf die Unmöglichkeit bezogenen Intentionalität der Gabe grundsätzlich unterscheidet, aber: Vielleicht will er die Gabe, also das, was ihm unerreichbar ist? Es ist jedenfalls von einiger Bedeutung, worauf das inzestuöse Begehren gerichtet ist (wenn es gerichtet ist). Was ist sein Objekt? Wahrscheinlich ist genau das die Paradoxie des Inzest – dass er will, nicht mehr zu wollen, dass sein Objekt die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Trennung ist.

33 Es gibt aber – wiederum: vielleicht – noch einen anderen Inzest, einen Inzest, der nicht abhängig ist vom Tabu, der es weniger überschreitet oder meint es zu überschreiten, sondern das Tabu, die Grenze, das Gesetz diffundiert, zerstreut. Ein Inzest, der sowohl jenseits der Unmöglichkeit als auch der Möglichkeit stattfindet; ein Inzest, der so etwas wie ein reines Ereignis wäre, dessen Ort nicht das Tabu ist, sondern die Ortlosigkeit.

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2. M U T T E R S P R A C H E N II: »D I E L U F T D E R H Ö F E «

Wahrscheinlich gibt es zwischen Menschen niemals eine Trennung; eine Trennung kann wohl stets nur drohen. Nach dem ersten Trennungserlebnis droht sie mehr oder minder stark.1

Potential Space D.W. Winnicott gründet seinen Versuch der Konzeptualisierung der Erlebniswelt des Kindes (und damit auch des Erwachsenen) auf die Vorstellung einer potential space, eines unmittelbaren gegenseitigen Austauschs der Nähe und Intimität zwischen Mutter und Kind, von dem er die schöpferischen Fähigkeiten eines Menschen abhängig macht. Man könnte wohl auch sagen: Seine Fähigkeit zur Prozessualisierung der Phantasmen, seine Fähigkeit zur Bindung ist abhängig von dieser Erfahrung. In einer radikalen Umdeutung des Lacanschen Spiegelstadiums2 macht Winnicott deutlich, was er damit meint: Irgendwann beginnt nun das Kind, um sich herumzuschauen. Vielleicht schaut es, wenn es gestillt wird, die Brust gar nicht an; viel wahrscheinlicher ist es, daß es der Mutter ins Gesicht schaut. [...] Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? Ich vermute im allgemeinen das, was es in sich selbst erblickt. Mit anderen Worten: Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie

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D.W. Winnicott: Der Ort an dem wir leben, in: Ders.: Vom Spiel zur Kreativität, übers. v. Michael Ermann, Stuttgart: Klett-Cotta 1995, S.121–127, hier: S.125 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, übers. v. Peter Stehlin, in: Ders., Schriften I, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, S.61–70 Lacan geht es hier vor allem um den grundsätzlichen Anteil des Imaginären an der Konstituierung eines Ich. Er behandelt also vor allem die phantasmatische Dimension und die mit ihr einhergehenden Ausschließungen dieser Konstituierung. Was hier – bei Lacan – ausgeschlossen bleibt, sind genau die Bindungen des Austauschs, auf die Winnicott sich bezieht.

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BLANK SPACES schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt. Diese Dinge werden allzu oft für selbstverständlich gehalten. Ich bin aber der Meinung, daß man nicht für selbstverständlich halten sollte, was Mütter, die ihre Kinder umsorgen, ganz natürlich tun. Was ich damit meine, wird noch deutlicher, wenn ich direkt die Frage stelle, was ein Kind im Antlitz einer Mutter erblickt, das ihre eigene Stimmung oder – noch schlimmer – die Starrheit ihrer eigenen Abwehr widerspiegelt! [...] Viele Kinder müssen aber offenbar über lange Zeit die Erfahrung gemacht haben, nicht das zurückzubekommen, was sie selbst geben. Sie schauen – und sehen sich selbst nicht wieder. [...] So tritt Wahrnehmung (Perzeption) an die Stelle von Aufmerksamkeit (Apperzeption) und ersetzt, was den Anfang für einen bedeutsamen Austausch mit der Welt bilden könnte: den zweigleisigen Prozeß, in dem innere Bereicherung und die Entdeckung des Ausdrucksgehaltes des Sichtbaren sich ergänzen.3

In dieser potential space, die sich in der Gegenseitigkeit der sich spiegelnden Blicke zwischen Mutter und Kind, ihrer Intimität, letztlich: ihrer Ununterscheidbarkeit ereignet, gibt es Gabe, kann sie sich ereignen und zwar als vorursprünglicher Raum einer unmittelbaren Verwiesenheit; einem Raum reiner Potentialität, in dem alles möglich, aber nichts ausgeführt ist. Dieser Raum ist keineswegs ein beliebig füllbares Behältnis, keine tabula rasa, sondern eher eine Leere, die sich selbst – als Leere – füllt und entspräche damit dem, was Abraham/Torok als das Füllen der Leere des Mundes mit Worten bezeichnet haben. Diese Potentialität einer unmittelbaren, alles vorausgehenden Verwiesenheit ist jedoch keinem Willen, keiner Intentionalität zugänglich, von keiner Ökonomie produzierbar. Das, was Winnicott Aufmerksamkeit, ›Apperzeption‹ (ich übernehme diesen Begriff aufgrund seiner phänomenologischen Untiefen mit aller Vorsicht) nennt, wird gerade durch die Abwesenheit von Intention als Unterbrechung der Ökonomie ermöglicht und doch ist es eigentlicher Movens jeder Intentionalität und jeder Ökonomie. Die einzige Öffnung zu diesem Raum der Möglichkeit innerhalb der Ökonomie des Sozialen, der Ordnung der Dinge und der Menschen, liegt in der unbedingten StattGabe dieses Unmöglichen, seine Übersetzbarkeit in der Unmöglichkeit der Übersetzung. Conrads blank spaces bezeichnen als Lücke zugleich diese Zwischenräumlichkeit als auch die Ausschließung dieser Potentialität. Darin spiegeln sie – wie ich hoffe oben gezeigt zu haben – das Verhältnis von Gabe und Inzest. Diesem Verhältnis möchte ich im Folgenden erneut nachgehen, indem ich so etwas wie eine Bewegung oder eher eine Geste nachzuzeichnen versuche, die ich maternité nennen werde.

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D.W. Winnicott: Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen Entwicklung, in: Ders., Vom Spiel zur Kreativität, S.128–135, hier: S.129

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Mutterschaft: Homogenisierung des Heterogenen Die Mutterschaft (oder maternité) erscheint in Julia Kristevas Aufsätzen zu den christlichen Figurationen der Mariengestalt als Schwelle schlechthin, als grundsätzliche Liminalität. Die Bewältigung der Konfrontation mit dieser Alterität ist laut Kristeva die fundamentale Aufgabe jeder Kultur. Sie bezieht sich dabei auf den Text Freuds, der sich am ausdrücklichsten mit dieser Konfrontation auseinandergesetzt hat: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Dieses Thema geistert zwar unter den verschiedensten Namen und Masken (etwa als primärer Narzissmus oder ›Objektwahl nach dem Anlehnungstypus‹) letztlich wohl durch alle Texte Freuds, erstaunlicherweise hat er es jedoch allein in der Kindheitserinnerung in dieser Ausführlichkeit unter dem Namen der Mutter, der Auseinandersetzung eines Sohnes mit seiner Erfahrung der Mutterschaft, aufgefasst. Anschließend an die Interpretation einer von Leonardo selbst überlieferten Kindheitserinnerung, in der ein Geier sich seiner Wiege genähert haben soll, um ihm dann mit dem Schwanz den Mund zu öffnen, entfaltet Freud seine Vorstellung von dem der Mutter durch das Kind zugeschriebenen Phallus und dem für das sich konstituierende Subjekt problematisch werdenden Raum der Zärtlichkeit zwischen Mutter und Kind. Er rekonstruiert so (unter Zuhilfenahme der verschiedensten auf uns gekommenen Quellen Leonardos und seiner Familiengeschichte) einen mutterschaftlichen Raum, den das Kind/der Säugling als prägende Erfahrung vollkommenen Glücks erlebt.4 Dieses Glück aber muss der Urverdrängung anheim fallen, um dem Kind seine Konstitution als Subjekt und, damit einhergehend, die Richtung seines Begehrens auf die Welt der Objekte zu ermöglichen. Bei Leonardo gelingt dies aufgrund bestimmter biographischer Gegebenheiten nicht völlig. Die Verdrängung dieser ›Glückserfahrung‹ und die Wiederkehr dieses Verdrängten bestimmen fortan – so Freud – Leonardos Leben und Arbeiten. Dies zeigt sich bspw. in seinen Darstellungen fetischisierter androgyner Körper, in denen diese Verdrängung sich figuriert, oder seinem Bild Heilige Anna Selbdritt, quasi einer mütterlichen heiligen Familie, in der die Gestalt der Mutter 4

»Die Liebe der Mutter zum Säugling, den sie nährt und pflegt, ist etwas weit tiefgreifenderes als ihre spätere Affektion für das heranwachsende Kind. Sie ist von der Natur eines vollbefriedigten Liebesverhältnisses, das nicht nur alle seelischen Wünsche, sondern auch alle körperlichen Bedürfnisse erfüllt, und wenn sie eine der Formen des dem Menschen erreichbaren Glücks darstellt, so rührt dies nicht zum mindesten von der Möglichkeit her auch längst verdrängte und pervers zu nennende Wunschregungen ohne Vorwurf zu befriedigen.« Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, in: Ders., G. W., Bd. VIII, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.127–212, hier: S.187f.

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aufgespalten bzw. verdoppelt als Wahrerin der Glückseligkeit und Bedrohung der eigenen Autonomie erscheint. Leonardos psychischer Grundkonflikt besteht also demnach darin, sich aus einer Verschlingung durch das mütterliche Begehren lösen zu müssen, dessen Glückserfahrung ihm jedoch gleichzeitig Antrieb und Ziel seines Begehrens, seiner Vorstellung von Glückseligkeit ist. Diese Konstellation – so jedenfalls Freuds ›Diagnose‹ – äußert sich in Leonardos zumindest latent homosexueller psychischer Konstitution, in der dieser Konflikt ungelöst aufgehoben bleibt. In der christlichen Tradition des Abendlandes bezeichnet die ›Mutter Gottes‹ genau die Figuration dieses Konflikts als kulturelle Aufgabe. Kristeva liest deren jungfräulichen Körper einerseits in der Tradition von Freuds Leonardo-Lektüre als phantasmatische Konstruktion, die einen ganz bestimmten Zweck in der kulturellen Ökonomie des Abendlandes erfüllt,5 geht aber andererseits über die Vorstellung Freuds von dem, was sich hinter diesem Konstrukt verbirgt, was es bewältigen soll, hinaus. Freuds Rekonstruktion einer biographischen Konstellation erweitert Kristeva nämlich zu einer historischen. Kristeva deutet sie in der Perspektive einer fundamentaleren Konfrontation mit einer außerkulturellen Heterogenität, deren Homogenisierung mit der Konstruktion der ›jungfräulichen Mutter‹ entsprechend den jeweiligen kulturellen Erfordernissen und kontextuellen Anknüpfungspunkten gewährleistet werden soll. Es handelt sich also um ein imaginäres Gebilde, das sich meines Erachtens offen auf das vom Inzesttabu eingesetzte Phantasma einer reinen, keiner Penetration zugänglichen Mütterlichkeit stützt. Diese ›Reinheit‹ des zugleich jungfräulichen und mütterlichen Körpers produziert jedoch einen konflikthaften, heteronomen Raum, der seiner doppelten hybriden Herkunft als homogener kultureller Aufbewahrungsort einer ›außerkulturellen‹ Heterogenität geschuldet ist. Indem dieses Konstrukt einer Singularität, der Mutter Gottes, der Unmöglichkeit der jungfräulichen Empfängnis, zugeschrieben wird, anerkennt man die Macht dieser außerkulturellen Heterogenität, entzieht sie aber der ›realen‹ Mutterschaft und den sie tragenden weiblichen Körpern. Darin – so Reinhold Görling – liegt

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»Als kunstvolles Gleichgewicht von Konzessionen und Zwängen bezüglich der weiblichen Paranoia scheint die Vorstellung der jungfräulichen Mutterschaft die Bemühungen einer Gesellschaft zu krönen, die einerseits die sozialen Relikte der Matrilinearität und die unbewußten Bedürfnisse des primären Narzissmus mit andererseits den Erfordernissen einer neuen Gesellschaft versöhnen will, die auf dem Tausch und bald auf der beschleunigten Produktion basiert, zu diesem Zweck auf das Überich angewiesen ist und sich auf die symbolische Vaterinstanz stützt.« Julia Kristeva: Stabat Mater, in: Dies., Geschichten von der Liebe, übers. v. Dieter Hornig und Wolfram Bayer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S.226–255, hier: S.251

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»der patriarchale Trick dieser Konstruktion«.6 Sie oszilliert zwischen ihrer Stillstellung als phantasmatisches Gebilde und der subversiven, unfassbaren Beweglichkeit, die von der Heterogenität ausgeht und das Phantasma bedrängt: Diese Heterogenität steht bei Kristeva einerseits in enger Verbindung mit der semiotischen Chora, die im Motiv des Leidens der Mutter Gottes sozusagen als »Wiederkehr des Verdrängten« einzieht in die Kultur des Abendlands, andererseits in Zusammenhang mit der Bedrohung durch das Abjekte, das sie, wie ich weiter unten ausführen werde, als Effekt der notwendigen Ausschließung der Heterogenität fasst. In diesen ›mütterlichen‹ Zusammenhang stellt Kristeva die von ihr konstatierte »Komplexität des Heiligen«, die sowohl an eine die Leere des Zeichensystems kompensierende Liebe und/oder jouissance der Mutterschaft als auch an die Angst vor dieser sich öffnenden Heterogenität anschließt. Kristeva bezeichnet das als Glaube an die Mutter, der dennoch gezeichnet sei von ihrer gereinigten Gestalt, in die die Ausschließungen des Autoerotismus und die Projektion der mütterlichen Anwesenheit in die soziale Welt als vermeintlich ›sichere Liebe‹ bereits eingegangen sind. Die Sicherheit dieser Liebe beruht aber auf ihrer vermeintlichen Homogenität und bezieht sich auf das vom Inzesttabu zugleich produzierten und auf Abstand gehaltene mütterliche Phantasma. Tatsächlich verbirgt sich – so Kristeva – hinter diesem Phantasma eher die absolute Gefährdung eines aus der Sprache Fallens, der bodenlose Abgrund einer »Katastrophe des Seins«.7 Die Phantasmen einer idealisierten Mutterschaft, ihre Fetischisierung und ihr narzisstisches Versprechen wären folglich der Versuch, die Erfahrung des mutterschaftlichen Raums zu umstellen, still zu stellen, sie zu institutionalisieren und den realen Körpern zu entziehen, ohne sie jedoch je ganz in der Homogenität des phantasmatischen phallischen Körpers aufgehen lassen zu können. Ganz so, wie Freud dies in den Arbeiten Leonardos nachweisen zu können glaubte, in deren Figuren er als unentzifferbare Chiffre einer außerkulturellen Glückseligkeit ein geheimnisvolles Lächeln wahrzunehmen meinte.

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»Dem Dogma zufolge beginnt die Entsexualisierung Marias und ihre Vergöttlichung mit ihrer Empfängnis. Und doch ist sie – subtile – Schwelle zum Körper, zur Heterogenität jenseits der Sprache. Sie steht diesseits und jenseits der symbolischen Ordnung. Die Anerkennung ihrer Andersheit ist singulär und nicht auf andere Frauen übertragbar. Das ist der ›göttliche‹, der patriarchale Trick dieser Konstruktion. Die Anerkennung der Differenz fällt sonst nur noch Märtyrerinnen und heiligen Mystikerinnen zu.« Reinhold Görling: Heterotopia – Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München: Fink 1997, S.202 Kristeva, Stabat Mater, S.251

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Maternité: »a luminous spatialization« In den Bildern eines weiteren Renaissance-Malers – Giovanni Bellini – verfolgt Kristeva eine andere Spur. Sie meint in dessen Bildern einer anderen Erfahrung von Mutterschaft zu begegnen: Einem (verstörenden) Glanz, der in der Farb- und Formgebung dieser Bilder aufscheint, und der sich den institutionellen und phantasmatischen Zuschreibungen dieses bei Leonardo von der Verdrängung beherrschten Raums entzieht. [...] for Bellini, motherhood is nothing more than such a luminous spatialization, the ultimate language of a jouissance at the far limits of repression, whence bodies, identities, and signs are begotten.8

Bellini gibt in seinen Bildern dem Ereignis einer mutterschaftlichen Verräumlichung statt, das sich den phantasmatischen und institutionellen Konnotationen der Mutterschaft entzieht und an den äußersten Rändern der Verdrängung eben das, was – als Ausgeschlossenes – die Dynamik der Verdrängung erst in Gang setzte, erscheinen lässt. In dieser sich zwischen den Figuren entfaltenden Räumlichkeit löst sich die Konfrontation von Homogenität und Heterogenität auf in die unfassliche Substanz eines Leuchtens, das die Potentialität der Mutterschaft jenseits ihrer figurativen Darstellung auf der Leinwand erscheinen lässt. Genau diese Gleichzeitigkeit von Entzug und Verräumlichung möchte ich als maternité9 bezeichnen. Kristeva unternimmt es in ihren Texten, diese Figurationen (Leonardo) und Defigurationen (Bellini) der Mutterschaft mit ihrer eigenen Erfahrung zu konfrontieren, die letztlich zwischen diesen Polen zu schwanken scheint. Diese Erfahrung hat sie selbst vor das Problem gestellt, in eine Heterogenität zu gleiten, die kein Signifikant und keine Dialektik in

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Julia Kristeva: Motherhood according to Giovanni Bellini, in: Dies., Desire in Language, übers. v. Thomas Gora/Alice Jardine/Leon S. Roudiez, New York: Columbia University Press 1980, S.237–270, hier: S.269 Ich verwende den französischen Begriff, da er sich mehr auf das körperliche Ereignis denn auf die zur Ideologie geronnenen Phantasmen des deutschen ›Mutterschaft‹ bezieht und so die von mir intendierte Bewegung, vielleicht die Art sie zu meinen, besser trifft. Vor allem ermöglicht diese Verfremdung aber – so hoffe ich – den alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes und seine phantasmatischen und institutionellen Konnotationen zu vermeiden. Worauf es mir ankommt, ist, die maternité aus diesen Zuschreibungen der Mutterschaft zu entlassen. Insofern bezeichnet Mutterschaft im Zusammenhang dieser Arbeit eher die Institution mit ihren phantasmatischen Implikationen, maternité das, was sich diesen Aneignungen entzieht, bzw. das, was von ihnen gerade angeeignet werden soll. Für Kristeva besteht diese Unterscheidung selbstverständlich nicht.

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Sinn verwandeln können. In Stabat Mater überführt sie diese Konfrontation mit den ›außersymbolischen‹ Räumen des Körpers in die Textgestalt selbst, indem sie zwei Textblöcke einander gegenüberstellt, in dem der eine (der Versuch eines Zu-Wort-Kommen-Lassens der eigenen Erfahrung), kursiv gesetzte, den anderen (eine historisch vorgehende Untersuchung des Motivs des Stabat Mater) ständig zu überborden scheint und am Ende auch das letzte Wort behält (dieses Wort ist hier: der Tod). Im historisch-analytischen Teil versucht sie diese Konfrontation in der dichotomischen Begrifflichkeit von Natur und Kultur, Sprache und Biologie zu fassen, die von der Mutterschaft – als deren Chiasmus – durchkreuzt wird. Das Unausgesprochene lastet zunächst auf dem mütterlichen Leib: kein Signifikant kann ihn restlos hervortreten lassen, denn der Signifikant ist immer Sinn, Kommunikation oder Struktur, während eine Frau-und-Mutter eher eine seltsame Falte ist, die die Kultur in Natur abändert, das Sprechende in Biologie. Diese unter den Signifikanten nicht subsumierbare Heterogenität betrifft zwar den Frauenkörper, kommt aber dennoch mit der Schwangerschaft (der Schwelle zwischen Kultur und Natur) und mit der Ankunft des Kindes (das eine Frau aus ihrer Einmaligkeit herausführt und ihr die Chance – nicht die Gewißheit – eines Zugangs zum andern, zur Ethik, bietet) heftiger zum Ausbruch. Diese Besonderheiten des mütterlichen Leibs lassen eine Frau zu einem Faltenwesen werden, einer Katastrophe des Seins, die sich nicht unter die Dialektik der Dreifaltigkeit und ihrer Zusätze subsumieren lässt.10

Die Frau als Mutter erscheint der Ordnung als Katastrophe, als Hervorkehrung ihrer eigenen Instabilität: Als eine Falte, die das, was kein Signifikant restlos integrieren kann, enthält und in die Ordnung deren eigenes Außen als Abgrund einführt. Der Frauenkörper hat – in seiner kulturellen Konstruktion als Faltenwesen – einerseits die Last dieser Katastrophe des Seins zu tragen, andererseits sieht er sich aber einer extremen Homogenisierung, einer absoluten Leugnung dieser Heterogenität ausgesetzt, die ihn als phantasmatische ›Reinheit‹ konstruiert. Mit der Mutterschaft wird dieser Zusammenhang offenbar, die Homogenität des phallischen Phantasmas der ›Frau‹ gesprengt und eine verschärfte Remythologisierung nötig (die wiederum die vom Inzesttabu supplementierte Prozessualität der Urverdrängung selbst infrage stellt).

10 Julia Kristeva: Stabat Mater, S.251

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Mutterschaft oder besser das, was sie zu bezeichnen vorgibt, ereignet sich als fundamentaler Übergang, der sowohl zum Trauma als auch zur Bindung hin offen ist. In ihren avanciertesten Texten, dem Bellini-Essay und den kursiven Teilen von Stabat Mater bspw., liefert Kristeva sich genau dieser Bewegung aus. Die Verwendung des Natur/KulturDualismus als auch der Biologie – als vermeintlichem Ort dieser Heterogenität – wird von diesem kursiven Gegenüber des zuvor zitierten ›wissenschaftlichen‹ Textes infrage gestellt, der weder Natur noch Kultur, weder Biologie noch Sprache ist, sondern ein ständiges Über-die-Grenzefallen, ein Gleiten an den Rändern der Ordnung und der Sprache. Unermeßlicher unlokalisierbarer mütterlicher Leib. Da ist zunächst diese vor der Schwangerschaft bestehende Trennung, die die Schwangerschaft jedoch hervortreten läßt und schonungslos aufzwingt. Auf der einen Seite – das Becken: Schwerpunkt, unwandelbare Erde fester Sockel, Schwere und Last, an der die Schenkel hängen, die von jetzt an nichts mehr zur Behendigkeit bestimmt. Auf der andern – der Oberkörper, die Arme, der Hals, der Kopf, das Gesicht, die Waden, die Füße: überbordende Lebhaftigkeit, Rhythmus und Maske, die hartnäckig die Unbeweglichkeit des Hauptstrangs aufwiegen wollen. Wir leben auf dieser Grenze, als Kreuzungswesen, Kreuzwesen. Eine Frau ist weder eine Nomadin noch ein männlicher Körper, der sich nur in der erotischen Leidenschaft als Fleisch empfindet. Eine Mutter ist eine ständige Trennung, eine Teilung des Fleisches. Und folglich eine Teilung der Sprache, seit jeher. Dann ist da diese andere Kluft, die sich zwischen diesem Leib und seinem früheren Inneren öffnet: die Kluft zwischen der Mutter und dem Kind. Welche Beziehung besteht zwischen mir oder, bescheidener noch, meinem Leib und dieser Einpflanzung im tiefsten Inneren, aus der nach der Durchtrennung der Nabelschnur ein unerreichbarer anderer wird? Mein Körper und ... es. Keinerlei Beziehung. Nichts damit zu tun. Und zwar von den ersten Gesten, Schreien, Schritten an, lange bevor seine Persönlichkeit zum Gegensatz meiner wird: Das Kind, er oder sie, wird unweigerlich ein anderer. Daß es keine geschlechtliche Beziehungen gibt, ist eine magere Feststellung angesichts des Blitzes, der mich an der Kluft zu dem blendet, was gestern mein war und von nun an unwiederbringlich fremd ist. Der Versuch diese Kluft zu denken: ein verwirrender Taumel. Keine Identität hält ihm stand. Die Identität einer Frau bleibt nur durch das sehr bekannte Schließen des Bewußtseins im Dämmer der Gewohnheit aufrecht, durch das sich eine Frau vor ihrem Kind expatriiert. Klarsicht hingegen würde sie wieder zur Entzweigeschnittenen machen, ihrem andern fremd – und zum günstigen Terrain für den Wahn. Doch in ihren Rändern weist uns die Mutterschaft auch gerade deshalb eine unsinnige Lust zu, der etwa das Lachen des Säuglings im sonnendurchfluteten Wasser des Ozeans antwortet. Welche Beziehung zwischen

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MUTTERSPRACHEN II ihm und mir? Keine, außer diesem überströmenden Lachen, in dem Ansätze einer akustischen, subtilen, flüssigen, sanft von den Wellen getragenen Identität zusammenbrechen. Von dieser duftenden, warmen und flauschigen Zeit meiner Kindheit bleibt mir nur eine Erinnerung an Raum. Nicht an Zeit. Honigduft, die Rundheit der Formen, Seide und Samt unter meinen Fingern, auf den Wangen. Mama. Fast nichts Erblicktes – ein Schatten, der dunkelt, mich aufsaugt oder sich in Blitzen auflöst. Fast keine Stimme, in ihre friedvolle Anwesenheit versunken.11

11 Kristeva: Stabat Mater, S.246ff. An diese Passage lassen sich direkt Daniel Sterns Ausarbeitungen zum Auftauchen des Selbst im Säuglingsalter und der damit in Zusammenhang stehenden »amodalen Wahrnehmungsfähigkeit« anschließen. Die großartige Passage aus Sterns Lebenserfahrung des Säuglings zum Zusammenhang von Sprache und amodaler Wahrnehmung möchte ich deshalb gerne – sozusagen als Antwort auf Kristeva – ausführlich zitieren: »Stellen wir uns vor, wie ein Kind einen Fleck gelben Sonnenlichts an der Wand wahrnimmt. Es wird die Intensität, Wärme, Form, Helligkeit, Annehmlichkeit und andere amodale Aspekte des Flecks erfassen. Der Tatsache, daß das Licht gelb ist, kommt dabei weder eine primäre noch überhaupt eine Bedeutung zu. Indem das Kind den Fleck betrachtet und ihn (im Sinn Werners) empfindend wahrnimmt, ist es in einem globalen Erleben gefangen, in dem ein Gemisch aller amodalen Eigenschaften, der primären Wahrnehmungsqualitäten, des Lichtflecks zusammenklingt – seine Intensität, Wärme usw. Um diese in hohem Maße flexible, omnidimensionale Perspektive auf den Fleck beizubehalten, muß das Kind für all jene spezifischen (sekundäre und tertiäre Qualitäten wie die Farbe) Eigenschaften blind bleiben, die den Sinnesmodus, über den der Fleck wahrgenommen wird, spezifizieren. Das Kind darf nicht bemerken, es darf ihm nicht bewußt werden, daß es sich um ein visuelles Erleben handelt. Genau dazu aber wird es durch die Sprache gezwungen. Irgend jemand tritt ins Zimmer und sagt: ›Oh, sieh mal, das gelbe Sonnenlicht!‹ Die Worte sondern in diesem Falle genau diejenige Eigenschaften aus, die das Erleben in einem einzigen Sinnesmodus verankern. Indem sie es an Worte binden, wird das Erleben von dem amodalen Wahrnehmungsstrom isoliert, dem es ursprünglich angehörte. Auf diese Weise vermag die Sprache das amodal-globale Erleben aufzubrechen, so daß seine Kontinuität beeinträchtigt wird. Im Laufe der Entwicklung geschieht nun wahrscheinlich folgendes: Die sprachliche Version solcher Wahrnehmungen, in diesem Fall ›gelbes Sonnenlicht‹, wird zur offiziellen Version, während die amodale Version ›untertaucht‹ und nur dann wieder zum Vorschein kommt, wenn besondere Bedingungen die Dominanz der sprachlichen Version aufwiegen oder zunichte machen. Solche Bedingungen können durch bestimmte kontemplative und emotionale Zustände eintreten oder durch bestimmte Kunstwerke geschaffen werden, die Erfahrungen zu evozieren vermögen, die sich sprachlicher Kategorisierung entziehen. Auch hierfür können die Werke der Symbolisten als Beispiel dienen. Das Paradox, daß die Sprache Erfahrungen hervorzurufen vermag, welche die Worte transzendieren, zollt der Sprache wohl den höchsten Tribut.« Daniel N. Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, übers. v. Wolfgang Krege und Elisabeth Vorspohl, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, S.249ff. Hier wird deutlich, auf welche Erfahrung das Licht Bellinis und die blancs Mallarmées sich beziehen könnten und weshalb sie in so engem Verhältnis zur Mutterschaft stehen: sie bezeichnen auch auf der Ebene der Perzeption eine Potenz, die – ›untergetaucht‹ – immer da ist und doch nie wiederholt werden kann.

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In dieser Passage vollzieht Kristeva geradezu die Aufhebung der scheinbaren Ausschließung der maternité im Text Freuds (und vielleicht in ihrem eigenen). Ausgehend vom Rätsel der Weiblichkeit über den ›weiblichen Protest‹ dem nichtphallischen Körper der Frau gegenüber, über die Anerkennung des Fleisches und der mütterlichen jouissance, öffnet sich schließlich die potential space der maternité, eben jene leuchtende Verräumlichung, die sie in Bellinis Bildern entdeckt. Die Textualisierung der Erfahrung der Mutterschaft wird hier selbst zu einer Passage, in deren Zwischenräumlichkeit sich die Dichotomien, an denen Kristeva ansonsten festzuhalten scheint, zusammenbrechen, sich in Raum, man könnte sagen: in Luft auflösen. An diesen Schnittpunkten, Kreuzungen oder Faltungen ereignet sich maternité.12

Die Frau-als-Mutter: Eine Katastrophe des Seins Von hier aus stellt sich die Frage nach dem, was sich in den Körpern selbst ereignet, ihrer sich jenseits der Ordnungen des Wissens ereignenden Materialität, dem Nichtkulturellen des Körpers; die Frage danach, in 12 Insofern stellt sie die noch von der sex/gender – Debatte wiederholte Dichotomie von Natur und Kultur infrage und damit die spezifischen Formen des Wissens, die sich auf diese Dichotomie stützen: die Gegenüberstellung von Natur- und Kulturwissenschaften. Eine wichtige Vertreterin des genderKonzepts – Joan W. Scott – hat im Anschluss an Foucaults Bio-MachtHypothese und seine Epistemologie der Wissenssysteme jüngst auf die gefährlichen Implikationen hingewiesen, die daraus resultieren, sex allein einem evolutionistischen, naturwissenschaftlichen Wissen zu überlassen: »Die Naturwissenschaften sind eine Form von Wissen, dessen Ordnung auch eine Geschichte hat – nicht eine eng verstandene politische Geschichte (die Wissenschaft als simple Spiegelung sozialer Vorurteile behandelt), sondern eine Geschichte widerstreitender Konzepte und Organisationsprinzipien, eine Geschichte von Konflikten über die adäquate Repräsentation von Natur. (Innerhalb der Biologie beispielsweise gibt es wichtige Differenzen – »Bürgerkriege« wie es in einer Darstellung geschildert wird – darüber, was überhaupt als wissenschaftliche Erklärung gelten soll.) Wenn dem so ist, dann müsste vielleicht die Verschmelzung von sex und gender im alltäglichen Sprachgebrauch begriffen werden als eine Korrektur der ›falschen‹ Auffassung von biologischem Geschlecht und Natur als transparente Wesenheiten ausserhalb von ›Kultur‹. Statt dessen müssten beide, das biologische wie das soziale Geschlecht, als komplex miteinander verflochtene Wissenssysteme begriffen werden. Gewiss hat die Leistung der konzeptuellen Entgegensetzung von biologischem und sozialem Geschlecht genau darin bestanden, das anatomische Geschlecht als eine Form sozialen Wissens zu behandeln. Doch ist dabei die externe soziale Determiniertheit dieses Wissens überbetont worden, während die autonomen Aspekte einer Geschichte wissenschaftlicher Ideen vernachlässigt worden sind.« Joan W. Scott: Die Zukunft von gender – Fantasien zur Jahrtausendwende in: Claudia Honegger, Caroline Arni (Hg.), Gender – Die Tücken einer Kategorie, Beiträge zum Symposion anlässlich der Verleihung des HansSigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott, übers. v. Caroline Arni, Zürich: Chronos 2001, S.39- 63, hier: S.48

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welcher Beziehung dieses ›Nichtkulturelle‹ zu seiner kulturelle Formierung steht. Im Zusammenhang der sex/gender-Debatte um die Differenz von biologischem und kulturellem Geschlecht spricht bspw. Elizabeth Grosz von einer grundlegenden Instabilität des Körpers, die sie als jede kulturelle Ordnung überbordende Potentialität versteht: Es ist zwar interessant zu zeigen, dass das soziale Geschlecht vom biologischen Geschlecht abweichen kann [...]; aber ist es nicht noch interessanter zu zeigen, dass das biologische Geschlecht und die Körper in ihrem Innersten instabil sind, dass das, wozu der Körper fähig ist und wozu alle fähig sind, weit über die Toleranzschwelle jeder Kultur hinausgeht?13

Diese zugleich singuläre und unendliche Instabiltität, die jeder kulturellen Differenzierung vorausgeht, ist das, was sich in den Körpern dem kulturellen performativen Zugriff ent-zieht und zugleich eben das, worauf dieser sich be-zieht, was ihn ermöglicht und was er auszuschließen trachtet. Darin besteht die Konfrontation mit der Heterogenität, um die es

13 Elizabeth Grosz: Experimental Desire: Rethinking Queer Subjectivity, in: Joan Copjec (Hg.), Supposing the Subject, London 1994, S.133-156, zitiert nach: Joan W. Scott, Die Zukunft von gender, S.49 Mir geht es nicht um eine Aufarbeitung der Geschichte des Wissens über den menschlichen Körper, sondern um das, was sich diesem Wissen radikal entzieht und was sich sowohl in den Körpern als auch in den kulturellen Prozessen, eben gerade in ihrer Aufeinanderbezogenheit, ereignet. Der Dualismus von Kultur und Natur, der in der Trennung von sex und gender wiederholt wird, kann in diesem Sinne nicht aufrechterhalten werden. Die Körper sind letztlich ebenso Schauplatz kultureller Performanz wie die Kultur Schauplatz ihrer Körperlichkeit, ihres Begehrens und dieses wiederum Grundlage jeder kulturellen Ökonomie ist. Der Historiker Thomas Laqueur schließt bspw. seine Untersuchung über das naturwissenschaftliche Wissen der Geschlechterdifferenz mit folgenden Überlegungen zu Freud: »Gerade weil Freud die alten Kategorien von Mann und Frau erschütterte, mußte er so hart und einfallsreich arbeiten, um neue aufzustellen. Bei all seiner Leidenschaft für die Biologie zeigte dieser herausragende Denker des 20. Jahrhunderts auf, wie schwer es für die Kultur ist, den Körper in die für die biologische und folglich auch kulturelle Reproduktion notwendigen Kategorien einzupassen. Zwei Geschlechter sind nicht die notwendige und natürliche Konsequenz körperlicher Differenz. Genausowenig ist es ein Geschlecht. Die Weisen, in denen man in der Vergangenheit den Geschlechtsunterschied determiniert hat, waren weitgehend unbeeindruckt von dem, was man tatsächlich über dieses oder jenes Stückchen Anatomie, über den einen oder den anderen physiologischen Vorgang wußte, und ergaben sich stattdessen aus den rhetorischen Forderungen des Tages. Selbstverständlich verändert sich die je spezifische Sprache über die Zeit hin – Freuds Version des Ein-Geschlecht-Modells ist nicht im selben Vokabular artikuliert wie Galens – und auch die kulturellen Rahmenbedingungen ändern sich mit der Zeit. Im Grundsätzlichen aber ist dem Inhalt der Rede über den Geschlechtsunterschied vom Faktischen her keine Fessel angelegt. Er ist so frei wie das Spiel der Gedanken.« Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben – Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, übers. v. H. Jochen Bußmann, München: dtv 1996, S.274f.

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Kristeva meines Erachtens geht und in deren Zentrum Mutterschaft angesiedelt ist: als Umschlagspunkt der – in ihrer den Ordnungen des Wissens entstammenden Fassungen – letztlich phantasmatischen Geschlechterordnung und einer fundamental nichtkulturellen Instabilität, Potentialität. Insofern wird die Ordnung der Geschlechter mit der Homogenisierung der Mutterschaft – wie jede kulturelle Differenz – von dieser fundamentalen Instabilität evoziert. Es ist leicht nachvollziehbar, wieso dem Ödipuskomplex in der Psychoanalyse eine solch zentrale Rolle bei der Subjektkonstitution zugesprochen wird: das Einfinden in die Geschlechterordnung ist die Konfrontation mit diesem Nichtkulturellen innerhalb der Kultur, hier wird es zum eigentlichen kulturellen Schauplatz. Von diesem Zwischen der Konfrontation von Kultur und Nichtkultur, Formierung und Instabilität aus gesehen, gibt es keine geschlechtliche Binarität: es gibt weder die Frau oder die Mutter noch den Mann, nur ist die Frau-alsMutter im Gegensatz zum Mann geradezu definiert durch ihren Bezug auf diese Instabilität. Die binären Oppositionen der Geschlechterordnung müssen erst performativ hergestellt werden, sie ergeben sich aus keinem Außen der Performanz bzw. der Kultur: die Singularität der Körper, die sich in ihnen ereignende Gleichzeitigkeit von radikaler Differenzialität und Ununterscheidbarkeit, wird dabei sowohl aufgenommen als auch ausgeschlossen. In diesem Sinne wird die Anatomie des schwankenden Körpers der Frau zum Schauplatz der Konfrontation, der Aufeinanderbezogenheit der symbolischen Ordnung, die ihm seinen Platz zuweist, und seiner ›Fleischheit‹, seiner absoluten Ortlosigkeit und insofern zum ›Bewegungsbild‹ des Schwankens der Körper im Symbolischen insgesamt. Giorgio Agambens Konzeptionalisierung der Geste als Mitteilung einer Mitteilbarkeit entwirft genau diesen sich in den Körpern ereignenden Zwischenraum der Aufeinanderbezogenheit von Instabilität, Verwiesenheit, Singularität, Ununterscheidbarkeit und Differenz, der Gleichzeitigkeit von Fleischheit und Zeichen, als Sprache des Körpers14, in der sich 14 »Wenn die Sprache die Körper imitiert, so nicht durch die Onomatopöie, sondern durch die Flexion. Und wenn die Körper die Sprache nachahmen, so nicht durch die Organe, sondern durch die Flexionen. Daher gibt es innerhalb der Sprache eine ganze Pantomime, wie es im Körper auch eine Rede und einen Bericht gibt. Wenn die Gebärden sprechen, so rührt das daher, daß die Wörter die Gebärden mimen: ›Das epische Gedicht Virgils ist tatsächlich ein Theater, in dem die Wörter die Gebärden und den Seelenzustand der Personen mimen... Die Wörter nehmen eine Haltung ein, nicht der Körper; die Wörter sind gewebt, nicht die Kleidung; die Wörter glänzen, nicht die Rüstungen...‹ Auch gäbe es viel zu sagen über Klossowskis Syntax, die selbst aus Kaskaden und Schwebezuständen besteht, aus reflektierten Flexionen. In der Flexion gibt es jene doppelte ›Grenzüberschreitung‹, von der Klossowski spricht: die Transgression der Sprache durch das Fleisch und die des Fleisches durch die Sprache. Daraus hat er einen Stil entwickeln können, eine Mimetik,

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das – wie Agamben es nennt – In-der-Sprache-Sein der Körper ausdrückt.15 In der Mutterschaft tritt das konflikthafte dieser Konfrontation zutage: Die Vermittlungen werden brüchig, das Schwanken, das Sich-nichtZurechtfinden im Symbolischen nimmt überhand und kann sich als Einbruchstelle der traumatischen Entgrenzung erweisen. Kristeva stellt diese Öffnung eines Abgrunds als Erfahrung einer unüberwindlichen Fremdheit dar, der eine überwältigende und entgrenzende jouissance antwortet, ein Strudel, der das ganze symbolische Universum zu erfassen scheint. Dieser absoluten Fremdheit, von der ständig die Gefahr der Traumatisierung auszugehen scheint und die plötzlich in der Teilung aufblitzt, lässt sich nur mit einer Schließung des Bewusstseins beikommen, einem Dämmer der Gewohnheit, der es ermöglicht an der eigenen, nunmehr offen phantasmatisch gewordenen Identität festzuhalten und sich gleichzeitig der Erfahrung der grundlegenden Instabilität, der eigenen ›Fleischheit‹ auszuliefern. Das Hinübergleiten in diesen Dämmerzustand korrespondiert vielleicht genau mit dem, was Winnicott als »well enough mother« bezeichnet – dass eine Mutter irgendwie in der Lage sein muss, aus der Ökonomie auszutreten, ihre Identität aufzugeben, um die potential space als Unterbrechung, als maternité zu ermöglichen.16 Insofern ist maternité als diese Unterbrechung immer auch Desubjektivierung: ein äußerst riskanter Moment, eine absolute Gefährdung und gleichzeitig die Eröffnung einer reinen Potentialität.

eine besondere Sprache und zugleich einen besonderen Körper.« Gilles Deleuze: Pierre Klossowski oder die Sprache des Körpers, übers. v. Sigrid von Massenbach, in: Klossowski/Bataille/Blanchot/Deleuze/Foucault u.a., Sprachen des Körpers – Marginalien zum Werk Pierre Klossowskis, Berlin: Merve 1979, S.39–66, hier: S.45f. 15 Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Ders: Mittel ohne Zweck – Noten zur Politik, übers. v. Sabine Schulz, Freiburg/Berlin: diaphanes 2001, S.53–62 16 »Das Problem ist so heikel und komplex, daß wir nicht hoffen können, bei unserem Nachdenken zu irgendeinem Ergebnis zu kommen, wenn wir nicht annehmen, das betreffende Kind habe eine ausreichend gute Mutter. Nur wenn es eine solche Mutter hat, beginnt bei dem Kind ein personaler und realer Entwicklungsprozeß. Wenn die Bemutterung nicht gut genug ist, wird der Säugling zu einem Bündel von Reaktionen auf Übergriffe, und das wahre Selbst des Kindes wird nicht ausgebildet, oder es wird hinter einem falschen Selbst verborgen, das sich den Stößen der Welt fügt und sie im allgemeinen abwehrt.« D.W. Winnicott: Familie und individuelle Entwicklung, übers. v. Gudrun Theusner-Stampa, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S.29f. Daniel Stern schlägt sogar im Anschluss und in Differenz zum Ödipuskomplex vor, von einer spezifischen »Motherood Constellation« zu sprechen, als einer psychokulturellen Konstellation jenseits der ödipalen Ökonomie, mit eigenem Gedächtnis, eigenen Genealogien und einer eigenen psychischen Organisation. Siehe: Daniel N. Stern: Die Mutterschaftskonstellation – Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie, übers. v. Elisabeth Vorspohl, Stuttgart: Klett-Cotta 1998, vor allem: S.209-232

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Die Frau-als-Mutter (sagt Kristeva, besser wäre vielleicht: der Körper-als-Mutter) als Kreuzwesen, Mutterschaft (maternité) als Kreuzung, bezeichnet einen Raum, in dem die kulturellen Antinomien implodieren und die Ökonomie unterbrochen wird, in dem sich die erste »Teilung des Fleisches«, die sich nicht nur in der Anatomie des weiblichen Körpers, sondern in jedem Körper ankündigt, ereignet. Die radikale Liminalität, die in dieser Kultur ›Mutter‹ genannt wird, erscheint als ein Effekt dieser Teilung/Kluft, als kultureller Versuch der Verortung einer absoluten Ortlosigkeit. Es geht hier folglich um eine Trennung, in der sich die Gleichzeitigkeit von Differenz und Ununterscheidbarkeit einschreibt: als Hiatus des zugleich Un- als auch endlos Geteilten. Das Hervortreten dieser Gleichzeitigkeit, ihre Materialisierung in der Teilung des eigenen Fleisches in zwei Körper und die die Ökonomie jedes Begehrens übersteigende jouissance als lustvolle Auslieferung an die Ununterscheidbarkeit sind es, die die Mutterschaft als fundamentale Kreuzung zu einer Katastrophe des Seins machen. Damit ist sie aber auch die wichtigste Passage zu einem Anderen dieses Seins. Von hier aus ist es möglich, die Trennung anders denn als Ausschluss und die Bindung anders denn als Einschließung des Ausgeschlossenen zu denken. Hier öffnet sich die Chance eines Zugangs zum andern, zur Ethik.

Maternité als »vorursprüngliche Bedeutsamkeit« Maternité spielt auch im zweitem Hauptwerk des französisch/baltisch/ jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas’ - Autrement qu’être ou au delà de l’essence – eine wichtige Rolle.17 Lévinas versucht nicht nur die ›Mutterschaft‹ in den Zusammenhang einer vorursprünglichen Sensibilität zu stellen, sondern gleichzeitig diese Öffnung, die er als Passivität versteht, zur Grundlage der Möglichkeit von Ethik zu erheben. Damit stellt er die maternité in den Horizont eines Denkens, das sich den Kategorien der Ontologie und der Intentionalität entzieht. Die Subjektivität aus Fleisch und Blut, in der Materie – die Bedeutsamkeit der Sensibilität, eben der-Eine-für-den-Anderen – ist vor-ursprüngliche Bedeutsamkeit, die jeglichen Sinn gibt, weil sie gibt; nicht weil sie als vor-ursprüngliche ursprünglicher wäre als der Ursprung, sondern weil die Diachronie der Sensibilität, die sich nicht zur Gegenwart der Vorstellung versammeln läßt, sich auf eine uneinholbare, vor-ontologische Vergangenheit der Mutter-

17 Auf diesen Hinweis bin ich in dem Kristeva-Buch von Bettina Schmitz gestoßen: Bettina Schmitz: Arbeit an den Rändern der Sprache – Julia Kristeva, Königstein: Helmer 1998, S.183ff.

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MUTTERSPRACHEN II schaft bezieht und eine Verstrickung darstellt, die sich nicht den Episoden der Vorstellung des Wissens, nicht der Öffnung auf Bilder oder einen Informationsaustausch hin unterordnet.18

Lévinas knüpft den für ihn zentralen Zusammenhang von Subjektivität aus Fleisch und Blut und Sensibilität folglich an die Mutterschaft. Sie bildet den vorursprünglichen Raum, an dem sich die Sensibilität in der Materialität der Körper, des Fleisches, der Körperlichkeit zwischen Mutter und Kind zuallererst ereignen kann. Diese Vorursprünglichkeit ist absolut und absolut nötig, um ein Jenseits des Seins, eine Materialität diesseits des Wissens, der Zeichensysteme und der Intentionalität denken zu können. Eine Materialität also diesseits der Objekte, der Gegenständlichkeit, die sich nur einführen lässt, wenn sie auf das Ereignis jener vorursprünglichen Teilung des Fleisches bezogen wird, in der sich zwei Wesen rückhaltlos einander ausliefern: die Mutterschaft. Und von hier aus lässt sie sich als Bewegung denken, als eine Bewegung, die zugleich diese vorursprüngliche Gebundenheit aufnimmt und dem Ausschluss, der Abwesenheit antwortet; eine Bewegung, die sich dem Anderen öffnet: als Gabe. Für Lévinas ist maternité der vorursprüngliche Raum des ersten Gabenereignisses. Am Anfang waren wir einander ausgeliefert, aneinander gebunden, »schon bevor (– so Lévinas –) ich an meinen eigenen Leib gebunden bin«.19 Bevor ich also überhaupt etwas bin, bin ich des Anderen bedürftig, ihm ausgeliefert, bin ich Passivität, die weniger das Gegenteil von Aktivität als vielmehr etwas anderes, diesseits dieser Unterscheidung ist. Maternité ist der Name dieses ersten Erscheinens der Gabe, die alles in Gang setzt und sich doch allem entzieht: eben auch das, was auf der Leinwand Bellinis als »luminous spatialization« erscheint. Diese vorursprüngliche Bedeutsamkeit erscheint folglich – denkt man Kristeva und Lévinas zusammen – in einem Jenseits des Seins als Entzug der Identität und des Zugriffs auf die Welt der Dinge, das als Katastrophe erlebt werden kann. Das Gesicht des Anderen (visage de l’autre), der eigentliche Ausgangspunkt von Lévinas’ Denken, wäre dann (ähnlich wie bei Winnicott) der Ort einer Begegnung, in der es nichts zu gewinnen gibt als diese Begegnung selbst, in der sich die vorursprüngliche Verwiesenheit auf den anderen ereignet. Wenn maternité die Gleichzeitigkeit von Teilung und 18 Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg/München: Alber 1992, S.181f. 19 »Das Sinnliche – Mutterschaft, Verwundbarkeit, Befürchtung – knüpft den Knoten der Inkarnation in einer Verstrickung, die weiter reicht als die Selbstapperzeption; einer Verstrickung, in der ich an den Anderen gebunden bin, schon bevor ich an meinen eigenen Leib gebunden bin.« Lévinas: Jenseits des Seins..., S.177f.

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Bindung, von An- und Abwesenheit als Bewegung des Zwischen benennt, dann ist es diese Bewegung, die im Anderen das Gesicht überhaupt erst erfahrbar macht, die Verstricktheit mit ihm, das Ausgeliefertsein wiederholt (also all das, was die Ökonomie auszuschließen sucht): alle Vorstellungen von Autonomie zerschellen am Felsen dieses fait social total (Mauss). Lévinas formuliert dies als ethischen Anspruch an jede Ethik, als Verpflichtung, die wir dem Anderen immer schon schuldig sind. Vielleicht lässt sich diese Bewegung mit Agamben aber auch weniger autoritativ als Geste reiner Mittelbarkeit fassen. Die Geste erscheint bei Agamben als das Andere der Performanz, als etwas, das nicht darauf aus ist etwas hervorzubringen, sondern auf sich selbst, auf die eigene Verwiesenheit verweist. Insofern bezeichnet sie denselben Chiasmus zwischen vorursprünglicher Ununterscheidbarkeit und Differenz wie die maternité. Dies ist genau die Verstrickung zwischen Ortlosigkeit und Verortung, an die jede Ethik – darin dürften sich Lévinas und Agamben (und wohl auch Kristeva) einig sein – anknüpfen muss. Die Geste ist also dadurch gekennzeichnet, dass man in ihr weder etwas hervorbringt bzw. macht noch ausführt bzw. handelt, sondern etwas übernimmt und trägt. Das heißt, die Geste eröffnet die Sphäre des ethos als die dem Menschen eigenste Sphäre. [...] Die Geste ist in diesem Sinne Mitteilung einer Mitteilbarkeit. Sie hat nicht eigentlich etwas zu sagen, denn was sie zeigt, ist das In-der-Sprache-Sein des Menschen als reine Mittelbarkeit. Da aber das Inder-Sprache-Sein nichts ist, was in Aussagesätze gefasst werden könnte, ist die Geste in ihrem Wesen immer Geste des Sich-nicht-Zurechtfindens in der Sprache, ist immer gag im eigentlichen Sinn des Wortes, das zunächst etwas bezeichnet, das in den Mund gesteckt wird, um am Sprechen zu hindern, und dann die Improvisation des Schauspielers, die eine Erinnerungslücke oder ein Unvermögen zu sprechen überspielt.20

20 Giorgio Agamben: Noten zur Geste, S.59ff. Und vielleicht lässt sich hier zum Beginn dieses Kapitels, zu Freud und Leonardo zurückkehren, zum Schwanz des Leonardoschen Geiers, dessen gewaltsames Öffnen des Mundes von Freud auf die imaginäre Anwesenheit des mütterlichen Phallus bezogen wird. Als gag, als Geste des Sich-nichtZurechtfindens in der Sprache, verweist diese Erinnerung vielleicht stärker auf eine Leere, die nicht notwendig das Phantasma einer Anwesenheit hervorbringen muss. Leonardo verweigert sich der Einverleibung und er erträumt sie herbei: genau hier, in diesen Zwischenräumen, diesem körperlichen Hohlraum, ereignet sich maternité, oder besser: könnte sie sich ereignen. Und – um noch einen Schritt weiter zu gehen – Leonardos Kreativität verdankt sich vielleicht der Unlösbarkeit eines Konflikts zwischen beiden Polen, einer Unentschiedenheit, die ihm die ›luminous spatialization‹ eines Bellini vielleicht versagt bleiben ließ, ihn aber doch zur Darstellung eines Lächelns befähigte, das diese Unentschiedenheit als etwas, das keiner Entscheidung jemals zu-

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Performanz wäre demnach eine spezifische sprachliche Form, die sich zwar auf die Potentialität beziehen, sie ins Spiel bringen muss, immer aber mit dem Zweck, eine Möglichkeit zu realisieren. In-der-SpracheSein ist demgegenüber immer auch auf jene grundsätzliche Verwiesenheit bezogen, die nichts hervorbringt, als eben jener radikalen Passivität, die Lévinas als vorursprüngliche Gebundenheit an den Anderen fasst. Insofern ist Sprache auch das Medium dieser Verwiesenheit. Sprache ist somit nicht allein Ausdruck eines Zugriffs oder einer Ordnung, ob als Intentionalität, Performanz oder System von Regeln, sondern eben auch das, worin sich dieser Entzug der Orientierung als In-der-Sprache-sein ereignet, sie ist in gewisser Weise selbst ein Kreuzwesen.21 Und der Phallus als Signifikant des Signifikanten ist dann nicht der Name dieses inneren Außen, dieser Falte der Sprachlichkeit der Sprache, sondern der ihres – uneinlösbaren also phantasmatischen – Versprechens dieses Außen zu penetrieren. Demgegenüber – nicht etwa im Gegensatz dazu – wäre maternité die Bewegung der Verwiesenheit auf den anderen selbst. Denn während bspw. das Phantasma der Souveränität der Leere antwortet, indem es sie quasi verdoppelt, also sie aufzuheben, sie einzuverleiben, sie zu beherrschen verspricht, nimmt maternité die Leere als Sprachlichkeit auf und bringt sie in der Gleichzeitigkeit von Ab- und Anwesenheit in Bewegung, in eine Bewegung des Sich-nicht-Zurechtfindens, der Nichtintentionalität, des Zwischen als Bindung der Instabilität einer unhintergehbaren Heterogenität, die die kulturelle Prozessualität ermöglicht: Genau dies ist die Gabe der Sprache. Lévinas versucht diese Bewegung als ethische, als Bewegung zum Anderen hin zu fassen, der er in seiner Unterscheidung von Sagen und Gesagtem antwortet. Sprache ist somit immer schon beides: zugleich der Ort des Sagens (als Bezogenheit auf den Anderen, als Passivität, als reigänglich sein wird, diesen lächelnden Mund – in dem sich alle grundsätzlichen Ambivalenzen des menschlichen Gefühlslebens in einem weder noch oder beides zugleich auflösen – zum zentralen Motiv in seiner Repräsentation des menschlichen Gesichts machte. 21 Genau in diesem Sinne verstehe ich das, was Daniel Stern im Anschluss an Winnicot und Dore zur Sprache als Übergangsobjekt schreibt: »Üblicherweise wird der Spracherwerb als ein wichtiger Schritt in Richtung auf Separation und Individuation angesehen, dessen Bedeutung höchstens mit der des Laufenlernens zu vergleichen ist. Nach unserer Auffassung ist das Gegenteil ebenso richtig: Der Spracherwerb kann Zusammengehörigkeit und Nähe ungemein stärken. Tatsächlich stellt jedes neu erlernte Wort ein Nebenprodukt der Vereinigung zweier Subjektivitäten in einem gemeinsamen Symbolsystem dar, eine Erschaffung gemeinsamer Bedeutungen. Mit jedem Wort stärken die Kinder ihre innere Gemeinsamkeit mit der Mutter und später mit den andern Mitgliedern der Sprachgemeinschaft, wenn sie entdecken, daß ihr persönliches Erfahrungswissen Teil eines größeren Wissenszusammenhangs ist und sie durch eine gemeinsame kulturelle Basis mit anderen Menschen verbunden sind.« Daniel Stern, Die Lebenserfahrung des Säuglings, S.244

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nes Mittel vorursprünglicher Bedeutsamkeit) und des Gesagten (als Bezogenheit auf die Ökonomie des Zeichensystems, als Mittel zum Zweck der Herrschaft über die Dinge). Der Ort dieses Sagens ist zugleich der Ort, auf den es antwortet: der leere Mund, der sich dem Wort des Anderen öffnet.

Luft und Wolken Die Nähe zu Benjamins Unterscheidung zwischen Art des Meinens und Gemeintem ist hier spürbar und gerade die Texte Walter Benjamins – so scheint es mir – schreiben sich ein in die Spur der maternité. Wenn in der Begrifflichkeit des Übersetzeraufsatzes diese Nähe bereits anklingt, so sind die Texte, die er als Berliner Kindheit um Neunzehnhundert veröffentlichen wollte, gewissermaßen als Übersetzung der vorursprünglichen Bedeutsamkeit (oder – mit Kristeva – der »luminous spatialization«) in eine sprachliche Bewegung zu lesen, in der die fragmentarischen Monaden dieser Texte sich – wie Werner Hamacher schreibt – in ihrer Sprachlichkeit begegnen, indem sie sich von ihren Gegenständen, ihrer Intentionalität entfernen. As fragments, all the monads of this text relate to one another in the movement of translation and dissemblance, and this movement never finds completion in an immediately given sense but finds it support for itself only in the material constituents of sound and writing. Every text, whether or not it operates with elements of a »foreign« or a dream language, is a process of translation of its various words and sentences into one another. The process is not executed as a drama between empirical figures – not as the »psychological« interaction between mother and son – but rather essentially as a drama of translation between their words and emblems in which the forces of the empirical, insofar as they emerge in it, pass over into a more general sphere.22

Was Benjamin letztlich gelingt, ist die Überführung seines ›Gegenstands‹, der kindlichen Erfahrung, der Erinnerung an die Kindheit, ihrer Räume und Geräusche, Farben und Gerüche, der Ambivalenz der Beziehungen zwischen Mutter und Sohn und der zwischen ihnen gewechselten Worte, in eine textuelle Bewegung, die sich mit jeder liebenden Anverwandlung weiter von ihnen zu entfernen scheint, ganz so, als ob es diese 22 Werner Hamacher: The Word Wolke – If It Is One, übers. v. Peter Fenves, in: Rainer Nägele (Hg.), Benjamin’s ground: new readings of Walter Benjamin, Detroit: Wayne State University Press 1988, S.147–175, hier: S.154f.

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Bewegung sei, deren Verräumlichung Kindheit genannt wird. Der so hervorgebrachte Erfahrungsraum, die »more general sphere«, von der Hamacher schreibt, ist der Effekt einer Bewegung, die wegführt von der Beherrschung der Welt der Gegenstände und eine Räumlichkeit erscheinen lässt, die die Bestimmungen der Subjekt/Objekt-Verhältnisse auflöst, ihre Grenzen in Bewegung geraten und zu Übergängen, Passagen werden lässt. Anders als in den Urphantasien kann hier nicht nur jeder Platz eingenommen werden, sondern diese Plätze selbst sind es, die in Bewegung geraten. Sie gehören keiner vorgängigen Syntax mehr an. Die vorursprüngliche Bewegung, die hier mobilisiert wird, geht jeder Syntax voraus, entzieht sich ihr in der Verräumlichung einer vorursprünglichen Materialität, die Sensibilität ist. Wie eine Mutter, die das Neugeborene an ihre Brust legt ohne es zu wecken, verfährt das Leben lange Zeit mit der noch zarten Erinnerung an die Kindheit. Nichts kräftigte die meine inniger als der Blick in Höfe, von deren dunklen Loggien eine, die im Sommer von Markisen beschattet wurde, für mich die Wiege war, in die die Stadt den neuen Bürger legte. Die Karyatiden, die die Loggia des nächsten Stockwerks trugen, mochten ihren Platz für einen Augenblick verlassen haben, um an dieser Wiege ein Lied zu singen, das wenig von dem enthielt, was mich für später erwartete, dafür jedoch den Spruch, durch den die Luft der Höfe mir auf immer berauschend blieb. Ich glaube, dass ein Beisatz dieser Luft noch um die Weinberge von Capri war, in denen ich die Geliebte umschlungen hielt; und es ist eben diese Luft, in der die Bilder und Allegorien stehen, die über meinem Denken herrschen wie Karyatiden auf der Loggienhöhe über die Höfe des Berliner Westens.23

Dies sind die ersten Sätze (jedenfalls nach der sogenannten Fassung letzter Hand) der Berliner Kindheit und in ihnen entfaltet sich bereits in der Luft der Höfe die ganze raumgreifende Bewegung der Benjaminschen Texte, die diese Unsichtbarkeit, diese nicht fassliche Substanz wiederholen, über-setzen. Wenn Mutter und Neugeborenes mit dem Leben und der Erinnerung an die Kindheit verbunden werden und sodann die Wiege, in die die Stadt den neuen Bürger gelegt hat, heraufbeschworen wird, dann entsteht in diesen Wiederholungen und Verdopplungen nichts als diese Luft, in der die Benjaminschen Texte stehen: d.h., diese Luft der Höfe ist das Sagen dieser Texte selbst, ihre Art des Meinens, eben ihre Bewegung, der ihre »Bilder und Allegorien« (hier: der Mutter, des Neugeborenen, der Wiege, der Brust) entstammen. Diese Luft ist der unfassliche Rest, der in der Kreisbewegung der Wiederholung entsteht und sich ihr 23 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S.11

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zugleich entzieht. Darauf ist Benjamin in seinen Texten aus und er geht damit bis zu dem Punkt in der Berliner Kindheit, an dem er selbst, sein Leben, die Erinnerung an seine Kindheit sich in eben dieser Bewegung, in die Luft der Höfe, auflösen. Etwas, das zugleich Nichts ist, Nichts, das zugleich Etwas ist und zwar etwas ganz bestimmtes, ganz nahes und doch ungreifbares, nicht zu halten, immer entschwindend... Es wäre sicherlich falsch davon zu sprechen, Benjamin versuche die Erscheinungen der Erinnerung an die Erfahrung der Kindheit zu transzendieren, noch geht es ihm darum, sie im herkömmlichen Sinne zu übersetzen, also verfügbar zu machen. Vielmehr scheint er in der Übersetzung selbst jene Verräumlichung zu erreichen, die er hier als Luft der Höfe bezeichnet und der Werner Hamacher in seiner Lektüre des Wortes Wolke in der Berliner Kindheit auf die Spur zu kommen meint. Das Wort Wolke figuriert für Hamacher so etwas wie die Defiguration selbst. In der Berliner Kindheit erscheint es als Bild der Bildlosigkeit, als Wort (wenn es denn eines ist) der Wortlosigkeit, also der Nichtintentionalität von Sprache, der Rückwendung der Sprache auf ihre eigene Heterogenität, ihre Nichtübereinstimmung mit sich selbst: die Entfernung des Wortes, seiner Intention zu seinem Wort-sein; dieser Bruch, dieser Spalt, der mitten durch es hindurchgeht, wird in die Bewegung eines sich verräumlichenden Entzugs gebracht. The word – cloud – is the becoming imageless and wordless of the word. It proceeds as dematernalization from the word. As weaning. It de-interprets, dis-apoints, dis-pairs itself; its texture becomes threadbare and perforated with remembrance not of something forgotten but of forgetting itself. […] The politics of the Worte – Wolke – is to make the word itself forget in its intention toward »language«, which is not there, at the most extreme distance from himself, it can awaken.24

Dieses Erwachen steht im Zusammenhang des Augenblicks, in dem sich auf einen Schlag die Nichtigkeit des Traums erweist: Im Übergang vom Schlaf zum Wachen verschwimmen die Grenzziehungen und Gewissheiten, die in beiden Sphären, selbst im Traum, bestehen. Dieser Übergang ist der Punkt eines Vergessens, das immer schon stattgefunden hat und sich jeder Selbstpräsenz widersetzt. Ein Vergessen, das von grundsätzlich anderer Natur ist als das Vergessene, zu dem es sich verhält wie die Urverdrängung zur sekundären Verdrängung. Erinnerung des Vergessenen ist dem Erinnern des Vergessens geradezu entgegengesetzt. Benja-

24 Hamacher: The Word Wolke, S.175

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mins Text bringt nichts zurück ans Tageslicht, was einst gewusst, nun aber entschwunden ist: Er arbeitet am Erinnern des Vergessens selbst. Das Verhältnis von Vergessenem und Vergessen wiederholt in gewisser Weise das von mütterlichem Phantasma und maternité. Während das mütterliche Phantasma eine vergessene Gegenwärtigkeit zu wiederholen vorgibt, ist maternité die Bewegung der Nachträglichkeit als Effekt der Urverdrängung bzw. genau dasjenige was sich in der Nachträglichkeit der Wiederholung entzieht und sie dennoch ermöglicht: Ein anfängliches und umfassendes Vergessen. Wenn Hamacher von dematernalization schreibt, muss man das meiner Meinung nach genau in diesem Sinne lesen: als Befreiung von der Mutter als Phantasma durch die Erinnerung dieses Vergessens, der Bewegung der maternité. Ein Erinnern, das sich seiner eigenen Unmöglichkeit ausliefert. Mit anderen Worten: Benjamin mobilisiert gerade die maternité um seinen Text aus der Umschlingung der mütterlichen Phantasmen zu entlassen. Das wäre dann so etwas wie eine sprachliche dematernalization, die ohne den Vater auskommt, sich also nicht von einem Phantasma zum anderen begibt, sondern zu einer ›Sprache‹ der Bild- und Wortlosigkeit »erwacht«. Man könnte sagen, dass Die Aufgabe des Übersetzers gerade dieses Einnehmen eines ›mutterschaftlichen‹ Verhältnisses zur Sprache ist, um in ihr der Bewegung der maternité stattzugeben. Insofern ist Benjamins Text auf eine radikale Weise nichtinzestuös (bzw. lässt er die Möglichkeit eines radikalen Inzest jenseits der Phantasmen, jenseits der Institutionen des Tabus aufscheinen, der sich nicht auf die Mutter, sondern auf das Stattgeben der maternité bezieht). Ganz ähnlich wie Bellini in der Lektüre Kristevas gelingt ihm die Übersetzung vor-ursprünglicher Bedeutsamkeit, der Bildund Wortlosigkeit in ›Bilder‹ und ›Wörter‹. Er sucht folglich die Bewegung der Bindung in und durch die Ununterscheidbarkeit, die die kulturelle Prozessualität ermöglicht und an der die Sprache ihren Ausgang nimmt, in der Sprache selbst auf, um in ihr über sie hinaus zu gelangen oder besser: um das, was als ihr Außen erscheint, in ihr aufzuspüren. Genau in diesem Sinne wäre maternité bei Benjamin Öffnung zu einer Passivität, in der die Gabe sich ereignen kann, Innewerden der reinen Mittelbarkeit des In-der-Sprache-Seins und zugleich Übersetzung als Erinnern dieses Vergessens, Berührung dieser Passivität, notwendige Unmöglichkeit.

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Das mimetische Vermögen Benjamin hat das in seinem Aufsatz Über das mimetische Vermögen, der ungefähr zur gleichen Zeit wie die ersten Fassungen der Berliner Kindheit entstanden ist und in dem – worauf Hamacher hinweist – genau die Textbewegung der Berliner Kindheit als »unsinnliche Ähnlichkeit« thematisiert wird, programmatisch und theoretisch zugespitzt. Nicht zufällig kehren dort der Neugeborene und das Kinderspiel gleich zu Beginn wieder. Bereits in der Berliner Kindheit hatte er dieses Spiel als Spiel mit dem ›mimetischen‹ Gehalt der Worte vorgestellt, in dem er den Worten ihre Ähnlichkeit ablauscht, die sie entstellt. Beizeiten lernte ich es, in die Worte, die eigentlich Wolken waren, mich zu mummen. Die Gabe, Ähnlichkeiten zu erkennen, ist ja nichts als ein schwaches Überbleibsel des alten Zwanges, ähnlich zu werden und sich zu verhalten. Den übten Worte auf mich aus. Nicht solche, die mich musterhaften Kindern sondern Wohnungen, Möbeln, Kleidern ähnlich machten. Ich war entstellt von Ähnlichkeit mit allem, was um mich war. Ich hauste wie ein Weichtier in der Muschel im neunzehnten Jahrhundert, das nun hohl wie eine leere Muschel vor mir liegt. Ich halte sie ans Ohr. Was höre ich? Ich höre nicht den Lärm von Feldgeschützen oder von Offenbachscher Ballmusik, nicht einmal Pferdetrappeln auf dem Pflaster oder die Fanfaren der Wachtparade. Nein, was ich höre, ist das kurze Rasseln des Anthrazits, das aus dem Blechbehälter in einen Eisenofen fällt, es ist der dumpfe Knall, mit dem die Flamme des Gasstrumpfs sich entzündet, und das Klirren der Lampenglocke auf dem Messingreifen, wenn auf der Straße ein Gefährt vorbeikommt. Noch andere Geräusche, wie das Scheppern des Schlüsselkorbs, die beiden Klingeln an der Vorder- und Hintertreppe; endlich ist auch ein kleiner Kindervers dabei. »Ich will dir was erzählen von der Mummerehlen.« Das Verschen ist entstellt; doch hat die ganze entstellte Welt der Kindheit darin Platz.25

Die Kindheit wäre demnach die Verräumlichung der Entstellung, die in der Anverwandlung plötzlich hervortritt. Benjamin bringt die Mummerehlen in direkten Zusammenhang mit jenen kleinen schockartigen Geräuschen, die sich jeder Konzeptualisierung, jeder Einbindung in die klassischen Bilder (hier des neunzehnten Jahrhunderts) entziehen, und in denen gewissermaßen die Bildlosigkeit selbst aufblitzt. Er liest darin das eigentliche Ereignis der Kindheit: Vermummung »in die Worte, die eigentlich Wolken waren«, also Nicht-Worte, Mummerehlen, Murmeln...

25 Benjamin: Berliner Kindheit, S.59

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Die Welt der Kindheit ist entstellt, weil ihr die Sensibilität für Ähnlichkeit, für Anverwandlung als mimetische bzw. sprachliche Potentialität zugänglich ist. Nicht weil die Sprache magisch ist, diese Mimesis zu irgendeiner Form der Beherrschbarkeit der Dinge ermächtigen würde, sondern weil man – wie in einer Muschel – in ihr oder durch sie hindurch etwas heraushören kann, was sich »nicht den Episoden der Vorstellung des Wissens, nicht der Öffnung auf Bilder oder einem Informationsaustausch hin unterordnet«26 und man sich so in ein Verhältnis der maternité, der reinen Mittelbarkeit zu den Dingen setzen kann.27 Benjamins Über das mimetische Vermögen28 wäre dann der Versuch, eine solche Beziehung der maternité als Anverwandlung theoretisch zu konzeptionalisieren: Auf der Ebene der Sprache behauptet es ihre Potenz, das, was scheinbar ihrem Außen angehört – Klang, Rhythmus, Schriftbild (Graphismus) –, die Gestalt ihrer Sprachlichkeit ist: ihre gestische Dimension, die Sprache des Körpers der Sprache. Es ist insofern nicht verwunderlich, wenn Benjamin in seinem Kafka Essay das, was er die »wolkige Stelle der Parabel«29 in Kafkas Text nennt, direkt mit der Geste übersetzt, als dem Zwischen von Zeichen, Instabilität und Verwiesenheit, und es so der Bewegung der Sprache selbst überantwortet. Werner Hamacher hat das in seiner Doppel-Lektüre von Kafka und Benjamin aufgegriffen und daraus ein Konzept der Geste im Namen, der Geste der Benennung entwickelt. Die Geste als Name der Namens-Gebung benennt meiner Meinung nach relativ genau die Bewegung der maternité, das Füllen des leeren Mundes mit Wörtern, die die abwesende Anwesenheit

26 Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S.182 27 So würde ich auch die Winnicottsche Fassung von Apperzeption verstehen, wenn Lévinas darüber auch hinausgehen möchte, die Passivität noch radikaler, eben als vorursprüngliche Bedeutsamkeit, als grundsätzliche Gebundenheit an den Anderen, zu denken versucht. 28 Walter Benjamin: Über das mimetische Vermögen, in: Ders., Illuminationen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S.96–99 29 »Etwas war immer nur im Gestus für Kafka fassbar. Und dieser Gestus, den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle der Parabel. Aus ihm geht Kafkas Dichtung hervor.« Walter Benjamin: Franz Kafka, in: Ders., Angelus Novus – Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S.248–263, hier: S.258 Kafka, das muss an dieser Stelle wohl zugestanden werden, ist eine unbewussten Motiven geschuldete bewusste Leerstelle dieser Arbeit, eine ›blank space‹ sozusagen, vor dessen Betreten ich zurückschrecke. Stattdessen noch einmal ein Kafka, der durch Benjamin hindurchgegangen ist: »Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm keinen Fortschritt über die Uranfänge. Seine Romane spielen in einer Sumpfwelt. Die Kreatur erscheint bei ihm auf der Stufe, die Bachofen als die hetärische bezeichnet. Daß diese Stufe vergessen ist, besagt nicht, daß sie in die Gegenwart nicht hineinragt. Vielmehr: gegenwärtig ist sie durch diese Vergessenheit.« Benjamin: Franz Kafka, S.259 Also eine Welt des Abjekten, die Kafka in seinen Texten bereist, indem er sich der Bewegung der maternité ausliefert.

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der ›Mutter‹ als Sprachlichkeit, als vorursprüngliche Gebundenheit, als Potentialität wiederholen. Die Geste ist die Nicht-Handlung in der Handlung, Exil der Tat aus der Tat, Exaktion; ein Nichts, das der Grund von Etwas ist. Im Sprechen – und nicht erst dem der Literatur – ist die Geste das Nichts des Sprechens und deshalb das in ihm, was erst erlaubt, daß von etwas gesprochen wird. Im Namen – ob im Namen »Odradek« oder im Namen »Namen« – ist sie das Nichts des Namens, das ihm ermöglicht, Etwas zu benennen und an der Sprache, der er sich entzieht, dennoch teilzuhaben.30

Der Name des Namens ist nicht der Signifikant des Signifikanten. Er verdankt sich keiner Ausschließung, sondern er ist das ausgeschlossene Zwischen, die Unmöglichkeit der Ausschließung selbst. In diesem Nichts des Sprechens als Passivität oder Defiguration spricht sich die Sprache selbst als Sprachlichkeit, als Benennung der Benennung (hinter der sich die Potentialität des Zusammenhangs von Verortung und Ortlosigkeit öffnet), als Verwiesenheit auf sich selbst und über sich hinaus. Ein Moment, den Agamben in seinem Gesten-Text sehr klar gefasst hat, als Moment der Körperlichkeit in der Sprache resp. Sprachlichkeit des Körpers. Wenn maternité folglich als Bewegung dieses In-der-Sprache-Seins des Menschen, des menschlichen Körpers, wie Agamben die Geste definiert, aufgefasst wird, dann lassen sich von hier aus die verschiedenen Zugänge, die ich habe auftreten lassen, wiederholen. Maternité steht dann im Zusammenhang dieser Begriffe: des Mimetischen Vermögens (als Neufassung der Aufgabe des Übersetzers) bei Benjamin, des Sagens als passive Öffnung zum Anderen hin bei Lévinas und der Transposition als Mobilisierung des Semiotischen, der vorursprünglichen Heterogenität, bei Kristeva. Und ist dann die »unsinnliche Ähnlichkeit«, die durch den Sinn hindurch aufblitzt, nicht auch eine Wiederkehr der Effekte jener vorursprünglichen Teilung des Fleisches, die die Zuschreibungen der Identität auflöst, den Körper heillos ins Schwanken bringt und die Möglichkeit einer jouissance eröffnet, eines Genießens der Identitätslosigkeit, des Schwankens, der Fremdheit? Das Mimetische Vermögen wäre dann Vermögen, der maternité stattzugeben als Ermöglichung der notwendigen Unmöglichkeit der Gabe, ›mutterschaftliche‹ Verstrickung mit dem Anderen und den (dann nicht-mehr-) ›Dingen‹: Mutter-Sprache – potential space.

30 Werner Hamacher: Die Geste im Namen – Benjamin und Kafka, in: Ders., Entferntes Verstehen – Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 280-323, hier: S.319

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In diesem scheinbar archaischen Raum, in dem in der Teilung des Fleisches die Leiblichkeit und die Sensibilität einer ›Subjektivität‹ beginnt, die sich auf keine Objektivität mehr bezieht: die des »inkarnierten Subjekts«, wie Lévinas in seiner Verabschiedung der Husserlschen Phänomenologie sagt. In ihm vollzieht sich die Materialität unserer Subjektivität als Passivität, als Gabe. Die sinnliche Erfahrung als Obsession durch den Anderen – oder Mutterschaft – ist bereits die Leiblichkeit, die die Philosophie des Bewußtseins von der sinnlichen Erfahrung her konstituieren will. Leiblichkeit des eigenen Leibes, die, wie die Sensibilität selbst, eine Verknüpfung oder eine Auflösung der Verknüpfung des Seins bedeutet, die jedoch auch einen Übergang zur physikalisch-chemisch-physiologischen Bedeutung des Leibes enthalten muß. Zu ihr führt wahrscheinlich die Sensibilität als Nähe, als Bedeutung, als der-Einefür-den-Anderen – die im Geben bedeutet, wenn das Geben nicht den Überfluß des Überflüssigen anbietet, sondern das dem-eigenen-Munde-abgerungene-Brot. Bedeutung, die also im Nahrung-, Kleidung- und Wohnunggeben bedeutet – in den mütterlichen Beziehungen, in denen die Materie sich allererst in ihrer Materialität zeigt. Das sogenannte inkarnierte Subjekt resultiert nicht aus einer Materialisierung, einem Eintritt in den Raum und in die Verhältnisse der Berührung und des Geldes, die ein Bewußtsein vollzogen hätte – das heißt ein gegen jeden Eingriff gefeites und vorab unräumliches Selbstbewußtsein. Vielmehr weil die Subjektivität Sensibilität ist – Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen, Verwundbarkeit und Verantwortung in der Nähe der Anderen, der-Eine-für-den-Anderen, das heißt Bedeutung – und weil die Materie genau der Ort dieses Für-den-Anderen ist, die Art und Weise, in der die Bedeutung bedeutet, bevor sie sich als Gesagtes im System der Synchronie, im linguistischen System, zeigt – deshalb ist das Subjekt aus Fleisch und Blut, ein Mensch, der Hunger hat und der isst, Eingeweide in einer Haut, und so fähig, das Brot zu geben, das er gerade verzehrt, oder seine Haut zu geben. 31

Eine Materialität, die allem vorausgeht, wie das Licht Bellinis und die Luft der Höfe, der Körper der Sprache als Sprache des Körpers, zugleich Verräumlichung und sich entziehende Bewegung. Eine Materialität, die Sensibilität ist und die sich in der Anverwandlung – dem Mimetischen Vermögen – für die entgrenzende Erfahrung unserer Fleischheit öffnet und sie wieder-holt. Subjektivität als Desubjektivierung: Erfahrung einer Materialität als Erfahrung der notwendigen Unmöglichkeit der Gabe, in der wir uns ereignen.

31 Lévinas: Jenseits des Seins, S.174f.

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Natürlich treten in dieser Engführung von Teilung des Fleisches, Geste, Mimetischem Vermögen und Ethik der Gabe als maternité zugleich Differenzen und Übereinstimmungen der von mir angeführten Autoren zutage. Es geht hier aber um eben die »Beziehungen, in denen die Materie sich allererst in ihrer Materialität zeigt«, ob als Verwiesenheit auf den anderen Menschen oder reine Mittelbarkeit, die sie zu textualisieren versuchen. Und damit um eine Bewegung, die zugleich Verletzlichkeit, höchste Gefährdung, absolute Ohnmacht bedeutet, denn sie kann sich nur da ereignen, wo die scheinbare Sicherheit der Ökonomie und der Phantasmen unterbrochen wird. Also genau dort, wo auch das Trauma einbricht. Von hier aus ergibt sich aber auch die Chance eines Zugangs zur Ethik. Maternité wäre dann die Möglichkeit, das zu denken, was Derrida als Trennung von Souveränität und Unbedingtheit bezeichnet hat32, gerade weil sie sich auf die vorursprüngliche Sphäre einer mit der Trennung notwendig einhergehenden Bindung bezieht, die sich im ›Zwischen Anund Abwesenheit‹ und zwischen Ununterscheidbarkeit und Differenz ereignet. Die Auslieferung an die Unmöglichkeit, ihren Raum und ihre Bewegung, zu erinnern, ermöglicht es, dieses (nicht-ökonomische) Subjekt aus Fleisch und Blut zu denken, das geben kann, weil es der Gabe bedürftig ist. Und was aus eben diesem Grunde spricht.

32 »Wovon ich träume, was ich versuche, als ›Reinheit‹ einer Vergebung, würdig dieses Namens zu denken, das wäre eine Vergebung ohne Macht: unbedingt, aber ohne Souveränität. Die schwierigste Aufgabe, die zugleich notwendig und offensichtlich unmöglich ist, das wäre also, Unbedingtheit und Souveränität voneinander zu trennen. Wird man es eines Tages tun? Der Morgen kommt nicht vor dem Abend, wie man sagt. Aber da die Hypothese dieser nicht vorzeigbaren Aufgabe sich ankündigt, und sei es als Traum für das Denken, ist dieser Wahnsinn vielleicht nicht so verrückt...« Jacques Derrida im Gespräch mit Michel Wieviorka: Jahrhundert der Vergebung – Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, übers. v. Michael Wetzel, in: Lettre International Heft 48 I.Vj./2000, Berlin 2000, S.10–18, hier: S.18 Als eine solche bedingungs- und machtlose Ver-Gebung, die als radikale Nicht-Souveränität (anders als die Bataillesche ›Verausgabung‹) zugleich unmöglich ist und ständig stattfindet, stelle ich mir maternité vor.

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3. A B J E K T I O N

UND

VATERMORD

Was ich zu denken, was ich zu erkennen versucht habe, über die gesamte Strecke dieses Weges, ist die Möglichkeit eines Un-möglichen jenseits des Todestriebs, jenseits des Bemächtigungstriebs, jenseits der Grausamkeit und der Herrschaft, und ein unbedingtes Jenseits. Nicht souverän, sondern unbedingt.1 Das Begehren der Mutter, der Text spielt darauf an, ist der Ursprung von allem.2

Das Abjekte Julia Kristevas 1980 erschienenes Buch Pouvoirs de l’horreur widmet sich genau und intensiv den Effekten der Mutterschaft in Kultur und Literatur: Kristeva versucht diesen Komplex dort als kulturelle »Konfrontation mit der Weiblichkeit«3 zu fassen. Kultur wird in dieser Perspektive zu einem In- und Gegeneinander von Ausschließung und Bedrohung durch das Ausgeschlossene. Den mit dieser Bewegung einhergehenden Effekten gibt sie den Namen des Abjekten. Kristevas Versuch dieses Abjekte zu konzeptualisieren, beschreibt die Art und Weise, in der dieses Ausgeschlossene (der Weiblichkeit oder des mütterlichen Körpers) als unmittelbar körperliche Drohung der Entdifferenzierung die Ordnung als grundlegende Instabilität bewohnt. Zugleich an Freud anschließend und ihn erweiternd versucht sie die Effekte dieses Ausschlusses in den Subjekten und der sie konstituierenden Kultur als Abwehrleistung zu fassen, als Umgang mit einer Bedrohung,

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Jacques Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse – Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit, Vortrag vor den Etats généraux de la Psychanalyse am 10. Juli 2000 im Grand Amphithéâtre der Sorbonne in Paris, übers. v. Hans-Dieter Gondeck, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S.102 Jacques Lacan: Das Wesen der Tragödie – Ein Kommentar zur Antigone des Sophokles, in: Ders., Die Ethik der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin (Quadriga) 1986, S.291–343, hier: S.339 »L’affrontement au féminin«, Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur – Essai sur l’abjection, Paris: Editions du Seuil 1980, S.73

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der sich jede Kultur in ihrem Verhältnis zur Mutterschaft ausgesetzt sieht. Diese doppelte Bewegung von Ausschluss und Bedrohung beschreibt Kristeva als den notwendigen Zusammenhang von Vatermord und Mutterphobie, also Einschnitt des Symbolischen und Abwehr der Effekte des durch diesen Einschnitt Ausgeschlossenen. Kristeva erkennt dabei das Lévi-Straussche Diktum von der Universalität des Inzesttabus an, doch begibt sie sich, wie sie sagt, auf ein anderes Feld, eben das des »affrontement au féminin«. Natürlich ist auch das Inzesttabu eine Weise der »Konfrontation mit der Weiblichkeit«: Es stellt die Ordnung der Geschlechter her, ist immer auch bezogen auf diese Heterogenität eines im Homogenen nicht aufgehenden Restes, als eben dem Unbenennbaren, das vom Weiblichen im Symbolischen gehalten werden soll. Tatsächlich sind das Inzesttabu und das Abjekte zwei unterschiedliche Weisen der Anwesenheit, der ›Bearbeitung‹ dieser Heterogenität in der kulturellen Ordnung und – so scheint es Kristeva zu sehen – sie betreffen sich gegenseitig: Die Schwäche des Inzesttabus verstärkt die Macht des Abjekten und damit die der auf es zielenden kulturellen oder subjektiven Abwehroperationen: die Abjektion. Während das Inzesttabu das Subjekt-Objekt Verhältnis absichert, indem es das Begehren auf ein unmögliches, unerreichbares Objekt lenkt, ist das Abjekte – wie Kristeva schreibt – »weder Subjekt noch Objekt«4, sondern Artikulation des von der Urverdrängung produzierten und ausgeschlossenen Zwischen selbst: ein Rest, der sich der Bindung in die kul4

Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.9 »L’abject n’est pas un ob-jet en face de moi, que je nomme ou que j’imagine. Il n’est pas non plus cet ob-jeu, petit ›a‹ fuyant indéfiniment dans la quête systématique du désir. L’abject n’est pas mon corrélat qui, m’offrant un appui sur quelqu’un ou quelque chose d’autre, me permettrait d’être, plus ou moins détachée et autonome. De l’objet, l’abject n’a qu’une qualité – celle de s’opposer à je. Mais si l’objet, en s’opposant, m’équilibre dans la trame fragile d’un désir de sens qui, en fait, m’homologue indéfiniment, infiniment à lui, au contraire, l’abject, objet chu, est radicalement un exclu et me tire vers là où le sens s’effondre.« Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.9 »Das Abjekt ist kein mir gegenüberstehendes Ob-jekt, kein Gegen-stand, den ich benenne oder imaginiere. Es ist auch nicht dieses ob-jeu (Gegen-spiel), dieses der systematischen Suche des Begehrens sich unentwegt entziehende kleine ›a‹. Das Abjekt ist nicht mein Korrelat, das mir, indem es mir die Möglichkeit bietet, mich auf irgendeinen oder irgendetwas anderes zu stützen, erlauben würde zu sein, mehr oder weniger losgelöst und autonom. Vom Objekt hat das Abjekt nur eine Eigenschaft – die, sich ich (je) entgenzusetzen. Aber während das Objekt – indem es sich entgegensetzt – mich in dem fragilen Raster eines Sinnbegehrens in einem Gleichgewicht hält, das mich ihm tatsächlich unbegrenzt, endlos homolog macht, ist das Abjekt, das gefallene Objekt, ein radikal Ausgeschlossenes und zieht mich dorthin, wo der Sinn sich auflöst.« Diese, die bisherigen und alle folgenden Übersetzungen von Pouvoirs de l’horreur: Bisher unveröffentlichte Übersetzung von Xenia Rajewsky, im Folgenden: (Rajewsky)

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turelle Prozessualität widersetzt. Es rekurriert dabei auf eine Dimension der Subjektivität, für die die Dinge eben noch nicht zu Objekten geworden sind, sich aber bereits vom ›Ich‹ getrennt haben. So konstituiert sich ein Subjekt, das gebunden bleibt an eine unsichere, schwankende Grenze. Es ist das Abjekte, das die Festigung dieser Grenze einfordert, um es selbst auf Abstand zu halten, gleichzeitig aber diese Festigung unmöglich macht. Es widersetzt sich der Fixierung der Innen-Außen-Grenzen, löst sie auf und erscheint als das Grauen vor der alles verschlingenden Undifferenziertheit der Mutter. Die Abjektion, als unmittelbar körperliche Reaktion auf das Auftauchen des Abjekten, ist das Würgen in der Kehle, das sich im Ekel einstellt und zum Erbrechen führt. So kann sich ein Ich konstituieren, dessen Grenzen immer in Bewegung bleiben, sich aufzulösen drohen und ständig neu gezogen werden müssen. Das Abjekte ist weder Gabe (es ist gerade ein Effekt der Entbindung und dadurch das, was sich jeder Prozessualisierung entgegenstellt) noch Phantasma (es ist per se bild- und gestaltlos, ständige Bewegung, radikaler Widerstand gegen jede Stillstellung), sondern die Bedrohung, die von der Undifferenziertheit angesichts einer anhaltenden Schwäche der kulturellen Differenzierung ausgeht. Also eine ›Bewegung‹, die die phantasmatische Stillstellung unmöglich macht, sie ständig mit der radikalen Heterogenität ihrer Präsenz konfrontiert (und die eher in Célines Umschrift von Heart of Darkness, dem Afrika-Kapitel seiner Voyage au bout de la nuit, denn in Conrads Text selbst lesbar wird5). 5

Bspw. die Schiffspassage entlang der afrikanischen Küste. Conrad schreibt in der Übersetzung Urs Widmers: »Eine Küste zu betrachten, wie sie am Schiff vorbeigleitet, das ist, als ob man über ein Rätsel nachdächte. Da ist sie vor dir – lächelnd, abweisend, einladend, großartig, trostlos, unscheinbar oder wild, und immer stumm, obwohl sie stets zu flüstern scheint. Komm her und find es heraus. Die hier war fast gesichtslos, als sei sie noch nicht ganz fertig, mit einem Ausdruck monotonen Grimms. Der Rand eines riesigen Urwalds, der nicht dunkelgrün, sondern fast schon schwarz und mit einer weißen Gischt gesäumt war, verlief schnurgerade, wie mit einem Lineal gezogen, weit weit weg einem blauen Meer entlang, dessen Geglitzer von kriechenden Dunstschwaden getrübt wurde. Die Sonne brannte heftig, das Land schien im Dampf zu glänzen und zu tropfen. […] Tag für Tag sah die Küste gleich aus, als hätten wir uns nicht von der Stelle bewegt; aber wir kamen an mehreren Ortschaften vorbei – Handelsstationen –, die Gran’ Bassam oder Little Popo hießen; Namen, die zu einer miesen Farce zu gehören schienen, die vor einem finsteren Bühnenhintergrund gespielt wurde.« Conrad, Herz der Finsternis, S.25f. Bei Céline wird daraus: »Gemächlich schlichen wir in Sichtweite der Küste dahin, ein endloses graues, mit winzigen Bäumen bewuchertes Band, so lag sie in der Hitze der tanzenden, feuchten Schwaden da. Was für eine Spazierfahrt! Die Papoutah zerteilte das Wasser, als hätte sie es selber zuvor unter Schmerzen ausschwitzen müssen. Unendlich behutsam schnitt sie Welle um Welle an, wie bei einer Operation unter Narkose. […] Als einziger Passagier saß ich eingekeilt zwischen den Negern im Schatten der Reling, solange die Sonne auf das Deck knallte, bis gegen fünf Uhr nachmittags. Damit die Sonne einem nicht die Augen verbrennt, muss man blinzeln wie eine Rat-

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Un »commencement« précédant le verbe Kristevas Konzeptionalisierung des Abjekten eröffnet – wie schon ihre Ausarbeitung des Semiotischen – die Möglichkeit, die Effekte des Realen, die Anwesenheit einer vorgängigen Materialität im Symbolischen zu denken. Insofern scheint es – wie die maternité – einen Schnittpunkt zwischen dem Realen (als körperliche Artikulation des Ausgeschlossenen), dem Symbolischen (das es hervorbringt) und dem Imaginären (das sich als Phantasma an die Stelle dieses Ausgeschlossenen setzt bzw. es sich einverleibt) zu bezeichnen. Das Abjekte spielt sich jedoch gleichsam vor der Ausdifferenzierung dieser Sphären ab. Es zieht seine Wirksamkeit geradezu aus ihrer Vermengung, ihrer Nichtdifferenziertheit. Insofern ist es notwendig, das Ereignis der Setzung der Differenzen vor dem Hintergrund der abjekten Entdifferenzierung erneut zu thematisieren. Kristeva knüpft an dem in Totem und Tabu von Freud ausgearbeiteten Modell der Konstituierung des ödipalen Begehrens als Vatermord an, auch wenn das für sie nur die halbe Wahrheit ist. Es ist aber auch nicht die ganze Geschichte, die Freud in Totem und Tabu erzählt. Denn – so Kristeva weiter – mindestens die Hälfte dieses Textes widmet sich der kulturellen Abwehr der von der Mutterschaft bzw. dem Weiblichen ausgehenden Gefährdungen. Résumons. Il y aurait un »commencement« précédant le verbe. Freud le dit en écho à Goethe à la fin de Totem et Tabou »Au commencement était l’action«. Dans cette antériorité au langage, l’extérieur se constitue par la projection de l’intérieur duquel nous n’avons que l’expérience du plaisir et de la douleur. Un extérieur à l’image de l’intérieur, fait de plaisir et de douleur. Innommable serait donc l’indistinctivité du dedans et du dehors, une limite franchissable dans les deux sens par le plaisir et par la douleur. Nommer ces derniers, donc les différencier, équivaut à introduire le langage qui, de même qu’il distingue plaisir et douleur comme toutes les autres opposi-

te. Nach fünf Uhr kann man einen Rundblick wagen, dann wird das Leben schön. Dieser graue Rand dahinten, das buschige Land über der Wasserlinie, das aussah wie zerdrückte Achselhaare, lockte mich kein bisschen. Diese Luft zu atmen war abscheulich, sogar nachts, so warm blieb die Luft, ein muffiger Meerdunst. Von dieser ganzen Ödnis konnte einem Übel werden, dazu noch der Geruch der Maschine und tagsüber den Wellen, hier waren sie ockergelb und weiter draußen allzu blau.« Louis-Ferdinand Céline, Reise ans Ende der Nacht, übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2004, S.197 Man spürt förmlich, wie Céline Conrads Text das Ödipale austreibt, um ihn in die Abjektion zu führen und – wie das in Conrads Text bereits angelegt ist, das Ödipale dort die Funktion hat, das Abjekte abzuwehren.

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ABJEKTION UND VATERMORD tions, établit la séparation dedans/dehors. Pourtant, il y aurait des témoins de la perméabilité de la limite, des artisans en quelque sorte qui essaieraient de capter ce »commencement« pré-verbal dans un verbe au ras du plaisir et de la douleur. Ce sont l’homme primitif par ses ambivalences et le poète par la personnification de ses états d’âme opposés – mais peut-être aussi par le remaniement rhétorique du langage qu’il opére et sur lequel Freud, qui se dit attentif et fasciné, ne s’attarde jamais. Si le meurtre du père est cet événement historique qui constitue le code social comme tel, c’est-à-dire l’échange symbolique et l’échange des femmes, son équivalent sur le plan de l’histoire subjective de chaque individu est donc l’apparition du langage, qui coupe avec la perméabilité sinon avec le chaos antérieur et instaure la nomination comme un échange de signes linguistiques. Le langage poétique serait alors, à rebours du meurtre et de l’univocité du message verbal, une réconciliation avec ce dont le meurtre comme les noms se sont séparés. Ce serait une tentative de symboliser le »commencement«, une tentative de nommer l’autre versant du tabou: le plaisir, la douleur. S’agit-il enfin de l’inceste? Pas tout à fait, ou pas directement.6

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Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.76f. »Fassen wir zusammen. Es hätte einen dem Wort vorausgehenden ›Anfang‹ gegeben. Freud sagt es, Goethe zitierend, am Ende von Totem und Tabu: ›Am Anfang war die Tat‹. In diesem der Sprache vorausgehendem Stadium konstituiert sich die Außenwelt durch die Projektion der inneren Wahrnehmungen, die uns lediglich das Gefühl von Lust und Unlust übermitteln. Eine Außenwelt nach dem Bilde des Inneren, das aus Lust und Unlust besteht. Die Ungeschiedenheit von Innen und Außen wäre daher nicht benennbar, es gäbe eine nach beiden Richtungen durch Lust und Unlust überschreitbare Grenze. Diese zu benennen, sie also zu unterscheiden, entspräche der Einführung der Sprache, die, so wie sie Lust und Unlust und alle anderen Oppositionen unterscheidet, die Trennung innen/außen herstellt. Allerdings gäbe es Zeugen dieser Durchlässigkeit der Grenze, gewissermaßen Künstler, die versuchten, diesen vorsprachlichen »Anfang« in einem der Lust und der Unlust nahekommenden Wort einzufangen. Es sind dies der primitive Mensch durch seine Ambivalenzen und der Dichter durch die Personifikation der in ihm ringenden entgegengesetzten Triebregungen – aber vielleicht auch durch die rhetorische Umarbeitung der Sprache, die er vornimmt und mit der sich Freud, der für sich in Anspruch nimmt, aufmerksam und fasziniert zu sein, nie aufhält. Wenn der Mord am Vater das historische Ereignis ist, das den sozialen Code als solchen konstituiert, das heißt den symbolischen Tausch und den Austausch der Frauen, dann ist sein Äquivalent auf der Ebene der subjektiven Geschichte jedes einzelnen Individuums das Auftreten der Sprache, das der Durchlässigkeit, wenn nicht dem vorangehenden Chaos ein Ende macht und die Benennung als einem Austausch sprachlicher Zeichen instauriert. Die poetische Sprache wäre also, im Gegensatz zum Mord und zur Eindeutigkeit der sprachlichen Botschaft, eine Versöhnung mit dem, wovon der Mord ebenso wie die Benennungen sich getrennt haben. Sie wäre ein Versuch, die andere Seite des Tabu zu benennen: die Lust und die Unlust. Geht es letztlich um den Inzest? Nicht ganz oder nicht unmittelbar.« (Rajewsky)

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Kristeva scheint hier einer gewissen Epiphanie des Einschnitts als Gewalttat zu huldigen. Sicherlich ist das die Welt des fundamentalen Ausschlusses der Urverdrängung, der Spaltung des Begehrens, der dessen Projektion in die soziale Welt entlang der Subjekt/Objekt-Verhältnisse vorbereitet. Kristeva impliziert aber noch etwas anderes. Das Erscheinen der Sprache – darin argumentiert Kristeva klassisch strukturalistisch7 – findet auf plötzliche und umfassende Weise statt. Es ereignet sich als grundsätzliche Unterbrechung, als Diskontinuität8 und setzt eine Ordnung ein, die auf dem Ausschluss dieser Diskontinuität, dieses Bruchs beruht: das, was Kristeva als die Symbolische Ordnung bezeichnet. Der Einschnitt stellt so die Vorstellung von Kontinuität, die Dichotomien von Vorher und Nachher, Heterogenität und Homogenität: eben die Prozessualität von Kultur erst her. Er selbst steht aber außerhalb dieser Kontinuität, außerhalb der von ihm installierten Ordnung. Wenn der Einschnitt, das Erscheinen der Sprache, die Benennung, dazu führt, dass fortan Grenze und Entgrenzung sich gegenüberstehen, so kann dieses Erscheinen selbst weder das eine noch das andere sein. Das Ereignis des Einschnitts der Setzung ist am Anfang – und man kann wohl hinzufügen: bei jeder neuen Transpositionierung – zuallererst Ereignis, ein Moment der Öffnung, der Erscheinung des Neuen. Der Einschnitt ereignet sich somit gewissermaßen als Ausschließung seiner selbst, er muss seine eigene Ereignishaftigkeit ausschließen, ohne aber aufzuhören, Ereignis zu sein. Damit ist er aber letztendlich unmöglich: der Einschnitt des Symbolischen, die Konstituierung einer symbolischen Ordnung ist immer abhängig von einer nichtsymbolischen ›Tat‹. Die Effekte des Abjekten bezeugen diese Abhängigkeit: dass es kein Symbolisches ohne das Nichtsymbolische, keine Sprache ohne einen Körper geben kann. Der mütterliche Raum der Gabe wäre das, was der Aporie des Einschnitts, sowohl seiner Notwendigkeit als auch seiner Unmöglichkeit stattgeben würde, 7

8

Lévi-Strauss hat die Bedeutung dieses Bruchs in seiner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss nachdrücklich (und folgenreich) betont: »Welches auch der Augenblick und die Umstände ihres Erscheinens auf der Stufe des animalischen Lebens gewesen sein mögen – die Sprache hat nur auf einen Schlag entstehen können. Die Dinge haben nicht allmählich beginnen können etwas zu bedeuten. Im Gefolge einer Transformation, deren Erforschung nicht Aufgabe der Sozialwissenschaften ist, sondern der Biologie und der Psychologie, hat sich ein Übergang von einem Stadium, in welchem nichts eine Bedeutung hatte, zu einem anderen vollzogen, in welchem alles Bedeutung trug.« LéviStrauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, S.38 Bhabha hebt mit Bezug auf Lévi-Strauss genau diesen Moment hervor: »In dieser plötzlichen Zeitlosigkeit des »alles auf einmal« gibt es keine Synchronie, sondern einen zeitlichen Bruch, keine Gleichzeitigkeit, sondern eine räumliche Unterbrechung.«Homi K. Bhabha: DissemiNation: Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation, in: Ders., Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen: Stauffenburg 2000, S.207–254, hier: S.237

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als Bindung und Trennung, als Öffnung und Schließung, Begegnung und Benennung. Das Abjekte ist gewissermaßen das Andere dieses Raums: da, wo der Einschnitt sich nicht vollziehen kann, wo die Grenzziehung nicht gelingt oder nicht angenommen, nicht empfangen werden kann, wird er selbst abjekt. Der Ausschluss (als Ausschließung seiner eigenen Unmöglichkeit) ist phantasmatisch. Man könnte ihn als Urphantasie bezeichnen: Die Binarität des Symbolischen schreibt sich in ihren eigenen Ursprung ein. Der Vatermord wäre dann die performative Dramatisierung dieser Szene, die sich als ihr eigener Ursprung ausgibt: Eine uranfängliche Tat, die die Universalisierung ihrer eigenen Syntax produziert. Diese Syntax, diese Struktur ist letztlich keine andere als die des Inzesttabus selbst. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn dieses Szenario auf die Frage nach der Bedeutung des Inzest hinausläuft. Also: »Geht es letztlich um den Inzest?« Kristevas Antwort ist eine sehr spezifische: Sie betont, dass es sich bei dem vermeintlichen Objekt des Inzest um nichts anderes als den an die Mutter/Kind-Dyade gebundenen primären Narzissmus handelt. Dieser Narzissmus entspräche allerdings in keiner Weise dem »paradiesischen Bilde«, das man sich von ihm mache, da er abhängig von den ersten unsicheren Grenzziehungen sei, der Katastrophe des Seins, der Entgrenzung, die jedes Subjekt der absoluten Gefährdung seines eigenen Ur-Sprungs aussetzt. Wenn der Inzest also bezogen ist auf den Zusammenhang von Autoerotismus und Narzissmus, also auf den eigentlichen Ort der Urverdrängung, an dem die Phantasie als Abwehrvorgang zu arbeiten beginnt, bevor sich die kulturellen Differenzen konstituieren können, dann ist er auf die Aufhebung der Urverdrängung selbst, aber auch auf die der sie prozessualisierenden Bindung aus. Der realisierte Inzest wäre folglich ein Akt radikaler Entbindung als gleichzeitige Defiguration der Phantasmen und Ausschließung der maternité: Genau in diesem Sinne kann er kein Objekt haben. Oder anders und notwendig paradox: Das Objekt des Inzest, wäre er möglich, ist das Abjekte, ein Zwischen als Ausschließung des Zwischen, eine Anwesenheit, die die einer radikalen Abwesenheit ist. Das Abjekte erscheint somit als die Wahrheit des Inzest, die Nicht-Gestalt dessen, was erscheint, wäre der Inzest möglich, das Tabu übertretbar. Genau in diesem Sinne, nämlich indem sich das Grauen der Entgrenzung in ihm ›artikuliert‹, kann das Abjekte die Schwäche des Inzesttabus, dem es sich verdankt, ›kompensieren‹. Es gibt der Bedrohung seine Nicht-Gestalt und der von ihm betroffenen Kultur die Möglichkeit, sich entlang dieser Ausschluss-Effekte, also entlang ihrer eigenen Instabilität zu konstituieren.

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Purity and danger Kristeva greift Mary Douglas’ mittlerweile klassische Studie über Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu9 auf, um diese Dimension des Abjekten in der kulturellen Ordnung, das doppelte Gesicht des Tabus als Setzung von Differenz und Abwehr einer fundamentalen Gefährdung, präziser fassen zu können. Douglas konzipiert die Bedeutung der Reinigungsriten im Durkheimschen Sinne (ich erinnere an die »ursprüngliche Vermengung«) als kulturelles Bestreben der ›Formlosigkeit‹ eine der sozialen Struktur entsprechende Form zu geben.10 Kristeva geht darüber hinaus: Sie sieht in den Reinigungsriten und Tabus eine unmittelbarere Form der Konfrontation mit der vorursprünglichen Heterogenität. Gerade die Trennung in rein und unrein – als archaische Konstitutierung einer binären Ordnung – versuche die Grenze in der Grenzenlosigkeit entlang der Effekte des Abjekten zu ziehen. Die Reinigungsriten, die die Instabilität der Grenze ausstellen und bewältigen sollen, bezeichnet Kristeva geradezu als eine »écriture du réel«,11 eine Schrift des Realen, der Materialität, diesseits des Symbolischen. Die Reinigungsriten resultieren aus einer strukturellen ›Schwäche des Inzesttabus‹, das nicht in der Lage ist, die für die virtuelle Prozessualität notwendige Reinheit der Phantasmen zu produzieren. Die Abjektion, die den Reinigungsriten zugrunde liegt, ist insofern so etwas wie eine rituelle Ordnung, die unmittelbar mit der Unmöglichkeit des Ausschlusses konfrontiert ist, in der die Phantasmen weniger mächtig, die kulturellen 9

Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung – Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, übers. v. Brigitte Luchesi, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 10 »Denn meiner Auffassung nach entspringt die Vorstellung einer rituellen Verunreinigung ebenfalls der Wechselwirkung zwischen Form und umgebender Formlosigkeit. Verunreinigungsgefahr droht dann, wenn die Form angegriffen wurde. Damit ergibt sich eine Triade von Kräften, die Glück und Unglück bestimmen: erstens die geformten Kräfte, die von den Repräsentanten der geformten Struktur ausgehen, die sie zum Nutzen dieser Struktur einsetzen; zweitens ungeformte Kräfte, die von Personen in Zwischenpositionen ausgehen, und drittens Kräfte, die nicht von Menschen ausgehen, sondern der Struktur innewohnen und die jede Formverletzung ahnden.« Douglas: Reinheit und Gefährdung, S.138 Interessanterweise muss Douglas diese Triade noch im gleichen Absatz einschränken, wenn sie als bedeutsame Ausnahmen die Gefährdung durch die kontrollierte Kraft der Zauberei und der durch das kulturelle Oberhaupt anführt. An diesen Ausnahmen entlang erweitert sie ihr Modell dann wiederum Durkheimianisch, indem sie sie der inneren Struktur der jeweiligen gesellschaftlichen Totalität zuschreibt. Das wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn Douglas den menschlichen Körper als Ort der Differenz heranzieht. 11 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.90

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Grenzziehungen aber unsicherer sind: Der Ausschluss muss ständig neu vollzogen, die Urverdrängung permanent ins Spiel und damit in Gefahr gebracht werden. Wenn Kristeva bspw. die Bedeutung des Restes im ›Brahmanismus‹ (Hinduismus) thematisiert, wird deutlich, in welcher Beziehung das Abjekte zur Urverdrängung steht, da der Rest, das Nichtintegrierbare, dort zugleich die Reinheit und die Unreinheit, Wiederbelebung und Zerstörung, also geradezu die Wiederholung der Urverdrängung als gewaltsame Aufspaltung des Begehrens bezeichnet.12 Reinheit und Unreinheit sind so direkt, man könnte sagen: nichtmetaphorisch, aufeinander bezogen und abhängig voneinander: Es ist geradezu die Funktion der Unreinheit, die Reinheit zu ermöglichen (oder ist es umgekehrt?). Der eigene Körper wird als potentieller Ort der Verunreinigung gereinigt und tabuisiert und zwar nicht, indem seine verunreinigenden Dimensionen auf die Angst vor der Mutter übertragen werden, sondern vielmehr indem diese Angst auf den eigenen Körper übertragen wird: der Körper wird abjektiviert, seine Einverleibung verunmöglicht. Der Körper wird so ständiger Schauplatz der Unterscheidung zwischen Reinheit und Unreinheit, die niemals zu einem Abschluss kommt, in ständiger Bewegung bleibt: es kann hier keine Reinheit ohne die Drohung der Unreinheit geben. Ce parallélisme suffit-il à suggérer que la souillure marque, en même temps qu’une tentative de juguler la matrilinéarité, une tentative de séparer l’être parlant de son corps propre, c’est-à-dire inassimilable, immangeable, abject? C’est à ce prix, seulement, que le corps est susceptible d’être défendu, protégé – est aussi, éventuellement, sublimé. La peur de la mère-procréatrice incontrôlable, me repousse du corps: je renonce au cannibalisme car l’abjection (de la mère) me conduit au respect du corps de l’autre, mon semblable, mon frère.13

Auf diesen Effekt stützen sich die Reinheits-Tabus. Diese können sich folglich auf einen fundamentalen körperlichen Vorgang stützen und sind

12 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.91f. 13 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.94 »Reicht dieser Parallelismus zur Unterstützung der These, daß die Verunreinigung nicht nur den Versuch kennzeichnet, die Matrilinearität einzudämmen, sondern gleichermaßen den Versuch beinhaltet, das sprechende Wesen von seinem Körper zu trennen, damit dieser in den Rang des eigenen (reinen), das heißt nicht einverleibbaren, nicht verzehrbaren, abjekten Körpers gelangt? Nur um diesen Preis ist der Körper imstande verteidigt, beschützt – und unter Umständen sublimiert zu werden. Die Angst vor der unkontrollierbaren Mutter-Erzeugerin stößt mich ab vom Körper: ich entsage dem Kannibalismus, da die Abjektion (der Mutter) mich zur Respektierung des Körpers des anderen, dem mir Ähnlichen, meinem Bruder führt.« (Rajewsky)

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so in der Lage, die Bedrohung durch das Abjekte – aus dem sie ihre Macht beziehen – in kulturelle Kanäle zu leiten. Diese ›Einbindung‹, ja Nutzbarmachung des Abjekten in der Abjektion, erfolgt ohne die Virtualität des Inzesttabus in Anspruch nehmen zu können. Der ›Kannibalismus‹ wird aufgegeben, indem das unmittelbare körperliche Empfinden der Undifferenziertheit die Errichtung einer Reinheitszone einfordert, die sich der Einverleibung widersetzt. Diese Reinheit ist die Kehrseite des Abjekten und zwar in einem radikal nichtmetaphorischen Sinn: Als Bewegung des Ausstoßens oder Ausspeiens ist die Abjektion eben das direkte Gegenüber des Phantasmas der Inkorporation. Die Abjektion als Ekel setzt sich dem Begehren nach Einverleibung entgegen und ermöglicht zwei Bereiche voneinander abzugrenzen, um zu verhindern, dass die schwankende Balance zwischen Reinheit und Unreinheit, Homogenität und Heterogenität, Männlichkeit und Weiblichkeit gefährdet wird und sich der Unrat in die homogene Welt der Symbolischen Ordnung ergießt und sie mit sich fortreißt. Die Abjektion ist die nichtmetaphorische Reaktion des Körpers darauf, dass er selbst Abjekt ist: seine unmittelbare Artikulation, die (nichtsprachliche) Sprache einer abjekten Kulturalität.

Das Sublime Kristeva geht aber über das Studium der Reinigungsriten in traditionalen Gesellschaften hinaus. Sie versucht ein kulturelles Phänomen zu beschreiben, das dem Abjekten geradezu entgegengesetzt zu sein scheint: das Erhabene. Es handelt sich – das stellt sie ausdrücklich fest – bei Abjektem und Erhabenem nicht um denselben Moment, aber um die gleiche Bewegung. Beide bewegen sich auf demselben ›parcours‹, das Erhabene sei somit die doublure, also der Untergrund oder Doppelgänger des Abjekten. Car le sublime, lui non plus, n’a pas d’objet. Quand le ciel étoile, tel large marin ou tel vitrail de rayons violets me fascinent, c’est un faisceau de sens, de couleurs, de mots, de caresses, ce sont des frôlements, des odeurs, des soupirs, des cadences qui surgissent, m’enveloppent, m’enlèvent et me balaient au- delà des choses que je vois, j’entends ou je pense. L’»objet« sublime se dissout dans les transports d’une mémoire sans fond. C’est elle qui, de station en station, de souvenir en souvenir, d’amour en amour, transfère cet objet au point lumineux de l’éblouissement où je me perds pour être.14

14 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.19

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Diese Bewegung der Sublimierung oder des Erhabenen korrespondiert überdeutlich mit der, die ich maternité genannt habe, und es scheint einiges dafür zu sprechen, sie analog zu lesen. Beide erscheinen als Entlassung aus der Umschlingung des mütterlichen Körpers (als Undifferenziertheit und als Phantasma), allein, das Vermögen der maternité, die unsinnliche Ähnlichkeit als Entstellung des Nahen und Bekannten durch Anverwandlung, die sich der Fremdheit des ›Altvertrauten‹ öffnet, weist in eine etwas andere Richtung als die erhebende Entgrenzung des Sublimen: Es ist nur eine winzige Differenz im Zusammenklang der Metaphern, des sprachlichen Gestus und doch – so scheint es mir – ist es eine Differenz ums Ganze. Das Erhabene ist, wie Kristeva schreibt, »un en plus qui nous enfle, qui nous excède et nous fait être à la fois ici, jetés, et là, autres et éclatants«15. Dieses zugleich ›hier‹ und ›da‹ als Zusätzliches, das uns zugleich geworfen, ausgestoßen und strahlend erscheinen lässt, unterscheidet sich von dem aus der Erlebniswelt des Kindes stammenden »Beisatz dieser Luft« der Höfe, von der sich das ›Ich‹ in Benjamins Berliner Kindheit noch in den »Weinbergen Capris« umgeben fühlt. Der strahlende Glanz des Erhabenen beruht auf der Befreiung aus den Bindungen sowohl des Tabus als auch der vorursprünglichen Verwiesenheit. Es ist gewissermaßen die Antithese des Ausschlusses, sein Gegenüber, seine Verdopplung. Es ist Grenzenlosigkeit und zwar in dem Sinne, dass es der Grenze entgegengesetzt, ihre Kehrseite ist. Es gibt der Unmöglichkeit nicht statt, sondern erweitert den Ausschluss ins Unermessliche, erschafft eine grenzenlose Welt der Grenze. Insofern könnte man sagen, dass das Erhabene sich gerade in seiner ›Ungebundenheit‹ ereignet. Es gehört nicht der Ebene des Phantasmas an und wird sich niemals einverleiben lassen: es suggeriert eine Welt, deren Reinheit grenzenlos geworden ist, die von keiner Unreinheit mehr heimgesucht wird – auch das eine blank space. Benjamins Mimetisches Vermögen wäre demgegenüber aber genau die Entstellung dieser Reinheit und zwar als ›Stellen‹ in die Gebundenheit. Mimetisches Vermögen als Entstellung der Phan-

»Denn auch das Erhabene hat kein Objekt. Wenn der Sternenhimmel, das weite Meer oder dieses violett strahlende Glasfenster mich faszinieren, ist das ein Bündel von Empfindungen, von Farben, Worten, Liebkosungen, es sind Seufzer, Anrührungen, Rhythmen, die aufsteigen, mich einhüllen, mich erheben und über die Dinge, die ich sehe, höre oder denke, hinaustragen. Das erhabene (sublime) »Objekt« löst sich in den Transporten eines abgründigen Gedächtnisses auf. Von Station zu Station, von Erinnerung zu Erinnerung, von Liebe zu Liebe führt es dieses Objekt zu dem blendenden Lichtpunkt, in dem ich mich verliere um zu sein.« (Rajewsky) 15 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S.19 »[…] ein Zusätzliches, das uns erweitert, uns übersteigt und uns zugleich hier – ausgestoßen – und dort – anders und strahlend – existieren läßt« (Rajewsky)

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tasmen ist auf eine Ähnlichkeit aus, die sich vor jedem Ausschluss ereignet: in der unauflösbaren vorursprünglichen Aufeinanderverwiesenheit der Menschen und ›Dinge‹. In diesem Sinne verstehe ich jedenfalls jene berühmte Passage über »das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen, den Tänzen«, mit der Benjamins Aufsatz Über das mimetische Vermögen schließt.16 Und doch scheinen sich hier das Mimetische und das Abjekte in ihrer Nichtsprachlichkeit zu berühren. Diese Nichtsprachlichkeit ist wohl die Fremdheit, die allen Sprachen und den mit ihnen einhergehenden kulturellen Phantasmen zugrunde liegt und von letzteren verschlossen und stillgelegt werden soll. Maternité als Gabe ist dann das, was sich anstelle der Verdopplung von Erhabenem und Abjektem ereignen könnte: eine unbedingte Annahme dieser unhintergehbaren Fremdheit. Und der parcours, die Bewegung, der das Abjekte und das Erhabene angehören, die Bewegung ihrer Abwehr.17

Das metaphorische Objekt Kristevas Versuch der (De-)Konzeptualisierung des Abjekten entwirft eine Welt, die auf der Katastrophe und der Gewalt beruht. Dieses dunkle Universum resultiert aus der Unmöglichkeit der Reinheit einer von der väterlichen Instanz errichteten Ordnung von dem, was Kristeva als ›das Weibliche‹ bezeichnet: die Mutter muss immer wieder erneut getötet, die von ihr ausgehende Gefahr des Heterogenen, der Entdifferenzierung ausgeschlossen werden: diese Welt steht im Schatten des Muttermords18, der 16 Benjamin: Über das mimetische Vermögen, S.99 Bei Kristeva klingt das an, wenn sie bspw. das Erhabene als genau die ›Faszination‹ beschreibt, mit der sie auch die angebliche Nichtbeachtung der Rhetorizität von Sprache bei Freud erklärt: Die ›Faszination‹, die vom Erhabenen ausgeht, wiederholt gerade den Moment der Entbindung, den Ausschluss selbst. »[…] tel vitrail de rayons violets me fascinent«, heißt es zum Erhabenen und im Abschnitt über das Präverbale: »le remaniement rhétorique du langage qu’il opére et sur lequel Freud, qui se dit attentif et fasciné, ne s’attarde jamais […]«. 17 Das Erhabene ist aber nicht nur der maternité, sondern als Wiederholung der narzisstischen Entgrenzung auch der Souveränität, des Phantasmas der Einschließung dieses Ausgeschlossenen, benachbart. Ich bin mir allerdings unsicher, ob die Souveränität – auf welchen Wegen auch immer – am Glanz des Sublimen partizipieren kann. Das Erhabene widersetzt sich als Ausgestoßensein (jeté) der Einverleibung, verunmöglicht die Unterwerfung der Ununterscheidbarkeit als inzestuösem Objekt. Vielleicht ist es aber dennoch gerade das Erhabene, das die Entgrenzungseffekte der Souveränität mit seinem Glanz ausstattet (Kurtz’ Glanz, der Glanz seines Namens, seiner Wörter kommt sicherlich von daher). 18 »Nach Kristeva dagegen erschüttert die Bewegung der Aufhebung der Verwerfung jede männlich-paternale Ordnung in ihrem Kern und setzt sie der verdrängten Erfahrung der ›autorité maternelle‹ aus. Das doppelte Register der

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sich paradoxerweise als Vatermord auszugeben scheint. Die nichtsymbolische Tat, die allem vorausgeht, bezieht sich auf diese Instabilität des Nichtkulturellen, des Körpers, der Katastrophe des Seins. Dieser Überbordung der Kultur gibt Kristeva den Namen des Abjekten, als nichtsprachlicher ›Sprache‹ des Körpers, als andauernde Anwesenheit der Unmöglichkeit des Ausschlusses. Was in der Welt des Abjekten jedoch keinen Platz hat, ist der Möglichkeitsraum der Virtualität. Virtualität ist wahrscheinlich das, was in der ganzen textuellen Bewegung von Pouvoirs de l’horreur als Denken des Ausschlusses ausgeschlossen bleibt. Um bei Kristeva auf eine Bewegung zu treffen, die der Unmöglichkeit des Ausschlusses stattgibt (man muss das im Zusammenhang der Virtualität womöglich ganz wörtlich verstehen: als geben eines Ortes, einer Stätte und als Bewegung die sich anstatt, anstelle des Gebens vollzieht), muss man die dunkle Welt der Pouvoirs de l’horreur verlassen und sich – etwas überraschend – erneut dem ›Vater‹, einem anderen Vater, zuwenden. Im Kapitel Freud und die Liebe ihres Buches Histoires d’amour, in das sie auch Stabat Mater aufgenommen hat, findet sich so etwas wie ein Übergang, eine Passage, die als Alternative zum Mord des Einschnitts auftritt.19 Dort versucht Kristeva die »leuchtende Verräumlichung« ihres Bellini Aufsatzes – so könnte man sagen – in eine fließende Dreieckskonstellation zu überführen: der Mutter, dem primären Narzissmus des Kindes und dem Vater der persönlichen Vorzeit (einem unausgearbeiteten Begriff Freuds, dem sie seine Bedeutung zurückerstatten möchte). Es handelt sich hierbei nicht um ein ödipales Dreieck, vielmehr scheint sich noch innerhalb des mütterlichen Raums ein Hinübergleiten in die Welt der Zeichen und der Ordnung zu ereignen, ein von Liebe durchdrungenes allmähliches Aufbrechen. Wobei den Vater der persönlichen Vorzeit auszeichnet, dass er sich im und durch das Begehren der Mutter konstituiert. Die ›Liebesfähigkeit‹ der Mutter – so jedenfalls Kristeva – ist aber an das Erscheinen dieses Dritten gebunden, ohne ihn drohte die abjekte Entdifferenzierung. In diesem idealisierten Vater der persönlichen Vorzeit, einem ›Übergangsvater‹ (im Sinne von Winnicotts Übergangsobjekt) sozusagen, sieht Kristeva die Möglichkeit eines Bezugs auf die Schwelle jenseits des Mords: die Liebe selbst, vielleicht die Abjektion als notwendigem Muttermord und zugleich ›jouissance‹ des Selbstverlusts macht ihre fundamentale Ambiguität aus [...]« Winfried Menninghaus: Ekel – Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S.532 Und weiter unten schreibt Menninghaus: »Kristeva entthront Freuds archaisch perversen (Verführer-)Vater – der mit Lacan zur ›fonction paternelle‹ des Verbots, des Gesetzes und des Zeichens normalisiert wird – durch die abjekte Mutter als die zentrale Referenz perverser Obsessionen und psychotischen Identitätsverlusts.« Menninghaus: Ekel, S.534 19 Julia Kristeva: Freud und die Liebe: Das Unbehagen in der Kur, in: Dies., Geschichten von der Liebe, S.26–60

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Gabe. Dieser Vater stellte somit die Möglichkeit einer Überführung der Durchlässigkeit in das Symbolische dar und aus ihm leitet Kristeva ein (Übergangs-)Objekt ab, das sie dem lacanianischen – dem ödipalen Begehren entstammende und dessen Bezug auf den Mangel bezeichnende – objet a gegenüberstellt. Metonymisches Objekt des Begehrens. Metaphorisches Objekt der Liebe. Ersteres steuert die phantasmatische Erzählung. Letzteres besorgt die Kristallisation des Phantasmas und bestimmt den poetischen Charakter des Diskurses der Liebe...20

Dieses metaphorische Objekt taucht im Erscheinen der Sprache auf und ermöglicht den Austritt aus der Ungeteiltheit. Dass es nicht der Erzählung des Phantasmas selbst angehört, sondern dessen Kristallisation bewirkt, verweist darauf, dass es eine Übersetzungsbewegung ist, die Kristeva in der Metaphorizität dieses Objekts lokalisieren zu können meint. Es ist diese Metaphorizität, die über die abjekte Bedrohung hinaus führt. Das idealisierte Liebesobjekt, dem das Kind in diesem Begehren der Mutter begegnet, ist für das Kind dann so etwas wie die Begegnung mit einer Bindung, die über die unmittelbare Verwiesenheit hinausweist ohne sie zu verwerfen. Insofern ist der Vater der persönlichen Vorzeit in Kristevas Szenario des Einschnitts genau die Figur, die die Abjektion der Verwiesenheit verhindert. Ohne diese Ablenkung der Mutter durch einen Dritten bedeutet der enge Kontakt zur Mutter für das Kind jedoch eine Abjektion oder ein Verschlingen; seine Zukunft trägt das Brandmahl des Schizos, Phobikers oder BorderlinePatienten, und als letzte Zuflucht bleibt ihm der Haß.21

Die Drohung der Umschlingung, der Entdifferenzierung, spielt sich auf einer inzestuösen, also der Ebene ab, an der die virtuelle Bindung der Phantasmen ausgesetzt ist. Das Erscheinen des Dritten ermöglicht das Aufbrechen dieser unmittelbaren Verwiesenheit, ohne das Tabu direkt in Anspruch nehmen zu müssen. Diese Liebe ist für das Kind nur erfahrbar, wenn sie auf das Objekt der Idealisierung, den Dritten, den, der außerhalb der inzestuösen oder abjekten Ununterscheidbarkeit steht: eben den Vater, projiziert wird. Es ist aber, daran möchte ich erinnern, nicht mehr der Winnicottsche Raum einer bedingungslosen Potentialität, in der diese Bindung sich herstellt, sondern ein Aufschauen, die Kenntnisnahme eines Begehrens, das über den mütterlichen Körper hinausweist. Vielleicht 20 Kristeva: Freud und die Liebe, S.35 21 Kristeva: Freud und die Liebe, S.39

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kann es dieses Aufschauen sein, was den nichttraumatischen Eintritt in die Kultur, den Übergang zwischen vorursprünglicher Verwiesenheit und sozialer Ökonomie ermöglicht: Als Stattgabe einer anderen, wenn auch an das Phantasma gebundenen Prozessualität jenseits des Tabus und jenseits des Inzest, die sich in den Idealisierungen der Liebe ereignet. Der ›Vater der persönlichen Vorzeit‹ erschiene dann als das Auftauchen eines anderen Phantasmas, das Phantasma eines anderen, das durch die Liebe der Mutter immer schon gebunden, prozessualisiert ist.22 In der Metaphorizität des Objekts vollzieht sich die unmögliche Bewegung der Gabe auf der Ebene des Phantasmas: quasi zwischen der Virtualität des Tabus und der Unmöglichkeit. Der Vater der persönlichen Vorzeit figuriert geradezu diese Dimension der Phantasie, des Ideals als virtueller Potenz. Der Ort der Mutter, auf den das Begehren des Kindes gerichtet ist, wäre dann Ort des Begehrens eines Anderen und somit möglicher Ausgangspunkt einer nicht-ödipalen Ökonomie, die sich nicht auf die Aneignung eines phantasmatischen Objekts, sondern auf die uneinschließbare Metaphorizität in der Produktion des Phantasmas bezieht. Das wäre dann genau die Bewegung, der Abraham/Torok die radikale Antimetapher der Einverleibung entgegengesetzt haben. Interessant ist jedenfalls, dass hier gerade der ›Vater‹ die Metaphorizität ermöglicht, auch wenn ihr Ort das Begehren der Mutter ist. Wie verhält es sich dann aber mit dem Phantasma der Ausschließung, dem Vater(/Mutter)-Mord? Kristeva selbst bezieht sich in Pouvoirs de l’horreur auf Freuds Totem und Tabu. Der vierte und letzte Teil dieses für Freud grundlegenden Textes gilt gemeinhin als ›klassische‹ Variante eines Ursprungsmythos, der die ›väterliche Instanz‹ ins Zentrum jeder kulturellen Institution stellt.

22 Vielleicht handelt es sich hier aber auch um einen Trick, der die Möglichkeit der Prozessualität an den Vater als Repräsentanten der Ordnung, der Ökonomie bindet. Gerade in der Dreickskonstellation, die die gegenseitige Verwiesenheit von Mutter und Kind aufbrechen soll, verbirgt sich eine Dichotomie, die vom Konzept der Gabe radikal in Frage gestellt wird. Ein wirkliches Drittes, etwas, das zu den Beziehungen zwischen Mutter und Kind hinzutritt und sie erweitert, ist sicherlich etwas anderes als die Idealisierung einer Vaterfigur. Und: Ist Liebe wirklich notwendig an die Idealisierung gebunden? Ist sie nicht vielmehr die Bindung der Idealisierungen, der Phantasmen selbst. Ereignet sie sich nicht gerade erst dann, wenn sie bedingungslos, reines Mittel ist, keine Anwesenheit verspricht und mit keiner Abwesenheit droht? Also zugleich notwendig, um leben zu können und immer unmöglich? Wahrscheinlich ist es aber so, dass die Rekonstruktion des Vaters der persönlichen Vorzeit als metaphorischem Objekt genau diese Unmöglichkeiten, die, so könnte man mit Kristeva sagen, eben in die Kristallisation des Phantasmas eingehen, innerhalb der Ökonomie des Begehrens hält.

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Der Urvater Freuds Erzählung beginnt mit einer Fiktion: Freud gibt unumwunden zu, dass die Annahme einer Urhorde, wie er sie bei Darwin findet, sich auf keinerlei Zeugnisse menschlichen Zusammenlebens stützen kann. Erstaunlicherweise bezeichnet er sie als »Urzustand der Gesellschaft«23, obwohl dieser Zustand genau genommen durch die Abwesenheit von Gesellschaftlichkeit gekennzeichnet ist. Urzustand ist so eher als Bezeichnung eines Jenseits der Gesellschaft zu verstehen, da die absolute Gewalt des Vaters die Ausbildung einer Ordnung des Vaters verhindert. Tatsächlich kann noch nicht einmal von einem Vater gesprochen werden, da im Falle der Herrschaft des stärksten Männchens der ›Vater‹ nicht immer diese Rolle einnimmt. Auch »die Tat«, das Erschlagen dieses ›Vaters‹ und das sich sodann einstellende Gefühl der brüderlichen Allmacht im kannibalistischen und inzestuösen Totemfest, in dem sich jeder als allmächtiger Urvater fühlen darf, suggeriert ein Jenseits, das nur als nachträgliche Fiktion, als Phantasma, innerhalb der neu gegründeten Ordnung in Erscheinung treten kann. Erst der Brüderbund, der Verzicht auf die Allmacht, die Errichtung der beiden universalen Tabus des Mordes und des Inzest stiftet eine gesellschaftliche Ordnung, die allerdings auf die Autorität des ermordeten Vater bezogen ist: eines Vaters jedoch, der, immer schon tot, immer abwesend, zu einer Macht aufsteigt, die ein Urvater realiter nie gehabt haben kann. Diese Konstellation verdoppelt die Figur des Vaters: Das Tabu des Vatermords verweist wie das Inzesttabu auf ein Phantasma – den Urvater –, dessen Allmacht von der Gesellschaft ausgeschlossen bleibt und auf das sich die gesellschaftlichen Institutionen dennoch stützen. Diese Verdopplung ermöglicht eine spezifisch patriarchale Ökonomie: Das Urvater-Phantasma wird ständig aufgerufen, um die väterliche Autorität, die Hierarchie der Geschlechter, zu installieren, das Tabu des Vatermords bewirkt aber – entgegen dem Anschein – gerade den Ausschluss der urväterlichen Allmacht. Während das Inzesttabu sich also auf so etwas wie das Objekt des (gesellschaftlichen) Begehrens bezieht, bezieht sich das Tabu des (Vater-)Mords auf dessen Subjekt: Beide schaffen einen virtuellen Raum, der ein Gefüge des Begehrens (agencement du désir, Deleuze24) konstituiert, das die Prozessualität ermöglicht und gleichzeitig das

23 Sigmund Freud: Totem und Tabu – Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und Neurotiker, in: Ders., Gesammelte Werke Band IX, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S.171 24 Gilles Deleuze: Lust und Begehren, übers. v. Henning Schmidgen, Berlin: Merve 1996, S.19

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Begehren daran zu hindern sucht, über seine Bahnen hinauszuschießen, seine Ökonomie zu überborden (als Reterritorialisierung seiner – wie Deleuze sagen würde – Deterritorialisierungsspitzen).25 So scheint sich die Paradoxie des Vatermords aufzulösen: Es wird nun deutlich, dass der Mord wie der Inzest als antimetaphorische Bewegungen einander entsprechen: Während sich der Inzest auf die Aneignung des begehrten Objekts bezieht, will der Mord sich die Macht desjenigen aneignen, der es bereits zu besitzen scheint. Der Urvater wäre insofern das virtuelle Subjekt der inzestuösen Entgrenzung – der phantasmatische Ort der Souveränität. In der Erzählung vom Urvatermord tritt Mutterschaft, treten Frauen überhaupt, ganz folgerichtig nur als Objekte, als Beute in Erscheinung, die Ordnung selbst scheint von den Effekten des ›Weiblichen‹ völlig gereinigt. Julia Kristeva hat jedoch darauf hingewiesen, dass zwischen den ersten Teilen von Totem und Tabu – Die Inzestscheu und Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen – und dem letzten Abschnitt ein eigentümliches Missverhältnis besteht. Während sich Freud zu Beginn mit der Abwehr des Mutterinzest sowie den vor allem die ›Unreinheit‹ der Frau – Menstruation und Mutterschaft – betreffenden Reinigungsriten – also den Effekten des Abjekten, des ›Muttermords‹ – beschäftigt, treten all diese Motive im letzten Teil zurück. Die Geschichte vom Urvatermord supplementiert sie alle, saugt sie förmlich auf, indem sie vorgibt, ihr Rätsel in der Linearität einer uranfänglichen männlichen Tat aufzulösen. Zwischen diesen ersten Teilen und dem letzten steht jedoch das Kapitel über Animismus, Magie und die Allmacht der Gedanken, das als kulturhistorische Verortung des Narzissmus auftritt. Der Urvater und dessen Ermordung durch seine Söhne nehmen also genau den Ort der Rückwendung als Spaltung des Begehrens in der Immanenz des Autoerotismus ein – als Urphantasie. In der linearen Erzählung vom Urvatermord wird die Souveränität als Ausschluss der maternité, als Verwerfung des Abjekten, gleichsam in Szene gesetzt, im Brüderbund aber wiederum ausgeschlossen. In diesem doppelten Ausschluss wird der Urvater zu einer rückgewendeten patriarchalen Projektion der Brüder, einer Urphantasie, die die gleichzeitige Inanspruchnahme und Ausschließung der Souveränität im Brüderbund in den Ursprung einschreibt. Und genau das ist es, was Freud in Totem und Tabu zeigen kann: die gleichzeitige Anrufung und Abwehr der Souveränität als diejenige Verdopplung, die das

25 Deleuze: Lust und Begehren, S.25 Wobei sich dahinter dann – träfen meine Überlegungen zu – die Paradoxie verbergen würde, dass das Inzesttabu ein Gefüge des Begehrens konstituierte, dessen Deterritorialisierungsspitzen auf so etwas wie eine totale Reterritorialisierung aus wären, das Tabu selbst also gleichzeitig diese Reterritorialisierung verhindert und entfesselt.

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Tabu des Vatermords konstituiert (auch wenn das wohl keine hinreichende Deutung jener Phänomene ist, die Freud meint unter der Bezeichnung Totemismus zusammenfassen und mit der Konstruktion des Urvatermords erklären zu können26) In dieser doppelten Konstruktion des Ausschlusses als Produzent eines Versprechens (der Allmacht) und einer Bedrohung (der Entdifferenzierung) liegt die eigentliche Ambivalenz des Heiligen als Projektionsfläche der phantasmatischen Versprechungen des Sozialen. Insofern hat Agamben natürlich recht, wenn er diese Ambivalenz als einen »wissenschaftlichen Mythos«27 bezeichnet, denn sie bezeichnet gerade das Mythische im Mythos, seinen blinden Fleck: seine Virtualität, die überhaupt erst den Raum seiner Erzählungen schafft. Allerdings: Der Zeitpunkt seines Übertritts in den wissenschaftlichen Diskurs ist auch der seines Endes. Was Agamben mit der Figur des Homo Sacer und des Souveräns beschreibt, ist der allmähliche und schon seit langem stattfindende ›Prozess‹ der Aussetzung dieser Virtualität, der Überschreitung des Tabus in der Antimetaphorizität des Politischen. Freud hält dagegen in Totem und Tabu gerade an der Metaphorizität fest. Er vertraut in seiner Theorie der Kultur ausgesprochen literarischen Praktiken, die es ihm ermöglichen die Antimetaphorizität des Phantasmas zu rekonstruieren. In Totem und Tabu erzählt er die Entstehung von Kultur, was ihm die Möglichkeit bietet, die sinnstiftenden und ökonomischen Momente zu wiederholen – denn sie bezeichnen ja das, was sich als Entstehung von Kultur ausgibt –, ohne sich ihnen zu unterwerfen und die Theorie – den Text – zu einer erneuten Mythologie des Ursprungs

26 Siehe: Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, übers. v. Hans Naumann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965 Lévi-Strauss hat sicher recht, wenn er sich in diesem Text, der den Totemismus als eine Konstruktion der Ethnologen entlarvt, die nichts zu erklären vermag (insofern verläuft seine Argumentation hier analog zu der seiner Kritik an Mauss), gegen die Universalisierung des Begehrens als Ursprung der Institutionen wendet. Indem er aber versucht, die hier beschriebenen Phänomene gegen Freud und gegen Durkheim von den Affekten und dem Begehren gänzlich abzukoppeln, unterliegt er einer anderen Versuchung: nämlich der der Universalisierung der spezifischen Ökonomie des Tabus und der Unterschlagung der Wirkungsmacht seiner »Deterritorialisierungsspitzen«: des Inzest und der Souveränität. »In Wahrheit erklären die Pulsionen und Emotionen nichts; immer ergeben sie sich: entweder aus der Kraft des Körpers oder aus der Ohnmacht des Geistes. Sie sind in beiden Fällen Folgeerscheinungen, sie sind niemals Ursachen. Diese können nur im Organismus gesucht werden, wie die Biologie allein es tun kann, oder im Intellekt, und dies ist der einzige Weg, der der Psychologie und Ethnologie offen steht.« Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus, S.94 Ein schönes Zitat, das exemplarisch die Stärken und Grenzen des strukturalistischen Denkens deutlich macht. 27 Agamben: Homo Sacer, S.85

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werden zu lassen, da seine Virtualität lesbar bleibt.28 D.h., diese Erzählung ist insofern nicht fiktiv als sie die Mechanismen der Herstellung der Fiktion, der Phantasmen offen legt. Sie ist also eine lineare Erzählung darüber, wie die Linearität einer Ursprungs-Erzählung sich herstellt: Als Ausschließung, als Mord an etwas, das sich an die Stelle jener Bewegung gesetzt hat, die sich jedem Mord, jedem Ausschluss entzieht. Und Freud ist dazu in der Lage, gerade weil er sich in diesem Text »verhält [...] wie der Kranke, statt ihn zu interpretieren«.29

Mann Moses Der Mann Moses und die monotheistische Religion, dessen erste Fassung Freud als Historischen Roman bezeichnete, ist in gewissem Sinne das Gegenüber dieser linearen Erzählung, auch wenn er die Struktur der phantasmagorischen Verdopplung zu wiederholen scheint.30 Freud scheint hier lediglich die Chronologie umzukehren. Moses und sein Gott werden gespalten und tatsächlich zu zwei verschiedenen Personen/Göttern. Während der zweite, lokale Gott – Jahve – jedoch viele Merkmale des ›Vaters‹ des Urzustands in Totem und Tabu aufweist, erscheint der erste ›universale‹ monotheistische und ›ägyptische‹ – Aton – als das aus dem Verzicht des Brüderbundes hervorgehende Phantasma. Diese Lesart der Konstellation im Mann Moses funktioniert aber nur vordergründig. Die Figur des fremden Gottes verweist auf etwas, was dem Phantasma geradezu entgegengesetzt ist. Die Universalität Atons besteht gerade in seiner Fremdheit, also in dem, was sich der Aneignung durch den Lokalgott immer entziehen wird und eben deshalb ständig unterworfen werden muss. Aton ist somit derjenige, der immer schon ermordet, immer schon verraten wurde, dessen Tod aber unmöglich ist. Der Widerstreit zwischen ihm und Jahve als lokaler Verkörperung der Allmacht, als mythischer Gott und Urvater, inszeniert die Unmöglichkeit des Ausschlusses im Text. Aus diesem Widerstreit, der in der Niederlage des Lokalgottes endet – und, wie Freud schreibt, zu einem »Fortschritt in der Geistigkeit« führt31 –, entwickelt der Text die Geschichte Israels und 28 Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, weshalb es ihm gelingt, dem Dilemma von Kulturtheorie – nur die funktionalen und sinnstiftenden Aspekte von Kultur wahrzunehmen – zu entgehen. 29 Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S.657 30 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion – Drei Abhandlungen, in: Ders., Gesammelte Werke Band XVI, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 101–248 31 »Durch das mosaische Verbot wurde Gott auf eine höhere Stufe der Geistigkeit gehoben, der Weg eröffnet für weitere Abänderungen der Gottesvorstellung, von denen noch zu berichten ist. Aber zunächst darf uns eine andere

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des Monotheismus. Moses ist derjenige, der sich im Namen des fremden Gottes gegen jedwede Präsenz, jede direkte Beziehung des Menschen zu Gott stellt. Der Mord an Moses wäre dann auf doppelte Weise auf die Antimetaphorizität verwiesen: als Mord, also als antimetaphorische Tat an dem Verkünder eines antimetaphorischen Gottes. Die polytheistische Ritualität zeigt sich der Last dieser Tat, dieser traumatischen Erfahrung, nicht gewachsen, sie wird von nun an von einer Krypta, einem nichtprozessualisierbaren Rest heimgesucht: Aton wird zur Unterbrechung der metaphorischen Bewegung, ›Name‹ der Unmöglichkeit der Bindung. Der ›Sieg‹ Atons, also die in der Latenz hervortretende Macht der traumatischen Erfahrung, schreibt die Dimension der Fremdheit in die auf sie bezogenen kulturellen Texte ein, die in eine grundsätzliche Distanz zur Bewegung der Metaphorizität geraten. Der Name dieser Distanz, dieser uneinholbaren Unterbrechung ist in Freuds Text Aton. Die Unterwerfung unter das – tote – Gesetz dieses fremden heimatlosen Gottes, dessen Erinnerung Freud nur in der unmöglichen Rekonstruktion eines Mordes bewahren kann, ist vielleicht wirklich das spezifisch Jüdische am Text Freuds: Der Name dieses Gottes darf nicht ausgesprochen, es darf sich kein Bild von ihm gemacht werden. Das Bilder- und Wortverbot hätte somit eine doppelte Funktion: Es ist zugleich Effekt der Bildlosigkeit, der Nichtdarstellbarkeit der traumatischen Erfahrung und Verbot, sich diese Bild- und Wortlosigkeit im Bild oder Wort anzueignen: sie ist nur bezeugbar. Die Schrift, das Andenken, legen Zeugnis ab von diesem Rest, ohne seiner je habhaft werden oder ihn prozessualisieren zu können.32

Wirkung desselben beschäftigen. Alle solchen Fortschritte in der Geistigkeit haben den Erfolg, das Selbstgefühl der Person zu steigern, sie stolz zu machen, so daß sie sich anderen überlegen fühlt, die im Banne der Sinnlichkeit verblieben sind. Wir wissen, daß Moses den Juden das Hochgefühl vermittelt hatte, ein auserwähltes Volk zu sein; durch die Entmaterialisierung Gottes kam ein neues, wertvolles Stück zu dem geheimen Schatz des Volkes hinzu. Die Juden behielten die Richtung auf geistige Interessen bei, das politische Unglück der Nation lehrte sie, den einzigen Besitz, der ihnen geblieben war, ihr Schrifttum, seinem Werte nach einzuschätzen. Unmittelbar nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch Titus erbat sich Rabbi Jochanan ben Sakkai die Erlaubnis, die erste Thoraschule in Jabne zu eröffnen. Fortan war es die Heilige Schrift und die geistige Bemühung um sie, die das versprengte Volk zusammenhielt.« Freud: Mann Moses, S.222f. 32 »[…] Zeugnis ablegen bedeutet, in der eigenen Sprache die Position desjenigen einzunehmen, der sie verloren hat, sich in einer lebenden Sprache anzusiedeln, als sei sie tot, oder in einer toten Sprache als sei sie lebendig – jedenfalls außerhalb sowohl des Archivs als auch des corpus des schon Gesagten.« Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt – Das Archiv und der Zeuge, übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S.141 Hier, »an ungewöhnlicher Stelle«, wie Tobias Hinrichs in einem Text schreibt, dem meine Argumentation in diesem Punkt einiges verdankt, »verbinden sich Abraham/Toroks Begriff der Krypta mit der Gabe Derridas«. Tobias Hinrichs:

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»Jeder Gott, selbst der des Wortes, beruht auf einer mütterlichen Göttin«33, schreibt Kristeva. Er tut es vielleicht auf eine etwas andere Weise als Kristeva nahe legt: inmitten der kulturellen Prozesse wandert die Wort- und Ortlosigkeit eines nie in ihnen aufgehenden Rests. Trauma, Gabe, Abjekt: etwas, das immer anwesend ist und immer ausgeschlossen bleibt; Nichtsprachlichkeit, die der Sprache abgelauscht werden kann: Mummerehlen oder Aton. Das Aussprechen des Namens, seine Aneignung, ist verboten: Nur so ist die ›Sakralisierung‹ dieses ›Außen‹, die Ermöglichung der Prozessualität dieser Aporien in der kulturellen Ordnung zu gewährleisten. Denn eines darf nicht ans Tageslicht treten: Der Gott, der sich an die Stelle dieser Fremdheit gesetzt hat, Jahve, das weist Freud letztlich nach und darin liegt seine unglaubliche Blasphemie, ist nichts anderes und kann nichts anderes sein als Fausse-monnaie, Falschgeld. Mit der Einführung des Mutterkults kann sich das Christentum diese Verbote sparen, denn die Bewegung, die dem Einen Gott angehörte, wird von nun an den phantasmatischen Verdopplungen, vor allem dem mütterlichen Phantasma aufgebürdet.34 Die »zweipolige Struktur des GlauWerden und Gedächtnis. Lektüren gespenstischer Erinnerung (Arbeitstitel, bisher unveröffentlichtes Manuskript) Freuds sogenannter »Lamarckismus«, also sein unbeirrbares Festhalten an der Annahme, historische Erfahrungen seien biologisch vererbbar, erscheint in der von Deleuze/Guattari angeregten Lektüre des freudschen Textes von Hinrichs als eben die Spur dieses in keine ödipale Prozessualität überführbaren Restes. Zur Debatte um den ›Lamarckismus‹ Freuds, in dem es tatsächlich immer um Traditionsbildung und Identitätspolitik geht, siehe vor allem: Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses – Endliches und unendliches Judentum, übers. v. Wolfgang Heuß, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, der Freud gewissermaßen in eine bestimmte jüdische Tradition einzugemeinden versucht und deshalb die Spur des sich dieser Einverleibung widersetzenden Fremdkörpers des Lamarckismus als Widerstand empfindet und dezidiert kritisiert und Richard J. Bernstein: Freud und das Vermächtnis des Moses, übers. v. Dirk Westerkamp, Berlin/Wien: Philo 2003, der – als Vertreter eines ›liberalen, psychoanalytisch geschulten Traditionalismus‹ – nicht nur den Fremdkörper der Vererbungslehre rundweg leugnet, sondern gleich die Fremdheit Moses’, also Freuds zentrale These von dessen ägyptischer Herkunft, für irrelevant erklärt. Demgegenüber hat Edward Said in einem sehr späten Text gerade diese Fremdheit und ihren Zusammenhang mit Identitätspolitik ins Zentrum seiner Lektüre des Mann Moses gestellt: »Mit anderen Worten, Identität kann nicht allein durch sich selbst gedacht oder durchgearbeitet werden. Sie kann sich nicht selbst erschaffen oder auch nur erdenken ohne jenen radikalen Urbruch oder Urmakel, der sich nicht verdrängen lässt, weil Moses Ägypter war und daher immer außerhalb der Identität stand, innerhalb der so viele gestanden und gelitten – und später vielleicht sogar triumphiert – haben.« Edward Said: Freud und das Nichteuropäische, übers. v. Miriam Mandelkow, Zürich: Dörlemann 2004, S.68 33 Kristeva: Stabat Mater, S.244 34 René Girards These, das Christentum habe die bereits im Alten Testament angelegte Sorge um das Opfer radikalisiert und biete insofern den Ausweg aus der Gewalt der Einmütigkeit des Opferkults, ist nur die halbe Wahrheit: die Vergöttlichung des Opfers als Schwellenwesen ist vielleicht gerade die

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bens«35 im Christentum stellt – anders als Kristeva vermutet – wohl nicht die Finalität der Religionen her. Eher ist sie die »Regression«, also Fixierung, als die Freud sie darstellt, auch wenn das Christentum die Beschränkungen des lokalen Gottes hinter sich lässt und insofern, so Freud, »ein Charakter der alten Atonreligion wiederhergestellt« ist: das Bild der heiligen Familie, der heiligen Mutter Gottes arbeitet bereits an der Aneignung dieser Ortlosigkeit.36

Vorbedingung für eine Kultur, die die im Opfer gebannte Entgrenzung in die Sphäre des Politischen überträgt. Girards Apologie des Christentums versucht dem entgegen zu arbeiten, indem sie sich umso unerbittlicher dem Tabu – und damit dem Mythos – verschreibt. »Beim Versuch, seine Stellung erneut zu festigen und wieder zu triumphieren, bedient sich Satan in unserer Welt der Sprache der Opfer. Satan ahmt Christus immer perfekter nach und scheint ihn sogar zu übertreffen. Diese usurpierende Nachahmung kennt die christianisierte Welt schon seit langem, doch verstärkt sie sich in unserer Epoche ungemein. Diesen Prozeß erwähnt das Neue Testament in der Sprache des Antichrist. Um diesen Begriff zu verstehen, ist er zunächst zu entdramatisieren, denn er entspricht einer ganz alltäglichen und prosaischen Realität. Der Antichrist rühmt sich, dem Menschen Frieden und Toleranz zu bringen, wie sie vom Christentum stets verheißen, aber niemals eingelöst wurden. Was die Radikalisierung der gegenwärtigen »Viktimologie« in Wirklichkeit leistet, ist die effektive Rückkehr zu heidnischen Gewohnheiten aller Art: Abtreibung, Euthanasie, sexuelle Entdifferenzierung, Zirkusspiele ohne Ende (aber dank elektronischer Simulation ohne reale Opfer).« René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz – Eine kritische Apologie des Christentums, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, München/Wien: Hanser 2002, S.225f. Es ist schon sehr erstaunlich, dass es Girard nicht einfällt, dass gerade die Figur des Antichristen nur als Gegenüber dessen, was von Christus in die Welt gebracht wurde, denkbar ist. Allerdings macht dies zugleich deutlich, dass – und da behält Girards Apologie recht – Christus sich der Souveränität letztlich entgegensetzt. Freud sieht im Christentum die Wiederkehr des Verdrängten: die Wiederholung des Mordes wird nun zum Gründungsakt einer neuen Religion. Vielleicht liegt darin aber auch – in der Bildwerdung des Opfers – eine ambivalente Geste, die das Ausgeschlossene dem Vergessen entreißt, es so aber wiedereinschreibt in den Zyklus der Gewalt des Opferkults. »Ungeachtet aller Annäherungen und Vorbereitungen ringsum war es doch ein jüdischer Mann Saulus aus Tarsus, der sich als römischer Bürger Paulus nannte, in dessen Geist zuerst die Erkenntnis durchbrach: Wir sind so unglücklich, weil wir Gottvater getötet haben. Und es ist überaus verständlich, daß er dieses Stück Wahrheit nicht anders erfassen konnte als in der wahnhaften Einkleidung der frohen Botschaft: Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem einer von uns sein Leben geopfert hat, um uns zu entsühnen.« Freud: Mann Moses, S.244 35 »Das Christentum ist vielleicht auch deshalb die letzte unter den Religionen, weil es die zweipolige Struktur des Glaubens klar zutage treten läßt: einerseits das schwierige Abenteuer des Worts: die Leidenschaft; auf der andern – das beruhigende Einhüllen in das präverbale Trugbild der Mutter: die Liebe.« Kristeva: Stabat Mater, S.244f. 36 Freud: Der Mann Moses, S. 194 Wobei der Begriff der Regression tatsächlich nur Sinn macht, wenn er sich auf den Versuch der Wiederherstellung einer bestimmten phantasmatischen Fixierung bezieht

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Im Monotheismus von Der Mann Moses bezeichnet Gott die Unterbrechung der Metaphorizität, die Aussetzung der Virtualität und der Ökonomie des Kreises: das Trauma (und vielleicht und ganz anders: auch die Gabe). Das Christentum hingegen tendiert dazu – wenn ich Freud richtig verstehe –, diesen Gott wieder in den Kontext der phantasmatischen Dichotomie des Tabus zu stellen. Insofern ist die zweipolige Struktur von ›Mutter‹ und ›Vater‹, die sich in der »Sohnesreligion«37 ausdrückt, Verwerfung der traumatischen Unterbrechung. Der Freudsche »Monotheismus« bringt diesen nichtprozessualisierbaren Rest als Fremdheit in Umlauf und begründet so eine ganze Tradition der Schriftlichkeit, die seiner Wort- und Bildlosigkeit stattgibt. Hier – in der Schrift – erscheint die Geste der maternité: als Trennung vom und Empfang des Anderen, Bindung in der und durch die Entbindung.38 In Freuds Text, der – anders als Totem und Tabu – die Frage des Mutterrechts und der Mutterschaft recht ausführlich thematisiert, zeichnet sich jedenfalls gerade in der Bewegung des »Fortschritts in der Geistigkeit« etwas ab, das Freud mit aller Macht dem Vater, dem Sozialen, der Prozessualität zusprechen möchte, sich diesem Zugriff aber ständig entzieht. »Fortschritt in der Geistigkeit« – so Freud – ist am Ende nichts als ein Windhauch, ein Luftzug, ein Atmen… Aber diese Wendung von der Mutter zum Vater bezeichnet überdies einen Sieg der Geistigkeit über die Sinnlichkeit, also einen Kulturfortschritt, denn die Mutterschaft ist durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen Schluß und auf eine Voraussetzung aufgebaut. Die Parteinahme, die den Denkvorgang über die sinnliche Wahrnehmung erhebt, bewährt sich als ein folgenschwerer Schritt. […] Der Mensch fand sich veranlasst, überhaupt »geistige« Mächte anzuerkennen, d.h. solche, die mit den Sinnen, speziell mit dem Gesicht, nicht erfasst werden können, aber doch unzweifelhafte, sogar überstarke Wirkungen äußern. Wenn wir uns dem Zeugnis der Sprache anvertrauen dürften, war es die bewegte Luft, die das Vorbild der Geistigkeit abgab, denn der Geist entlehnt den Namen von

37 Freud: Mann Moses, S.245 38 Es ist insofern zugleich richtig und falsch, wenn Ilse Grubrich-Simitis schreibt »[...], daß in der Innenwelt des schwerkranken alten Freud der Terror der Nazi-Verfolgung an jene frühkindliche Traumatisierung rührte und daß er nicht zuletzt deshalb in seinem Moses-Buch bei der Erklärung der Wirkungskraft monotheistischer Religion zur phylogenetischen Konstruktion Zuflucht nahm. Sie erlaubte es ihm nämlich, sich in der Sphäre narrativer, sekundärprozeßhafter Differenziertheit, sozusagen der Vaterdimension zu bewegen, anstatt sich mit dem ihm damals vielleicht besonders bedrohlich erscheinenden diffusen Bereich der Präverbalität, also der frühen Mutterdimension befassen zu müssen.« Ilse Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum – Ein biographischer Essay, Frankfurt a.M.: Fischer 1994

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BLANK SPACES Windhauch (animus, spiritus, hebräisch: ruach, Hauch).Damit war auch die Entdeckung der Seele gegeben als des geistigen Prinzips im einzelnen Menschen. Die Beobachtung fand die bewegte Luft im Atmen des Menschen wieder, das mit dem Tode aufhört; noch heute haucht der Sterbende seine Seele aus.39

Die ausufernde, beinahe monströse Struktur von Freuds Mann Moses, mit ihren unzähligen Wiederholungen und befremdlichen Redundanzen legt Zeugnis ab von den labyrinthischen Windungen, die diese ungreifbare bild- und wortlose Bewegung, dieser Rest evoziert. Und es ist sicher nicht zufällig, dass dieser Text als Aktualisierung der persönlichen Vorzeit und im Angesicht einer traumatischen Gegenwart entstanden ist. Kein Tagtraum, kein Weg nach Hause, sondern einer in die Ortlosigkeit der Sprache, als einer Heimatlosigkeit, die Öffnung auf den Anderen sein kann, obwohl und weil sie immer auch Öffnung auf das Andere des Todes ist. In dieser Hinsicht ist Schreiben Wiederholung, genau die Arbeit der Differenz. Es ist die Erinnerung einer vergessenen Trennung. Um eine Äußerung Walter Benjamins über Proust aufzugreifen, könnte man sagen, es hat die ›Form‹ der Erinnerung aber nicht ihren ›Inhalt‹: es ist die endlose Wirkung des Verlusts und der Schuld, ohne einen anfänglichen Inhalt zu bewahren oder wiederherzustellen, da dieser für immer verloren (vergessen) und nur durch Substitutionen repräsentiert ist, die sich gemäß dem infolge eines ursprünglichen Ausschlusses aufgestellten Gesetz umkehren und verändern. Die skripturale Praxis ist selbst Erinnerung.40

Schreiben als Wiederholung einer vergessenen Trennung bewegt sich genau in dieser Unbestimmtheit zwischen Trauma und Gabe, Bindung und Entbindung. Was dieses Schreiben tatsächlich wiederherstellt – und zwar in der Form und nicht im Inhalt –, ist das notwendige Vergessen selbst. Dies ist die einzig denkbare Form eines Erinnerns, das Innewerden seiner eigenen Unmöglichkeit ist. Und darin – im unmöglichen Erinnern dieses notwendigen Vergessens – liegt für mich die grundlegende Differenz zwischen den Verdopplungen der Phantasmen, die, indem sie das Vergessene wiederholen, an der Ausschließung des Vergessens ar-

39 Freud, Mann Moses,S.221f. 40 Michel de Certeau: Die Fiktion der Geschichte: Das Schreiben von »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in: Ders., Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991, S.240-288, hier: S.259f.

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ABJEKTION UND VATERMORD

beiten und einem Schreiben (einem Leben?), das – in der Stattgabe dieser aporetischen Gleichzeitigkeit – sich dieser Ausschließung widersetzt.41

41 »Die Intensität dieses In-der-Schwebe-haltens erregt Schwindel – erregt Schwindel, indem es die einzige Bedingung dafür abgibt, damit das ZuKünftige bleibt, was es ist: es ist zu kommen. Die Bedingung, damit das ZuKünftige zu kommen bleibt, ist nicht nur, daß es nicht bekannt, sondern daß es als solches nicht wißbar ist. Seine Bestimmung dürfte nicht mehr der Ordnung des Wissens oder einem Horizont von Vorwissen unterliegen, sondern einem Kommen oder einem Ereignis, das man in einer Erfahrung kommen läßt oder zu kommen veranlaßt (ohne irgend etwas kommen zu sehen), die jeder Feststellung wie jedem Erwartungshorizont als solchem heterogen ist: das heißt jedem stabilisierbaren Theorem als solchem. Es geht um dieses zukünftige Performativ, dessen Archiv mit der Aufzeichnung dessen, was ist oder tatsächlich gegenwärtig gewesen sein wird, nichts mehr zu tun hat. Dies nenne ich das Messianische und unterscheide es radikal von jedem Messianismus.« Jacques Derrida, Dem Archiv verschrieben – Eine Feudsche Impression, übers. v. Hans-Dieter Gondeck und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann und Bose 1997, S.129f.

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IV. P HANTASIE , Z ERSTREUUNG , H ANDELN

1. R O U S S E A U : E S S A I S U R L’ORIGINE DES LANGUES On nous fait du langage des prémiers hommes des langues de Geométres, et nous voyons que ce furent des langues de Pöetes.1

Ortloses Begehren Gerade seit dem Beginn der Krise der europäischen Christlichkeit […] haben sich immer wieder schöpferische Christen gezeigt, ja sie fanden in der Krise selbst den Anstoß zu ihrer Entfaltung. Sie haben schließlich den Rahmen der una sancta gesprengt, sie haben unzählige Spaltungen hervorgerufen, aber immer ging von ihnen eine neue Welle von Christlichkeit aus. Daß ein Mensch ihrer Art, in Europa geboren, durchtränkt von Demut, Weltflucht, Begierde nach Buße und Erlösung, in keiner christlichen Kirche mehr Raum fand, daß er auch keine neue christliche Kirche gründete, daß in den Ausbrüchen seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung kein Wort zu finden ist von dem Leiden Christi, vom Sündenfall und vom jüngsten Tag – das scheint mir für die Wendung Europas in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend.2

Mit diesen Sätzen schließt Erich Auerbach seinen knappen Versuch, Rousseau einen historischen Ort zuzuweisen. Ohne im Einzelnen die spezifischen Implikationen dieser Einordnung aufdecken zu wollen, erscheint mir hier zweierlei interessant. Einerseits: der historische Ort Rousseaus wäre nach Auerbach gewissermaßen die Ortlosigkeit. Rousseau, die textuellen Operationen, die dieser Name bezeichnet, stellen nach Auerbach eine charakteristische Hervorbringung des Christentums

1

2

Jean-Jacques Rousseau: Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale, Texte établi et presenté par Jean Starobinski, Paris (Gallimard) 1990, S.66 Erich Auerbach, Über den historischen Ort Rousseaus, in: Ders., Philologie der Weltliteratur – Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.75-82, hier: S.81f.

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dar, die dieses aber nicht mehr an sich zu binden in der Lage ist. Rousseau wäre demnach der Name eines christlich konstituierten Begehrens jenseits des Christentums: [...] hier kommt es nur darauf an zu beleuchten, daß die christlichen Kirchen in jenem Augenblick nicht mehr imstande waren, die Begierden zu befriedigen, die gerade das Christentum in Europa entfacht hatte – daß die legitimen Kinder nicht mehr zu ihrer Mutter fanden.3

Für Rousseau hieße das umgekehrt, dass sich in seinen Texten ein Begehren artikuliert, dem das Gefüge verloren gegangen ist, das es hervorbrachte; oder: dass es sich bei Rousseaus Texten um Artikulationen einer Subjektivität handelt, der kein Objekt sich mehr anbietet und die sich somit quasi in der Objektlosigkeit konstituieren muss. Andererseits: Es ist sicher kein Zufall, wenn Auerbach sich metaphorisch auf das Verhältnis von Mutter und Kind bezieht, wenn es ihm um die spezifische Ortlosigkeit dessen geht, was er die von den Kirchen entfesselten »Begierden« nennt. Die Anspielung auf Rousseaus Biographie, dessen Mutter bei seiner Geburt starb und der seine Kinder gegen den Willen ihrer Mutter ins Findelhaus gab, ist allzu deutlich. Was Auerbach aber vor allem zu sagen scheint, ist folgendes: dass sich in diesen biografischen Details ein Riss spiegelt, der durch eine ganze Epoche hindurchgeht. Die Beziehung zwischen Herkunft und Ziel, Subjekt und Objekt des Begehrens scheint grundsätzlich erschüttert: Die rousseausche Fassung einer radikalen Aufklärung (die – nach Kant – »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« ist) wird so zu einer grundsätzlichen Entbindung von der Mutter umgedeutet und das Denken Rousseaus dementsprechend als Ausfluss eines Begehrens verstanden, das, entbunden von dem Gefüge, dass es hervorbrachte, eine geradezu selbstzerstörerische Dynamik entfaltet: als moralischer Rigorismus oder fundamentaler Kulturpessimismus.4 Es ist – das sollte man nicht vergessen – allerdings eine Metapher, hier: Auerbachs Metapher, die den Vorhang zu lüften vorgibt, hinter dem sich dieser Riss zu verbergen scheint. Ich möchte versuchen zu zeigen, dass diese Metapher – die ich für exemplarisch in der Rousseau-Rezeption halte – daran arbeitet, die Bewegung der rousseauschen Texte gerade wieder einzuschreiben in eine Ökonomie, der sie sich zu entziehen sucht.

3 4

Auerbach: Über den historischen Ort Rousseaus, S.81 Auerbachs Text, dem es vorderhand keineswegs um ein Urteil über Rousseau, sondern um eine Einschätzung seiner Epoche geht, knüpft stillschweigend an diesen (anti-)rousseauistschen Kanon an.

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ROUSSEAU: ESSAI SUR L’ORIGINE DES LANGUES

Phantasie Im Zentrum der Texte des einflussreichsten und vielleicht wichtigsten Interpreten Rousseaus in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, der, wie Paul de Man konstatiert, »mehr als jeder andere dazu beigetragen hat, die Beschäftigung mit Rousseau von jahrzehntelang mitgeschleppten Stereotypen und Vorurteilen zu befreien«,5 Jean Starobinski, stehen die drückenden Verhältnisse, die die Kindheit Rousseaus im calvinistischen Genf des 18. Jahrhunderts prägten. Aus diesen Umständen ergibt sich für Rousseau ein schuldbesetztes Verhältnis dem eigenen Begehren gegenüber. Starobinskis große Rousseau-Monographie6 entfaltet zwischen den das Rousseausche Werk konstituierenden Gegenpolen Transparenz und Widerstand (le transparence et l’obstacle) das Dilemma eines Begehrens, das seinen Ort nicht finden kann. Es erträumt stattdessen eine dieser Welt von Widerständen entgegengesetzte Transparenz, die sich nur in der Phantasie auffinden lässt. In einem früheren Essai hatte Starobinski bereits versucht die Bewegung dieser Konstellation – die Befreiung des schuldhaften Begehrens in der Phantasie – nachzuzeichnen.7 Er entwickelt dort eine Stufenleiter autoerotischer Erfüllung, der sich die verschiedenen Segmente der Rousseauschen Theoriebildung zuordnen lassen. Am Anfang steht dabei der Zeuge der eigenen Schuld. Die auf diesen Dritten projizierte Schuldhaftigkeit des eigenen Begehrens treibt Rousseau in die Erschaffung eines reinen und unschuldigen Raums: die Phantasie. Auffällig ist dabei aber der dieser Bedeutung der Phantasie völlig zu widersprechen scheinende Mangel an Originalität der phantastischen Bilder und Einfälle. Rousseau, darauf besteht Starobinski, legt (wie Conrad) eben keinen Wert auf die Besonderheit der Bilder des Imaginären, die er beschwört; es geht ihm nicht – nicht in erster Linie – um die Hervorbringung irgendeines fiktiven Objekts und dessen Aneignung, sondern um die Produktion des Be-

5

6 7

Paul de Man: Die Rhetorik der Blindheit – Jacques Derridas Rousseauinterpretation, in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, übers. v. Jürgen Blasius, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.185-230, hier: S.196 Jean Starobinski: Rousseau – Eine Welt von Widerständen, übers. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 1993 Jean Starobinski: Jean Jacques Rousseau und die Gefahren der Reflexion, in: Ders: Das Leben der Augen, übers. v. Henriette Beese, Frankfurt a.M./ Berlin/Wien: Ullstein 1984, S.67-146 Der erste Teil dieses Essays ist in anderer Übersetzung auch als Jean-Jacques Rousseau und die List der Begierde, übers. v. Mirjam Josephson, in: Cassirer/Starobinski/Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, erschienen

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gehrens selbst: »Alles liegt in der affektiven Dynamik, im Pathos der Situation.«8 Aus blindem Begehren entstanden, das seinen Gegenstand noch nicht sah, gipfelt das imaginäre Abenteuer in einer glücklichen Ekstase, die jeglichen Gegenstand aus den Augen verliert. Die kostbarsten Zeiten der Träumerei sind jene, da das Bewußtsein, überflutet vom allmächtigen Gefühl, alle Bilder vergißt, die ihm als Vorwand dienten. Damit grenzt sich der eigentliche Bereich der Imagination gegen eine anfängliche Dunkelheit ab und gegen eine letztendliche Blendung, die miteinander zu verschwimmen scheinen. Alles begann mit dem Gären des »brennenden Blutes«; und die Visionen, die Schimären, die »Goldenen Zeitalter« und »Elitegesellschaften«, sie dienen nur dazu, den Geist auf einen Punkt hinzuführen, wo er in einem ekstatischen Taumel versinkt und der Körper, niedergeworfen und triumphierend, nur noch eine geheimnisvolle, ihn durchströmende Woge erfährt: Am Ufer der Abwesenheit nimmt er keine Präsenz als seine eigene mehr wahr. Diese vollkommene Präsenz, die alle Differenzen aufgesogen hat, die keinen Dialog mehr mit einer fremden Gestalt führt (und sei sie auch imaginär), hat oft die Neigung, sich als Äquivalent des universalen Alls zu empfinden. Die Gleichsetzung mit der kosmischen Totalität ist der äußerste Punkt, den die Imagination erreichen kann, zugleich aber der, wo jedes Bild untergeht. Ob es sich um die ruhigen Träumereien vom Bieler See handelt oder um das »betäubende Entzücken« – unterschiedliche Zustände nach der Intensität der Vibration: der eine von höchster Zartheit und Durchlässigkeit, der andere im Gegenteil ein Tumult, darin »die Schranken der Wesen« überschritten werden. Das Gemeinsame besteht in dem Faktum, daß es sich um »gegenstandslose Träume« handelt, Erregungen, deren Motiv übergroß, grenzenlos geworden ist und die Seele in einen wirren Zustand zieht, wo jede distinkte Vorstellung schweigt. Die Bilder entgleiten, der Blick verliert sich... Nachdem die expansive Kraft des Begehrens eine imaginäre Welt heraufbeschworen hat, um die Unvollkommenheit der realen Welt zu verleugnen und zu überschreiten, vollendet sie ihre Bahn in einer letzten Negation, die das imaginäre Schauspiel selbst vernichtet.9

Diese Passage, in gewisser Weise eine der avanciertesten Lektüren Rousseaus, die mir bekannt ist, hat im Text Starobinskis einen merkwürdigen Stellenwert. Ist sie auf der einen Seite das eigentliche Zentrum, das worauf der Text hinaus will, wird sie auf der anderen Seite – bis in den eigentlichen Wortlaut dieses Absatzes hinein – ständig umstellt und zurückgenommen von psychologischem Vokabular und einem damit ein8 9

Starobinski: Rousseau und die Gefahren der Reflexion, S.95 Starobinski: Rousseau und die Gefahren der Reflexion, S.97f.

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hergehenden therapeutischen Jargon, als ob Starobinskis Text vor dem von ihm selbst eröffneten Lektüre-Raum zurückweichen würde. Was Starobinski in dieser Passage entfaltet, ist aber gerade die radikale Auflösung all dessen, was Rousseau zu einem wie auch immer zu analysierenden »Fall« machen würde: Die Begriffe des Imaginären und der Präsenz taugen hier nur insofern etwas, als dass sie die Bewegung nicht ihrer Negation, sondern ihrer eigenen Auslöschung, der Auslöschung jedweder Dichotomie, anzustoßen scheinen. Diese zweifelsohne autoerotische Bewegung lässt sich in der Begrifflichkeit des Autoerotismus nicht mehr fassen. Der Autoerotismus überbietet sich hier in einem Maße selbst, das seine Spaltungen der Ununterscheidbarkeit, der Radikalität eines Zwischen anheim fallen lässt. Auf dieser Bewegung lässt sich kein Selbst im konventionellen Sinne, keine auf ein Objekt, auf die Objekthaftigkeit des Objekts bezogene Subjektivität mehr gründen. Die allmächtigen Gefühle, von denen Starobinski schreibt, sind keineswegs zu verwechseln mit dem Gefühl der Allmacht, genau darin liegt die leicht zu übersehende Differenz in der imaginären Bewegung, die Rousseaus Texte figurieren. Die Phantasie ist bei Rousseau zwar Mittel, nicht aber zum Zwecke einer Ermächtigung des Selbst, sondern – im Gegenteil – zu einer Entmachtung der von ihr selbst installierten Ökonomie des Begehrens. Das rousseausche Begehren wäre insofern nicht ortlos, weil es sein Ziel, sein Objekt oder sein Gefüge verloren hätte, sondern es ist Begehren der Ortlosigkeit selbst, Begehren seiner eigenen Immanenz. Eine Leere, die eben keine Fülle verspricht, sondern sich als Leere erfüllt: das ist kein Rückzug vor der »realen Welt«, wie Starobinski nahezulegen versucht, es ist Berührung dessen, was überhaupt zu berühren ist in dieser Welt. Die ambivalente Einschätzung der »Einbildungskraft« bei Rousseau, die Starobinski als das Pharmakon, die »Lanze des Achill« innerhalb der Texte Rousseaus bezeichnet (wie bspw. die Eigenliebe)10, das, was zugleich Rettung und Gefahr bedeutet, wird so vielleicht verständlicher: Während die Einbildungskraft in der autoerotischen Ekstase sich selbst 10 »Nachdem Rousseau die trennenden Kräfte, die sich im Menschen im Verlauf seiner Geschichte entfaltet haben, angeklagt hat – Reflexion, Eigenliebe, Abstraktionsvermögen, Einbildungskraft, Abhängigkeit und Entäußerung des Bewußtseins -, schreckt er ausdrücklich jeden Versuch, zurückzuschreiten, ab. Die Entwicklung, die uns unglücklich gemacht hat, muß man vielmehr weitertreiben: die Reflexion vervollkommnen, Eigenliebe gebrauchen, die Einbildungskraft leiten und die Entäußerung gegenseitig und vollständig machen. Darin besteht die einzige Chance, in einer neuen (politischen, moralischen) Form wieder die (natürliche, animalische) Vollkommenheit zu erwerben, welche das eingeschlichene Übel zerstört hat.« Jean Starobinski: Das Rettende in der Gefahr: Rousseaus Denken, in: Ders., Das Rettende in der Gefahr – Kunstgriffe der Aufklärung, übersetzt und mit einem Essay von Horst Günther, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S.186-265, hier: S.201

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überbietet, sind ihre Bilder Versprechen einer Erfüllung des Begehrens im Objekt, die die autoerotische Bewegung gerade auszuschalten sucht. Genau darauf könnte dann die Vermutung Starobinskis verweisen, »ob das Bild des Naturzustands nicht gänzlich vom Modell der imaginären Tätigkeit abgeleitet ist«, wenn vielleicht auch nicht als deren »märchenhafte, nach rückwärts projizierte Erweiterung«11, sondern als Bild einer Phantasietätigkeit, die sich dem Bild oder vielmehr dem Phantasma entzieht. Der homme naturel, der über keinerlei Einbildungskraft verfügt, die über die Befriedigung seiner unmittelbarsten Bedürfnisse hinausginge, wäre dann so etwas wie ein antiphantasmatisches Phantasma, ein Phantasma, das auf die Bewegung der Phantasie selbst abzielt. Wenn der homme naturel das ist, was in den Texten Rousseaus als Ursprung begehrt wird, dann, so könnte man sagen, richtet sich dieses Begehren auf das Verstummen der Phantasie in der Phantasietätigkeit selbst, auf die Verhinderung eines sich im Phantasma versprechenden Ankommens dieser Bewegung. Die mangelnde Einbildungskraft des homme naturel wäre somit nichts anderes als die Bewahrung ihrer Potentialität, die Verweigerung, sie im bedeutungsstiftenden Akt, in der Produktion des phantasmatischen Bildes auszuschließen. Genau diese Potenz würde bei Rousseau somit den Namen des Ursprungs tragen. Das, was sich der Reinheit, der reinen Potenz dieses Ursprungs entgegensetzt, ist somit nicht die Unreinheit, die Vermitteltheit oder die Abwesenheit, sondern eben die Anwesenheit des Phantasmas, das seine eigene Supplementarität unterschlägt bzw. sich anzueignen sucht.

Supplementarität – Metaphorizität Supplementarität ist der zentrale Begriff der Rousseaulektüre Jacques Derridas. Derrida scheint ihn gegen Rousseau geltend zu machen: Der Wunsch nach dem Ursprung wird zu einer unerläßlichen und unzerstörbaren Funktion, die jedoch eingebettet ist in eine Syntax ohne Ursprung. Rousseau möchte die Ursprünglichkeit von der Supplementarität trennen. Er hat alle von unserem Logos konstituierten Rechte auf seiner Seite: es ist undenkbar und unduldbar, daß, was den Namen Ursprung hat, nur ein in das System der Supplementarität eingebetteter Punkt sein soll. Tatsächlich entreißt die Supplementarität die Sprache ihrer Ursprungs-Bedingung, ihrem Konditionalis oder ihrem Ursprungs-Futurum, dem also, was sie ha(e)tte sein müssen und was sie nie gewesen ist: sie hat nur entstehen können, indem sie ihr Verhält-

11 Starobinski: Rousseau und die Gefahren der Reflexion, S.102

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ROUSSEAU: ESSAI SUR L’ORIGINE DES LANGUES nis zu allem Ursprung suspendierte. Ihre Geschichte ist die Geschichte des Ursprungs-Supplements: der ursprünglichen Stellvertretung und der Stellvertretung des Ursprungs.12

Der Wunsch nach dem Ursprung, den Derrida Rousseau mit gewissem Recht unterstellt, wäre somit die Ausschließung dessen, was Derrida als die Nichtursprünglichkeit des Ursprungs bezeichnet: die Supplementarität, die als Bewegung eines nie zu Ende kommenden Ersetzens allem immer schon zuvor gekommen ist. Die Supplementarität ist die Unmöglichkeit des Ausschlusses, der Eindeutigkeit, der Homogenität auf der Ebene der Sprache: Effekt einer vor- oder nichtursprünglichen, nichtsymbolischen Singularität, die kein Zeichensystem sich jemals vollständig und restlos wird aneignen können. Dieser Rest – oder eher: diese Unmöglichkeit – ist das, was Derrida dann die differance nennen wird. Derrida versucht diese Bewegung vorzuführen an einem Text, der zugleich entlegen und zentral im Werk Rousseaus ist. Entlegen, weil er – zu Rousseaus Lebzeiten unveröffentlicht geblieben – nicht zum Kanon der Hauptwerke zählt, zentral aber, weil er sich auf die wichtigen, das Werk Rousseaus konstituierenden Fragestellungen bezieht: den Essai sur l’origine des langues, einem Text, der, wie Derrida überzeugend nachweist, im Umfeld des großen 2. Diskurses13, vielleicht als überlange Fußnote, entstanden ist. Scheinbar handelt es sich für Derrida bei dem Essai um ein beredtes Zeugnis der Dichotomien, die der Phonozentrismus im abendländischen Denken installiert.14 In der Gegenüberstellung von Eigentlichem und Un-

12 Jacques Derrida: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S.418 13 Jean Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les homme, Texte établi, présenté et annoté par Jean Starobinski, Paris (Gallimard) 1969 14 »Der ›Verstand‹, das heißt die kalte Klarheit der Vernunft, die nach Norden gewandt den Kadaver des Ursprungs mit sich schleppt, kann folglich ›in Erkenntnis seines anfänglichen Irrtums‹ die Metaphern als solche handhaben – unter Bezugnahme auf das, was er als ihre eigentliche Bedeutung kennt. Im Zenit der Sprache blieb der leidenschaftliche Geist in der Metapher gefangen: der Dichter verhielt sich zur Welt nur im Stil der Uneigentlichkeit. Der nachdenkende Geist, der berechnende und abwägende Schriftsteller und der Grammatiker organisieren kalt und bewußt die Wirkungen der Uneigentlichkeit, der Unangemessenheit des Stils. Doch müssen diese Verhältnisse auch umgekehrt werden: der Dichter hat ein Wahrheits- und Eigentlichkeitsverhältnis zu dem, was er ausdrückt, er hält sich am engsten an seine Leidenschaft. Da er die Wahrheit des Gegenstandes verfehlt, äußert er sich uneingeschränkt und berichtet authentisch über den Ursprung seiner Rede. Der Rhetor hat Zugang zur objektiven Wahrheit, legt den Irrtum bloß, erörtert die Leidenschaften, aber nur weil er die lebendige Wahrheit des Ursprungs verloren hat. Aus diesem Grund hält Rousseau scheinbar in Bekräftigung der These, daß die erste Sprache figuriert war, die Eigentlichkeit aufrecht: als

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eigentlichem wiederhole sich die von Rede und Schrift und damit die (phantasmatische) Stillegung dessen, was in der Terminologie Derridas die Bewegung der Supplementarität bezeichnet: eben die différance. Die Beschwörung eines transparenten Ursprungs der Fülle und Präsenz soll diese Dichotomien vor den Ansprüchen der – so Derrida – Supplementarität abschotten, die auch bei Rousseau die »Ursprünglichkeit« des Eigentlichen fortwährend in Frage stellt. Der Ursprung wäre demnach bei Rousseau ein Ort der Unschuld, der nicht infiziert wurde vom Gift des Supplements, der Nachträglichkeit, der Abwesenheit: er wäre reine Präsenz. Hauptanliegen Derridas ist jedoch, in dekonstruktiver Lektüre zu zeigen, »wie Rousseaus Theorie der Anwesenheit unter dem Druck der eigenen Sprache immer mehr zerbröckelt«.15 Damit wird allerdings auch der Essai – entgegen seiner expliziten Tendenz – zum Ort einer tieferen Einsicht in das ›Wesen‹ der Sprache. Der in der Sprache aufgehobene nichtursprüngliche Ursprung triumphiert schließlich hinterrücks über den illusionären Ursprung der Präsenz. Die Rousseaulektüren Paul de Mans, die sich intensiv mit den Fragestellungen Derridas auseinander setzen, bemühen sich demgegenüber, gerade dieses »hinterrücks« durchzustreichen. Sie bescheinigen Rousseaus Textpraxis einen hohen Grad an Bewusstheit, was den Umgang mit der Sprache und ihrer Figuralität angeht. Figuralität ist aber die sprachliche Dimension, in der die Sprache ihrer Differenzialität zwischen Symbolischem und Nichtsymbolischem antwortet: diese Antwort – könnte man etwas vereinfachend sagen – ist ihre Supplementarität und die Reflexion der Figuralität folglich Reflexion der Supplementarität selbst. In seiner Interpretation einer wichtigen Stelle aus dem dritten Kapitel des Essai, die die Bildung des Begriffs Mensch aus der imaginären Konfrontation eines Menschen mit einem anderen ableitet, versucht de Man zu zeigen, inwiefern Rousseau die figurale Ebene der Sprache, also jene Ebene, in der sich die Sprache als Sprache darstellt, selbst inszeniert. Der Titel dieses Kapitels lautet: Que le premier langage dut être figuré 16. Darin wird die Geschichte eines einsamen Wilden erzählt, der zum erstenmal einem anderen Menschen begegnet, den er in seiner Furcht vor diesem scheinbar übermächtigen Wesen Riese nennt. Erst nachdem er durch Vergleich erfährt, dass die Angst insofern ungerechtfertigt ist, als arche und als telos. Im Ursprung, denn dort wird die erste Vorstellung der Leidenschaft, ihr erster Repräsentant, eigentlich ausgedrückt. Am Ende, denn der Verstand fixiert die eigentliche Bedeutung, was ihm durch einen Erkenntnisprozeß und in Ausdrücken der Wahrheit gelingt. Hier wird vielleicht deutlich, daß Rousseau in genau denselben Ausdrücken dieses Problem erörtert. Er ist durch die lange Tradition einer naiven Philosophie des Vorstellungszeichens dazu gezwungen.« Derrida: Grammatologie, S.475f. 15 de Man: Die Rhetorik der Blindheit, S.207 16 Rousseau: Essai sur..., S.68

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der andere weder größer noch stärker als er selbst ist, verwendet er einen gemeinsamen Namen für sich und ihn: beispielsweise, so sagt Rousseau, Mensch, und Rousseau folgert: L’image illussoire offerte par la passion se montrant la prémiére, le langage qui lui répondoit fut aussi le prémier inventé; il devint ensuite métaphorique quand l’esprit éclairé reconnoissons que dans les mêmes passions qui l’avoient produite.17

Paul de Man liest nun aus dieser Stelle eine ganze Theorie der Metapher und damit der sprachlichen Figuralität heraus. Die Metapher ›Riese‹, die gebraucht wird, um Mensch zu konnotieren, hat zwar eine eigentliche Bedeutung (Furcht), aber diese Bedeutung ist nicht wirklich eigentlich: Sie bezieht sich auf einen permanenten Schwebezustand zwischen einer Welt der Wörtlichkeit, in der Wesen und Erscheinung übereinstimmen, und einer Welt der Figuralität, in der diese wechselseitige Entsprechung nicht mehr a priori gesetzt ist. Die Metapher ist ein Irrtum, weil sie ihre eigene referentielle Bedeutung glaubt oder zu glauben vorgibt. Dieser Glaube ist nur innerhalb der Grenzen eines gegebenen Texts gerechtfertigt [...] Der empirischen Situation, die offen und hypothetisch ist, wird eine Konsistenz verliehen, die nur in einem Text existieren kann. [...] Die Metapher übersieht das fiktionale, textliche Element in der Natur des von ihr Konnotierten. Sie setzt eine Welt voraus, in der inner- und außertextliche Ereignisse, wörtliche und figurale Sprachformen unterschieden werden können, eine Welt, in der das Wörtliche und das Figurale isolierbare Eigenschaften sind, die daher auch untereinander ausgetauscht und füreinander eingesetzt werden können. Dies ist ein Irrtum, obwohl man sagen kann, daß ohne diesen Irrtum keine Sprache möglich wäre.18

Was Rousseau also de Man zufolge in dieser Passage inszeniert, ist die Verdrängung der sprachlichen Metaphorizität in der Metapher und somit

17 Rousseau: Essai sur..., S.69 »Da das durch die Brille der Leidenschaft erblickte trügerische Bild sich als erstes zeigte, wurde auch diejenige Sprache, die dieses Bild als erstes wiedergab, zuerst erfunden. Später, wenn ein erwachter Geist, seinen ersten Irrtum erkennend, derlei Ausdrücke nur noch bei den Leidenschaften anwendet, denen sie ihre Entstehung danken, wird sie metaphorisch.« Jean-Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird, übers. v. Dorothea Gülke und Peter Gülke; in: Ders., Musik und Sprache, Wilhelmshaven/Locarno/ Amsterdam: Heinrichshofen’s 1984, S.99-168, hier: S.106 18 Paul de Man: Metapher; in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, S.231-262, hier: S.248f.

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eben das, was Derrida in seinem Text vorzuführen scheint, indem er hinter der Rousseauschen Ablehnung des Supplements die Supplementarität selbst am Werke sieht. Was de Man anhand von Rousseau zeigen kann ist dies: Die Ausschließung oder Verdrängung der figuralen Dimension der Sprache wird von ihren Figuren selbst betrieben. Die Metapher schließt also notwendig eben die Bewegung aus, der sie sich verdankt: die Metaphorizität. Die Analogie zur Phantasietätigkeit ist dabei offensichtlich und ich glaube es ist mehr als eine Analogie: Der Begriff der Supplementarität weist darauf hin, dass die figurale Dimension der Reflex der Phantasietätigkeit in der Sprache ist. Sie verweist auf dasselbe Zwischen, dieselbe Virtualität, die in ihren Bildern, Figuren oder Phantasmen sich selbst und damit jenes andere Zwischen, dass sie virtuell wiederholt oder besser: supplementiert, ausschließt. De Man sieht einen spezifischen Zusammenhang zwischen der Rolle des Ursprungs in Rousseaus Text und dem figuralen Charakter der literarischen Sprache. Damit scheint er Derridas Lesart dieses Ursprungs grundsätzlich zu widersprechen. Der gelegentlich angeschlagene elegische Ton drückt keine nostalgische Sehnsucht nach einer ursprünglichen Anwesenheit aus, sondern ist ein rein dramatischer Kunstgriff, ein Effekt, der durch eine Fiktion sowohl möglich wie nötig wird, die der Nostalgie jede Grundlage entzieht. Es reicht nicht aus zu sagen, in diesen Texten sei der Ursprung bloß eine Metapher, die ›für‹ einen Anfang stehe, selbst wenn man keinen Zweifel daran läßt, daß Rousseaus Theorie der figuralen Sprache mit jeder Vorstellung von Repräsentation bricht. Der Ursprung ›geht‹ hier der Anwesenheit in rein struktureller Hinsicht ›voraus‹ und nicht in chronologischer. Chronologie ist das strukturelle Korrelat der mit Notwendigkeit figuralen Natur der literarischen Sprache. Genau in diesem Sinne muß die Überschrift des dritten Kapitels des Essai verstanden werden: ›Daß die erste Sprache bildhaft sein mußte‹.19

Die Einführung der Ursprungsdimension trägt insofern der sprachlichen Figuralität Rechnung. Sie ermöglicht – indem sie die Chronologie in den Text einträgt – die bewusste Inszenierung und Reflexion des Figurativen. Cynthia Chase hat jedenfalls dieses Verhältnis folgerichtig auf das Auftauchen der Sprache in der Frühgeschichte der Kindheit bezogen. Sie versucht de Mans theoretische Bestimmung der Prosopopöie als einer rhetorischen Figur, die etwas ein Gesicht gibt, das keines hat, als eine Figuration der Leere, des Nichts, des Todes also, auf jenes Auftauchen

19 De Man: Die Rhetorik der Blindheit, S.217

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der Sprache als Benennung zu beziehen, von der Kristeva schreibt.20 Dieses Gesichtgeben – also die figurale Dimension – ist es, die Sprache überhaupt erst möglich macht. Nichts anderes als das Auftauchen einer derartigen Prosopopöie dürfte Sprache möglich machen: ein System der Hervorbringung von Sinneffekten, das sich nicht auf einen Code reduzieren läßt. Die Institutionalisierung des Zeichensystems durch Verleihung eines Gesichtes oder einer Figur macht es gerade aus, daß dem sprachlichen Zeichen die Beschaffenheit nicht nur eines Elementes in einem Code zukommt, sondern die einer Trope oder einer Figur. [...] Indem man die Prosopopöie, die ansonsten sinnlosen Markierungen Sinn verleiht, in dieser Weise beschreibt, beschreibt man Sprache als etwas anderes als die durch die bestimmte Negation von Referenz erlangte Bedeutung – jene Negation oder ›Konversion‹, die daran gebunden ist, daß sie das Spiegelbild der von ihr negierten Illusion errichtet.21

Die figurale Dimension der Sprache entspricht folglich jenem virtuellen Zwischenraum, der sowohl die Unnennbarkeit der Präverbalität als auch die absolute Entbindung des Todes mit dem Anspruch auf Bedeutung des Symbolischen verbindet. Die Rhetorizität oder Literarizität reflektiert sich als diese ambivalente Zwischenräumlichkeit der Sprache. Sie ist letztlich offen in beide Richtungen, das ist ihre Begabung zum Missverständnis, die de Man – gerade in bezug auf Rousseau – immer wieder hervorhebt. Diesen Schwebezustand, an dessen Erhaltung der Rousseausche Text arbeitet, möchte ich – über die de Manschen Implikationen hinweg – noch etwas weiter dehnen, indem ich ihn auf jene fundamentale Bindung beziehe, die zugleich die Bewegung anstößt und sich ihr entzieht: die Gabe. Die figurale Dimension der Sprache würde dann darin bestehen, diese Bindung zu binden, indem sie sie mit dem Versprechen einer Bedeutung, also dem Versprechen der Ausschließung der Sinnlosigkeit (aber damit auch: der Gabe) ausstattet. Diese Bewegung – zwischen Sprache und Nichtsprache, Metaphorizität und Nichtmetaphorizität – ist letzt-

20 Cynthia Chase: Primary Narcissism and the Giving of Figure – Kristeva with Hertz and de Man, in: John Fletcher/Andrew Benjamin (Hg.), Abjection, Melancholia and Love – The Work of Julia Kristeva, London: Routledge 1990, S.124-136 21 Cynthia Chase: Die witzige Metzgersfrau: Freud, Lacan und die Verwandlung von Widerstand in Theorie, übers. v. Hans-Dieter Gondek; in: Barbara Vinken (Hg.), Dekonstruktiver Feminismus – Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S.97-129, hier: S.122

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lich jener irritierende, ziellose Zustand, den Giorgio Agamben als »das In-der-Sprache-sein des Menschen« bezeichnet hat.22 Dieter Thomä hat sich in einem Aufsatz, der versucht »mit Rousseau gegen Derrida und de Man zu denken«, auf das in den Rêveries du promeneur solitaire geäußerte »Gefühl der eigenen Existenz« (»Le sentiment de l’existence«) berufen. Hierin äußere sich ein Denken, dessen Fluchtpunkt es sei »das Subjekt freizugeben – aber nicht im Zuge einer Selbstermächtigung, sondern dank des Rückhalts in einer unverfügbaren Erfahrung«.23 Innerhalb der beständigen Bewegung, der Vielfalt der Ereignisse, gibt es nur eine mögliche Form der Ruhe, des Verweilens: das vollständige Aufgehen in einem singulären Augenblick, eben das »sentiment de l’existence«. Die Ortlosigkeit des Begehrens, die Konstruktion des Naturmenschen ist genau auf diesen (Nicht-)Ort bezogen, der vor allem im fünften Spaziergang beschworen wird. Dieser Zustand der Verwiesenheit auf das ganze Universum in der Rückwendung auf das sentiment de l’existence, des Überall-seins im Bei-sich-sein, der unendlichen Ausdehnung des Augenblicks, ist sozusagen die monadische Grundstimmung im Werk Rousseaus. Hier, in diesem Rückzug, öffnet sich die vorursprüngliche Verwiesenheit als Bezug auf die Unendlichkeit aller möglichen und unmöglichen Singularitäten. Und hier, wo alles Leere, alles Ortlosigkeit, alles blank space wird, ist eine Erfahrung möglich, »qui ne laisse dans l’âme aucun vide qu’elle sente le besoin de remplir«.24 22 Giorgio Agamben: Noten zur Geste, in: Ders: Mittel ohne Zweck – Noten zur Politik, übers. v. Sabine Schulz, Freiburg/Berlin: diaphanes 2001, S.53–62, hier: S.61 23 Dieter Thomä: »Das Gefühl der eigenen Existenz« und die Situation des Subjekts – Mit Rousseau gegen Derrida und de Man denken, in: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.), Philosophie der Dekonstruktion – Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S.311-330, hier: S.326 (den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Klaus Bock von Wülfingen) 24 »Tout est dans un flux continuel sur la terre: rien n’y garde une forme constante et arrêtée, et nos affections qui s’attachent aux choses exterieures passent et changent nécessairement comme elles. Toujours es avant ou en arrière de nous, elles rappellent le passé qui n’est plus préviennent l’avenir qui souvent ne doit point être: il n’ya rien là solide à quoi le cœur se puissent attacher. […] Mais s’il est un état où l’âme trouve une assiette assez solide pour s’y reposer tout entière et rassembler là tout son être, sans avoir besoin de rappeler le passéni d’enjamber sur l’avenir; où le temps ne soit rien pour elle, où le présent dure toujours sans néanmoins marquer sa duréeet sans aucune trace de succession , sans aucun autre sentiment de privation ni de jouissance, de plaisir ni de peine, de désirni de crainte que celui seul de notre existence, et que ce sentiment seul puisse la remplir tout entière; tant que cet état dure celui qui s’y trouve peuts’appeler heureux, non d’un bonheur imparfait, pauvre et relatif, tel que celui qu’on trouve dans les plaisirs de la vie , mais d’un bonheur suffisant, parfait et plein, qui ne laisse dans l’âme aucun vide qu’elle sente le besoin de remplir.« Jean-Jacques

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De l’écriture Insofern wäre diese Erfahrung tatsächlich so etwas wie ein Raum inmitten der Supplementarität, der sich auf keinerlei Supplement bezieht, der – durch sie, den Wandel, die Prozessualität hindurch – Subjektivität auf die Unverfügbarkeit einer Erfahrung zu gründen sucht, die sich ihrer Prozessualisierung entzieht. Was hieße das aber für Derridas Argumentation in der Grammmatologie? Derrida scheint es vor allem darum zu gehen, das, was er als Verdrängung der Schrift (die Rousseau – wie Derrida immer wieder hervorhebt – das gefährliche Supplement nennt) im Phonologozentrismus bezeichnet, in den Texten Rousseaus, vor allem dem Essai sur l’origine des langues, nachzuvollziehen. Rousseaus Essai scheint er jedenfalls als Schauplatz dieser Verdrängung zu lesen, wobei nicht immer ganz klar ist, ob es dabei eine Rolle spielt, was Rousseau davon gehalten haben mag: also ob dieser Text von seinen Funktionsmechanismen weiß oder nicht. Im Zusammenhang dessen, was im Essai zur Schrift gesagt wird, stellen sich diese Fragen natürlich noch einmal sehr nachdrücklich. Hier scheint die Verwerfung der Supplementarität explizit zu werden. L’écriture, qui semble devoir fixer la langue est précisement ce qui l’altère; elle substitue l’exactitude à l’expression. L’on rend ses sentiments quand on parle et ses idées quand on écrit. En écrivant on est forcé de prendre tous les mots dans l’acceptions par les tons, il les détermine comme lui plait; moins

Rousseau: Les rêveries du promeneur solitarie, Texte établi et annoté par S. de Sacy, Paris: Gallimard 1972, S.100f. »Auf Erden ist alles in einem beständige Fluß. Es kann nichts eine bestimmte und festgesetzte Gestalt behalten, also müssen auch unsere Neigungen, die an äußeren Dingen haften, mit diesen vorübergehen und wechseln. Stets vorauseilend oder zurückblickend rufen se die Vergangenheit herbei oder eilen in eine Zukunft voraus, die oft genug nicht sein wird: bei dem allen kann das Herz sich an nichts Festes heften. […] Gibt es aber einen Zustand, in dem die Seele eine hinlänglich feste Lage findet, um sich darin ganz auszuruhen und sich darin ganz zu sammeln, ohne in die Vergangenheit zurückblicken oder in die Zukunft vorgreifen zu müssen, wo alle Zeit ihr gleichgültig ist, wo das Gegenwärtige immer fortdauert, ohne aber seine Dauer merken zu lassen, und ohne irgendeine Spur von Aufeinanderfolge, ohne irgendein Gefühl der Beraubung oder des Genusses, der Freude oder des Kummers, des Verlangens oder der Furcht, bloß auf das Gefühl unseres Daseins eingeschränkt, welches Gefühl allein die Gegenwart ganz erfüllte: solange dieser Zustand währt, kann der, der sich darin befindet, sich glücklich nennen, und zwar nicht auf eine so unvollkommene, armselige, relative Art, wie es bei den Freuden des Lebens geschieht, sondern es wäre ein zureichendes, vollkommenes, überschwengliches Glück, das in der Seele keine Leere auszufüllen lässt.« Jean-Jacques Rousseau: Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in: ders., Schriften Band 2, hg. v. Henning Ritter, S.637-760, hier: S.699

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BLANK SPACES gêné pour être clair, il donne plus à la force, et il n’est pas possible qu’une langue qu’on écrit garde longtems la vivacité de celle qui n’est que parlée. On écrit les voix et non pas les sons: or dans une langue accentuée ce sont les sons, les accens, les infléxions de toute espéce qui font la plus grande énergie du langage; et rendent une phrase, d’ailleurs commune, propre seulement où elle est. Les moyens qu’on prend pour suppléer à celui là étendent, allongent la langue écrite, et passant des livres dans le discours énervent la parole même. En disant tout comme on l’écriroit on ne fait plus que lire en parlant.25

Was Rousseau verwirft, ist somit nicht nur die Veränderung oder Verarmung, die die Schrift an der Sprache vornimmt, sondern ihre fehlende Potenz die Bewegung der Sprache selbst, ihre Energie, ihre Intensitäten aufzunehmen. Allerdings ist die Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit komplizierter als es den Anschein hat. Sicherlich ist für Rousseau nur das gesprochene Wort in der Lage, diese spezifische sprachliche Intensität hervorzubringen, die Schrift geht aber zugleich darüber hinaus und dahinter zurück. Ihre Armut besteht in ihrer Exaktheit. Die Fixierung, die sie vorzunehmen scheint, ist eine Veränderung. Die Schrift hat eine eigene Dynamik, eine andere Dynamik als das gesprochene Wort: Sie tendiert dazu, die Bewegung abzuschließen und zwar auf einer Ebene, die den Reichtum der Sprache reduziert. Dennoch macht Rousseau Vorschläge, inwiefern diese Reduktion, bspw. durch eine genauere Interpunktion, zumindest teilweise zurückgenommen werden kann. Er begeistert sich für die Schönheit der Buchstaben alter

25 Rousseau: Essai sur..., S.79f. »Die Schrift, die eigentlich die Sprache festhalten müßte, ist genau diejenige, die sie verändert. Zwar verändert sie nicht die Worte, aber den Sinn; sie ersetzt Ausdruck durch Genauigkeit. Wenn man spricht, äußert man seine Gefühle; wenn man schreibt, äußert man seine Ideen. Beim Schreiben ist man gezwungen, alle Worte in der allgemeinen Bedeutung zu benutzen; der Sprechende hingegen variiert die Bedeutung durch Betonungen, er legt sie so fest, wie es ihm gefällt; weniger um Eindeutigkeit sich kümmernd, legt er mehr in die Kraft des Ausdrucks; es ist nicht möglich, daß eine geschriebene Sprache auf lange Zeit die Lebendigkeit derjenigen Sprache bewahrt, die nur gesprochen wird. Man schreibt Vokale und nicht die Wortklänge. Nun sind es in einer akzentuierten Sprache eben die Wortklänge, die Akzente und Modulationen ausmachen; sie formen auch einen ganz gewöhnlichen Satz je nach Maßgabe des Platzes an dem er steht. Die Mittel, die man benutzt, um das zu kompensieren, machen geschriebene Sprache weitschweifig und ausführlich, und wo man direkte Rede schriftlich wiedergibt, verliert das Wort alle Kraft. Wenn man alles so sagen würde, wie man es schreibt, täte man nichts anderes als abzulesen, anstatt zu sprechen.« Rousseau: Essay über..., S.113f.

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Schriften und – vor allem – er billigt der Schrift als Gegenpol des Dialekts auch einen zumindest ambivalenten Wert zu.26 Indem er die Schrift zum Gegenüber sowohl des Reichtums als auch der Beschränktheit des gesprochenen Worts macht, wird die einseitige Präferenz der mündlichen Rede fraglich. Es scheint eher so, als ob es sich bei Schrift und mündlicher Rede um verschiedene sprachliche Dimensionen handelt. Rousseaus Schriftbegriff ist sicherlich weit entfernt von dem Derridas. In seinem Freud-Aufsatz in Die Schrift und die Differenz arbeitet Derrida die Beziehung zwischen Einschreibung und Zeitlichkeit als Schauplatz der Schrift heraus. Schrift erscheint hier als genau der NichtOrt des nichtursprünglichen Ursprungs: als Verräumlichung der Zeit, als Spur. Das Eigentliche der Schrift haben wir an anderem Orte, in einem schwierigen Sinn dieses Wortes, Verräumlichung genannt: Zwischenräumlichkeit und Raumwerdung der Zeit, Entfaltung ebenfalls von Bedeutungen in einer ursprünglichen Lokalität, die die unumkehrbare lineare Abfolge, die von Präsenzpunkt zu Präsenzpunkt voranschritt, nur hinhalten konnte und deren Verdrängung ihr in gewissem Maße nicht gelang. [...] In jeder schweigsamen oder nicht rein phonischen Verräumlichung der Bedeutungen sind Verkettungen möglich, die der Linearität der logischen Zeit, der Zeit des Bewußtseins oder des Vorbewußtseins, der Zeit der ›Wortvorstellung‹ nicht mehr gehorchen.27

Dieser Schauplatz der Schrift ist nach Derrida das innere Außen der Sprache, jene heterogene Verräumlichung, in der die Sprache erscheint und den sie – als Homogenisierungsmedium – zu verdrängen beginnt. Natürlich ist es genau die Unmöglichkeit dieser Verdrängung, die Derridas Rousseau-Lektüre nachzuweisen versucht, wobei eine Volte dieses Nachweises in der Frage besteht, ob Rousseau das, was er hat sagen wollen, innerhalb der Rahmungen der Diskursivität seiner Zeit anders hätte sagen können. Wichtiger als die jeweilige Zuschreibung der Dichotomie mündliche Rede/Schrift scheint mir deshalb die Frage ihrer Organisation zu sein: Die Weise in der der Text in der Lage ist, sie von ihrem Zwi26 »Les dialectes distingués par la parole se rapprochent insensiblement à un modéle commun. Plus une nation lit et s’instruit, plus qu’en forme de jargon chez le peuple, qui lit peu et qui n’écrit point.« Rousseau: Essai sur…, S.82 »Je mehr ein Volk liest und sich bildet, desto mehr verblassen die Dialekte; und bei dem Volk, das wenig liest und überhaupt nicht schreibt, bleibt am Ende nur noch eine Art Jargon übrig.« Rousseau: Essay über..., S.114f. 27 Jacques Derrida, Freud und der Schauplatz der Schrift; in Ders., Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S.302-350, hier: S.330f.

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schen aus in Bewegung zu bringen. Genau an diesem Punkt berühren sich die Texte Rousseaus und Derridas. Die von mir zitierte zentrale Passage des Kapitels De l’écriture scheint Derrida (oder vielleicht besser: der gängigen Rezeption der Grammatologie) zwar recht zu geben. Rousseau geht es darin aber nicht um das Phantasma einer reinen Präsenz, dem sich die ursprüngliche Nichtursprünglichkeit des Derridaschen Schriftbegriffs entgegensetzen ließe, sondern vielmehr um die Bewegung einer Zwischenräumlichkeit – zwischen Menschen, zwischen Repräsentation und Leere, Bewegung und Fixierung – die, wie er meint, sowohl in der Schrift als auch der mündlichen Rede nicht oder nur unzulänglich erscheinen kann und doch nur dort möglich ist: das In-der-Sprache-sein und dort hindurch und nur dort hindurch: das Gefühl der eigenen Existenz selbst. Insofern organisiert Derrida die Pole neu, verfeinert und radikalisiert sie, um am Ende gleichwohl das zu zeigen, worum es Rousseau geht: das wir eben jenen virtuellen Zwischenraum bewohnen, dessen Pole als Schrift und gesprochenes Wort figuriert werden können, dessen Äquator aber weder das eine noch das andere ist. Und es ist vielleicht die notwendig äußerst verschlungen vorgetragene Intention der Grammatologie, darauf hinzuweisen, dass die Dichotomie zwischen gesprochenem Wort und Schrift eben eine Hervorbringung des Phono-, bzw. Logozentrismus ist, an dessen Auflösung der Text Rousseaus arbeitet. Der Konventionalität von Rousseaus Schriftbegriff würde dann vielleicht eben Derridas Gegenüberstellung von Schrift und Mündlichkeit (bzw. die scheinbare Konventionalität seiner Rousseaurezeption) entsprechen.

Ce léger mouvement Sprache wäre dann das Zwischen von Verräumlichung und Chronologie, die Geste der Maskierung zwischen Sinn und Nicht-Sinn. Ihr Auftauchen korrespondiert der leichten Veränderung der Erdachse, die Rousseau im Essai nachvollzieht und die Derrida als katastrophisches Eingreifen eines abwesenden Gottes interpretiert: auf einmal wird aus dem beständig Gleichen die Geschichte eines Verfalls, die Geschichte eines Missverständnisses, die Geschichte der Sprache und der Gesellschaftlichkeit. Celui qui voulut que l’homme fut sociable toucha du doigt l’axe du globe et l’inclina sur l’axe de l’univers. A ce léger mouvement je vois changer la face de la terre et décider la vocation du genre humain: j’entens au loins les cris de joye d’une multitude insensée; je vois édifier les Palais et les Villes; je vois naitre les arts[,] les lois[,] le commerce; je vois les peuples se former,

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ROUSSEAU: ESSAI SUR L’ORIGINE DES LANGUES s’étendre, se dissoudre, se succéder comme les flots de leur demeure pour s’y dévorer mutuellement[,] faire un affreux desert du reste du monde; digne monument de l’union sociale et de l’utilité des arts.28

Es ist diese Neigung, die das Auftauchen der Sprache an den Dingen bewirkt, die nun anfangen, einen Sinn zu bekommen und sich so der Sinnlosigkeit ausliefern (erst die Sprache setzt diese Dichotomie in ihr Recht und somit sowohl das eine als auch das andere). Und der fremde Gott, der hier einschreitet, ist natürlich kein anderer als der Autor des Essai selbst. Die Bilder, die hier sichtbar werden, sind Figurationen der Leere, ohne Bedeutung, ohne Sinn, das Leben aus der Perspektive seines Anderen, des Todes. Rousseau gelingt es hier in einem Satz das Auftauchen dieses Sinns mit der Sprache und die hinter dieser Maske verborgene Sinnlosigkeit zu beschreiben. Genau das ist es, was in der Sprache geschieht und was sich nur in einer sich gerade auf diesen Zusammenhang beziehenden Literatur zeigen kann. Worum es Rousseau zu gehen scheint, ist, diese Bewegung des Fingers, diese Gleichzeitigkeit von Differenz und Wiederholung, diesen Ur-Sprung zu zeigen, also sich gleichzeitig der Perspektive der »cris de joye d’une multitude insensée« auszuliefern und zu entziehen. Dieser Entzug ist es, den Rousseau der Ortlosigkeit seines Begehrens abgerungen hat: die Kultur, ihre Geschichte, wird so als monumentale Prosopopöie lesbar. Und es ist die Bewegung der Maskierung, der virtuellen Bindung selbst, auf die diese Demaskierung hinaus will: als aporetische Gleichzeitigkeit von Bindung und Trennung, Stillstand und Bewegung, Bedeutung und Leere oder, in der Formulierung des wohl berühmtesten Paradoxons Rousseaus: »L’homme edžt né libre, et par-tout il edžt dans les fers«.29 Rousseaus Ort, der Ort seines 28 Rousseau: Essai sur..., S.99f. »Derjenige, welcher wünschte, daß der Mensch gesellig werde, berührte mit dem Finger die Achse des Globus und neigte ihn zur Achse des Universums. Durch diese kleine Bewegung sehe ich das Antlitz der Erde verändert und das Geschick der menschlichen Rasse entschieden. Von fern höre ich die Freudenschreie der unwissenden Menge, sehe Paläste und Städte entstehen und die Künste erblühen, die Gesetze und den Handel; ich sehe die Völker sich bilden, ausbreiten, auflösen und einander folgen wie die Fluten des Meeres, ich sehe Menschen, die sich in verschiedenen Gegenden in ihren Ansiedlungen zusammenballen, um sich gegenseitig zu zerfleischen und aus der übrigen Welt eine entsetzliche Wüste zu machen, ein würdiges Denkmal der sozialen Verbindung und der Nützlichkeit von Künsten und Wissenschaften. Rousseau: Essay über..., S.127f. 29 Jean Jacques Rousseau: Du Contrat social – précédé de Discours sur l’économie politique et de Du Contrat social première version et suivi de Fragments politiques, Texte établi, présenté et annoté par Robert Derathé, Paris (Gallimard) 1964, S.173 Die Funktion der volonté generale scheint mir gerade darin zu bestehen, dass sie die Unmöglichkeit dieses Paradoxons in den Begriff der Volkssouveränität überführt: Souveränität heißt bei Rousseau – wenn man den Contrat social

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Schreibens, seiner unaufgelösten Wiedersprüche, ist die paradoxe Ortlosigkeit dieses Dazwischen: zwischen der ohnmächtigen und abhängigen Freiheit des Neugeborenen und den Ketten der materialisierten Phantasmen sozialer Souveränität. Genau in dieses Dazwischen sieht er den Menschen durch die Sprache gestellt. Mit dieser Passage sind wir bereits mitten im zentralen Teil des Essai, dem Kapitel über die Formation des langues méridionales.

Der Ursprung der Sprachen Der Essai sur l’origine des langues ist ein Versuch, den Ursprung in seiner defigurativen Dynamik zu lesen, in seinen Brüchen, seiner Ambiguität, seiner Reise durch die virtuellen Räume der Sprache. Diese Bewegung des Ursprungs und der Phantasie ist letztlich nichts anderes als die Verweigerung der Urphantasie. Rousseau versucht sie nachzuvollziehen, indem er die Topographie mit der Chronologie als strukturellem Korrelat der Figuralität konfrontiert und so eine Zwischenräumlichkeit produziert, die ihre Verortungen der Ortlosigkeit ausliefern. Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass sich in diesem Text so etwas wie ein Zentrum findet: es handelt sich dabei um das neunte Kapitel, das die Entstehung der Sprachen des Südens behandelt. Auch wenn ihm sofort ein Kapitel über die Entstehung der Sprachen des Nordens folgt, so erscheint doch das neunte Kapitel in Umfang und Inhalt eine herausgehobene Stellung einzunehmen. Der Ursprung der Sprachen des Südens wird auf vier ineinander verschobenen Ebenen inszeniert: dem Chaos der Elemente, dem Brunnenfest und – quer dazu – der endogamen Familie und dem Inzesttabu. Das Chaos der Hervorbringungen der Elemente 30 erscheint fast als Beschreigenau liest – Ausschließung des souveränen Phantasmas, letztlich also: Widerstand gegen die Souveränität. Die Performative der totalen sozialen Souveränität bei Durkheim lassen sich insofern nicht auf Rousseau zurückführen, wenn sie sich auch auf ihn beziehen. Zwischen beiden besteht zwar ein Verhältnis der Intertextualität, allerdings eines des – durch die traditionelle Rousseau-Rezeption vermittelten – Verrats. Siehe auch: Paul de Man: Metapher und: Ders.: Promises, in: Ders., Allegories of Reading, New Haven: Yale University Press 1979, S.246-277 30 »Le prémier état de la terre differoit beaucoup de celui où elle est aujourdhui qu’on la voit parée ou défigurée par la main des hommes. Le cahos que les Poëtes ont feint dans les élemens régnoit dans ses productions [sic!, S.T.]. Dans ces tems reculés oú les révolution étoient fréquentes, ou mille accidens changeoient la nature du sol et les aspects du terrein, tout croissoit confusément, arbres, légumes[,] arbrisseux[,] herbages; nulle espéce n’avoit le tems de s’emparer du terrein qui lui convenoit le mieux et d’y étouffer les autres; elles se séparoient lentement, peu à peu, et puis un bouleversement survenoit qui confondoit tout.« Rousseau: Essai sur…, S.103f.

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bung einer Triebökonomie, die ein labiles Gleichgewicht inmitten ihres katastrophischen Pulsierens ermöglicht: die Naturkatastrophen treiben die Menschen abwechselnd auseinander und zusammen. Es entstehen zwar temporäre Gemeinschaften, aber jenseits der Gesellschaftlichkeit und – was hier das gleiche ist – der Sprache. Inmitten dieses Gleichgewichts des Chaos, der Zusammenkunft und der Zerstreuung, beginnen sich die Menschen in den trockeneren Gebieten des Südens allmählich an Brunnen zu begegnen, über deren gemeinsame Nutzung man sich zu einigen hatte. Dort findet jenes sagenhafte Fest statt, das Rousseau in einer langen und schönen Passage feiert und in dem Begehren, Musik und Sprache als gleichzeitige Dimensionen einer einzigen Bewegung entstehen. Ein ›goldenes Zeitalter‹ (das sich jedoch in einem entscheidenden Punkt von den Lévi-Straussschen Mythen unterscheidet: es ist kein Mythos, es bezieht sich nicht oder eher anders auf den Inzest), ein wunderbarer mittlerer Zustand, der in der Sprache nachklingt. Mais dans les lieux arides où l’on ne pouvoit avoir de l’eau que par des puits, il falut bien se réunir pour les creuser ou du moins s’accorder pour leur usage. Telle dut être l’origine des sociétés et des langues dans les pays chauds. Là se formérent les prémiers liens des familles; là furent les prémiers rendez-vous des deux séxes. Les jeunes filles venoient chercher des l’eau pour le ménage, les jeune hommes venoient abruver leurs troupeaux. Là des yeux accoutumés aux mêmes objets dès l’enfance commencérent d’en voir de plus doux. Le cœur s’émut à ces nouveaux objets, un attrait inconnnu le rendit moins sauvages, il sentit le plaisir de n’être pas seul. L’eau devint insensiblement plus necessaire, le bétail eut soif plus souvent; on arrivoit en hâte et l’on partoit à regret. Dans cet age heureux où rien ne marquoit les heures, rien n’obligeoit à les compter; le tems n’avoit d’autre mesure que l’amusement et l’ennui. Sous de vieux chênes vainqueurs des ans une ardente jeunesse oublioit par dégrés sa férocité, on s’apprivoisoit peu á peu les uns avec les autres; en s’efforçant de se faire entendre on apprit à s’expliquer. Là se firent les prémiéres fêtes, les pieds bondissoient de joye, le geste empressé ne suffisoit plus, la voix l’accompagnoit d’accens passionés, le plaisir

»Der ursprüngliche Zustand der Erde unterschied sich sehr von dem heutigen, den man von der Hand des Menschen zugerichtet und entstellt sieht. Das Chaos, das die Poeten den Elementen angedichtet haben, beherrschte mehr deren Hervorbringungen. In jenen verflossenen Zeiten, da Veränderungen der Erde häufig waren und tausend Katastrophen die Natur des Bodens und das Bild des Landes verwandelten, wuchs alles wild durcheinander – Bäume, Gemüse, Sträucher, Gräser; keine Pflanzenart hatte Zeit, sich des günstigsten Terrains zu bemächtigen und die anderen zu verdrängen. Sie sonderten sich langsam und allmählich, und endlich kam irgendeine Umwälzung, die alles durcheinanderbrachte.« Rousseau: Essay über..., S.130f.

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BLANK SPACES et le desir confondus ensemble se faisoient sentir à la fois. Là fut enfin le vrai berceau des peuples, et du pur cristal des fontaines sortirent les prémiers feux de l’amours.31

Dieses ›Brunnenfest‹ (das nach Derrida die Ankunft der reinen Präsenz und bei Starobinski den Ort absoluter Transparenz markiert) versucht, die reine Zwischenräumlichkeit eines Begehrens zu figurieren, das die ersten Bindungen zwischen den Menschen herstellt. Das, was dabei entsteht, ist die Sprache, eine Sprache die zugleich Bewegung des Körpers als Hinwendung zum Anderen ist, außerzeitliche Zeitlichkeit und Musik, nichts als das Begehren sagen und wollende Immanenz. Das, was sich dem reinen Kristall dieser Brunnen verdankt, ist eine zwecklose Mittelbarkeit, Bindung, Zugewandtheit: die Gabe, die Gabe der Sprache als reine Bindung. Dieser Schilderung, die scheinbar den Höhepunkt und Abschluss des neunten Kapitels markiert, folgt ein doppelter Nachtrag: Der folgende Absatz beschreibt die inzestuösen Verhältnisse innerhalb der Familien vor dem Brunnenfest, die sich in ihrem eigenen Blute fortpflanzten: »on devenoit marie et femmes sans avoir cessé d’être frére et sœur«32. Und diesem Absatz ist eine Fußnote angehängt, die die Notwendigkeit einer solchen Praxis unterstreicht, um sogleich die Bedeutung jenes heiligen

31 Rousseau: Essai sur..., S.106f. »In trockenen Gebieten aber, wo man das Wasser nur aus Brunnen haben konnte, war es wohl nötig, sich zusammenzutun, um diese zu graben oder zumindest sich über deren Nutzung zu einigen. So muß der Ursprung der Gemeinschaften und der Sprachen in den warmen Ländern ausgesehen haben. Dort auch bildeten sich die ersten Familienbande, dort kam es zu den ersten Rendez-vous der beiden Geschlechter. Die jungen Mädchen kamen, um Wasser zu holen, die jungen Männer, um ihre Herden zu tränken. Dort begannen die Augen, die von Kindheit an immer die gleichen Gegenstände zu sehen gewohnt waren, reizendere Dinge zu erblicken. Das Herz neigte sich ihnen zu, ein bislang unbekannter Zauber sänftigte seine Wildheit, und es empfand Freude daran, nicht allein zu sein. Das Wasser wurde allmählich immer wichtiger, das Vieh hatte öfter Durst; man kam eilig zum Brunnen und verließ ihn mit Bedauern. In dieser glücklichen Zeit, da die Stunden nicht eingeteilt waren, gab es keinen Zwang, sie zu zählen. Die Zeit hatte kein anderes Maß als das der Belustigung und der Langeweile. Unter alten Eichen, die die Jahre hatten kommen und gehen sehen, vergaß eine feurige Jugend allmählich ihre frühere Wildheit. Nach und nach zähmte man sich gegenseitig. Kraft des Bemühens, sich verständlich zu machen, lernte man sich auszudrücken. Nun fanden auch die ersten Feste statt, die Füße sprangen vor Freude, die ausdrucksvolle Geste reichte nicht mehr aus, die Stimme begleitete sie mit leidenschaftlichen Ausbrüchen. Freude und Begehren, miteinander vermischt, wurden nun zugleich empfunden. Dort also stand die wirkliche Wiege der Völker, aus dem reinen Kristall der Brunnen stiegen die ersten Feuer der Liebe.« Rousseau: Essay über..., S.133 32 Rousseau: Essai sur..., S.107

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Gesetzes zu betonen, das den Inzest verbietet und dessen Nichtbeachtung »bald den Niedergang der menschlichen Gattung zur Folge haben« würde. Il falut bien que les prémiers hommes époussent leurs sœur. Dans la simplicité des prémiéres mœurs cet usage se perpetua sans inconvenient tant que les familles restérent isolés et meme après la réunion des plus anciens peuples; mais la loi qui l’abolit n’en est pas regardent que par la liaison qu’elle forme entre les familles n’en voyent pas le côté le plus important. Dans la familiarité que le commerce domestique établit necessairement entre les deux sexes, du moment qu’une si sainte loi cesseroit de parler au cœur et d’en imposer aux sens, il n’y auroit plus d’honnéteté parmi les hommes et les plus effroyables mœurs causeroient bientôt la destruction du genre humain.33

Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob sich das Tabu auf den Mutter- oder Geschwisterinzest bezieht. Rousseaus ausschließliche Erwähnung des letzteren könnte dazu dienen, den ersteren zu verdecken, unsichtbar zu machen. In der Logik seiner Argumentation gibt es jedenfalls keinen Unterschied zwischen beiden. Im Stadium des Brunnenfests ist jede Verbindung möglich: es gibt keinerlei Tabu, keinerlei – auch nicht familiäre – soziale Institution. Die Begründungen, die Rousseau für die Notwendigkeit des Tabus gibt, sind allerdings – gelinde gesagt – dürftig und – wie Derrida konstatiert – widersprüchlich, zumindest aber tautologisch: Die Moralität des Inzesttabus wird letztlich mithilfe der Moral des Inzesttabus erklärt. Es handelt sich folglich um eine Erklärung, die deutlich macht, dass es hierfür keine Erklärung gibt, dass die Notwendigkeit des Tabus eben darin besteht, dass es für die von ihm errichtete Ordnung fundamental ist, dass aber andersherum die Welt des Brunnenfests, die dieser Ordnung vorauszugehen, sie hervorzubringen scheint, jenseits von ihr gedacht werden muss. Diese Verschmelzung, diese reine Bindung kann nur in Bewegung gedacht werden, sie darf nirgendwo ankommen, das, was aus ihr folgt, muss unter das Gesetz einer anderen, ihr äußerli33 Rousseau: Essai sur…, S.107 »Es war durchaus nötig, daß die ersten Menschen ihre Schwestern heirateten. In der Einfachheit der frühesten Sitten wurde dieser Brauch ungehindert fortgeführt, solange die Familien isoliert blieben, sogar nach Bildung der ältesten Völker; das Gesetz freilich, das ihn abschaffte, ist als Einrichtung der Menschheit nicht weniger heilig. Diejenigen, die es nur im Hinblick auf die Verbindung zwischen Familien betrachten, sehen nur die am wenigsten wichtige Seite. In der Vertraulichkeit, die das häusliche Zusammensein notwendigerweise zwischen den Geschlechtern stiftet, gäbe es von dem Moment an, da ein so heiliges Gesetz nicht mehr zum Herzen der Menschen spräche und auf die Sinne wirkte, keinerlei Ehrbarkeit mehr unter den Menschen, und die schrecklichsten Sitten würden bald den Niedergang der menschlichen Gattung zur Folge haben.« Rousseau: Essay über..., S.134

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chen Ökonomie gestellt werden. Wenn diese Bewegung der Inzest sein soll, dann heißt das, dass das Fest selbst dieses Nicht-Ankommen figuriert, die Unabschließbarkeit einer Virtualität, die das Inzesttabu zugleich installiert und abzuschließen sucht. Das Fest selbst wäre der Inzest selbst, wofern etwas Derartiges – selbst – stattfinden konnte; wenn es aber stattfand, dann durfte der Inzest das Verbot nicht bestätigen: vor dem Verbot ist es kein Inzest; verboten kann es nur zum Inzest werden, wenn es das Verbot anerkennt. Man ist immer diesseits oder jenseits der Grenze, des Festes, des Ursprungs der Gesellschaft, einer Gegenwart, in der das Verbot gleichzeitig mit der Übertretung gegeben ist (wäre): was immer vorübergeht (begangen wird) und (dennoch) niemals eigentlich stattfindet. Es ist immer so als ob ich einen Inzest begangen hätte. Die Entstehung der Gesellschaft ist somit kein Übergang, sie ist vielmehr ein Punkt, eine reine, fiktive und unbeständige Grenze. Sie erreichend überquert man sie. In ihr bricht die Gesellschaft an, und in ihr verschiebt sie sich. Mit ihrem Beginn beginnt auch ihr Verfall. Alsbald wird der Süden zum Norden seiner selbst.34

Das Brunnenfest stellt einen der Ökonomie des Tabus radikal entzogenen Raum dar, an dem keine Überschreitung möglich ist, da es keine Trennung, keine Grenzen gibt, alles Bindung ist. Insofern ist es gerade das, was sich an seiner statt ereignen könnte, was das Tabu untersagt, in dieser Virtualität aber erhalten bleibt: Ein Raum, der sich in keiner Weise durch das Inzesttabu hindurch errichten lässt, ihm aber dennoch vorausgeht, es hervorzubringen scheint, ohne dass angegeben werden könnte auf welche Weise. Es ist hier unmöglich, dass sich das Begehren auf die Mutter oder die Schwester, den Vater oder den Bruder richtet: es gibt diese Institutionen nicht. Nur in dem Maße, indem sich die Bewegung dieses Begehrens den familiären Institutionen entzieht, kann sie sich ereignen. Der Punkt der Entstehung der Gesellschaft ist der Umschlag des Begehrens hin zu den sozialen Institutionen. Genau das wird vom Tabu bewerkstelligt, das ist die notwendige Verschiebung, die es herstellt: das Begehren ist von nun an an die Grenze (an das Phantasma) und damit an die Überschreitung gebunden. Gleichzeitig entsteht aber die Sphäre der Unmöglichkeit dieser Überschreitung, die Notwendigkeit des als ob, der Virtualität oder Supplementarität: und in gewisser Weise erscheint der Inzest aus der Perspektive des Tabus selbst als diese Virtualität, die er – fände er statt – ausschließen würde.

34 Derrida: Grammatologie, S.457

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ROUSSEAU: ESSAI SUR L’ORIGINE DES LANGUES

Süden und Norden Das Inzesttabu schiebt sich wie ein Keil zwischen das Kapitel über die Entstehung der Sprachen des Südens und das über die des Nordens. Im Text Rousseaus wird es an einer Stelle – der Beschreibung des Brunnenfests – figuriert, in der es nicht erwähnt und nur von seinen Rändern her (dem nächsten Absatz, der sich auf ein Davor und der Fußnote, die sich auf ein Danach bezieht) bezeichnet wird. Dort, an diesen Rändern, diesem Keil zwischen beiden Kapiteln, wird vom Tabu gesprochen. Vorher gab es keinen Inzest, da es das Verbot noch nicht gab, danach gibt es keinen Inzest, weil es das Verbot gibt. Das Brunnenfest ist also nicht inzestuös, jedenfalls nicht im literarischen Raum des Essai. Trotzdem scheint das Brunnenfest das Tabu zu evozieren, vom Jetzt des Textes aus ist es absolut notwendig, um das zu verhindern, was sich im nächsten Kapitel ereignen wird: die Formation des langues du nord. Dieses folgende, sehr knapp gehaltene Kapitel über die Entstehung der Sprachen des Nordens komplettiert die Konstellation, macht die Reinheit der Bindung im vorhergehenden Kapitel erst möglich, da es als Antipode auftritt: Der harte Ursprung der Sprachen des Nordens entstammt der Notwendigkeit zu gegenseitiger Hilfe, um gemeinsam gegen die Anforderungen einer feindlichen Natur ankämpfen zu können. Im Gegensatz zum Gesang des Südens ist es der Schrei und im Gegensatz zur Leidenschaft die Bedürftigkeit, die die nördlichen Sprachen charakterisieren. Rousseaus Kunstgriff besteht darin, dass er die Bedürftigkeit, die Passivität vom Raum des reinen Begehrens abtrennt und in den Raum der Gewalt und des Todes überführt. Vielleicht ist das tatsächlich der Tribut, den er der spezifischen Konstitution seines Begehrens zu entrichten hat. Während Rousseau also das Begehren der reinen Bindung überantwortet und vom Raum der Trennung löst, schreibt er die Bedürftigkeit ein in den zerstückelten Raum der Trennung, der Entbindung, des Todes. Der Ursprung der langue du nord wird zum traumatischen Raum einer Bedürftigkeit, der nichts als die Gewalt antwortet und die sich auch nicht anders denn als Gewalttätigkeit äußern kann. Mais dans le Nord où les habitans consomment beaucoup sur un sol ingrat, des hommes soumis à tant de besoins sont faciles à irriter; tout ce qu’on fait autour d’eux les inquiéte: comme ils ne subsistent qu’avec peine, plus ils sont pauvres, plus ils tiennent au peu qu’ils ont; les approcher c’est attenter à leur vie. Delà leur vient ce tempérament irascible si prompt à se tourner en fureur contre tout ce qui les blesse. Ainsi leurs voix les plus naturelles sont

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BLANK SPACES celles de la colère et des menaces, et ces voix s’accompagnent toujours d’articulations fortes qui les rendent dures et bruyantes.35

Beide Ursprünge stellen zwei völlig verschiedene Weisen des Bezugs auf den anderen bzw. das Andere dar, die sich dennoch gegenseitig kreuzen. Der Mensch des Nordens, dem der andere zum abjekten Gegenstand der Furcht, zum Riesen wird, bedarf dennoch dessen Hilfe. Seine Ohnmacht schlägt jedoch in Gewalt um, in das Phantasma einer Souveränität, die sich die Welt zu unterwerfen trachtet, analog jener Geste, die am Beginn des zweiten Teils der Abhandlung über die Ungleichheit erscheint und in der ein Namenloser in einem identifikatorischen Gewaltakt die bürgerliche Gesellschaft begründet: »ceci est à moi« .36 Die Figuration dieses gewalttätigen Ursprungs der Sprachen trennt das in der Brunnenfestpassage inszenierte Begehren von seiner traumatische Dimension. Und diese Verschiebung ermöglicht es Rousseau, sein autoerotisches Universum auf die Bewegung der maternité hin zu öffnen. Das Begehren selbst wird zu dem, was Starobinski transparence nennt: zum unmöglichen Ort einer reinen Bindung. Das Inzesttabu ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Konstruktion, die Verschiebung, die zugleich verhindert, dass sich ein dichotomisches oder dialektisches Verhältnis herstellt, beide Räume sich direkt aufeinander zu beziehen beginnen. Es konstituiert den dritten Raum, der die reine Bindung verunmöglicht und das céci est à moi, die Einverleibung, virtualisiert. Damit wird aber noch eine andere Dimension der Fußnote zum Inzesttabu deutlich: Sie stellt die nicht erklärliche und doch notwendige Verbindung zu diesem geteilten Ursprung her. Dieses als Fußnote inszenierte Tabu installiert eine Ökonomie, die beide Ursprünge auszuschließen sucht und gleichzeitig das einzige Medium ist, das ihre Figuration ermöglicht. Die Weise, in der es im Text erscheint (als Fußnote, also als Nachtrag – als Supplement), stellt ein spezifisches Verhältnis zwischen dieser Ökonomie und ihrem Außen her: Das Verhältnis einer Zeitlichkeit, die man mit Freud als Nachträglichkeit bezeichnen kann, also Bre35 Rousseau: Essai sur..., S.111 »Im Norden aber, wo die Menschen sich auf einem unfruchtbaren Boden verbrauchen, sind die Menschen, als Sklaven so vieler Bedürfnisse, leichter zu erregen. Alles, was um sie herum geschieht, beunruhigt sie. So, wie sie nur mit Mühe überleben, so hängen sie, je ärmer sie sind, umso mehr an dem wenigen, was sie haben. Sich ihnen zu nähern heißt, sich an ihrem Leben zu vergreifen. Daher rühren das reizbare Temperament und das plötzliche Umschlagen in Zorn gegen alles, was sie berührt. So sind ihre natürlichen Verlautbarungen die des Zorns und der Drohung, und diese werden immer begleitet von sehr lauten Artikulationen, die sie hart und gellend machen.« Rousseau: Essay über..., S.136 36 Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, S.94

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ROUSSEAU: ESSAI SUR L’ORIGINE DES LANGUES

chung oder Demaskierung der Chronologie, der Linearität. Die Nachträglichkeit ist insofern die Zeitlichkeit der Supplementarität. Der Norden erscheint innerhalb des Textes nach dem Tabu und auch wenn der Text das nicht ausdrücklich sagt: in ihm erscheint das, was das Tabu zugleich produziert und auf Abstand hält. In einem ganz bestimmten Sinne ist nicht das Brunnenfest, sondern der Norden der Inzest selbst – und zwar als Aussetzung der Virtualität, als reale Einverleibung, die im Wörtlichnehmen der Metapher droht – das souveräne Phantasma als Effekt der Entbindung. Zugleich gilt aber: Gerade ohne dieses ›Zwischen‹ des Tabus würde »der Süden zum Norden seiner selbst«. Während das Brunnenfest folglich die Überbietung des Autoerotismus, seine Überbordung durch die Gabe als reine Bindung figurierte, wäre der Norden der Raum der reinen Spaltung. Der Ur-Sprung ist diese Verschiebung, die das Inzesttabu nachträglich zwischen der Bindung und der Trennung konstituiert. Er nistet im Abstand zwischen den Orten, die Rousseau als topographische und chronologische beschreibt; er ist der Sprung durch einen Raum, der keiner ist, der durch diesen Sprung erst entsteht. Diese Bewegung, die auf dem Entzug der ihr zugrundeliegenden Verräumlichung beruht, die nachträglich diese Topographie verschiebt und wiederholt, ist Supplementarität resp. Metaphorizität. Der Norden und der Süden sind so beides: sie sind Orte der NichtMetaphorizität, aporetische Orte, die der Potentialität der reinen Bindung als auch der allumfassenden Gewalt der reinen Trennung stattgeben. Gleichzeitig aber erscheint der Süden gegenüber dem Norden als Ort einer reinen Virtualität, in der alles möglich, nichts ausgeschlossen ist, alles beginnt, nichts endet und der Augenblick ewig währt: »un bonheur suffisant, parfait et plein, qui ne laisse dans l’âme aucun vide«. Der Norden ist in dieser Konstellation die Tat, die Gewalt, der Stillstand, das Trauma. Im Zwischen dieser Konstellationen erscheint der UrSprung der Sprache: zwischen Süden und Norden, Bindung und Entbindung. Sie enthält – so lese ich jedenfalls den Essai – damit zugleich aber auch als ihr inneres Außen das Andere dieses Zwischen, das, was die Bewegung dieses Zwischen erst anstößt: den Norden und den Süden, die A-Chronie und A-Topie von Trauma und Gabe.

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2. D I D E R O T : L E N E V E U

DE

RAMEAU

Mes pensée, ce sont mes catins.1

Diderot / Rousseau Denis Diderots Freundschaft mit Rousseau und deren abruptes Ende sind bekannt. Aus dieser Beziehung ergibt sich eine Fülle offener intertextueller Bezüge. Interessanter noch aber ist die untergründige Verzweigung der ›Werke‹, da sich der Höhepunkt der Freundschaft vor der Entstehung der wichtigsten Texte ereignete. Den Äußerungen der beiden Protagonisten über den jeweiligen Einfluss des anderen ist nicht zu trauen. Die Chronologie der beiden Texte, die mich hier hauptsächlich interessieren, Rousseaus Essai und Diderots Dialog Le Neveu de Rameau, legt nahe, von einer bestimmten Richtung des Einflusses auszugehen. Der Essai ist wahrscheinlich ein knappes Jahrzehnt vor dem Neveu entstanden, das Thema, das beide verbindet, die Musik, gilt gemeinhin als Domäne Rousseaus, der für die musiktheoretischen Artikel in den ersten Bänden der Enzyklopädie verantwortlich zeichnete. Einiges, so scheint es mir jedenfalls, was im Neveu nicht nur zu diesem Thema gesagt wird, erscheint so als eine späte Erwiderung Diderots. Beide Texte sind zu Lebzeiten der Autoren nicht erschienen. Während man wohl mit Sicherheit ausschließen kann, dass Rousseau jemals Kenntnis vom Manuskript des Neveu erlangte, ist der umgekehrte Fall sogar wahrscheinlich. Mit Sicherheit kannte Diderot den 2. Discours, dessen Umfeld der Essai zugerechnet wird. Diderots Interpreten gehen jedenfalls davon aus, dass seine Texte offen oder verdeckt dem, was sie als Leben und Werk Rousseaus

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Denis Diderot: Le Neveude Rameau, in: Ders., Le Neveu de Rameau et autres dialogues philosophiques, Textes établis et présentés par Jean Varloot, Paris: Gallimard 1995, S.29–131, hier: S.31 »Meine Gedanken sind meine Dirnen.« Denis Diderot: Rameaus Neffe – Zweite Satire, in: Ders., Das erzählerische Gesamtwerk, übers. v. Hans Hinterhäuser/Guido Meister/Raimund Rütten, herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser, Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein 1987, Band IV, S.5–90, hier: S.7

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konstruieren, antworten (so etwa Butor2 oder Starobinski3). Jenseits aller Spekulationen bleibt festzuhalten, dass sich Diderots und Rousseaus Positionen dem Anschein nach geradezu antipodisch entwickelten und in einem – und darum geht es mir – äußerst fruchtbaren Spannungsverhältnis zueinander stehen. Der Neveu de Rameau, Diderots Dialog zwischen dem tugendhaften Philosophen Moi und einem amoralischen und erfolglosen Musiker, dem Lui, erscheint jedenfalls als radikales Gegenüber der rousseauschen Aporien. Hier scheint es kein Außen der Supplementarität mehr zu geben, sondern nichts als die Kreisförmigkeit des immer Gleichen. Hier wird eine Welt entworfen, in der die Bewegung der Stillstand selbst ist; eine Welt, in der alles Supplement, Phantasma, Tausch ist.

Dialogizität Diderot läßt Erzählung und Dialog nicht länger gattungshaft voneinander geschieden, sondern spielt die Form des Dialogs ständig gegen die geschlossene Form der Erzählung aus. Man kann in der Tat sagen, daß Diderots Prosa zum Ort einer fortgesetzten Auseinandersetzung des dialogischen Prinzips mit dem monologischen Diskurs geworden ist. Im ständigen Umschlag von Erzäh-

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Butor sieht Rousseau geradezu als den Schatten, der auf Diderots Texte fällt und sie ständig in Frage stellt. Auf seine anhand der Texte Diderots entfaltete Vorstellung des Schriftstellers als »Diener, der zu gut spricht«, einem Zitat aus Diderots Roman Jacques le fataliste et son maître, komme ich später indirekt– im Zusammenhang des Schmeichelns – zurück. »Doch jener Rousseau, jener Jean-Jacques mit dem er dreizehn Jahre lang so eng befreundet war, und der sich erlaubt, das alles abzulehnen, der auf die Komödie der Gleichheit hereinfällt und sich sträubt, als er merkt, daß es nur eine Komödie ist, der wirklich regelrecht wütend wird, nicht begreifen will und sich Undankbarkeit erlaubt! Oh, er hat das Glück als Bürger Genfs geboren zu sein! Doch mit seinen Stimmungen und Empfindlichkeiten bringt er uns um die wertvollsten Unterstützungen! Und er nennt uns Diener und Betrüger... Nur weil er das Problem des Dienstboten einfach umgeht. Man muß sich von ihm trennen, um jeden Preis. Oh wie man ihn haßt, wie man ihn beneidet!« Michel Butor: Der Fatalist Diderot und sein Herr, übers. v. Helmut Scheffel, in: Diderot, Das erzählerische Gesamtwerk, Band I, S.5 – 71, hier: S.64f. Starobinski meint hinter der den Text des Neffen rahmenden Figur des Diogenes eine kaum versteckte Anspielung auf Rousseau – einem letztlich missverstandenen Rousseau – zu erkennen, als einem Ort auf den sich beide Protagonisten des Dialogs beziehen, den aber keiner von ihnen einnimmt. »Nimmt der verlorene Freund Jean-Jacques die Prinzipien und die Haltung des wahren Zynismus in Beschlag, so gibt sich Diderot damit zufrieden, ihm den Vorzug zu lassen, nicht ohne zu zeigen, daß es nicht der bessere Teil ist. Rousseau mache, was er wolle. Möge er die Rolle des Diogenes an Diderots Stelle wahrnehmen! Das ist nur eine Rolle, und er wird der ›Heuchelei‹ nicht entgehen. [...] Aus Ärger über Rousseau nimmt Diderot Abschied von Diogenes.« Jean Starobinski: Diderots Satire Rameaus Neffe, in: Ders., Das Rettende in der Gefahr, S.266–317, hier: 311f.

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DIDEROT: LE NEVEU DE RAMEAU lung und Dialog kann sich die ordnungsstiftende Leistung des monologischen Erzählens nie ganz erfüllen.4

Hans Robert Jauß hat die Textpraxis Diderots, die die Form des platonischen Dialogs zugleich aufnimmt und sprengt, von ihrer dialektischen Vereinnahmung in Hegels Phänomenologie des Geistes abgesetzt. Der Neveu ist der einzige Text, der in der Phänomenologie wörtlich – in der Übertragung Goethes – zitiert wird, und er dient als Beispiel für die Konfrontation des einfachen Bewußtseins mit dem zerrissenen Bewußtsein, wobei letzteres eben die Negation des ersteren darstellt. Hegel konstruiert folglich zwei Elemente einer kontrollierten dialektischen Bewegung, die erst in ihrer Synthese den Zustand des reinen Bewußtseins erreicht. Das durch den Neffen repräsentierte zerrissene Bewußtsein ist nach Hegel »[...] nur die unmittelbare, noch nicht in sich vollendete Erhebung und hat sein entgegengesetztes Prinzip, wodurch es bedingt ist, noch in sich, ohne durch die vermittelte Bewegung darüber Meister geworden zu sein«.5 Damit – so Jauß – schreibt Hegel, dem es darum geht, die Konfrontation zwischen den beiden Dialogpartnern im Neveu de Rameau, dem Moi und dem Lui, aufzulösen und in Sinn zu verwandeln, die hybride Dialogizität des Textes wieder in eine monologische Form ein. Diese Wiedereinschreibung beruht allerdings schon auf einem ersten Missverständnis, wenn sie den Dialog allein zwischen Moi und Lui situiert. Die Position des Moi ist innerhalb des Textes so schwach – einsilbig schreibt Hegel, der darin allerdings eine konstitutive Eigenschaft des einfachen Bewußtseins zu erkennen meint6 –, dass sich zwischen diesen Polen überhaupt kein Dialog ereignen kann. Das Moi hat dem Lui nicht viel mehr als Phrasen entgegenzuhalten, die schon zum Zeitpunkt ihrer Äußerung vom Lui ad absurdum geführt worden sind. Das Moi übernimmt gleichzeitig aber auch die Rolle des Erzählers in diesem Dialog und es sind gerade die erzählenden, scheinbar also nicht dialogischen Passagen, an denen sich das, was Jauß mit Bachtin als Dialogizität und Polyphonie bezeichnet, ereignen kann. Diese erzählenden Passagen tauchen nämlich

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Hans Robert Jauß: Der dialogische und der dialektische ›Neveu de Rameau‹, in: Ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S.467 – 504, hier: S.471 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes – Werke 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S.391 Ich kann hier weder die Stellung des zerrissenen noch des reinen Bewußtseins innerhalb der dialektischen Bewegung der Phänomenologie nachzeichnen. Hegel: Phänomenologie, S.387 Hegel versucht damit die Überlegenheit des zerrissenen Bewußtseins gegenüber dem einfachen Bewußtsein zu belegen. Seine Zitierweise ist dabei – wie Jauß nachweist – zumindest fragwürdig: Der von Hegel genannte Kommentar des Lui zur Pantomime des Neffen stammt wohl von ihm selbst.

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immer dann auf, wenn der Neffe zum Mittel der Pantomime und der Musik greift, sich also nicht nur die Grenzen der Gattung, sondern die der Sprache überhaupt aufzulösen scheinen. Denn der Neveu triumphiert nicht so sehr durch das Spiel von Frage und Antwort als durch das Genie des Pantomimen, dem es gegeben ist, seine Individualität in die unbegrenzte Vielheit ›fremder Stimmen‹ zu entäußern. So wird in Diderots Dialog die Pantomime der Bettler am Ende zum großen Hebel der Erde, zum vollkommenen Instrument, den Mitmenschen in seinem Anderssein zu repräsentieren und zugleich seine Rolle im gesellschaftlichen Maskenspiel aufzudecken.7

Diderots Stil Leo Spitzer hat in einem Aufsatz über den Stil Diderots auf die Bedeutung des Körpers in dessen Texten hingewiesen. Er meint in eben diesem Stil eine spezifische Bedeutung des Rhythmus zu erkennen, in dem sich der Automatismus des Körpers des Autors in die Texte einschreibe. Unterhalb dessen, was gesagt wird oder eher in einem Spannungsverhältnis zum Inhalt der einzelnen Sätze, entzündet sich – so Spitzer – die Sprache am Schreibakt selbst und bringt in Rhythmus und Klang eine untergründige Ebene hervor, die die Bedeutung betont, ihr widerspricht oder ein7

Jauß: Der dialogische und der dialektische »Neveu de Rameau«, S.481 Und Jauß fährt fort: »Mit der viermal im Text wiederkehrenden und immer reicher inszenierten Pantomime der Menschengattung überschreitet Diderots Neveu de Rameau die dialogische Form des erneuerten sokratischen Dialogs zur Polyphonie der menippeischen Satire. Deren Funktion auf diesem modernen Gipfel der Gattung ist es, jedem einen Teil seiner natürlichen Individualität zurückzugeben und dabei die gesellschaftliche Ordnung als ein Rollenspiel uneingestandener Abhängigkeit zu dekuvrieren.« Jauß: Der dialogische und der dialektische »Neveu de Rameau«, S.481 Auf den Zyniker Menippos aus Gardara, der in der zweiten Hälfte des 3.Jhdts. v.Chr. lebte und dessen eigene Schriften verloren sind, verweisen auch Starobinski (Diderots Satire..., S.314ff.), der in ihm die Figur zu erkennen meint, die in der Konstellation des Neveu über Diogenes hinausweist, und – im Anschluss an Starobinski – Julia Kristeva: »Bachtin sieht in ihm (Menippos, S.T.) den Begründer der dialogischen Form und jener rhetorischen Polyphonie, aus der der abendländische Roman entsteht. Der moralische Heroismus des Diogenes, dem es gelingt, die affektive Andersartigkeit des natürlichen Menschen einem moralischen Imperativ zu unterwerfen, tangiert den Neffen und mit ihm Diderot nicht; sie überlassen diese Askese Rousseau und übernehmen vom Zynismus nur den ihnen möglichen Teil: das Spiel mit der Sprache, die Gewaltsamkeit der Logik, die zerstört und ihr Wissen immer weiter treibt, bis hin zur eigenen Auflösung. Die Pantomime des Neffen hält nur an der Rhetorik des Menippos fest, nicht an der Tugend des Diogenes.« Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, übers. v. Xenia Rajewsky, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S.150

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DIDEROT: LE NEVEU DE RAMEAU

fach parallel zu ihr verläuft. Spitzer entfaltet dies in einer Analyse des Artikels Jouissance, den Diderot für die Encyclopédie geschrieben hat. Parallel zur Beschreibung der menschlichen Entwicklung wird dort unterhalb der Bedeutung so etwas wie ein Geschlechtsakt geschrieben. Es gelang Diderot, in den Rahmen, den die stufenweise Entwicklung der Menschheit bildet, die so sehr an Rousseau erinnert (Naturzustand: körperliche Vereinigung; fortgeschrittener Kulturzustand: seelische Einheit; institutionalisierte Phase: Ehe), eine Andeutung des Geschlechtsakts selbst einfließen zu lassen: Verwirrung der Sinne, Erfüllung, Entspannung. Auf weite Strecken könnte man den zitierten Abschnitt als nüchterne historische Prosa lesen, nur das Gefühl des Lesers vernimmt die inneren Schwingungen, die das Wallen der erotischen Gefühle wiedergeben. In Absatz vier kann aber keinem Leser der physiologische Rhythmus eines erotischen Erlebnisses entgehen, der vom historischen Fließen abgesetzt ist. Und wenn wir die stilistische Wirksamkeit der verschiedenen Absätze vergleichen, dann ist leicht zu erkennen, wo Diderots künstlerische Empfindung am intensivsten mitschwingt. Die Ruhe der abschließenden Zeilen ist zumindest zum Teil auf das Nachlassen der Gefühlsbeteiligung zurückzuführen.8

Spitzer kann auf der Ebene des Stils die verschiedenen Mittel aufzeigen, die Diderot – bewusst oder unbewusst – einsetzt, um diese Effekte zu erreichen. Allen gemeinsam aber ist, dass sie jenseits des Gesprächs eine ganz andere Ebene des Dialogs oder eher der Polyphonie eröffnen, auf der sich Stil und Inhalt, Sprache und Körper durchkreuzen. Dass Diderot diese Schreibpraxis selbst reflektiert und einsetzt, kann Spitzer belegen, indem er einen zentralen Begriff dafür bei Diderot selbst auffindet: den, des style coupée.9 Dieser Stil ist charakteristisch für Diderot. Im Neveu de Rameau wird der Neffe selbst zum Sprachrohr dieses Stils: C’est au cri animal de la passion, à dicter la ligne qui nous convient. Il faut que ces expressions soient pressées les unes sur les autres; il faut que la phrase soit courte; que le sens en soit coupé, suspendu; que le musicien

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Leo Spitzer: Der Stil Diderots, übers. v. Gerd Wagner, in: Ders., Texterklärungen – Aufsätze zur europäischen Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S.144 – 175, hier: S.148f. »Es ist dies der »style coupée« (ein Begriff, den Diderot selbst lobend für Senecas Stil gebraucht), der durch eine Reihe von kurzen Sätzen entsteht und einen mechanischen Eindruck hervorruft, den lange Perioden kaum je erreichen können, seien sie auch noch so kunstvoll aufgebaut. Diesem Stil muß ein Automatismus in dem beschriebenen organischen Vorgang entsprechen: Diderot scheint den Mechanismus empfunden zu haben, der dem Körper innewohnt, wenn er auf seiner eigenen Ebene frei handeln kann.« Spitzer: Der Stil Diderots, S.248 (Anmerkung)

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BLANK SPACES puisse disposer du tout et de chacune de ses parties; en omettre un mot, ou le répéter; y en ajouter un qui lui manque; la tourner et retourner, comme un polype, sans la détruire; ce qui rend la poésie lyrique francaise beaucoup plus difficile que dans les langues à inversion qui présentent d’elle mêmes tous ces avantages…10

Die pantomimischen Passagen im Neveu de Rameau unterscheiden sich von diesem abgehackten und retardierenden Stil, insofern, als sie die Inszenierung des Körpers direkt zum Gegenstand machen. Während der style coupée quasi unter der Hand den körperlichen Automatismus schreibt, wird seine Bewegung in der Pantomime geradezu inszeniert, was dem erzählenden Text die Möglichkeit gibt, die Körperlichkeit zum Inhalt der eigenen Sprache zu machen: tatsächlich aber – so Spitzer – »übernehmen die Gebärden auch hier das Kommando« und zwar indem sie »aus hypothetischen Worten eine künstliche Wirklichkeit« erschaffen, deren Bewegung »durch die tatsächliche Gewalt des Körpers, die uns Diderot in seiner Sprache fühlen läßt,« verursacht wird.11 Im Neveu de Rameau wird diese Technik auf ihre Spitze getrieben. Hier potenziert sich die Bedeutung der Gebärden und setzt eine Dynamik in Gang, die aus der erträumten Fiktion so etwas wie eine Wahrheit macht, eine Wahrheit, die der Neffe produziert hat und die er schließlich bewohnt: eine imaginäre Körperlichkeit, ein fiktiver Materialismus, eben eine radikale Kunstwelt, die der Körper des Neffen – der in gewisser Weise genau die Summe dessen ist, was Spitzer von Diderots Stil, also dessen spezifischer Textpraxis sagt – hervorbringt. Auf dem Höhepunkt des Neveu geht der Neffe und mit ihm der Text vollständig über ins Reich pantomimischer Darstellung. Die Gebärden, die durch seine lebendige Phantasie hervorgerufen werden, sind anfangs nur schmückendes Beiwerk, dessen Bedeutung und Gültigkeit genau der Bedeutung und Gültigkeit der Worte entspricht. Je weiter er aber seine Idee ausbaut, je weiter sich die Worte von der Wirklichkeit entfernen, desto leidenschaftlicher und beschwörender werden auch seine Gebärden,

10 Diderot: Le Neveude Rameau, S.109 »Der tierische Schrei der Leidenschaft hat die Richtung zu weisen, die uns gemäß ist. Die Arten und Formen des Ausdrucks müssen übereinander gedrängt sein; der Satz muß kurz sein; sein Sinn abgerissen, in der Schwebe; der Tonkünstler muß über das Ganze wie über die einzelnen Satzteile herrschen können, ein Wort auslassen oder wiederholen, eines hinzufügen, das ihm fehlt; den Satz drehen und wenden wie einen Polypen, ohne ihn zu zerstören; das macht die französische lyrische Dichtung weitaus schwieriger als die in Sprachen mit Inversionen, welche von sich aus diese Vorteile bieten...« Diderot: Rameaus Neffe, S.72 11 Spitzer: Der Stil Diderots, S.162

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DIDEROT: LE NEVEU DE RAMEAU um so mehr stellen sie eine eigene Realität dar – und wirken als Realität auf den Sprecher selbst, der am Ende von seinen eigenen Gebärden überzeugt wird: der Abschnitt schließt mit der völligen Verführung des Neffen durch seine phantastische Pantomime.12

Spitzer fasst das als ein Gegenstück zu den Thesen des Paradoxe sur le comédien13 auf, da es dem Neffen nicht gelingt die angemessene Form zu finden, er immer zwischen Ergriffenheit über sich selbst und künstlerischer Gestaltung hin und her pendelt, um schließlich ersterem zu erliegen. Darin sieht Spitzer die vom Neffen selbst beklagte Tragik: Er ist immer nur Nachahmer, nie Schöpfer, also kein wirklicher Künstler wie der Schauspieler des Paradoxe, der in kühler Berechnung seine Wirkung erzielt und damit so etwas wie »objektive Realität besitzt«.14 Man kann dem entgegenhalten, dass das im Paradoxe entwickelte Verhältnis von Künstlichkeit und Authentizität die Vorstellung einer wie auch immer gearteten objektiven Realität außerordentlich verkompliziert. Im Neveu de Rameau, zumal im großen Vortrag des Neffen, werden diese Kategorien gänzlich außer Kraft gesetzt: Der Raum, den die Pantomime entwirft, ist weder authentisch noch künstlich bzw. ist er beides zugleich, macht die Unterscheidung zwischen Nachahmung und Schöpfertum äußerst schwierig, wenn er sie nicht ganz ad absurdum führt: Die Nachahmung des Neffen produziert gleichsam eine ganze Welt, eine vollkommen künstliche und vollkommen körperliche Welt. Ich möchte nun jenen großen Vortrag des Neffen zitieren, der den Höhepunkt des Neveu darstellt. Admirais-je? Oui, j’admirai! étais-je touché de pitié? j’étais touché de pitié; mais une teinte de ridicule était fondue dans ces sentiments, et les dénaturait.

12 Spitzer: Der Stil Diderots, S.160 13 »Überlegen Sie einmal einen Augenblick, was es im Theater heißt, wahr zu sein. Bedeutet das, die Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind? Keineswegs. Das Wahre in diesem Sinne wäre nur das Gewöhnliche. Was ist also das Wahre auf der Bühne? Es ist die Übereinstimmung der Handlungen, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Bewegung, der Gebärde mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell, das vom Schauspieler oft übertrieben dargestellt wird. Es ist das Wunderbare. Dieses Modell beeinflußt nicht nur den Ton, es verändert sogar den Gang und die Haltung. Daher kommt es, daß der Schauspieler auf der Straße und auf der Bühne zwei so verschiedene Persönlichkeiten zeigt, daß man ihn nur mit Mühe wiedererkennt. [...] Übermäßige Leidenschaften drücken sich fast immer in Verzerrungen des Gesichtes aus, die ein Künstler ohne Geschmack sklavisch nachahmt, der große Künstler hingegen vermeidet.« Denis Diderot, Das Paradox über den Schauspieler, in: Ders., Ästhetische Schriften – Band II, herausgegeben von Friedrich Bussange, Berlin: verlag das europäische buch 1984, S.481-539, hier: S.492f. 14 Spitzer: Der Stil Diderots, S.161

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BLANK SPACES Mais vous vous seriez échappé en éclats de rire à la manière dont il contrefaisait les différents instruments. Avec des joues renflées et bouffies, et son rauque et sombre, il rendait les cors et les bassons; il prenait un son éclatant et nasillard pour les hautbois; précipitant sa voix avec une rapidité incroyable, pour les instruments à cordes dont il cherchait les sons les plus approchés; il sifflait les petites flûtes; il recoulait les traversières, criant, chantant, se démenant comme un forcené; faisant lui seul, les danseurs, les danseuses, les chanteurs, les chanteuses, tout un orchestre, tout un théâtre lyrique, et se divisant en vingt rôles divers, courant, s’arrêtant, avec l’air d’un énergumène, étincelant des yeux, écumant de la bouche. Il faisait une chaleur à périr; et la sueur qui suivait les plis de son front et la longueur de ses joues, se mêlait à la poudre de ses cheveux, ruisselait, et sillonnait le haut de son habit. Que ne lui vis-je pas faire? ou tranquille, ou furieux; c’était un malheureux livré à tout son désespoir; un temple qui s’élève; des oiseaux qui se taisent au soleil couchant; des eaux ou qui murmurent dans un lieu solitaire et frais, ou qui descendent en torrent du haut des montagnes; un orage; une tempête, la plainte de ceux qui vont périr, mêlée au sifflement des vents, au fracas du tonnerre; car le silence même se peint par de sons. Sa tête était tout à fait perdue. Épuisé de fatigue, tel qu’un homme qui sort d’un profond sommeil ou d’une longue distraction; il resta immobile stupide, étonné. Il tournait ses regards autour de lui, comme un homme égaré qui cherche à reconnaître le lieu où il se trouve. Il attendait le retour de ses forces et de ses esprits; il essuyait machinalement son visage. Semblable à son réveil, son lit environné d’un grand nombre de personnes; dans un entier oubli ou dans une profonde ignorance de ce qu’il a fait, il s’écria dans le premier moment: Eh bien, Messieurs, qu’est-ce qu’il y a? D’où viennent vos ris et votre surprise? Qu’est-ce qu’il y a? Ensuite il ajouta, voilà ce qu’on doit appeler de la musique et un musicien.15

15 Diderot: Le Neveude Rameau, S.107f. »War es Bewunderung? Ja, es war Bewunderung! War ich von Mitleid gerührt? Ich war von Mitleid gerührt; doch ein Hauch des Lächerlichen mischte sich unter diese Gefühle und nahm ihnen die Natürlichkeit. Aber, lieber Leser, Sie hätten sich vor Lachen geschüttelt über die Art, wie er die verschiedenen Instrumente nachahmte. Mit geblähten Backen und einem rauhen, dumpfen Ton gab er Horn und Fagott wieder; für die Oboen fand er einen plärrend näselnden Ton; zu unglaublicher Geschwindigkeit beschleunigte er seine Stimmen für die Saiteninstrumente, deren Töne er sich aufs genaueste anzunähern suchte; er pfiff die Pikkoloflöten; er gurrte die Querflöten, schreiend, singend, sich gebärdend wie ein Rasender; er ganz allein spielte die Tänzer, die Tänzerinnen, die Sänger, die Sängerinnen, ein vollbesetztes Orchester, ein ganzes Operntheater, teilte sich in zwanzig verschiedene Rollen, rannte blieb stehen, mit dem Gebaren eines Besessenen, funkelnden Augen, Schaum vor dem Mund. Es war eine Hitze zum Umfallen; und der Schweiß, der ihm an den Stirnfalten und die Wangen herunterlief, vermischte sich mit dem Puder seiner Haare, rieselte Spuren auf das Oberteil seines Gewandes. Was tat er nicht alles! Er weinte, er lachte, er seufzte; er blickte zärtlich, ruhig oder

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DIDEROT: LE NEVEU DE RAMEAU

Spitzer weist darauf hin, dass hier weder wörtliche Rede noch die Beschreibung bestimmter Gebärden erfolgt: tatsächlich entzieht sich der Vortrag einer solchen Konkretisierung. Das Zwischenreich, welches der Neffe produziert, wird zum Tableau oder vielmehr zu einem Strudel immer schneller aufeinanderfolgender Tableaus, die der Erzähler nur übersetzen kann: als Bildbeschreibung, wie man sie bspw. aus der Beschreibung des Bildes von Vernet in Diderots Regret sur ma vielle robe de chambre kennt.16 Spitzer sieht hier Dionysisches am Werke und verweist auf Wagner und Nietzsche. Eher handelt es sich um eine vorweggenommene Parodie des Wagnerschen Gesamtkunstwerks und des Nietzscheanischen Pathos: Das Nichtnatürliche der Darbietung, das gerade durch die volle Identifikation des Neffen mit seinen Rollen erreicht wird, bezieht die Erhabenheit der verschiedenen Szenen auf das Lächerliche und produziert beim Moi eine abjekte Desorientierung. Genau das ist der Kunstbegriff, der hier textualisiert wird: Zwischen Erhabenem und Lächerlichem erscheint die Pantomime als Ort einer künstlichen Mimikry des Körpers. Dieser Strudel zieht fast alle Kunstgattungen – Literatur, Musik, Malerei –, jede Ordnung mit sich hinab, in ihm lösen sich die verschiedenen Realitätsebenen in der überwältigenden Ekstase dieses scheinbar jämmerlichen und lächerlichen Mannes auf. Doch Spitzer hält fest: »In unserem Abschnitt aber bemächtigt sich kein Automatismus unserer Aufmerksamkeit: der Rhythmus geht hinter der Bedeutung verloren«.17 Ich gebe hier Spitzers Resumé wieder, dessen Essay klar die ver-

wütend; er spielte eine Frau, die vor Schmerz in Ohnmacht sinkt; einen Unglücklichen, der all seiner Verzweiflung hingegeben ist; einen Tempel, der aufragt; Vögel, die beim Untergang der Sonne verstummen; Wasser, die an einsamen und kühlen Orten raunen oder als reißende Bäche von den Höhen der Berge stürzen; ein Unwetter, einen Sturm, die Klage derer, die zugrunde gehen, vermischt mit dem Pfeifen des Windes, dem Krachen des Donners; es war die Nacht mit ihrer Finsternis; es war der Schatten und das Schweigen; denn selbst das Schweigen stellt sich in Tönen dar. Sein Kopf hatte sich völlig verwirrt. Erschöpft vor Anstrengung, wie ein Mensch, der aus tiefem Schlaf oder aus langer Geistesabwesenheit erwacht, so verharrte er, unbeweglich, stumpf, erstaunt. Er blickte um sich wie ein Verirrter, der den Ort, an dem er sich befindet, wiederzuerkennen sucht. Er wartete auf die Rückkehr seiner Kräfte und seiner Lebensgeister; mechanisch trocknete er sein Gesicht. ähnlich jenem, der beim Erwachen sein Bett von einer großen Anzahl Personen umstellt sieht, in einem völligen Vergessen oder einer tiefen Unwissenheit dessen, was er getan hat, rief er im ersten Moment: Nun, meine Herren, was gibt's? Worüber lacht Ihr, warum so erstaunt? Was ist? Dann fügte er hinzu: Das nennt man Musik, das nennt man Tonkünstler.« Denis Diderot: Rameaus Neffe, S.70f. 16 Denis Diderot: Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben, übers. v. Hans Magnus Enzensberger, in: Hans Magnus Enzensberger, Diderots Schatten – Unterhaltungen, Szenen, Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S.259-270 17 Spitzer: Der Stil Diderots, S.167

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schiedenen Ebenen des Diderotschen Schreibens und deren Verbindungen zur Physiologie, letztlich natürlich zu Diderots eigenen physiologischen Theorien, herausarbeitet. Ich habe versucht, am sprachlichen Detail aufzuzeigen, daß der Stil der Beweglichkeit, der sich bei Diderot findet, in der engen, einem angeborenen Mimikri gleichenden Beziehung zwischen seiner Sprache und seinem Denken besteht, daß sein Stil einen Einbruch des physiologischen Rhythmus des Sprechens in das Schreiben darstellt. Aus diesem Grunde muß Diderot Dialoge, Monologe, Volksreden, Spötteleien, Anreden gebrauchen – Anreden nicht nur an Personen, sondern auch an sein eigenes Thema. Der Gedanke verwandelt sich sofort in das Fleisch der Sprache, bei Diderot heißt Sprache »allonger les bras«, in dem Drang, sein Ich hinter sich zu lassen und sich zu seinen Mitmenschen hin auszudehnen; Sprache ist das Gespräch mit einem Partner, wobei das Dialektische in Diderots Wesen durch den Dialog zum Ausdruck kommt. Sogar in der Encyclopedia hält er Reden, wenn wir nur Information von ihm erwarten (vgl. den Beginn des Artikels »jouissance«). Für Diderot gab es keine Buchgelehrsamkeit, sondern nur eine biegsame, lebendige, bewegliche Sprache, die im Dienst der Selbstbefreiung des Individuums steht.18

Spitzer bleibt mit dem Festhalten an Kategorien wie objektive Realität oder Dialektik der Selbstbefreiung hinter den sich in der literarischen Praxis dieses Textes auftuenden Möglichkeiten zurück. Gerade die verschiedenen Ebenen und die Rolle von Rhythmus und Physiologie, die Spitzer herausgearbeitet hat, lassen eine andere Lesart zu: Der Körper selbst wird hier zum Produktionsort einer phantasmatischen Realität, in die er selbst eingeht. Hier ist alles ekstatische Berührung von Virtualitäten bzw. Produktion eines virtuellen Raums in der leidenschaftlichen Nachahmung. Die Mimikry der Pantomime schluckt jede Nichtvirtualität, saugt sie förmlich auf und gebiert eine abjekte Kunstwelt in der es nichts gibt als sie selbst. Alles ist hier Einverleibung, alles Körper und alles Virtualität. Genau in diesem Sinne ist der Neffe die Figuration des als ob des Inzesttabus. Er besetzt nicht den Platz des Souveräns, er kreuzt ihn höchstens, benötigt die durch ihn installierte phantasmatische Ordnung und wird selbst zum Produzenten von Phantasmen, die er mit seinem eigenen Körper zugleich beglaubigt und der Lächerlichkeit preisgibt. Alles an ihm ist Beweglichkeit, gerade weil er die Illusionen des Stillstands, denen er sich verdankt und die sich ihm verdanken, ständig durchkreuzt. Insofern ist Hegels Gegenüberstellung von der Unmittelbarkeit des zerrissenen und der Mittelbarkeit des reinen Bewußtseins

18 Spitzer: Der Stil Diderots, S.172

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eben nicht anhand der Figur des Neffen möglich: der Neffe bezeichnet gerade den Punkt einer Unmittelbarkeit des Mittelbaren; einen Punkt, an dem diese Gegenüberstellung nicht aufgehoben, sondern ausgelöscht wird. Diderots Sprechen ist ein anderes als das Rousseaus: Während Rousseau die Sprache, ihre Bewegung, zwischen den beiden Polen der Nichtmetaphorizität situiert, treibt Diderot die Metaphorizität an einen Punkt, an dem sie sich selbst zerstreut und verflüchtigt. Sein cri de la nature findet sich bei Rousseau am Ursprung der langues du nord, bei Diderot finden diese Sprachen dort ihren Endpunkt, ihr leeres Zentrum, in dem der Vortrag des Neffen, das Spiel der Mimikry und Pantomime gipfelt. Doch erscheint er bei Diderot nicht als traumatisch: Es gibt bei ihm keinen Ort, der dem Tausch nicht zugänglich, der nicht virtuell produzierbar wäre. Er markiert vielmehr den Punkt absoluter Verausgabung, völliger Leere und Erschöpfung. Die mimetische Radikalität des Neffen kulminiert im Keuchen des verausgabten Körpers. Eines Körpers, der alles darstellen, alles sein kann: wie der Text Diderots im Akt des Schreibens. Gerade das ist es, was man als Materialismus Diderots bezeichnen könnte: die Virtualität ist genauso materiell wie die Materialität virtuell ist. Tatsächlich verwandelt sich der Text des Neveu in einen jener vielgliedrigen, flüchtigen Körper, wie sie von Diderot im Rêve de d’Alembert beschrieben werden. Die Streuung dieser Körper, die der Materie zugrundeliegende Vielheit, figuriert sich hier als komplexes Textgebilde: die Körperlichkeit der Sätze selbst wird in den Konvulsionen des Stils hervorgetrieben und in einer allgemeinen Kopulation der Texteben, des Rhythmus, der Pantomime, der eingeflochtenen Erzählungen, der Rahmenhandlung, zerstreut sich der Körper der Sprache im Text. Deshalb vielleicht auch die Paradoxie der jeweiligen textuellen Strategien Rousseaus und Diderots. Während Rousseau in der autoerotischen Bewegung seines dialogischen Monologs auf die Pole des Entzugs, der Nichtmetaphorizität aus ist, braucht Diderot zwei, drei, viele Partner, die es ihm gestatten, sein sexuelles System zum Siedepunkt einer allgemeinen Ekstase zu treiben. Die Polyphonie seiner besten Texte besteht gerade in der gleichzeitigen Virtualisierung und Materialisierung der Differenz im Automatismus und der Pantomime. Die Stimmen und Körper überschlagen und durchkreuzen sich gegenseitig. Die Pantomime produziert ihre Welt gerade in diesem Kreuzen, in diesen Kopulationen, sie ist das ständige Überbieten des Tabus, ohne es jemals zu übertreten. Es ist einerseits ständig so, als ob ein Inzest begangen würde, andererseits wiedersetzt sich die Beweglichkeit des Neffen jeder Grenzziehung, jeder Tabuisierung. Der Neffe scheint von einer in-

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zestuösen Handlung zur nächsten zu taumeln und doch ist es gerade dieses Taumeln, dem er sich rückhaltlos überlässt, das die Vorstellung dessen, was eine gewalttätige inzestuöse Handlung sein könnte, unmöglich macht. Der Neffe figuriert den Inzest gerade indem er ihn defiguriert: er zeigt ihn als Phantasma, als eben der Bewegung angehörig, die er zu überschreiten vorgibt.

»Maestoso Cazzo«: Das Schmeicheln als Produktionsstätte der Phantasmen Was ich hier – im Anschluss an Spitzer – bezüglich der textuellen Strategien des Stils im Neveu gesagt habe, ist auch auf der inhaltlichen Ebene genau der Gegenstand der Konfrontation zwischen Moi und Lui. Sie endet mit einer scheinbaren Übereinstimmung der beiden. Die Pantomime wird zur Theorie dessen entwickelt, was die Gesellschaft im innersten bewegt. Nachdem der Neffe in einer abschließenden Pantomime seine weltliche Sicht der Dinge dargestellt und mit den Worten »Voilà ma pantomime, á peu près la même que celle des flatteurs, des courtisans, des valets et des gueux«19 zusammengefasst hat, kommt es zu folgendem ›Dialog‹: MOI. – Mais à votre compte, dis-je à mon homme, il y a bien des gueux dans ce monde-ci; et je ne connais personne qui ne sache quelques pas de votre danse. LUI. –

Vous avez raison. Il n y a dans tout un royaume qu’un homme qui marche. C’est le souverain. Tout le reste prend des positions.

MOI. – Le Souverain? encore y a t’il quelque chose à dire? Et croyez-vous qu’il ne se trouve pas, de temps en temps, à côté de lui , un petit chignon, un petit nez qui lui fasse faire un peu de la pantomime? Quiconque a besoin d’un autre, est indigent et prend une position. Le roi prend une position devant sa maîtresse et devant Dieu; il fait son pas de pantomime. Le ministre fait le pas de courtisan, de flatteur, de valet ou de gueux devant son roi. La foule des ambitieux danse vos positions, en cent manières plus vile les unes que les autres, devant le ministre. L’abbé de condition en rabat, et en manteau long, au moins une fois la semaine, devant le dépositaire de la feuille des bénéfices. Ma foi, ce que vous appelez la pantomime des gueux, est le grand branle de la terre. Chacun a sa petite Hus et son Bertin.

19 Diderot: Le Neveude Rameau, S.126 »Das ist nun meine Pantomime, fast die gleiche wie die der Schmeichler, Höflinge, Lakaien und Bettler.« Diderot: Rameaus Neffe, S.86

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DIDEROT: LE NEVEU DE RAMEAU LUI. –

Cela me console.20

Dieser große Reigen lässt keine festen Positionen zu, alles ist in Bewegung, rotiert unaufhörlich, während das Moment der Ordnung, des Festgefügten ausschließlich als Illusion, als Phantasma erscheint. Julia Kristeva bemerkt im Anschluss daran: Die Position ist provisorisch, verlegbar mobil – festgesetzt ist sie künstlich; im ständigen Übergang ist sie flüchtig. In ihrer Originalität trennt sie sich von ihrem Ursprung, ist ohne Wurzel oder Boden, schweifend, fremd [...]. Der seltsame Rameau ist sicherlich nicht souverän. Aber ist der Souverän noch Souverän zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Dialog abspielt?

21

Die Souveränität würde gerade darin bestehen, ein Außen dieses Reigen zu konstituieren, das den Tanz der Pantomimen zu seinem Innen machte. Die Stabilität der Position des Souveräns verbürgt die Legitimität der Ordnung: er kann die Plätze nach Belieben zuweisen. Der Neffe anerkennt das ausdrücklich, während das Moi einerseits den Souverän in den Reigen einbezieht, andererseits aber die Radikalität der Beweglichkeit des Neffen, die die Instabilität der gesellschaftlichen Pantomime selbst ist, zurücknimmt. Niemals ist der Souverän noch Souverän, weder zu diesem Zeitpunkt noch zu einem anderen. Er besetzt aber nicht einen beliebigen Punkt dieser Ordnung: er selbst ist das Phantasma ihrer Stabilität. Die Souveränität besteht in der Perspektive des Textes gerade darin, dass sich alles bewegt, bis auf diesen einen Punkt – genau so sagt es der

20 Diderot: Le Neveude Rameau, S.126f. »ICH Aber nach Eurer Rechnung, sagte ich zu meinem Mann, gibt es viele Bettler auf dieser Welt; und ich kenne niemand, der nicht einige Schritte Eures Tanzes beherrschte. ER Ihr habt recht. In einem ganzen Königreich gibt es nur einen einzigen Menschen, der geradegeht: der Souverän. Alle anderen nehmen Posen ein. ICH Der Souverän? Ich weiß nicht recht! Glaubt Ihr nicht, daß sich von Zeit zu Zeit neben ihm ein kleines Füßchen, ein kleiner Haarknoten, ein kleines Näschen finden und ihn ein wenig Pantomime spielen lassen? Wer einen anderen braucht, ist bedürftig und nimmt eine Pose ein. Der König nimmt eine Pose ein vor seiner Mätresse und vor Gott; er macht seinen Pantomimenschritt. Der Minister macht den Schritt des Höflings, Schmeichlers, Lakaien oder Bettlers vor seinem König. Die Menge der Ehrgeizigen tanzt Eure Posen, die einen tausendfach niederträchtiger als die anderen, vor dem Minister. Der Abbé von vornehmer Geburt, mit Überschlag und langem Mantel, tanzt wenigstens einmal die Woche vor dem Pfründeverwalter. Bei Gott, was Ihr die Pantomime der Bettler nennt, ist der große Reigen der Welt. Jeder hat seine kleine Hus und seinen Bertin. ER Das tröstet mich.« Diderot: Rameaus Neffe, S.87 21 Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, S.152

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Neffe. Insofern ist es wohl nicht ganz zufällig, dass das Moi sich zum Sprachrohr der Verniedlichung dieser Pantomime zum Rokokotänzchen macht, einem Tanz, der allerdings einer strengen Hierarchie zu gehorchen scheint. Damit hebt er die Gegenüberstellung von Neffe und Souverän, von Stabilität und Beweglichkeit auf. Der Neffe hat in jener Episode, die dem Gespräch unmittelbar vorausgeht und die gemeinhin als »Das Gastmahl bei Bertin« bezeichnet wird, die Erfahrung gemacht, dass sich zwar alles dreht und das seine Position innerhalb der gesellschaftlichen Pantomime eben die intime Beziehung zu dieser Bewegung ist. In ihr gibt es aber eine Position, die vorgibt, über sich hinauszugreifen: die desjenigen, der immer am Kopf des Tisches sitzt und der den anderen ihre Plätze zuweist und das Essen auf Ihren Tellern bezahlt. Der Neffe beschreibt insofern nicht (nur) – wie Kristeva meint – die den Abtritt des Souveräns einleitende Übergangszeit und er begründet auch keine Religion des Kosmopolitismus.22 Er bezeichnet vielmehr den Übergang von der monarchischen zu einer gleichzeitig prekären und radikalisierten Souveränität, die das pantomimische Spiel, dem sie sich selbst verdankt, zu ihrem Außen macht. Diese gewalttätige Geste kündigt sich mit der Figur Bertins an – jenem lächerlichen Hausherrn, der den Neffen an die Luft setzt und ihn damit seiner Position im Spiel der Positionen beraubt. Er setzt ihn, der die Künstlichkeit dieser Positionen selbst ist, damit der materiellen Mittellosigkeit aus. Innerhalb von Diderots Text deutet sich somit eine Verschiebung an: Die Position des Neffen verschiebt sich vom Narren am Tisch Bertins zum Außen dieser Tafel und es liegt nahe, anzunehmen, dass sich diese Verschiebung auf eine ebensolche bei seinem Gegenstück, dem Souverän, bezieht. Jean Starobinski hat in einem Essay Über die Schmeichelei, in dem er einige Texte des 17. Jahrhunderts zu diesem Thema zu analysieren sucht, die Schmeichelei als Produktionsort des Phantasmas ausgemacht. In seiner Lektüre der La Fontaineschen Fabel vom Fuchs und dem Raben, worin ersterer den Gesang des letzteren preist, um an das Stück Käse in dessen Schnabel heranzukommen, konstatiert Starobinski: »[...] das ›geschmeichelte‹ Bild ist entfaltet, und es bleibt dem Adressaten der 22 »Aber der Neffe, pragmatischer, hat es ausgesprochen: Der Souverän muß gerade gehen, damit das Königreich besteht. Wenn nicht – und Ich bekräftigt die Dürftigkeit des Königs –, gibt es kein Königreich, in dem man seinen Platz finden könnte. Ohne politische Macht ist der Mensch mit Positionen Synonym eines Menschen ohne Königreich. Die bis zur Fremdheit getriebene Aufrichtigkeit enthüllt den modernen Menschen auf der politischen Ebene als einen Staatenlosen. Seine pantomimischen Positionen könnten nur über das Königreich hinweg, die Grenzen der wackeligen Souveränitäten überquerend, Platz greifen. Im Kosmopolitismus.« Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, S.153

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Schmeichelei nichts anderes zu tun, als es wirklich zu bewohnen«. Der Rabe, der sich anschickt dieses Bild zu bewohnen, wird jedoch auf die Materialität seines Körpers zurückgeworfen: »Der Körper enthüllt sich bei seinem Streben nach der unmöglichen Sublimierung des Gesangs in seiner hässlichen körperlichen Buchstäblichkeit«.23 Der Schmeichler ist demnach derjenige, der sich die Maskierungseffekte der Sprache zunutze macht, sie figuriert, um sich mit ihrer Hilfe derjenigen, denen geschmeichelt wird, zu bemächtigen. Von diesen Effekten der Schmeichelei ist niemand frei – so die von Starobinski untersuchten Texte des 17. Jhdts –, aber sie beziehen sich in besonderer Weise auf denjenigen, der zumindest seiner Position nach niemandem schmeicheln müsste: den Souverän. Das auf die königliche Souveränität bezogene Hofleben des 17. Jhdts war sich dieser Mechanismen bewusst. Über dieses 17. Jhdt hinaus gibt es – behauptet Starobinski und ich sehe keinen Grund ihm darin nicht zu folgen – »keinen großen Text über die Schmeichelei, obwohl es bis auf unsere Tage in allen Gesellschaften Reiche und Arme, Mächtige und Ehrgeizige gibt«,24 außer einem einzigen: Le Neveu de Rameau. In seinem Essai über den Neveu de Rameau interpretiert Starobinski den Neffen in der Tradition des mittelalterlichen Narren und nimmt die Beschreibung ernst, die der Neffe, ganz in dieser Narrentradition, von sich selbst gibt: Phallus zu sein, inmitten zweier Hoden. Er ist allgegenwärtig wie der archaische Narr; er führt sich überall ein: an der Tafel eines Ministers, in den Familien, in den Pferdeställen und bei den Kurtisanen; es gibt keinen Ort in Paris, den er nicht gekreuzt hätte. Er hat Beziehungen zum Tierreich; er hat sogar, wie sein mythischer Vorläufer, Kontakte zum Reich der Toten – man sieht ihn in seinen Reden und Pantomimen dies Hin und Her vom Tod zum Leben vollziehen, das den Narren zum Erben eines antiken Fährmanns zwischen dem Land der Lebenden und dem Jenseits machte.25

Das ›Scheitern‹ dieses Narren, seine Entfernung von den Fleischtöpfen, führt Starobinski auf die Instabilität der bürgerlichen Gesellschaft zurück, deren Autorität an das Geld geknüpft und damit gewissermaßen auf die Mechanismen des Tauschs selbst gegründet ist. Der Narr kreuzt jede Position innerhalb der Ordnung und er kann geduldet werden, wenn sich die Ordnung ihrer Organisation dieser Positionen sicher ist. Bertin ist sich ihrer offensichtlich nicht sicher. Der Neffe gibt zu erkennen, dass es

23 Jean Starobinski: Über die Schmeichelei, in: Ders., Das Rettende in der Gefahr, S.65-102, hier: S.88 24 Starobinski: Über die Schmeichelei, S.101 (Fußnote) 25 Starobinski: Diderots Satire Rameaus Neffe, S.274

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die Bewegung ist, die er so deutlich benennen kann, weil er sie bei Tisch repräsentiert, der sich die Position Bertins verdankt. Dieser bewohnt in gewisser Weise ein Phantasma, das die Schmeichler an seiner Tafel ständig reproduzieren müssen. Seine Sicherheit ist also vollständig abhängig von der Leugnung jener Ökonomie, die sie hervorbringt. Der Ausschluss des Neffen von der Tischgemeinschaft Bertins könnte somit tatsächlich den Punkt eines Übergangs innerhalb der kulturellen Ökonomie Westeuropas markieren. Dieser Ausschluss erfolgt aufgrund des offenen Aussprechens der Ordnung, die an dieser Tafel herrscht: derjenige, der heute noch neben dem Gastgeber sitzen darf, wird morgen schon neben dem Niedersten der Tafel sitzen: dem Neffen, dem einzigen, der neben den Gastgebern einen fixierten, stabilen Platz an der Tafel einzunehmen scheint – den Platz ganz unten. Und dort, an der Seite des Neffen, wird der gegenwärtig Begünstigte »stationnaire à coté de moi, pauvre plat bougre comme vous, qui siedo sempre come un maestoso cazzo fra duoi coglioni«.26 Die Ökonomie dieses Tisches scheint somit eindeutig: zwei Plätze schienen stabil, der des Gastgebers und der seines Gegenstücks, des Narren. In Wahrheit bezeichnet diese Stabilität aber eine gegenseitige Abhängigkeit: sie sind als Antipoden einander unverzichtbar. Doch in dem Moment, in dem der Neffe sich auf die Topographie dieser Ökonomie bezieht, gerät der Gastgeber außer sich und schmeißt ihn – wenn auch nach dem Essen – hinaus. Damit verwirft der lächerliche Souverän bei Tisch eben diejenige Bewegung, die ihm das Phantasma bereitgestellt hat, das er bewohnt. Er weigert sich auf seine Körperlichkeit, d.h. die dem Phantasma innewohnende Entbindung, zurückgeworfen zu werden. Ihm wird es nicht ergehen wie dem Raben: Die Entbindung des eigenen Körpers wird auf den Neffen, den Produktionsort des eigenen Phantasmas, projiziert und aus dem Gesichtsfeld verbannt. Damit verliert der Narr die Rolle, die ihm innerhalb des Systems der monarchischen Souveränität zukam. Das von ihm eröffnete virtuelle Zwischen wird ein für alle mal versperrt und stillgestellt. Das, was Moi als die Pantomime der Bettler bezeichnet, le grand branle de la terre, und worin ihm das Wissen der höfischen Kultur des 17. Jhdts. noch zugestimmt hätte, wird somit in ein Außen katapultiert, das die Illusion eines reinen, beherrschbaren Innen zurücklässt und das Phantasma einer Souveränität konstituiert, die nichts mehr fürchtet als die supplementäre Bewegung, der sie sich verdankt.

26 Diderot: Le Neveude Rameau, S.86f. »[...] an meiner Seite Euren Stammplatz haben werdet, neben mir armem Tropf Euresgleichen, che siedo sempre come un maestoso cazzo fra duoi coglioni.« Diderot: Rameaus Neffe, S.53

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Le petit sauvage Dadurch wird aber nicht nur die Herrschaft des souveränen Phantasmas, sondern auch die seines Gegenübers radikalisiert. Die vervielfältigende Bewegung der sexuellen Ökonomie des Neffen wird maßlos, während seine Virtualitäten naturalisiert werden. Dadurch wird ein anderes Licht auf die Tugendhaftigkeit des Moi geworfen, das an dieser Verschiebung zu partizipieren scheint. Der Inzest wird zur realen Bedrohung, der die Tugend Einhalt gebieten muss. Das deutet sich bereits in Diderots Text an der Stelle an, auf die auch Freud gerne zurückgreifen wird: MOI. – D’accord. Il faut être bien maladroit, quand on n’est pas riche, et que l’on se permet tout pour le devenir. Mais c’est qu’il y a des gens comme moi qui ne regardent pas la richesse, comme la chose du monde la plus précieuse; gens bizarre. LUI. –

Très bizarres. On ne naît pas avec cette tournure-là. On se la donne; car elle n’est pas dans la nature.

MOI. – De L’homme? LUI. –

De l’homme. Tout ce qui vit, sans l’en excepter, cherche son bienêtre aux dépens de qui il appartiendra; et je suis sûr que, si je laissais venir le petit sauvage, sans lui parler de rien : il voudrait être richement vêtu, splendidement nourri, chéri des hommes, aimé des femmes, et rassembler sur lui tous les bonheurs de la vie.

MOI. – Si le petit sauvage était abandonné à lui-même; qu’il conservât toute son imbécillité et qu’il réunît au peu de raison de l’enfant au berceau, la violence des passions de l’homme de trente ans, il tordrait le col à son père, et coucherait avec sa mère. LUI. –

Cela prouve la nécessité d’une bonne éducation; et qui est-ce qui la conteste? et qu’est-ce qu’une bonne éducation, sinon celle qui conduit à toutes sortes de jouissance, sans péril, et sans inconvénient.

MOI. – Peu s’en faut que je ne sois de votre avis; mais gardons-nous de nous expliquer.27

27 Diderot: Le Neveu de Rameau, S.117 »ICH Ihr habt recht. Man muß sehr ungeschickt sein, wenn man nicht reich ist, und sich doch jede Freiheit herausnimmt, es zu werden. Aber es gibt eben Leute wie meine Wenigkeit, die Reichtum nicht für das kostbarste Gut auf Erden halten; absonderliche Leute. ER Höchst absonderlich. Mit solcher Geisteshaltung wird man nicht geboren. Man gibt sie sich; sie liegt nicht in der Natur. ICH Des Menschen? ER Des Menschen. Alles Lebende ohne Ausnahme, sucht sein Wohlergehen auf Kosten aller Beteiligten, und ich bin sicher, wenn ich den kleinen

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Diese – wohl gegen Rousseau gerichtete – Invektive ist etwas komplexer als es den Anschein hat. Letztlich treffen hier zwei vollständig verschiedene Fassungen des Konstrukts des petit sauvage aufeinander, der als so etwas wie eine blank space, eine kulturelle Projektionsfläche benutzt wird. Während der Neffe ihn mit dem Willen zum Wohlergehen ausstattet, sieht das Moi in ihm eine ursprüngliche Gewalt verkörpert, der die Kultur und mit ihr vor allem die Tugend antworten. Hinsichtlich dessen, was Freud später die Triebe nennen wird, unterscheiden sich beide Positionen also fundamental, wenn sie sich auch nie direkt zu widersprechen scheinen. Das Moi deutet die beiden fundamentalen Tabus des Inzest und des Vatermords um zu einer an den Begriff der Tugend gebundenen Theorie notwendiger Repression – also zum gewaltsamen Gründungsakt einer Kultur, die vorgibt sich zum Wohle des Menschen seiner Natur entgegenzustellen. Der Inzest wird nicht nur als reale Möglichkeit präsentiert, er wird naturalisiert und in den Ursprung eingeschrieben. Die Repression, die diese ursprüngliche Gewalt zu evozieren scheint, bringt sie erst hervor und schreibt die Befolgung der gesellschaftlichen Regeln ein in die Gesetze des Opferkults (»›Qu’est-ce que la vertue?‹ Fragt Diderot [in der Eloge de Richardson, S.T.], und gibt die Antwort: ›C’est, sous quelque face qu’on la considère, un sacrifice de soi-même‹«28). Dieses Verdikt betrifft auch Diogenes und insgesamt bietet diese Passage sicherlich eine kunstvolle Subversion dessen, was Diderot für die Position Rousseaus hält. Genau dieses Manöver der Naturalisierung der Gewalt wird vom Neffen ständig unterlaufen und durchkreuzt. Er führt den Tanz seiner Pantomime rund um diese Gewaltphantasie auf: als Feier eines Pragmatismus, der weiß, wie es tatsächlich steht um die Funktionsmechanismen der Gesellschaft, in der er seine Ziele erreichen möchte. Der Neffe wird damit zu einer Figuration des Begehrens selbst, während der gewalttätige Wilden kommen ließe, ohne ihm etwas zu sagen: Er wollte reich gekleidet, aufs beste ernährt, von den Männern verwöhnt, von den Frauen geliebt sein und alles Glück des Lebens auf sich häufen. ICH Wäre der kleine Wilde sich selbst überlassen, bewahrte er seine ganze Einfältigkeit, und vereinigte er die geringe Vernunft des Kindes in der Wiege mit der Gewalt der Leidenschaften eines Mannes von dreißig Jahren, er würde seinem Vater den Hals umdrehen und mit seiner Mutter schlafen. ER Das beweist, wie notwendig eine gute Erziehung ist; und wer bestreitet es? Und was ist eine gute Erziehung, wenn nicht eine solche, die zu den verschiedensten Genüssen ohne Gefahr und ohne Unannehmlichkeiten führt? ICH Es fehlt nicht viel und ich wäre Eurer Meinung; aber hüten wir uns davor, sie näher zu erklären.« Diderot: Rameaus Neffe, S.79 28 Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18.Jahrhundert, Studienausgabe der Vorlesungen – Band 1, hg. v. Gert Mattenklott, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S.140

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Tugendbegriff des Moi dessen Gefüge zu repräsentieren scheint. Auch wenn Moi den Reichtum ablehnt, so bezieht er ihn doch auf die inzestuösen Ziele, denen dieser Tugendbegriff antwortet. Der Ausschluss von der Tafel Bertins ist allerdings von größerer Tragweite als es der Neffe und sein Autor zu ahnen scheinen. Diese Intervention, diese gewalttätige Geste, bezweckt, gerade jene virtuelle Materialität, jene Deterritorialisierungsspitzen, deren unbeherrschbare Beweglichkeit der Neffe ist, auszuschließen bzw. sie sich selbst einzuverleiben. Was das Moi dem petit sauvage attestiert, ist das, was das Begehren der Bertins dieser Welt charakterisiert. Der Neffe ist das konsequente Unterlaufen dieser Vereinnahmung, die Verwandlung von Ohnmacht in Widerstand, der letztlich Widerstand des Lebens selbst ist. Niemals hat Diderot so drastisch gezeigt, daß in seiner Zeit die Moral nichts anderes als eine bestimmte Sprache sein kann: eine konsequente Kultur der Fremdheit, ohne Ziel und ohne Folgerung. Diese Zerstörung der scheinbaren – moralischen und logischen – Identitäten stützt sich auf ein biologisches Modell. Die polyphone Rhetorik, in der sich die Fremdartigkeit des einzelnen, außergewöhnlichen, aber aufrichtigen Menschen entfaltet – die »Aufrichtigkeit« ersetzt in dieser Satire Diderots jede kanonisierende Apologie der »Wahrheit« –, ist die sichtbare Seite einer konvulsiven, spasmischen Natur, die auf das Nervensystem zentriert ist, das die Mediziner jener Zeit entdeckten und das Diderot übernimmt.29

Im Rêve de d’Alembert wird dieses Modell so weit getrieben, dass alle Differenzen, alle mühsam aufrecht erhaltenen Trennungen sich derart vervielfältigen, dass sie völlig ausgelöscht scheinen: in den zentralen Metaphern des Bienenschwarms und des Spinnennetzes löst sich das Subjekt in unzählige »Moleküle« auf. Stattdessen erscheint das »Netz« oder »Bündel« des Lebewesens, das von einem sogenannten Ursprung kaum kontrolliert werden kann: »Qu’est-ce qu’un être?... la somme d’un certain nombre de tendance...«30 und »S’il n’a qu’une consience dans l’animal, il y a une infinité de volonté; chaque organe a la sienne«31. Die Teilchen sind so klein, dass sich gerade aus dieser unendlichen Gespal29 Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, S.151 30 Denis Diderot: Le Rêve de d’Alembert, in: Ders., Le Neveu de Rameau et autres dialogues philosophiques, S.179-238, hier: S.196 »Was ist ein Wesen?… Die Summe einer gewissen Anzahl von Tendenzen...« Denis Diderot, D’Alemberts Traum, in: Ders., Über die Natur, übers. v. Theodor Lücke, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.84-135, hier: S.98 31 Diderot: Le Rêve de d’Alembert, S.217 »Wenn es auch in einem Lebewesen nur ein Bewußtsein gibt, so gibt es in ihm doch zahllose Willen. Jedes Organ hat seinen eigenen Willen.« Diderot: D’Alemberts Traum, S.117

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tenheit eine Einheit ergibt. Diese polyphonen und hybriden Wesen konstituieren eine Bewegung, die nicht nur die Grenzen der Individualität, sondern auch die der Gattung, die zwischen Belebtem und Unbelebtem verflüssigt: Alles ist Natur, alles ist vielstimmig und alles bezieht sich aufeinander. Vielheit und Einheit sind die beiden Seiten der gleichen Bewegung. Tous les êtres circulent les uns dans les autres, par conséquent toutes les espèces… tout est en un flux perpétuel… tout animal est plus ou moins plante; toute plante est plus ou moins animal. Il n’y a rien de précis en nature… […] Et vous parlez d’individus, pauvres philosophes; laissez là vos individus; répondez moi. Y a-t-il un atome en nature rigoureusement semblable à un autre atome?… Non… Ne convenez-vous pas que tout tient en nature et qu’il est impossible qu’il y ait un vide dans la chaîne?…Que voulez-vous donc dire avec vos individus?… Il n’y en a point… Il n’y a qu’un seul grand individu; c’est le tout.32

Dadurch wird deutlich: Wenn der petit sauvage tatsächlich die blank space, dieser in ihrer Gespaltenheit auf ihre Einheit verwiesenen Natur wäre, dann ist diese Position im Neveu schon besetzt und zwar mit dem Neffen selbst. In ihm artikuliert sich das Begehren, das durch die Fasern des kulturellen Gewebes schießt, ein sexualisiertes und unendlich gespaltenes Leben, dass sich dennoch der Stillstellung durch die Phantasmen entzieht, indem es sie unendlich vervielfältigt. Und das innerhalb des Textes und über ihn hinaus vom Gegenstück einer prekären Souveränität zu eben dem Ausgeschlossenen wird, das die Souveränität der Pantomime der Bettler entreißen und sich zum Objekt zu machen sucht.

32 Diderot: Le Rêve de d’Alembert, S.195f. »Alle Wesen gehen im Kreislauf ineinander über, also auch alle Arten... alles ist in unaufhörlichem Fluß... Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze mehr oder weniger Tier. In der Natur gibt es nichts Endgültiges... [...] Und ihr sprecht von Individuen, ihr armseligen Philosophen! Hört auf mit euren Individuen, antwortet mir: Gibt es in der Natur ein Atom, das einem anderen Atom gleicht?... Nein... Gebt ihr nicht zu, daß in der Natur alles zusammenhängt und daß es in der Kette keine Lücke geben kann? Was meint ihr also mit euren Individuen? Es gibt keine, nein, es gibt keine, nein, es gibt keine... Es gibt nur ein großes Individuum, nämlich das Ganze.« Diderot: D’Alemberts Traum, S.98

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Der Neffe Die Unvernunft trägt nicht mehr jene fremden Gesichter, in denen das Mittelalter sie zu erkennen liebte, sondern die unwahrnehmbare Maske des Vertrauten und Identischen. Die Unvernunft ist gleichzeitig die Welt selbst und dieselbe Welt, nur durch die dünne Oberfläche der Pantomime von sich selbst getrennt. Ihre Kräfte sind nicht mehr die der Entwurzelung, ihr gehört es nicht mehr zu, das auftauchen zu lassen, was radikal anders ist, sondern die Welt im Kreis des immer Gleichen drehen zu lassen. Aber in diesem Taumel, in dem die Wahrheit der Welt sich nur im Innern einer absoluten Leere aufrechterhält, trifft der Mensch auch die ironische Perversion seiner eigenen Wahrheit an, und zwar in dem Moment, in dem sie vom Traum der Innerlichkeit zu den Formen des Austausches übergeht.33

Der Neffe ist die Gestalt dieser »ironischen Perversion« der Wahrheit des Menschen im Moment des Übergangs »zu den Formen des Austausches«, wie Foucault hier in Wahnsinn und Gesellschaft schreibt. Allerdings bezeichnet der Text des Neveu de Rameau zugleich die Möglichkeit des Erscheinens dieser Gestalt als auch ihre Ausschließung: Im Innern der absoluten Leere, die der auf die souveräne Gewalt bezogene Tausch herstellt, ist er die letztmögliche Geste des Widerstands – eines Widerstands, der die Bewegung der Virtualisierung des Realen gegen die Naturalisierung des Virtuellen ausspielt. Foucault scheint hier implizit zu behaupten, der Übergang vom Traum der Innerlichkeit zu den Formen des Austauschs sei gleichzeitig der von den Texten Rousseaus zu denen Diderots.34 Und vielleicht verweist der Neffe wirklich auf eine absolute Leere eben da, wo Rousseau die Potentialität einer reinen Bindung zu produzieren suchte. Dennoch: Diese Ausschließung bezeichnet gerade jenen Prozess, den Derrida am Text Rousseaus zu rekonstruieren vorgibt – die Ausschließung der Supplementarität im Namen des Supplements, des Phantasmas. Der Neveu arbeitet an der Auflösung der phantasmatischen Ordnung, indem er sich der Prozessualität rückhaltlos überlässt, die Herrschaft ihrer Beweglichkeit ins Unermessliche steigert und damit allerdings die grenzenlose Herrschaft ihres Gegenübers – des Souveräns – zugleich unterläuft und vorbereitet. Nicht die Gabe, sondern letztlich die Vernich33 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S.356f. 34 Siehe dazu auch Foucaults Einführung zu den Dialogues von Rousseau. Michel Foucault: Einführung, übers. v. (keine Angabe), in: Ders., Dits et Ecrits – Schriften 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S.241-262

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tung der Gabe in der Verausgabung des Potlatsch, den Derrida als Übergang von der Gabe zur Dissemination bezeichnet, als das, »was nicht zum Vater zurückkehrt, bzw. überhaupt nicht zurückkehrt«,35 hat hier statt. Darin liegt die affirmative Zerstreuung, die Diderots Text praktiziert und der er den Namen des Neveu gibt. Aber weil er so die beiden Ränder des Kreises zugleich bedroht, zerfrißt dieser Wahnsinn auch die Sprache selbst. Er zerstört die semantische Referenz, die es erlaubte vernünftig über diesen Wahnsinn zu reden oder ihn zu beschreiben, kurz man weiß am Ende nicht mehr was Gabe und Nicht-Gabe eigentlich sagen wollen.36

35 Jacques Derrida: Falschgeld – Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Fink 1993, S.67 36 Derrida: Falschgeld, S.67

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3. L E N Z : D E R

NEUE

MENOZA

Was bedeutet die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den Tagebuch-Texten von Cornelia Goethe und Jakob Michael Reinhold Lenz für die Ausgangsfrage, warum es eigentlich keine Stürmerin und Drängerin gegeben hat? Eine vorläufige Antwort könnte lauten: Die Frage ist falsch gestellt, denn es hat durchaus eine Stürmerin und Drängerin gegeben, nur hieß diese nicht Cornelia Goethe, sondern Jakob Michael Reinhold Lenz.1 Rousseau ist für den Zustand der Ruhe, oder der kleinstmöglichsten Bewegung. Allein sollte dieser Zustand einem Wesen wohl der angemessenste sein, welches in seinem Grundtrieb zu einer immer höheren Vervollkommnung, zu einer immer weiteren Entwicklung seiner Fähigkeiten spürt? Nein! Der höchste Zustand der Bewegung ist unserm Ich der angemessenste, das heißt derjenige Zustand, wo unsere äußern Umstände unsere Relationen und Situationen so zusammenlaufen, daß wir das größtmögliche Feld vor uns haben, unsere Vollkommenheit zu erhöhen zu befördern und andern empfindbar zu machen, weil wir uns allsdenn das größtmöglichste Vergnügen versprechen können, welches eigentlich bei allen Menschen in der ganzen Welt in dem größten Gefühl unserer Existenz, unserer Fähigkeiten, unsers Selbst besteht.2

J.M.R. Lenz bezieht sich in diesem wohl 1771/72, also seinen ersten Jahren in Straßburg entstandenen Text in zweifacher Weise auf Rousseau, dessen Texte von dieser Doppelheit – der Perfektibilität des Menschen auf der einen und der Verwiesenheit des sentiment de l’existence auf der anderen Seite – bestimmt sind. Lenz knüpft an dieser Doppelheit an und verschiebt sie: Er setzt an die Stelle der Ruhe eine Apotheose der Bewegung, die mit der Möglichkeit menschlicher Vervollkommnung in Ver-

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Inge Stephan: Geniekult und Männerbund. Zur Ausgrenzung des ›Weiblichen‹ in der Sturm und Drang-Bewegung, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Text und Kritik – Heft 146: Jakob Michael Reinhold Lenz, München (Boorberg) 2000, S.46-54, hier: S.53 J.M.R. Lenz: Versuch über das erste Principium der Moral, in: Ders., Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Band 2 – Prosa, Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel 1992, S.499-514, hier: S.507f.

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bindung gebracht wird.3 Die Ruhe und das Fehlen der Einbildungskraft des Naturmenschen bei Rousseau habe ich weiter oben mit Starobinski auf die sich den Phantasmen entziehende Bewegung der Phantasietätigkeit und diese wiederum auf die »unverfügbare Erfahrung« des sentiment de l’existence bezogen. Worauf allerdings bezieht sich dann die dieser Erfahrung scheinbar entgegengesetzte Apotheose der Bewegung bei Lenz, die doch das eigentliche Bindeglied zum Kontext des Sturm und Drang, dem Lenz gemeinhin und vielleicht etwas vorschnell zugeordnet wird, in dessen Texten darstellt? Dieser Frage möchte ich zunächst anhand der theoretischen Texte zu theologischen und ästhetischen Fragen nachgehen, an denen Lenz in seinen Straßburger Jahren geschrieben hat, indem ich sie von den anderen dort auftauchenden zentralen Motiven her zu beleuchten versuche: dem Handeln, der Negativität der Gesetze, der Konkupiszenz und der Notwendigkeit der Einnahme eines Standpunktes in der Literatur. Danach werde ich versuchen, eine knappe – sicherlich reduzierte – Lesart von Lenzens ebenfalls in Straßburg entstandenem Stück Der neue Menoza anzubieten, die der Bedeutung dieser Motive, dem Zusammenhang von Lenzens theoretischen Texten und seiner literarischen Praxis Rechnung trägt.

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Norman R. Diffey hat die bisher einzige ausführliche Untersuchung über den Einfluss Rousseaus auf Lenz vorgelegt. Er kommt dabei zu dem erstaunlichen Ergebnis: »Guided by the keen socio-critical instinct and the dynamic moral philosophy which were his unique contribution to the Sturm und Drang, Lenz was able to pursue Rousseau’s visions in a way that seemed most relevant to the needs of his age and society. He was, when need arose, more Rousseauist than Rousseau, as in his belief in the triumph of absolute love over convention, or in his rejection of resignation as an alternative to confronting injustices.« Norman R. Diffey: Jakob Michael Reinhold Lenz and Jean-Jacques Rousseau, Bonn: Bouvier 1981, S.208 Das Problem dieser Studie ist, wie sich bereits an obigem Zitat ahnen lässt, dass sie weder in Bezug auf Lenz noch in Bezug auf Rousseau über die kanonisierten Auffassungen hinsichtlich beider Autoren hinauskommt. Was im Falle Rousseaus vielleicht insofern entschuldbar ist, als dass Lenz nur sehr wenige Rousseausche Texte zur Verfügung standen. Dass diese Kurzschließung problematisch bleibt, verdeutlicht die auf das obige Zitat folgende Formulierung Diffeys, die in eklatanter Weise weder den Texten Lenzens noch denen Rousseaus – gerade der in ihnen entfalteten Verwiesenheit von Sozialem und ›Innerlichkeit‹ – gerecht wird: »Through such frustrations of his keenest aspirations he is thrown more and more upon his inner sensibility, for which he finds unlimited nourishment in the writings of Rousseau, yet deriving none of the universal quality found in Rousseau’s nature mysticism. Bereft of his sustaining faith in the virtue of engaged activity, Lenz finds himself at the mercy of purposeless emotionalism that leads progressively from morbid selfpreoccupation to mental disintegration and early death.« Diffey: Lenz and Rousseau, S.208

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Verbot Die ›theologische‹ Hauptschrift Lenzens sind die Meinungen eines Laien den Geistlichen zugeeignet / Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773.4 Der erste Teil dieses Textes behandelt vorwiegend die Bücher Mosis, der zweite – die Stimmen – (neben einigen allgemeinen Anmerkungen zur Moral im Allgemeinen und moralischen Systemen im Besonderen) das Evangelium Christi. Im ersten Teil geht es Lenz darum, das Phantastische auf ›einen natürlichen Gehalt‹ zurückzuführen (indem er paradoxerweise dazu auffordert, »die Imagination anzustrengen«5). Er schreibt die Genesis einer bestimmten orientalischen Literatur zu, die noch einer natürlichen Menschheit angehörte, die in Bildern dachte. Als deren Mittler tritt Noah auf: Lenz unterscheidet zwischen dieser Menschheit der mythischen Vorzeit, die allmählich sittlich verfällt, und derjenigen, die durch die Sintflut hindurchgegangen ist und der sich Gott offenbart. Um diese Offenbarung geht es Lenz im Folgenden. Er versucht sie zu säkularisieren, indem er sie als Offenbarung der Regeln der Natur versteht. Gott zeigt sich dem Menschen somit nicht in der Welt der Schöpfung, sondern vielmehr in den fundamentalen – negativen – Geboten menschlichen Zusammenlebens. Die Sintflut markiert dabei eine absolute Grenze, die bereits auf die mosaische Gesetzgebung verweist. Lenz verkehrt folglich die rousseausche Konstellation: Nicht die Konstruktion eines fiktiven amoralischen Naturmenschen, sondern die grundlegenden und ›natürlichen‹ Verbote nehmen den Platz des Ursprungs ein. Der eigentliche Kunstgriff Lenz’ (in dem sich die produktive Aneignung des pietistischen Einflusses des Vaters zeigt) besteht darin, dass er eben nicht einen allumfassenden pantheistischen Kosmos erträumt, wie er gemeinhin dem Sturm und Drang zugeschrieben wird, sondern an einer unhintergehbaren Differenz zwischen den Erscheinungen der Natur, den Bildern, die wir von ihr empfangen und unserer Auffassung von ihr festhält. Die uns zugängliche Natur ist bei Lenz immer schon durch diese grundsätzliche Differenzierung der Verbote hindurchgegangen. Die Insignien dieses Naturbegriffs sind die Gesetzestafeln, weder die ins All projizierte Innerlichkeit der empfindsamen deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts noch der mechanistische Naturbegriff eines aufklärerischen 4

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J.M.R. Lenz: Meinungen eines Laien, den Geistlichen zugeeignet – Stimmen des Laien auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773, in: Ders., Werke und Briefe, Band 2, S.522-618 »Lassen Sie uns die Imagination anstrengen, uns in jene Zeiten zurück zu setzen, denn dazu gehört Abstraktion von unserer ganzen heutigen Welt.« Lenz: Meinungen, S.540

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Materialismus. Hier zieht Lenz ganz eindeutig die Grenze der mosaischen Unterscheidung6: Die Verbote betreffen nicht nur das Zusammenleben der Menschen, sondern auch ihre Beziehung zur Gottheit selbst. Gott ist einzig, er ist das Ganze und er ist nicht nur undarstellbar, er ist die Undarstellbarkeit selbst. Es gibt keinen direkten Zugriff auf die Natur als Schöpfung, ihre eigentliche Phänomenalität ist das Verbot – das Verbot als Differenz – und nicht die Einverleibung der Natur im Symbol.7 6

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Assmann meint damit die mit Moses einsetzende Unterscheidung zwischen wahren und falschen Göttern. Wobei er diesen Unterscheid gerade an der Übersetzbarkeit der Götter festmacht. Während die polytheistischen Universen endlos ineinander übersetzbar bleiben, begründet der Monotheismus des ersten Gebots eine grundsätzliche und unüberschreitbare Unübersetzbarkeit. Ob diese historische Rekonstruktion Assmanns korrekt ist, ob es jemals eine Zeit vor der Unübersetzbarkeit gegeben hat, kann ich hier nicht diskutieren. Lenz Theorie des Sündenfalls, der Sintflut und der Negativität der Gesetze setzt ihn jedenfalls gerade in Bezug auf diese mosaische Unterscheidung in Gegensatz zu den pantheistischen Vorstellungen seiner Zeit. Assmann hingegen versucht seine Untersuchung erneut in den polytheistischen Kosmos des Mythos einzuschreiben. »Die Religion des Vaters, die in Echnatons Monotheismus wiederkehrt und im jüdischen und christlichen Monotheismus zur vollen – und das heißt in Freuds Sinne: zwanghaften, neurotischen – Entfaltung kommt, ist vom Bewußtsein der Sünde und der Sehnsucht nach Erlösung geprägt, vom ›schlechten Gewissen, man habe sich gegen Gott versündigt und höre nicht auf zu sündigen‹. Freuds ›archaische Erbschaft‹ ist eine Variante der Erbsündenlehre. [...] Von Ägypten aus betrachtet sieht es so aus, als sei mit der mosaischen Unterscheidung die Sünde in die Welt gekommen. Vielleicht liegt darin das wichtigste Motiv, die Mosaische Unterscheidung in Frage zu stellen. Unsere Untersuchung hat versucht, den Charakter dieser Sünde aufzudecken. Ihre Namen sind Ägypten, Idolatrie, Kosmotheismus. Wer Gott in Ägypten entdeckt, hebt diese Unterscheidung auf.«Jan Assmann: Moses der Ägypter – Entzifferung einer Gedächtnisspur, München/Wien: Hanser) 1998, S.281f. Nach Paul de Man geht die Unterscheidung zwischen Symbol und Allegorie zurück auf die sogenannte Geniezeit, also den Sturm und Drang, der das Symbol von der Allegorie unterschieden und aufgewertet habe. Diese Aufwertung beruhe auf der Weigerung, »zwischen einer Erfahrung und der Darstellung dieser Erfahrung zu unterscheiden. Die dichterische Sprache des Genies vermag über diesen Unterschied hinauszugelangen und so jede individuelle Erfahrung, jedes Erlebnis unmittelbar in eine allgemeingültige Wahrheit umzuformen. Bei ihrer Umsetzung in Sprache wird die Subjektivität der Erfahrung bewahrt und zugleich in einer Welt aufgehoben, die nicht mehr als eine Mannigfaltigkeit aus isolierten Einzelbedeutungen begriffen wird, sondern als ein Gefüge aus Symbolen, die einen allumfassenden, einmaligen und universalen Sinn aufscheinen lassen. Die spezifische Kraft des Symbols liegt dann in seiner Berufung auf das Unendliche einer Totalität, während das Sinnpotential der Allegorie als sich auf eine besondere Bedeutung beziehendes Zeichen mit der Entzifferung dieser bestimmten Bedeutung erschöpft ist.« Paul de Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit, in: Ders., Die Ideologie des Ästhetischen, S.83-130, hier: S.84 Diese – im Anschluss an Gadamer vorgetragene – Einschätzung teilt de Man nur bedingt. Trifft sie auf das ästhetische Programm eines Goethe oder Herder zu, so bestanden bereits damals Gegenströmungen, die diese Hierarchie umzukehren versuchten. De Man nennt hier vor allem Hamann: »Erscheint in der Perspektive der deutschen Klassik die Allegorie eher als Produkt der Auf-

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Lenz’ Konzeption der Beziehung von Natur und Sprache ließe sich im Sinne Paul de Mans folglich eher als allegorisch denn als symbolisch bezeichnen: Eine quasi-organische Erweiterung der Sprache hin zur »Natürlichkeit« volkstümlicher Tradition oder gar eine sich als Verschmelzung gerierende Unterwerfung dessen, was man als Natur bezeichnet, findet in Lenz’ Texten nicht statt, auch und vielleicht gerade, weil er auf diese und andere überlieferte Formen und Gattungen immer wieder zurückgreift.8 Natur erscheint bei ihm als unaufhebbare Distanz, die immer nur artifiziell, allegorisch im Text erscheinen kann.9 Selbst in den großen

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klärung, wodurch sie sich dem Vorwurf eines zu engen Rationalismus ausgesetzt sieht, so haben andere in der Allegorie den Ort gesehen, wo der Kontakt mit einem übermenschlichen Ursprung der Sprache erhalten bleibt. Die polemischen Äußerungen Hamanns gegen Herder in der Frage nach dem Ursprung der Sprache sind demnach in engem Bezug zu seinen Reflexionen über das allegorische Wesen jeder Sprache zu sehen, wie auch zu seiner eigenen literarischen Praxis, in der sich bekanntlich die Allegorie mit der Ironie verbindet. Hier wird die Idee einer transzendentalen Distanz zwischen der inkarnierten Welt des Menschen und dem göttlichen Ursprung des Worts ganz sicher nicht im Namen eines aufgeklärten Rationalismus verteidigt. Der Herdersche Humanismus stößt bei Hamann vielmehr auf einen im Pietismus begründeten Widerstand, wodurch sich die beträchtliche Komplexität des intellektuellen Klimas offenbart, in dem sich in der Folge der Streit zwischen Symbol und Allegorie entwickelt hat.« De Man: Die Rhetorik der Zeitlichkeit, S.84f. Georg-Michael Schulz hat jüngst auf diesen ›traditionalistischen‹ Zug in der Lyrik Lenz’ hingewiesen, in der die verschiedensten hergebrachten Motive neu aufeinander bezogen werden, sodass es »oftmals nicht leicht (fällt), zwischen den elegisch-petrarkistischen und tändelnd-anakreontischen Motiven, die ohnehin schon ein schillerndes Ensemble ergeben, auch noch die existentiell-individuellen Momente herauszulesen.« Georg-Michael Schulz: J.M.R. Lenz, Stuttgart: Reclam 2001, S.192 Bert Kasties Arbeit über den Einfluss Kants auf Lenz beleuchtet diesen Zusammenhang von einer anderen Seite. Er nimmt die Königsberger Jahre, Lenz’ Studium bei Immanuel Kant und die diesem gewidmete Lobrede ernst und versucht Kant als den entscheidenden Bezugspunkt des Lenzschen Denkens nachzuweisen. Er betont, dass Kant sich zum Zeitpunkt des Königsberger Aufenthalts von Lenz keineswegs noch in seiner vorkritischen Phase befand, wie die Veröffentlichungen dieser Jahre nahe legen könnten, sondern in seinen Vorlesungen bereits die Fundamente für seine Kritiken legte. Er kann zeigen, dass Lenzens Umschrift des Pietismus des Vaters (aber auch die Rousseau-Rezeption) durch das frühkritische Denken Kants hindurchgegangen ist. Ich halte diese Position für außerordentlich aufschlussreich zur Erklärung dessen, worin das Lenzsche Denken seinen Ausgang nahm – bis hin zu der These Kasties’, Lenz Texte gehörten keineswegs der als Sturm und Drang bezeichneten Konstellation an, sondern begründeten vielmehr eine kantische Spur in der deutschen Literatur, die von Lenz über Schiller bis zu Kleist reiche. Allerdings wird in der Erfindung dieser Traditionslinie auch deutlich, dass Kasties in der Eingliederung der Lenzschen Texte unter den Namen Kants insgesamt übers Ziel hinausschießt und das Spezifische der Lenzschen Aneignung unterschlägt. Auch ist die Umkehrung der zuvor in der Lenzforschung eher negativen Bewertung des väterlichen Einflusses in eine ausschließlich positive sicherlich nicht weniger problematisch. Dennoch ermöglicht Kasties’ Perspektive eine neue und produktive Sicht auf das intertextuelle Geflecht aus dem

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Gemütsbewegungen, die bei Lenz nie wirklich zu erhabener Größe gesteigert werden, schwingt jenes Quentchen Ironie mit, das immer wieder den Abstand herstellt zwischen Ich und Nicht-Ich. Lenz verwirft die Vergötterung der Natur als Vorspiegelung eines narzisstisch erweiterten, allmächtigen Ich. Hier liegt der Widerspruch zwischen schöner Natur und dem, was Lenz als der Natur treu bleiben bezeichnet. Es ist immer die liebe Phantasie, die uns hebt, wir sind immer hie, da, dort, trinken froh erhitzt schon andrer Sonnen Glut, und bedenken nicht, daß wir arme federlose Keucheln sind, denen die Flügel erst wachsen müssen, die oft nicht gehen können, die oft nur piepen können.10

Dieses antiphantasmatische Programm bezieht sich auf die Hilflosigkeit und Ohnmacht eines Körpers, den die Phantasmen ausscheiden, wie die Schmeicheleien des Fuchses den La Fontainschen Raben. Die ›Natur‹ muss den Phantasmen entzogen werden, um die Potentialität einer Diffe-

die Lenzschen Texte sich knüpfen, da er eben dort – wenn auch eindimensional unter verkehrten Vorzeichen – Kontinuitäten erkennt, wo die frühere Lenz-Forschung nur Brüche sah und umgekehrt. »Nicht zufällig steht deshalb im Zentrum von Kants Gedankengebäude ebenso wie im Zentrum der pietistischen Glaubenspraxis die Erkenntnis, der Glaube an ein vom menschlichen Begriffsvermögen nicht zu Erfassendes besitze an sich noch keinen sittlichen Wert, – daß vom eigenen Tun, vom moralphilosophisch begründeten Handeln hingegen alles abhänge. Das hierfür notwendige Regelwerk gelte es vom Menschen zu erkennen, – mittels der von Kant benannten erkenntnistheoretischen Prinzipien oder durch den (von Kant – wie noch gezeigt wird – in keiner Weise zurückgewiesenen) religiösen Glauben. Und diese Gewißheit um die zentrale Bedeutung einer vom Menschen unabhängig existierenden Moral wird ebenso bei Immanuel Kant wie auch beim Pietismus in besonderer Weise von erziehungstheoretischen Überlegungen flankiert, die jeweils zu nichts Geringerem anleiten sollen, als den Menschen der ihm zugedachten transzendenten Bestimmung zuzuführen, indem er zum Verwirklichen des sittlichen Ideals befähigt werde. So hat Lenz bei Kant wichtige Gemeinsamkeiten – gleichsam säkularisiert – vorgefunden, die sich als förderlich für die weitere Rezeption der Transzendentalphilosophie erwiesen haben und es ihm ermöglichten, sich aus der von seinem Dozenten bekämpften geistigen Unmündigkeit zu befreien, ohne deswegen grundlegende Glaubensvorstellungen und Betätigungsfelder des von ihm im wesentlichen positiv beurteilten Pietismus aufgeben zu müssen.« Bert Kasties: J.M.R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant – Ein Beitrag zur Neubestimmung des Sturm und Drang, Berlin/New York: de Gruyter 2003, S.25f. Man kann diese Neigung zur Umkehrung in der Bewertung des väterlichen Einflusses in der jüngeren Lenz Forschung auch in dem notwendigen Interesse für die Mutter ausmachen, die – von der man im Gegensatz zum Vater so gut wie nichts weiß – nun als eigentliches Zentrum der Lenzschen Biographie erscheint. Siehe bspw.: Elke Meinzer: Die Irrgärten des J.M.R. Lenz. Zur psychoanalytischen Interpretation der Werke Tantalus, Der Waldbruder und Myrsa Polagi, in: David Hill (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S.161-178 10 Lenz: Meinungen, S.615

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renz freizusetzen, die – und daran hält Lenz fest – uns eines Tages doch fliegen lassen wird. Das Vermögen des Menschen leitet sich folglich direkt ab aus der Annahme seines Unvermögens, seiner Ohnmacht, die hier im Gegensatz zum Phantasma als körperliche gedacht wird.

Tun Alle moralischen Gesetze sind negativ, müssen negativ sein, sie zeigen uns, was wir unterlassen müssen (sei es nun in Rücksicht auf uns allein oder in Rücksicht auf andere, auf die wir wechselseitig einfließen) falls wir uns nicht in Schaden und Unglück verwickeln wollen. Was wir zu tun haben, kann uns kein Gesetzgeber vorschreiben, oder er macht uns zu Klötzen und Blöcken, zu Maschinen und Rädern, die herumgedreht werden müssen, weil sie nicht von selber laufen können. Das mag der Fall wohl beim politischen Gesetzgeber sein, der die Seele seiner Staatsmaschine ist, der das unbehelfsame Volk mit Gebiß und Zaum regiert wie ein Knabe den Elefanten – aber beim moralischen Gesetzgeber, der freihandelnde selbständige Wesen bilden will, ist er’s nicht und kann es nicht sein.11

Lenz sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen der positiven Ausgestaltung moralischer Vorschriften und der idealischen Verklärung der Wirklichkeit: beide stehen bei ihm unter dem Verdacht der Idolatrie. Dieses Verdikt fällt bei Lenz auf alle Anleitungen zum richtigen Handeln: Es gibt keine positive Bestimmung dessen, was wir zu tun haben, darin liegt unsere an die Notwendigkeit der Verbote gebundene Freiheit. Lenz konstatiert somit genau jene Unmöglichkeit der Beziehung zwischen positiver Gesetzgebung und Freiheit, die bei Rousseau volonté generale heißt. Er entfaltet sie zwischen der Negativität der Gesetze und dem, was er Tun oder Handeln nennt. Genau in der Unmöglichkeit dieser Beziehung liegt für Lenz die Potentialität menschlicher Aktivität. Ein tätiger Glaube ist aber ein ganz ander Ding als alle Seher, Philosophen, Theologen, Weise, Heiligen, und ich weiß nicht wer, vielleicht dafür halten, es ist nicht meinen, es ist nicht hoffen, wünschen, begehren, es ist nicht reden, träumen, dichten, predigen, Schriften herausgeben, sie mögen Meinungen oder Stimmungen heißen – es ist tun.12

Tun greift also über den Text, in dem es erscheint, hinaus. Es stellt den Ort seiner eigenen Performanz in Frage und entzieht sich jeder, selbst 11 Lenz: Meinungen, S.550 12 Lenz: Meinungen, S.613

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seiner eigenen Festschreibung. Tun oder Handeln ist insofern nicht nur grundsätzlich antiphantasmatisch – es bezieht sich auf den ohnmächtigen Körper des Menschen jenseits jeder Idealisierung –, es ist in gewisser Weise auch nichtperformativ – es arbeitet nicht an der Hervorbringung eines neuen, womöglich realistischeren Ideals, und kann so verhindern selbst zu einem solchen, zu einer neuen Wahrheit zu werden. Handeln ist so bei Lenz paradoxerweise Nichthandeln, so wie das Vermögen des Menschen immer auf sein Unvermögen bezogen ist, sich in ihm erst erfüllt. Genau an diesem Punkt stellt sich der Bezug zur Kunst her, die Lenz der Natur ebenso entgegenstellt, wie die moralischen Systeme. Es muss aber eine andere Kunst geben, eine, die sich dem körperlichen Unvermögen nicht entgegensetzt, es nicht auszuschließen sucht. Aus der Gegenüberstellung von Kunst und Natur entsteht gewissermaßen die Kunst zu leben. Der christliche allgemeine Glaube ist nur der, der den Regeln seines alten Gottes getreu, tête baissée in alle Gefahr und Nichtgefahr gibt, unbekümmert was da herauskommen, was da nicht herauskommen mag, immer besser, immer edler zu denken und zu handeln sucht, das heißt, seiner Natur treu bleibt. Denn die Natur ist es nicht, die uns auf krumme Wege führt, die Supernatur ist es, die schöne Natur, die das Ding besser verstehen will als Gott und alle seine Propheten: die Kunst. Der Mensch ist nicht zur Kunst gemacht (wie das Wort heut zu Tage mißbraucht wird), das heißt, viele Menschen sind nicht gemacht unter eine Kunst zu passen, oder es sind Flickhölzer, die allenthalben hinpassen, jeder Mensch hat seine Kunst in sich. Seine Kunst zu leben, seine Kunst andern Menschen nützlich zu werden, denn den Trieb fühlen wir doch alle in uns, und je unschuldiger wir ihm Tapfe vor Tapfe nachgehen, desto sicherer leitet er uns zum Ziel.13

»Schöne Natur« und der Anspruch, »seiner Natur treu zu bleiben«, sind für Lenz Widersprüche. Es geht ihm nicht darum, sich einem Ideal zu unterwerfen, das Unvermögen zu verwerfen, sondern es anzunehmen, es zu leben. Diese Kunst zu leben widersetzt sich der Verallgemeinerung, der illusionären Ganzheit. »In sich selbst« meint hier: sich anknüpfend an der eigenen Unvollkommenheit (dem eigenen Unvermögen) einzulassen auf die Nichtübereinstimmung mit dem Ideal: auf die eigene Singularität, die grundsätzliche, allem vorausgehende Differenz. Das zweite Gebot ist für diese Konstellation natürlich zentral: Es gibt kein Ideal, das in der Lage wäre die Vielzahl dessen, was Leben, was Empfindung ist zu einem

13 Lenz: Meinungen, S.613f.

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Bild zu verallgemeinern. Jedes Bild wäre in dieser Konstruktion immer Ausschluss anderer Bilder. Die Bedeutung des Verbots verweist genau auf diese antiphantasmatische Stoßrichtung des Lenzschen Naturbegriffs: dem Festhalten an der Differenz, der Singularität, dem Unvermögen. Von hier aus wird Tun bzw. Handeln zu eben jener Bewegung, die Lenz Rousseau entgegensetzen zu können meint. Hier verbindet sich die Ablehnung des Phantasmas, die Annahme der eigenen Unvollkommenheit mit dem Tun als Öffnung der Potentialität. Aus dieser aporetischen Konstellation zwischen negativem Gesetz und Handeln, Unvermögen und Potenz (es geht hier darum, fliegen zu lernen!), entsteht diese sich den Phantasmen entziehende Bewegung. In dem Text Über die Natur unseres Geistes hat Lenz die Koordinaten eines auf diese Beweglichkeit zielenden Denkens umrissen. Denken heißt nicht vertauben – es heißt, seine unangenehmen Empfindungen mit all ihrer Gewalt wüten zu lassen und Stärke genug in sich zu fühlen, die Natur dieser Empfindungen zu untersuchen und sich so über sie hinauszusetzen. Diese Empfindungen mit vergangenen zusammenzuhalten, gegeneinander abzuwägen zu ordnen und zu übersehen. Da erst kann man sagen, man fühle sich – und wenn solch ein Strauß überstanden ist, bekommt der Mensch, oder des Menschen Geist eine Festigkeit die ihm für die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit seiner Existenz Bürge wird. Glücklich da erst, mit der Überzeugung sich selbst dieses Glück zu danken zu haben. So, möcht ich sagen erschafft sich die Seele selber und somit auch ihren künftigen Zustand. So lernt sie Verhältnis der Dinge zu sich selber – und zugleich Gebrauch und Anwendung dieser Dinge zur Verbesserung ihres äußern Zustandes finden. So sondert sie sich aus dem maschinenhaftwirkenden Haufen der Geschöpfe ab und wird selbst Schöpfer, mischt sich in die Welt nur in so fern als sie es zu ihrer Absicht dienlich erachtet, je größer ihre Stärke desto größer ihre freiwillige Teilnehmung, ihre verhältnißmäßige Einmischung, ihr nachmaliger Schöpfungs- und Wirkungskreis.14

Das Selbst ist dazu aufgefordert, sich der eigenen Lust und Unlust zu stellen, sie anzunehmen. Diese Passivität ist die Voraussetzung jeder Aktivität, jedes Schöpfertums. In sich zusammenziehen und über sich hinaus gelangen sind eins, sind die gleiche Bewegung. Dieses Verhältnis von Passivität und Aktivität lässt sich auch auf das Verhältnis des Selbst zum Ganzen der Schöpfung beziehen. Hier setzt die Notwendigkeit des Verbots ein: Die Passivität lässt sich nicht im Namen eines Ideals, einer imaginierten Ganzheit umgehen. Das Ganze ist Gottes und es zu respek14 J.M.R. Lenz: Über die Natur unseres Geistes, in: Ders., Werke und Briefe, Band 2, S.619-624, hier: S.621f.

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tieren heißt, das eigene Unvermögen, die eigene Passivität anzunehmen. Das sind die Koordinaten dieses sich dem Ganzheitsphantsma entgegenstemmenden Denkens. Die notwendige Beziehung zwischen der Negativität der Gesetze und dem Positivum des Handelns als Schöpfertum zeigt, inwiefern der materialistische Determinismus gerade die Kehrseite eines ästhetischen Idealismus ist. Beide produzieren letztlich Gewissheiten, arbeiten am Ausschluss des Handelns, am Vertauben des Denkens: Sie setzen genau die Geste dieser aktiven Reflexivität außer Kraft. Lenz’ Begriff des »tätigen Glaubens« bewahrt gleichermaßen Distanz zu einem vermeintlichen Wissen und zur Erstarrung eines imaginären Ideals. Ihm geht es um die notwendige Beziehung von radikaler Annahme des eigenen Unvermögens – also Passivität – und Offenheit, Bewegung, Potentialität – also all das, was bei ihm als Aktivität erscheint: diese aporetische Kluft bildet den Kern der subversiven nichtperformativen und antiphantasmatischen Praxis, die er Tun oder Handeln nennt. Für das Verständnis dieser Gleichzeitigkeit von Aktivität und Passivität in den Texten von Lenz ist es notwendig, sich dem Zusammenhang von Negativität der Gesetze und Handeln noch einmal aus einer anderen Perspektive zu nähern: der der Sexualität, des Begehrens oder der Begierde. In Lenz Begriffen: aus der Perspektive der sich aus der Erbsünde herleitenden Konkupiszenz.

Konkupiszenz Wenn Gott aus dem Menschen bloß ein denkendes und empfindendes Wesen hätte machen wollen, so würde er’s bei den Schatten, die er um ihn herpflanzte, bei dem blauen Himmel mit dem er ihn bedeckte und der schönen Dekoration des Paradieses haben bewenden lassen. Aber er wollte ihn auch handelnd, nicht bloß leidend. Der Mensch sollte freilich einen Blick der Gottheit ins schöne Weltall tun und alles übereinstimmend empfinden: aber er sollte auch frei, ein kleiner Schöpfer, der Gottheit nach-handeln. Die Triebfeder unserer Handlungen ist die Konkupiszenz: ohne Begier nach etwas bleiben wir ruhig – und da handeln die größte aller menschlichen Realitäten ist, wie sträflich wär es, den Keim unserer Tätigkeit, aller unsrer Vortrefflichkeit zu ersticken. Gott wollte also unsere Konkupiszenz in Bewegung setzen – das konnte nur durch ein Verbot geschehen.15

15 J.M.R. Lenz: Supplement zur Abhandlung vom Baum des Erkenntnisses Gutes und Bösen, in. Ders., Werke und Briefe, Zweiter Band, S.514-518, hier: S.515 Es handelt sich bei diesem Text um einen Teil der Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen, die jetzt – in der Faksimileausgabe der zu Lebzeiten erschienen Texte – wieder zugänglich sind: Jacob Michael Reinhold Lenz: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen, in: Ders., Werke

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Gott wollte die Freiheit des Menschen – so Lenz –, er wollte ihn als Schöpfer und deshalb musste er seine Begierden anstacheln, sie in Bewegung setzen. Aus diesem Grunde – und nur aus diesem Grunde – verbot er ihm den Genuss der Früchte vom Baum der Erkenntnis. Dieses Verbot zielte nicht unbedingt darauf, dass der Mensch von diesen Früchten essen sollte, sondern darauf, dass sich in ihm das Begehren entwickelte, von ihnen kosten zu dürfen, gerade weil sie verboten waren. Das ist der Moment, in dem die Differenz errichtet, die Übereinstimmung mit dem Universum in unerfüllbares Begehren verwandelt wird. Aus dieser Spannung, die aus dem nicht nur dessen Objekt, sondern das Begehren selbst konstituierenden Verbot entsteht, generiert Lenz das Schöpfertum des Menschen als Nach-handeln der Gottheit. Dieses Nachhandeln ist von der Anerkennung der Differenz des Verbots abhängig. Daraus resultiert aber auch die ständige Gefährdung der Entdifferenzierung, der Auslöschung der Differenz durch das Verbot hindurch: die Überschreitung. Eben deshalb handelt es sich hier um die vielleicht problematischste Zuspitzung in Lenz’ theoretischen Texten. Dieses Schöpfertum wäre dann an den Zusammenhang von Verbot und Begehren gebunden, die Unmöglichkeit an die Überschreitung.16 Mit dieser Konstellation treibt Lenz sein Denken aber genau auf den schmalen Grat der Scheidung von Potentialität und ihrer gewaltsamen Aneignung in der Souveränität. Man könnte auch sagen: der zwischen Gabe und Inzest. Das negative Gesetz nimmt hier genau den Ort des Inzesttabus ein: Es ermöglicht den Zwischenraum der Grenzziehung, der seine Überschreitung zugleich evoziert und verbietet. Damit wird – gewissermaßen nachträglich – jenes Zwischen-Aktivität-und-Passivität ins Spiel gebracht, das Lenz’ Texte beschwören, nie aber einzulösen in der Lage sind. Es gibt in den Meinungen des Laien eine wirklich erstaunliche Passage, die genau diese Engführung auf das Tabu hin betreibt. Sie erscheint als Exkurs, als »rhapsodische Abschweifung« – wie Lenz so etwas bezeichnet – und wirft doch ein verblüffend klares Licht auf den ›Rest‹ nicht nur dieses Textes.

in zwölf Bänden, hrsg. Von Christoph Weiß, Band 12, St. Ingbert: Röhrig 2001 (nach der Erstausgabe: Frankfurt und Leipzig 1780) Das obige Zitat findet sich in dieser Ausgabe auf S.15 16 Hier knüpft Matthias Luserke an, der das Begehren und die Sexualität in den Mittelpunkt seiner Lenz-Interpretationen stellt und – etwas waghalsig – vorschlägt, die Chiffre S(turm) und D(rang) als Sexualität und Diskursivierung zu lesen. Siehe: Matthias Luserke: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister, Der neue Menoza, Die Soldaten, München: Fink 1993 und: Matthias Luserke/Reiner Marx: Nochmals S(turm) und D(rang). Anmerkungen zum Nachdruck der Philosophischen Vorlesungen von J.M.R. Lenz, in: Matthias Luserke (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim/ Zürich/New York: Olms 1995, S.407-414

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BLANK SPACES Welche Fülle von Vergnügen wird eröffnet, wenn wir Mütter ansehen können, ohne den zweideutigen Geschlechtertrieb gegen sie zu fühlen, der uns nur einen Augenblick sie in einem hellen Lichte darstellt, darnach aber alle edle Triebe, an denen einer Mutter bei ihrem Kinde so viel gelegen sein muß, in Erschöpfung und Gleichgültigkeit auslöschen, in Nacht zurück fallen läßt? wenn wir ohne eigennützige Wünsche ihre Mutterhand mit den reinen Tränen der Dankbarkeit baden können, die keine andere Begier erpreßt hat als die: ein edler, ein dankbarer Mensch zu sein? welche Fülle von Freuden, wenn eine Tochter ohne Zurückhaltung und Furcht ihre, in der Blüte duftende Unschuld mit dem Himmelgefühl eines von Dank, und Ehrfurcht und Zutrauen entflammten Mädgens, wenn sie so ihren Vater umhalsen kann, und er ganz rein und unvermischt die Wonne, den Stolz fühlt, der Welt einen Engel geschenkt zu haben. O meine Herren! wer noch nicht das Glück gefühlt hat, eine Empfindung ganz aus zu empfinden – ohne Furcht, ohne Zurückhaltung, mit Sicherheit sich ihr zu überlassen – der hat noch kein Glück gefühlt, nur Schimmer vom Lichte, nur Tropfen von der geweihten Schale gekostet, nicht mit vollen Zügen Herz und Existenz in diesen Nektar eintauchen lassen. Was die übrigen Grade anbetrifft, (merken sie wohl, ich rede hier nur von denen, die in der Bibel stehen) so sind sie alle von der Art, daß die Empfindungen, die durch die Verwandtschaft entstehen, nah an die ehelichen grenzen, daß also, wenn da nicht Schranken gesteckt werden, die eine die andern wo nicht ganz aufheben, doch notwendig in Furcht, Zurückhaltung und Ängstlichkeit ausarten würden? Wo aber bleibt die freie Ergießung des Herzens, dieses einzige Band aller wahren Gesellschaft, dieses einzige Familienglück, guter Gott, wo bleibt sie, wenn ich fürchten muß, was der, der meiner Verwandten tut, tut er nicht aus brüderlicher Liebe, aus Freude, Interesse, Teilnehmung an meiner Existenz, sondern aus eigennützigen Absichten, einen Trieb zu stillen, der mich, wenn’s hoch kommt, wohl zu seinem Weibe macht, aber nicht zu seiner Verwandtin. Ich muß also auf einen von diesen beiden Namen Verzicht tun, oder sie beide ganz aufheben. Zu geschweigen, daß bei diesen Geschwisterehen die ganze Welt, die nur meine Familie ausmachen sollte, ewig abgesonderte kleine Familien geblieben wäre, und kein Band mehr ausfündig gemacht werden könnte, diese sich ganz fremden Gesellschaften zuletzt in ein Ganzes zu ziehen.17

Hier ist eigentlich alles da: ausgehend von der Gabe, der reinen Bindung, der absoluten Auslieferung an den anderen, über die Drohung des inzestuösen, an der Auslöschung der Gabe arbeitenden Traumas, bis hin zur Betonung der sozialen Notwendigkeit des Tabus als Exogamiegebot. Während Rousseau diese Konstellation in seinem Essai sur l’origine des

17 Lenz: Meinungen, S.561ff.

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langues künstlich zerlegt, zieht Lenz sie zu einer einzigen Passage zusammen. Es gelingt ihm so, die Wechselwirkungen dieses intimen familiären Universums sehr genau nachzuzeichnen. Allerdings bleibt die Beziehung zwischen erstem und zweitem Teil der Passage zumindest unklar. Sind es zu Beginn Beziehungen der Liebe, der Voraussetzungslosigkeit, der Gabe, die sich zwischen den Familienmitgliedern ereignen, so treten die »übrigen Grade« dieser Beziehungen als Zusätzliches in Erscheinung. Allein auf dieses Zusätzliche scheint sich das Verbot zu beziehen. Dabei bleibt es jedoch nicht. Im Nachhinein scheinen auch die unschuldigen Beziehungen von der Ambivalenz der ›eigennützigen‹ Begierden betroffen. Das Tabu schreibt sich auch hier nachträglich – gleichsam von hinten – in das Gabenereignis ein. Dadurch scheint es ganz so, als ob die Möglichkeit der Gabe ein Effekt des Tabus ist. Während also zu Beginn die maternité-Beziehungen den Begierden und dem Verbot vorauszugehen scheinen, verkehrt sich diese Beziehung am Ende des Textes: das Verbot scheint sie nun erst zu ermöglichen. Das ›Zusätzliche‹ wird folglich zur alleinigen Wahrheit: Seine Abwehr im Verbot ist die Voraussetzung der Unschuld. Was am Anfang einfach und transparent erschien, verkompliziert sich zusehends. Genau darin liegt die Enge, durch die Lenz sein Denken hier führt: Die »freie Ergießung des Herzens«, deren Unschuld beschworen wird, scheint einer bedrohlichen Ambivalenz so nahe, dass sie kaum mehr von ihr zu unterscheiden ist. Das Tabu ist einerseits auf diese Ambivalenz gerichtet, die es bannen soll, bringt sie andererseits aber erst hervor. Ich denke, dass diese gefährliche Nähe, die die Intimität der Beziehungen spiegelt, um die es hier geht, genau die Phänomenalität dieses Zusammenhangs betrifft: Das Ereignis der Gabe ist nicht nur bedroht von der es vereinnahmenden Ökonomie des Inzest – es gehört ihr im eigentlichen Sinne an, bedingt deren Möglichkeit durch ihren Entzug. Es ist tatsächlich ein sehr schmaler Grat, der eben in der Repräsentation, der Bewusstwerdung und dem Willen zur Wiederholung des Gabenereignisses schon in Richtung der Ökonomie überschritten ist. Die Figuration der Gabe läuft nicht nur Gefahr, bereits gewaltsame Aneignung derselben zu sein: Sie ist genau das! Lenz inszeniert diese Ambivalenz sehr eindrucksvoll, indem er sich selbst – in seinem eigenen Text – zum potentiellen Objekt des inzestuösen Begehrens macht. Er droht förmlich von den eigenen Figurationen, dem Begehren des eigenen Textes »zum Weibe« gemacht zu werden. So wird vollends deutlich, dass es der Text, seine Figurationen, ja das Ereignis der Textualisierung, die Performativität selbst ist, die das vernichtet, was sie hervorbringt und zwar indem sie es hervorbringt. Diese gewaltsame Aneignung wird von der verschachtelten und mehrbödigen

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Inszenierung dieser Passage verhindert, die der nachträglichen Virtualisierung durch das Tabu zugleich Rechnung trägt und sie unterläuft. Insofern ist dieses Schreiben nicht mehr einfach performativ, es ist Handeln oder Tun im Lenzschen Sinne: Es besteht darin, sich gerade jenen Phantasmen zu widersetzen, sie zu unterlaufen bzw. in ihrer Gewaltförmigkeit zu thematisieren, die das Schreiben selbst hervorbringt. In ihm öffnet sich das Zwischen des Schreibvorgangs selbst: Der Augenblick jenes Ereignisses, an dem die Weiße des Papiers und die Schwärze der Tinte sich berühren. Das unmögliche Festhalten dieses Moments zwischen Aktivität und Passivität wäre vielleicht die (De-)Figuration dessen, was Lenz Tun nennt.

Standpunkt Der wahre Dichter verbindet nicht in seiner Einbildungskraft, wie es ihm gefällt, was die Herren die schöne Natur zu nennen belieben, was aber mit ihrer Erlaubnis nichts als die verfehlte Natur ist. Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden. Man könnte sein Gemälde mit der Sache verwechseln und der Schöpfer sieht auf ihn hinab wie auf die kleinen Götter, die mit seinem Funken in der Brust auf den Thronen der Erde sitzen und seinem Beispiel gemäß eine kleine Welt erhalten. Wollte sagen – was wollt ich doch sagen? –

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Diese wichtige Stelle aus den Anmerkungen übers Theater erscheint paradox: Sie bestimmt das Schöpfertum des Dichters als notwendige Nachahmung.19 Der Dichter hat keine Wahl, er imaginiert, gestaltet nicht – er nimmt Standpunkt. Er wird zum Schöpfer, indem er dem imaginären Schöpfertum entsagt. Tatsächlich wiederholt diese Denkfigur die des Verhältnisses von Vermögen und Unvermögen des Menschen bzw. Verbot und Handeln: die Nachahmung, das »mimetische Vermögen«, öffnet sich im Unvermögen. Der Standpunkt, so wie er hier eingeführt wird, bezeichnet das Einnehmen einer antiphantasmatischen, mimetischen Position und aus dieser Position, setzt sich das Muss, die Notwendigkeit an die Stelle des Beliebens und Gefallens. Erst in der Anerkennung des Illu-

18 J.M.R. Lenz: Anmerkungen übers Theater, in: Ders., Werke und Briefe, Band 2, S.641-671, hier: S.648 19 Etwas weiter unten heißt es: »Die Poesie scheint sich dadurch von allen Künsten und Wissenschaften zu unterscheiden, dass sie diese beiden Quellen vereinigt, alles scharf durchdacht, durchforscht, durchschaut – und dann in getreuer Nachahmung zum andermal wieder hervorgebracht. Dieses gibt die Poesie der Sachen, jene des Stils. Oder umgekehrt, wie ihr wollt.« Lenz: Anmerkungen, S.649

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sionscharakters der Wahlfreiheit auf der Ebene des Phantasmas: dem Unvermögen, öffnet sich die Potentialität, die den Autor zum Schöpfer, zum kleinen Gott macht. Dabei erscheint es mir bedeutsam, den letzten Satz dieser Passage nicht einfach als rhetorische Floskel abzutun. Gerade sie öffnet das scheinbar festgefügte Gemälde der kleinen Götter hin auf eine Verwirrung, eine Zerstreutheit, eine radikale Nichtintentionalität, die das zuvor postulierte Schöpfertum zugleich unterläuft und ermöglicht. Diese Zerstreuung – das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein – ist die Einnahme des ›Standpunktes‹ selbst: »Wollte sagen – was wollt ich doch sagen? –« verweist auf einen nichtintentionalen Automatismus, der dem Autor dunkel bleibt und auf den das zuvor postulierte und hervorgehobene »muß er so verbinden« antwortet. Dieser Zerstreuung muss sich der Autor öffnen, denn was ihm zur Verfügung steht, ist nicht die Fülle einer idealisierten Ganzheit, es sind die Fragmente, Splitter, Scherben, die als solche, als Fragmente, Splitter oder Scherben auf die Unmöglichkeit einer Ganzheit verweisen, die sich im Bildnisverbot des einen Gottes ausdrückt. Der ›eigene Standpunkt‹ bezeichnet eben das Einnehmen dieser Perspektive, die Auslieferung des eigenen Orts an die ihm zugrunde liegende Ortlosigkeit: »Wollte sagen – was wollt ich doch sagen? –« Martin Rector hat im Anschluss an einen Aufsatz von Allen Blunden20 Lenzens Standpunkt in Zusammenhang mit der Monadenlehre von Leibniz gebracht, die er folgendermaßen fasst: Wenn aber das monadische Individuum seinen Mitmenschen notwendig verkennen muß, dann muß es auch die Totalität der Gesellschaft, in der es lebt, als amorph und kontingent erfahren. Daß diese Welt in Wahrheit von einem planvollen Schöpfer als beste aller denkbaren geordnet ist und daß in ihr auch für jeden einzelnen Platz zur Entfaltung seiner Identität vorgesehen ist, das kann dieser empirische Betrachter weder selber erkennen noch seinen Mitmenschen beweisen – er kann es höchstens glauben.21

20 »Yet it is so: and it seems clear that Leibniz’s philosophy exercised a changing but remarkably deep influence not only on Lenz’s conception of the artist, but also on the manner in which he came to perceive ordinary social experience – human relationships within the context of contemporary social reality – as something problematic.« Allen Blunden: J.M.R. Lenz and Leibniz: a point of view, in: Matthias Luserke (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, S.343-358, hier: S.358 21 Martin Rector: Götterblick und menschlicher Standpunkt – J.M.R. Lenz’ Komödie Der neue Menoza als Inszenierung eines Wahrnehmungsproblems, in: Wilfried Barner/Walter Müller-Seidel/Ulrich Ott (Hg.), Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 33. Jahrgang 1989, Stuttgart: Kröner 1989, S.185209, hier: S.198

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Rector ergänzt, dass Lenz genau dieser Glaube problematisch geworden und er insofern einem Zwiespalt ausgeliefert sei, den er nicht auflösen könne: So schwankt er, abhängig auch von wechselnden persönlichen Befindlichkeiten und Stimmungen, unsicher hin und her zwischen einer eher optimistischmetaphysischen und einer eher pessimistisch-empiristischen Weltsicht – und ist zugleich auf der Suche nach einer Vermittlung und Versöhnung beider Extreme, theologisch wie ästhetisch.22

Ohne hier eine grundsätzliche Diskussion der Leibnizschen Monadenlehre führen zu können, halte ich diesen Hinweis für sehr überzeugend, auch wenn ich daraus andere Schlussfolgerungen ziehen würde. Lenz jedenfalls (ich könnte mir vorstellen, dass es hier durchaus Parallelen zu Leibniz gibt) entzieht sich genau diesem Zwiespalt, indem er sich weder der metaphysischen noch der empiristischen Weltsicht anschließt. Die Welt der Monaden ist eine Welt aus Singularitäten, deren Ganzheit folglich genau in dieser Singularität ihrer Teile besteht. Insofern wäre eben diese ins Unendliche reichende Vervielfältigung der eigentliche Aufenthaltsort des Ganzen.23 Die Monade würde dann weder einfach dieses Ganze sein, noch wäre sie gleichbedeutend mit der Verkennung des Ganzen. Vielmehr würde sie die Beziehung zum Ganzen als radikale Unmöglichkeit herstellen. Die Offenbarung entspräche dann dieser unmöglichen Beziehung zur unendlichen Vielheit Gottes. Jede Monade bliebe auf diese Unmöglichkeit verwiesen und das Ganze als Unendlichkeit oder Potenti-

Rector verweist auf eine Reihe von Briefen, die Lenz aus Landau an Salzmann geschrieben hat, und die seine Auseinandersetzung mit Leibniz dokumentieren. Lenz befasst sich in diesen Texten mit dem Problem, in welchem Verhältnis die Existenz des Bösen zum Schöpfertum Gottes steht. In: J.M.R. Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden, hrsg. von Sigrid Damm, Band 3 – Briefe und Gedichte, Frankfurt a.M. und Leipzig (Insel) 1992, S.280ff. 22 Rector: Götterblick und menschlicher Standpunkt, S.199 Während Rector die theoretischen Schriften eher der metaphysischen Weltsicht zuordnet, sieht er in den Stücken eher deren empiristische Subversion. Siehe zur Argumentation Rectors hinsichtlich des Zusammenhangs von Handeln und Willensfreiheit auch: Martin Rector, Sieben Thesen zum Problem des Handelns bei Jakob Lenz, in: Zeitschrift für Germanistik NF 2, Bern u.a.: Lang 1992, S.628-639 23 Gilles Deleuze geht darüber vielleicht noch hinaus, wenn er unserem Verständnis der Monadologie noch den letzten Rest scheinbarer Transzendentalität auszutreiben und die Monade geradezu zum Paradigma eines Denkens der Immanenz zu machen versucht: »Die jeder Monade eigenen Singularitäten verlängern sich in jeder Richtung bis zu den Singularitäten der anderen. Jede Monade drückt daher die ganze Welt aus, wenn auch dunkel und verworren, da sie endlich ist und die Welt unendlich.« Gilles Deleuze: Die Falte – Leibniz und der Barock, übers. v. Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S.140

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alität hätte keinen anderen Ort als diese Beziehung der Teile zu sich selbst. Insofern wäre nicht die Verkennung, sondern die Annahme des Monadischen oder Bruchstückhaften die Öffnung dieser Unendlichkeit. Genau diese Denkfigur entwickelt Lenz meines Erachtens in seinen theoretischen Texten. Auf diese Weise unterlaufen sie die phantas-matische Einverleibung, die genau die Unmöglichkeit dieser Beziehung auszuschließen sucht. Christus ist in diesem Zusammenhang die Vermittlungsfigur, dessen Nähe zu Gott gerade in der radikalen Annahme seines menschlichen Unvermögens, das – wie bei einer Monade – die eigentliche Gestalt des menschlichen Vermögens, der menschlichen Perfektibilität ist. Sein Leidensweg ist damit die denkbar weitestgehende Form menschlichen Schöpfertums und Handelns: Er bezeichnet den Punkt, an dem die Negativität des Verbots zu sich selbst zurückkehrt – zur grundsätzlichen Negativität des Todes, als der radikalsten Form des Unvermögens und der Ohnmacht des Menschen, der die Ökonomie, den Tausch fortan als nichtprozessualisierbarer Fremdkörper heimsucht/bewohnt. Er [Christus, S.T.] handelte – er veränderte seine Lage – aber immer tiefer hinab, bis er mit dem tiefsten beschloß, schimpflicher Tod – Alles was die menschliche Natur Zärtliches empfinden kann, fühlt er von der Freundschaft, von inniger Männer-Hochachtung, von der reinsten weiblichen Liebe, von der vollkommensten Gunst der Gottheit, die sich mit ihm vereinigte – aber auch alles was die menschliche Natur Banges und Schröckhaftes ahnden kann von Undankbarkeit, Vernachlässigung, Vereinzelung, Verachtung, grimmigsten Haß Neid und Rache einer ganzen Welt um ihn her, Rache die sich am Tode nicht sättigte, sondern auch das Leben nach dem Tode, das hochachtungsvolle Andenken der Nachwelt auf ewig rauben wollte – ach ich kann dies beklemmende Bild nicht weiter auszeichnen, der Pinsel zittert mir in den Händen und die Augen versagen ihren Dienst.24

Lenz stilisiert Christus zur reinen Figuration des Tuns, das in der Annahme des eigenen Unvermögens möglich wird – bis hin zum Tode, als dessen Endpunkt. Gleichzeitig ist es dieses Tun, das einen Hass provoziert, der »sich am Tod nicht sättigt«, sondern auf die völlige und spurlose Auslöschung aus ist. Und das sich dieser Auslöschung widersetzt, indem es noch den, der schreibt, also tut, am auszeichnen seines Bildes hindert.

24 Lenz: Über die Natur unseres Geistes, S.622f.

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Die maskierte Familie Der neue Menoza, oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi25 ist das mittlere der drei großen, in der Straßburger Zeit entstandenen Stücke von Lenz. Es bezieht sich im Titel auf ein Buch aus dem 18. Jahrhundert, in dem ein asiatischer Prinz mit dem Verfall der Sitten im christlichen Europa konfrontiert wird.26 Der Unterschied dieses Stückes zu den beiden anderen, die Lenz während seiner Straßburger Zeit geschrieben hat – dem Hofmeister und den Soldaten –, liegt in der schon im Titel angedeuteten (scheinbar) exotischen Atmosphäre, in der auf romantisierte Figuren wie eben den tugendhaften orientalischen Prinzen und eine rasende spanische Gräfin zurückgegriffen wird. Die Umgebung, in der sie erscheinen, macht jedoch eher einen ›biederen‹ Eindruck: Eine Familie des niederen Adels, die von Biederlings, wollen sowohl ihren Geschäften nachgehen als auch ihre Tochter verheiraten, und dies möglichst beides zugleich. In diese Idylle bricht nun einerseits der tugendhafte orientalische Prinz Tandi aus Cumba ein, der entsetzt ist vom moralischen Zustand Europas, auf der anderen Seite der lüsterne Graf Camäleon und seine Frau Donna Diana. Letztere hat auf Betreiben des Grafen ihren Vater ermordet, nur um dann von diesem Camäleon sitzen gelassen zu werden, was sie so erzürnt, dass sie nun »die Männer bei ihren Haaren im Blute herumschleppen« will.27 Doch auch die Welt des tugendhaften Orientalen ist nicht frei von Laster, mit Mühe konnte er den Versuchen seiner (Stief-)Mutter entgehen (behauptet er jedenfalls), »ihres Gemahls Ehebett [zu] beflecken«.28 Allerdings ist der orientalische Prinz in Europa geboren und erst auf verschlungenen Wegen zum Thronfolger aufgestiegen. Die Königin ist also nicht seine ›richtige‹ Mutter. Er widersetzt sich dennoch und wiederholt gewissermaßen die Geschichte Josephs in Ägypten, indem er für die Begierden der exotischen Königin im Gefängnis büßen muss. Bei diesem Gefängnis handelt es sich um eine besondere Konstruktion: ein pyramidenartiger Turm, in dem der Delinquent immer weiter nach oben, in immer engere Zellen ziehen muss. Die Möglichkeit, dass er der (Stief-)Mutter am Ende nachgegeben hat, ist in der Art, in der er seine schließliche Befreiung schildert, zumindest angelegt. 25 J.M.R. Lenz: Der neue Menoza, oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi, in: Ders., Werke und Briefe – Band 1, Dramen, Frankfurt a. M. und Leipzig (Insel) 1992, S.125-190 26 Erik Pontoppidan: Menoza, ein asiatischer Prinz, welcher die Welt umher gezogen, Christen zu suchen, aber des Gesuchten wenig gefunden. Siehe den Anmerkungsapparat der hier benutzten Lenz-Ausgabe von Sigrid Damm: J.M.R. Lenz: Werke und Briefe – Band 1, Dramen, S.724f. 27 Lenz: Der neue Menoza, S.138 28 Lenz: Der neue Menoza, S.126

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LENZ: DER NEUE MENOZA PRINZ: Stellen Sie sich eine Tiefe vor, die feucht und nebligt alle Kreaturen aus meinem Gesichte entzog. Ich sah in dieser fürchterlich-blauen Ferne nichts als mich selbst und die Bewegung die ich machte zu springen. Ich sprang – 29

Mit dieser Erzählung des Sprungs vom Pyramidenturm, die dazu führt, dass die empfindsame Tochter der Biederlings in Ohnmacht fällt, setzt das Stück ein. Diese Tochter wird vorerst zum Zentrum des nun einsetzenden Reigens, der schließlich sie selbst erfassen und zum Tod einiger der auftretenden ›Personen‹ führen wird: Sowohl der Prinz als auch der böse Graf Camäleon begehren sie. Während der Prinz zarte Bande über die Einschreibung seiner Liebe in die Rinde eines Baumes im Biederlingschen Garten knüpft, kann er seine Erwählte nur mit knapper Not vor der Vergewaltigung durch den Grafen erretten. Dessen rasende Gattin, die ebenso knapp einem Mordanschlag ihres Mannes entging, ist diesem in Begleitung ihrer Amme auf den Fersen. Bevor sie den Grafen jedoch erreicht, wird die Heirat des Prinzen mit Wilhelminen in einem rauschenden Fest nach cumbanischer Art, in dem alle Standesgrenzen aufgehoben sind, gefeiert. Zwischendurch muss sich der Prinz die Ansichten des zukunftsfrohen Wieland-Jüngers Zierau und die des christlichen Apokalyptikers Beza anhören, worunter er offensichtlich leidet und die er mit folgendem (Lenzschen) Diktum verabschiedet: ZIERAU: Wenn die goldenen Zeiten wiederkommen. PRINZ: Die stecken nur im Hirn der Dichter, und Gott sei Dank. Ich kann nicht sagen, wie mir dabei zu Mute sein würde. Wir säßen da wie Midas vielleicht, würden alles anstarren und nichts genießen können. Solang wir selbst nicht Gold sind, nützen uns die goldenen Zeiten nichts, und wenn wir das sind, können wir uns auch mit ehernen und bleiernen Zeiten aussöhnen.30

Jeder Hauptfigur steht folglich ein/e DoppelgängerIn gegenüber, die/der mit nahezu antipodischen Charakter- und Herkunftsmerkmalen ausgestattet ist: dem tugendhaften Tandi der intrigante Camäleon und der empfindsamen Wilhelmine die ›leidenschaftliche‹ Donna Diana. Die eigentliche Handlung setzt jedoch erst mit dem Morgen nach der Hochzeitsnacht Tandis und Wilhelmines ein. Dann nämlich beginnt das Karussell der Vertauschungen und Verdopplungen sich erst richtig zu drehen und am Ende sind fast alle auftretenden Figuren einmal miteinander verwandt und in inzestuöse Verstrickungen verwickelt gewesen. Wenn ich richtig gezählt habe, tauchen in diesem Stück mindestens vier Väter und fünf 29 Lenz: Der neue Menoza, S.127 30 Lenz: Der neue Menoza, S.148

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Mütter auf, die zumindest kurzzeitig zu (Stief-)Eltern der Hauptfiguren Tandi, Wilhelmine und Donna Diana werden. Die Familienbande erstrecken sich folglich von Spanien über Naumburg bis ins imaginäre Cumba. Zuerst scheint es, als ob der Vatermord aus Spanien und der Inzest aus dem Morgenland ins idyllische Naumburg importiert wurden, im Laufe des Stückes jedoch entpuppt sich die sächsische Provinz selbst als ›Ursprungsort‹ all diesen ›Frevels‹. Von hier wurde der Prinz, eigentlich Sohn der Biederlings, in den Orient vertrieben und die Donna Diana, eigentlich seine Schwester, mit Wilhelmine, eigentlich eine spanische Gräfin, vertauscht. Doch zuvor noch spielt sich hier der zentrale Konflikt des Stückes ab: Die sich nachträglich als inzestuös erweisende Heirat und Hochzeitsnacht des Prinzen mit Wilhelminen, die – nach Eintreffen der diesbezüglichen Nachricht – in die Flucht Tandis nach Leipzig mündet. Tandi scheint nun umstellt von diesem inzestuösen Universum. Taumelnd versucht er an seinen angeblich cumbanischen Tugenden festzuhalten. Die Naumburger Gesellschaft setzt jedoch alles in Bewegung, um ihn aus seinem selbsterwählten Leipziger Exil zurückzuholen. Der Magister Beza – derselbe, der zuvor ob der Sündhaftigkeit seiner Mitmenschen die Apokalypse heraufziehen sah (und dabei auf eine Argumentation zurückgriff, die Lenz von seinem Vater her vertraut vorkommen musste31) – legt ihm eine lupenreine theologische Beweisführung vor, in der er argumentiert, »daß Gott die nahen Heiraten nicht verboten hat«.32 Tandi scheint außer sich und stemmt sich ein letztes Mal – vielleicht schon nicht mehr ganz so überzeugt – auf gegen dieses wiederholte Begehren ihn in den inzestuösen ›Morast‹ zu ziehen. Er erwidert: Wollt ihr den Unterschied aufheben, der zwischen den Namen Vater, Sohn, Schwester, Braut, Mutter, Blutsfreundin obwaltet? Wollt ihr bei einem nichts anders denken, keine andere Regung fühlen als beim andern? Nun wohl, so hebt euch denn nicht übers Vieh, das neben euch ohne Unterschied und Ordnung bespringt was ihm zu nahe kommt, und laßt die ganze weite Welt meinethalben zum Schweinestall werden.33

Auf die Verwischung dieser Grenze zum Tier hin, dieser grundsätzlichen Entdifferenzierung auf der Ebene des Namens, der Geste der Benennung, wird im Text wiederholt angespielt und der Prinz scheint damit Lenzsche

31 Siehe: Indrek Jürjo: Die Weltanschauung des Lenz-Vaters, in: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hg.), »Unaufhörlich Lenz gelesen...« – Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S.138-152 32 Lenz: Der neue Menoza, S.174 33 Lenz: Der neue Menoza, S.174

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Positionen zu übernehmen. Die von einigen Interpreten behauptete Identifikation des Autors mit dieser Figur allerdings erscheint mir zumindest zweifelhaft: Jedenfalls gibt der Prinz eine ziemlich klägliche Figur ab in seinem Leipziger Exil. Dennoch scheint alles gut für ihn auszugehen, gerade weil die Aufhebung der von ihm eingeklagten Unterschiede noch nicht an ihr Ende gekommen ist: Das Karussell dreht sich weiter, um in einem Maskenball zu kulminieren, in dem tatsächlich jede Ordnung aufgehoben, jeder Platz vertauscht worden ist. »Geschwind tu dich an, es soll dich nicht gereuen, du bist ja unter der Maske, kannst tanzen oder zusehn, wie dir’s gefällt, wenn du dich nur zerstreust.«34 Mit diesen Worten versucht Frau von Biederling ihre unwillige Tochter zur Teilnahme an diesem Ball zu bewegen, den der Graf gerade zum Zwecke ihrer Verführung arrangiert hat. Der Maskenball, der eigentlich bereits mit der ersten Szene des ersten Aktes einsetzt, verdoppelt lediglich das Szenario des ganzen Stücks. Nicht nur die Position der Figuren innerhalb des Stücks, selbst ihre Namen sind hier nichts als Masken, die reihum weitergegeben werden und hinter denen sich nichts zu verbergen scheint als weitere Masken. Die Familie, die hier als eigentlicher Ort dieses Maskenwesens erscheint, ist überall und deshalb ist sie nirgends. Aus diesem Grund wirkt die Tandische Tugendhaftigkeit wohl auch so hohl: Die Unterschiede, für die er sich aufzuopfern gedenkt, haben nie existiert. Sein Sprung in die Tiefe dieses ›Morastes‹ ist dem Stück bereits vorausgegangen. Helga Stipa Madland hat im Zusammenhang der Kastrationsszene im Hofmeister von einem Wörtlichnehmen der Metapher gesprochen: »Bei Lenz wird aus der Metapher Realität«35 – eine Theater-Realität allerdings. Genau darin scheint für Lenz die Bedeutung des Theaters zu liegen: es bringt einen Raum zwischen Realität und Nichtrealität hervor, in dem die Phantasmen real werden können ohne dass die Realität phantasmatisch würde. In diesem öffentlichen Zwischenraum ist es möglich, die Phantasmen beim Wort zu nehmen und eben die ›Realität‹ zu zeigen, die sie zu sein vorgeben. Das ist ein – wie Madland andeutet – karnevalistisches Prinzip: In der Welt des Theaters (wie des Karnevals) findet – scheinbar – eine Verkehrung der Welt statt. Man kann im Falle von Lenz’ Theater mit Bachtin sicherlich von einem grotesken Realismus sprechen.36 Allerdings: Lenz’ Figuren sind bereits durch die Ausschlie34 Lenz: Der neue Menoza, S.177 35 Helga Stipa Madland: Lenz, Aristophanes, Bachtin und »die verkehrte Welt«, in: Stephan/Winter (Hg.), »Unaufhörlich Lenz gelesen...«, S.167-180, hier: S.177 36 »Das Groteske vereint den verfallenden, schon deformierten Körper mit dem noch nicht entwickelten, gerade gezeugten Leben. Hier wird das Leben in seiner ambivalenten, innerlich widersprüchlichen Prozeßhaftigkeit gezeigt,

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ßung des von Bachtin beschriebenen auf die Körperöffnungen bezogenen karnevalesken Leibs hindurchgegangen. Das Phantasma des abgeschlossenen, autonomen Körpers scheint bei Lenz allmächtig geworden, gleichzeitig stellt er jedoch – jedenfalls im Neuen Menoza – die Selbstzerstörung der Phantasmen, also die ihnen eigene und auf ihre Zersetzung hinauslaufende Dynamik aus. Deshalb diese von keinem Tabu mehr beschränkte Macht des Inzest, des Tauschs und der Maskierung; diese ins Unendliche reichende Enge der Familie und ihrer Institutionen. Darin liegt die »Verstärkung« oder »Erhöhung« der »treffenden Ähnlichkeit«, die Lenz in der Rezension des Neuen Menoza seinem Stück selbst attestiert.37 Was Lenz zeigt, ist nicht der groteske Leib, sondern im Gegenteil, der körperliche Rest, den das Überhandnehmen der Phantasmen, das Wörtlichnehmen der Metapher ausscheidet. Und so sieht es aus, wenn Lenz die Phantasmen übereinander herfallen lässt: D.D. [d.i.: DONNA DIANA, S.T.] die ihn während des unruhig und verwildert angesehen: Sind das Anschläge eines Rasenden? Nein mein Freund! Zu sehr durchgedacht, zu sehr überlegt, dein Kopf ist in unvergleichlicher Ordnung, aber meiner – beim Himmel! Meiner – (faßt ihn an die Gurgel) stirb, verräterischer Hund! (reißt ihn dem Verband von der Wunde) Blutschänder! Ha meine Nägel sind noch nicht lang genug, wenn sie schon zugeheilt sein sollte. Sie kratzt mit den Nägeln an seiner Wunde. GRAF: Um aller Götter willen – ich verblute mich. D.D. schlägt ihn mit Fäusten: Sodomiter! GRAF: Zu Hülfe! Zu Hülfe! Mord – D.D. stopft ihm ein Schnupftuch in den Mund: Schrei nun! Schrei nun, sodomitischer Hund! Zehn Jahre hab ich zu deinen Lastertaten die Zähne zusammengebissen und still geschwiegen – aber es wird zu viel, Teufel! Es wird zu viel. So hast du meinem Vater das Maul verstopft, als das Gift in seinen Gedärmen tobte. GRAF halb tot und unvernehmlich, indem ihm das Schnupftuch aus dem Munde auf die Wunde fällt: Noch ist es Zeit – Gnade – noch kannst du sie verbinden – Gnade! D.D.: Keine Gnade! Stirb! Dein Maß ist voll. Geht ab.

nichts ist fertig, die Unabgeschlossenheit selbst steht vor uns. Genau darin besteht die groteske Körperkonzeption.« Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt – Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S.76 37 J.M.R. Lenz: Rezension des Neuen Menoza – von dem Verfasser selbst aufgesetzt, in: Lenz: Werke und Briefe, Band 2, S.699-704, hier: S.700

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LENZ: DER NEUE MENOZA GRAF röchelt: Weh mir! Wilhelmine! Stirbt.38

Was in diesem Stück auf die Bühne gebracht werden soll, könnte man vielleicht als einen ›phantasmatischen Realismus‹ bezeichnen, der die Realität des Phantasmas und seine innere Dynamik ausstellt. Die Animalität, von der sich der Prinz bedroht fühlt und der er seinen Tugendbegriff entgegenhält, erweist sich in dieser Szene als Kehrseite des Phantasmas, als dessen Deterritorialisierungsspitze, die ihm inhärente Gewaltförmigkeit, die auf die eigene Auslöschung abzielt. Die Doppelgänger – der Graf und Donna Diana – figurieren das vom Prinzen und seiner Angetrauten Abgetrennte, das, worauf sie sich antipodisch beziehen und was sie gerade deshalb verleugnen müssen. Dieses sie selbst konstituierende Abgetrennte bricht in der nachträglichen Lektüre der Hochzeitsnacht auf und beginnt die Trennungen aufzulösen. Die Aufdeckung des (sich später, also nachträglich, als ›falsch‹ herausstellenden) Inzests ist genau dieses Sichtbarmachen einer phantasmatischen Dynamik, die immer schon stattgefunden hat: Seine Gewalt, die zuvor noch mühsam unsichtbar gemacht werden konnte, wird nun offenbar. Die hervorbrechende ›Animalität‹ – der »tierische Schrei der Leidenschaft«, um mit Diderots Neffen zu sprechen – ist das Produkt eben der Ausschließungen, die das Phantasma an den Körpern, die es bewohnt, die es sich – in völliger Verkehrung der Einverleibungsexzesse des karnevalesken Leibs Bachtins – einzuverleiben trachtet, vornimmt. Lenz benennt diesen Vorgang in einem Brief an Herder im Jahr nach der Veröffentlichung des Neuen Menoza ganz klar: Ich verabscheue die Szene nach der Hochzeitsnacht. Wie konnte ich Schwein sie auch malen. Ich der stinkende Atem des Volkes, der sich nie in eine Sphäre der Herrlichkeit zu erheben wagen darf.39

Er ist jedoch nicht soweit gegangen, die obige Gewaltphantasie zu veröffentlichen. Stattdessen fügt er dem Neuen Menoza einen anderen Schluss an, der die Programmatik des Stückes auf der Ebene des Figurativen zu thematisieren sucht.

38 Ausgeschiedene Schlussszene aus dem Anhang der Damm-Ausgabe: Lenz: Werke und Briefe, Band 1 – Dramen, S.724 39 J.M.R. Lenz: Brief an Herder vom 28.8.1775, in: Ders., Werke und Briefe, Band 3, S.332-334, hier: S.333 Lenz liest die innere Dynamik des Phantasmas folglich in seiner sozialen Dimension. Auch wenn ich hier nicht weiter darauf eingehen kann, scheint mir darin doch eine entscheidende Qualität seiner Stücke zu liegen.

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Das Püppelspiel ZIERAU: Was die schöne Natur nicht nachahmt, Papa! Das kann unmöglich gefallen. BÜRGERMEISTER: Aber das Püppelspiel gefällt mir, Kerl! Was geht mich deine schöne Natur an? Ist dir’s nicht gut genug wie’s da ist, Hannshasenfuß? Willst unsern Herrgott lehren besser machen? Ich weiß nicht, es tut mir immer weh in den Ohren, wenn ich den Fratzen so räsonnieren höre. ZIERAU: Aber in aller Welt, was für Vergnügen können sie an einer Vorstellung finden, in der nicht die geringste Illusion ist. BÜRGERMEISTER: Illusion? Was ist das wieder für ein Ding? ZIERAU: Es ist die Täuschung. BÜRGERMEISTER: Tausch willst Du sagen. ZIERAU: Ei Papa! Sie sehen das Ding doch immer als Kaufmann an, darum mag ich mich mit Ihnen darüber nicht einlassen. Es gibt gewisse Regeln für die Täuschung, das ist für den sinnlichen Betrug da, ich glaube das wirklich zu sehen, was mir doch nur vorgestellt wird.40

Dieser Dialog stammt aus einer der letzten beiden Szenen des Neuen Menoza. Der – niedere – Akademiker Zierau und sein Vater, der Bürgermeister, diskutieren in diesen beiden (dem Stück wohl nachträglich angehängten) Szenen das ästhetische Programm des Stückes selbst. Beide Figuren treten als Träger von Ansichten auf: Der Herr Baccalaureus Zierau durfte sich schon zuvor als Sprachrohr einer Ästhetik präsentieren, deren Kritik die gesamte Konzeption des Stückes durchzieht, während der Vater scheinbar Lenzsche Thesen zum Besten gibt. Gleichzeitig wird aber – quasi unter der Hand – ein Deplatzierungsspiel gespielt, das zuvor im Stück auf eine geradezu groteske Spitze getrieben wurde. Es ist auffällig, dass diese Auseinandersetzung als ein Dialog zwischen Vater und Sohn inszeniert wird, der deutlich gewaltförmige Züge trägt: Der Bürgermeister droht nicht nur mit Prügel, er schlägt tatsächlich zu. Zieraus Flucht in die Illusion, die schöne Natur, erscheint als Entzug vor dieser väterlichen Gewalt und das Stück endet mit der Drohung des Bürgermeisters, die Autonomie seines Sohnes vollends zu zerstören: Du sollst mir in mein Comptoir hinein, Geschmackshöker! Dich krumm und lahm schreiben, da soll dir das Püppelspiel schon drauf schmecken. Hab ich in meinem Leben das gehört, ich glaube, die junge Welt stellt sich noch zuletzt

40 Lenz: Der neue Menoza, S.188

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LENZ: DER NEUE MENOZA auf den Kopf für lauter schöner Natur. Ich will euch kuranzen, ich will euch’s Collegia über die schöne Natur lesen, wart nur!41

Während der Bürgermeister seinen Sohn mit einer gewaltförmigen patriarchalen Macht konfrontiert, wird dieser, als Verteidiger des Ideals und der Illusion, selbst zum ohnmächtigen Püppel in den Händen des Vaters und somit zum eigentlichen Träger der Lenzschen Programmatik. Diese Szenen sind sicherlich ein zentrales Beispiel dafür, wie Lenz die Vaterinstanz umschreibt, d.h., in welcher Weise er sie sich in seinen literarischen Texten aneignet und neu gestaltet. Durch diese kunstvollen Verschiebungen gelingt es Lenz – dem Sohn – eben aus dem Schatten der Vaterfiguren zu treten, in den ihn die frühere Lenz-Forschung gestellt sah.42 Der Autor tritt selbst hier, wo das Stück seine eigene Programmatik zu thematisieren scheint, quasi zwischen den Figuren auf. Die Figuren selbst erscheinen als puppenhafte Positionen, aus deren Arrangement sich die von Extrem zu Extrem taumelnde Handlung – jedenfalls im Neuen Menoza – ergibt. Sie erscheinen reduziert, allein einem Klischee verpflichtet, ›puppenhaft‹, woraus sich eine Spannung gegenüber dem ›realistischen‹ Anspruch Lenzens, die Dinge so zu zeigen wie sie sind, zu ergeben scheint. Ganz abgesehen davon, dass es hier zwar Handlung gibt, die Figuren dieser Handlung aber weit davon entfernt sind zu handeln. Die Ohnmacht dieser Stereotypen ist umfassend. Sie scheinen allein die Unentrinnbarkeit eines Schicksals zu figurieren, dessen Fäden in diesem Stück ausschließlich in der Hand des Autors, des kleinen Gottes, zu liegen scheinen. Die aller Individualität ent-kleideten menschlichen Schemen agieren unselbständig, ausschließlich reaktiv im Schatten ihres Schicksals, dessen Gang sie auf keine Weise beeinflussen, dessen Herannahen sie allenfalls ahnen können. Unterschieden bloß im Grad der Ausrichtung auf den existentiellen Einbruch, sind sie zu Chiffren einer Ent-personalisierung, einer restlosen Deter-

41 Lenz: Der neue Menoza, S.190 42 Martin Kagel arbeitet diese Lenzsche Praxis exemplarisch heraus, indem er sie im Zusammenhang mit dem Brief an den Vater des Lenz-Lesers Franz Kafka liest: »Lenz hatte dem eigenen Leben gegenüber ein experimentelles und, wenn man so will, literarisches Bewusstsein, dem literarische Fiktion nicht notwendigerweise als etwas kategorial Verschiedenes entgegentrat. Nicht anders als bei Franz Kafka war der Vater auch das Produkt einer Fiktion, die jedoch als real erfahren wurde. In Analogie zu Kafka lese ich Lenz’ Texte im Folgenden daher als (zurückgehaltene) ›Briefe an den Vater‹, das heißt als Beschreibungen des Verhältnisses und zugleich als Versuche der Selbstverständigung.« Martin Kagel: Briefe an den Vater – Figurationen des Vaters in den Schriften von J.M.R. Lenz, in: Text und Kritik – Zeitschrift für Literatur 146: Jakob Michael Reinhold Lenz, München Richard Boorberg) 2000, S.69-77, hier: S.70

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BLANK SPACES mination abstrahiert. Als Marionetten spielen die Personen der Lenzschen Komödie nicht nur fortwährend eine Rolle, ohne es wahrzunehmen, sondern ziehen auch diesen blinden Zustand des Verweilens in der Illusion der Klischees einer Gegenüberstellung mit den Schwierigkeiten der Wirklichkeit vor – unverkennbar artikuliert sich in der Puppentheater-Allegorie ein metaphysischer Pessimismus.43

Es ist aber weder Pessimismus noch Optimismus, was sich hinter dieser Allegorie verbirgt, und schon gar keine Metaphysik: Es ist das Allegorische selbst.44 Die Puppe reflektiert relativ präzise den Zusammenhang von Phantasma und Körperlichkeit, indem sie sich auf die Dynamik des Phantasmas zwischen Ideal und Animalität, den Punkt seiner Zersetzung

43 Axel Schmitt: Die »Ohnmacht der Marionette«. Rollenbedingtheit, Selbstentäußerung und Spiel-im-Spiel-Strukturen in Lenz’ Komödien, in: David Hill (Hg.) Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, S.67-80, hier: S.72 44 Walter Benjamin hat wahrscheinlich zu viel Goethe und zu wenig Lenz gelesen, wenn er in seinem Ursprung des deutschen Trauerspiels schreibt: »Aber der Sturm und Drang, der Shakespeare für Deutschland entdeckte, hat allein an ihm das Elementarische im Auge, das Allegorische nicht. Und doch kennzeichnet Shakespeare gerade dies, daß jene beiden Seiten ihm gleich wesentlich sind. Alle elementare Äußerung der Kreatur wird durch deren allegorische Existenz bedeutungsvoll und alles Allegorische nachdrücklich durch das elementare der Sinnenwelt. Mit dem Ersterben des allegorischen Moments geht auch die elementare Kraft dem Drama verloren, bis sie im Sturm und Drang sich neu, und zwar als Trauerspiel, belebt.« Walter Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1978, S.204 Was Benjamin hier als notwendigen Bezug von Elementarem und Allegorischem bezeichnet, wiederholt die Lenzsche Konstellation von negativem Gesetz und Tun, resp. Standpunkt nehmen und göttlicher Ganzheit. Dieser Hinweis auf Benjamin und die barocke Allegorie findet sich auch in: Werner Hermann Preuß: Selbstkastration oder Zeugung neuer Kreatur – Zum Problem der moralischen Freiheit in Leben und Werk von J.M.R. Lenz, Bonn: Bouvier 1983, S.69ff. In dieser Arbeit wird einiges von dem, was ich hier darzustellen versuche, vorweggenommen. Preuß bezieht die Handlungsfreiheit Lenz’, Leibniz Monadenlehre und das Messianische Benjamins in interessanter Weise aufeinander, sitzt dabei aber zu sehr einer politisch-utopisch ausgerichteten Vereinfachung dieser Begriffe auf. Man hat so den Eindruck, dass der von ihm mit großer Emphase gelesene Lenz letztlich durch eine Goethesche Brille, also von der Durchsetzung des klassischen Weltbildes aus, betrachtet wird. Die Möglichkeiten der Lenzschen Texte werden so zwar benannt, doch in eine Dialektik gezwungen, die darauf hinausläuft, sie letztlich aufzuheben. »Und wenn oben gesagt wurde, daß der realistisch gezeichnete Mensch seiner Karikatur gleiche, so läßt sich jetzt variieren und präzisieren: Die realistisch gezeichneten Handlungen bedeuten zugleich ein anderes. Sie zeigen noch nicht das Wahre, sondern Nichtiges. Sie reden noch nicht in der menschlichen Sprache, sondern in allegorischer, bedeutender Gebärdensprache. Sie versinnbildlichen Unerlöstheit, Erlösungsbedürftigkeit. Einem objektiv ästhetischen Gesellschaftsbild aber verlangt dieser Menschheitszustand die gekonnte Vermittlung zwischen Realismus und Allegorie ab.« Preuß: Selbstkastration oder Zeugung neuer Kreatur, S.70

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bezieht. Wenn der Mensch nichts wäre als diese Dynamik, so könnte man sagen, dann wäre er nichts als eine Holzpuppe. An der Verleugnung dieses von ihm selbst hervorgebrachten Zusammenhangs arbeitet das Phantasma. Die Puppe aber wird so zur Figuration des Verleugneten, zur Figuration der die Phantasmen zersetzenden Kontingenz. Gerade dadurch erscheint sie auf der Bühne als ohnmächtige Holzfigur, die an den Fäden eines übermächtigen Schicksals zappelt, dessen Willkürlichkeit Lenz in seiner Dramaturgie hervorhebt. Die auftretenden Personen werden zu bruchstückhaften Zeichen, zu Splittern, zu Karikaturen, denen der imaginäre Boden (der Bezug auf eine phantasmatische Totalität) unter den Füßen weggezogen wurde: und wiederholen so gerade in dieser Reduziertheit die Distanz, die Kluft, die sich zwischen der Marionettenwelt und den hochfliegenden Reden ihrer Protagonisten auftut. Das Allegorische ermöglicht es geradezu, diese Kluft zu lesen und die vom Phantasma ausgeschiedenen ohnmächtigen Körper sichtbar zu machen: »[...] die profane Welt [wird] in allegorischer Betrachtung sowohl im Rang erhoben wie entwertet«.45 Das Püppelspiel – und darauf will ich hinaus – zeigt die Menschen insofern tatsächlich so wie sie sind, wie sie sich aber nur auf dem Theater, der Inszenierung ihrer Inszenierung, darstellen lassen – nämlich als Püppeln, als ohnmächtige, taumelnde »Keucheln«, wie Lenz in den Meinungen schreibt. Wir sehen auf der Bühne durch die Stereotypen hindurch den ohnmächtigen körperlichen Rest dieser Figuren, die in der Verwerfung des Unvermögens, der Passivität, jede Potenz, jedwede Aktivität zerstören: Wir hören gewissermaßen den La Fontaineschen Raben singen. Diese Figuren sind insofern keine Monaden, als sie die Unmöglichkeit des Bezugs zum Ganzen in sich selbst nicht zu lesen in der Lage sind: Sie handeln nicht. Und doch erscheint in Ihnen die Allegorie, das Allegorische. Die wilde Handlung des Stücks besteht letztlich in der Inszenierung der radikalen Abwesenheit von Handeln. Handeln tut hier nur einer: derjenige, der diese Welt auf dem Papier entfaltet und die Kluft zwischen Phantasma und Ohnmacht in der Puppe als allegorischer Form lesbar macht – der Autor. Die Puppen – als das allegorische Zwischen von Ideal und Animalität – sind weder das eine noch das andere. Deshalb ermöglichen sie die Allegorisierung des Phantasmas, die Sichtbarmachung seiner Dynamik: des Verhältnisses von Allmacht und Ohnmacht. Sie ›sind‹ der nichtprozessualisierbare Rest, die Fremdheit, die Verwiesenheit auf den Tod, den das Phantasma – indem es ihn ausschließt – inthronisiert. Oder, wie Lenz es

45 Benjamin: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, S.153

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einer der kläglichsten Vater-Figuren in diesem Stück – dem Herrn von Biederling – in den Mund legt: GRAF: Haben die Cumbaner keine Leidenschaften? HERR V. BIEDERLING: Nein. GRAF: Das sagen Sie. HERR V. BIEDERLING: Nein, sag ich Ihnen. Das macht, was weiß ich, die Erziehung macht’s, die Cumbaner haben Gottesfurcht, das macht es, sie finden ihr Vergnügen an der Arbeit, mit Kopf oder Faust, das ist all eins, und nach der Arbeit kommen sie zu einander, sich zu erlustigen, Alt und Jung, Vornehm und Gering, alles durcheinander, und wer den andern das meiste Gaudi machen kann, der wird am höchsten gehalten, das macht es, sehen Sie, dabei haben sie nicht nötig den Phantaseien nachzuhängen, denn die Phantasei, sehen Sie, das ist so ein Ding... warten Sie, wie hat er mir doch gesagt? ... in Gesellschaft ist es ganz vortrefflich, aber zu Hause taugt’s ganz und gar nicht, es ist wie so ein glänzender Nebel, ein Firnis, den wir über alle Dinge streichen, die uns in Weg kommen, und wodurch wir sie reizend und angenehm machen. GRAF schlägt sich an die Stirn: Oh!46

Genau zwischen dem verzweifelten Schlag an die Stirn des lüsternen Grafen und der vom väterlichen Opportunisten mühsam repetierten Moral des falschen Orientalen spielen die Szenen dieses Stückes.

AtemwEnde Die zeitgenössische Familie ist nicht als eine soziale, ökonomische und politische Allianzstruktur zu verstehen, die die Sexualität ausschließt oder zumindest einengt und auf die nützlichen Funktionen einschränkt. Die Familie hat vielmehr die Sexualität zu verankern und ihren festen Boden zu bilden. Sie gewährleistet die Produktion einer Sexualität, die den Privilegien der Allianz nicht genau entspricht und die Allianzsysteme mit einer bis dahin unbekannten Machttaktik durchsetzt. Die Familie ist der Umschlagplatz zwischen Sexualität und Allianz: sie führt das Gesetz und die Dimension des Juridischen in das Sexualitätsdispositiv ein und transportiert umgekehrt die Ökonomie der Lust und die Intensität der Empfindungen in das Allianzregime. Diese Verhäkelung von Allianz und Sexualität in der Familie macht einige Tatsachen verständlich: daß die Familie seit dem 18. Jahrhundert ein obligatorischer Ort von Empfindungen, Gefühlen, Liebe geworden ist; daß die Sexualität ihre

46 Lenz: Der neue Menoza, S.156

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LENZ: DER NEUE MENOZA bevorzugte Brutstätte in der Familie hat; und daß sie sich aus diesem Grunde »inzestuös« entwickelt. Mag sein, daß in den von den Allianzdispositiven beherrschten Gesellschaften das Inzestverbot eine funktionell unerläßliche Regel ist. Aber in einer Gesellschaft wie der unseren, in der die Familie der aktivste Brennpunkt der Sexualität ist und in der die Anforderungen der Sexualität die Existenz der Familie erhalten und verlängern, nimmt der Inzest aus ganz anderen Gründen und auf ganz andere Weise einen zentralen Platz ein: hier wird er ständig bemüht und abgewehrt, gefürchtet und herbeigerufen – unheimliches Geheimnis und unerläßliches Bindeglied.47

Diese von Foucault analysierte Schnittstelle zwischen Allianz- und Sexualitätsdispositiv ist der Schauplatz, auf dem Lenz seine Stücke inszeniert. (Es überrascht jedenfalls nicht, dass Foucault genau an der Stelle, an der er das Inzesttabu thematisiert, einen Text von Lenz erwähnt.48) Dieser Schauplatz ist die ›bürgerliche Familie‹, wie sie im 18. Jahrhundert die öffentlichen Bühnen und Theatersäle zu bevölkern beginnt: Die Schnittstelle, von der Foucault spricht, ist insofern die intertextuelle Bewegung des 18. Jahrhundert selbst, die die ›bürgerliche Familie‹ als zentralen Schauplatz ihrer Performanz entdeckt. Diese Familie ist kein Schutzraum vor den Ansprüchen der Gesellschaft, auch wenn sie als phantasmatische Konstruktion genau das zu sein behauptet, sondern ein zentraler Umschlagplatz der in ihr zirkulierenden sozialen Energie. Vor allem ist sie – spätestens seit dem 18. Jahrhundert – der Ort, an dem sich soziale Struktur und Intimität am nächsten stehen, sich unmittelbar überlagern, und an dem die Grenzen zwischen Verbot und Überschreitung verschwimmen. Diese Grauzone – Brutstätte der Phantasmen – ist ständig bedroht von der Einverleibung durch die Souveränität, dem zugleich verriegelten und entgrenzten Raum des Traumas, den sie hervorbringt. Die gesellschaftliche Institutionalisierung der Familie ist genau auf die Aneignung der intimsten Gesten vorursprünglicher Verwiesenheit aus. Von hier aus beginnen die Phantasmen sich zu totalisieren und die Tabus, die die Prozessualität ermöglichen, zu bedrohen und aufzulösen. Die von der Familie zugleich entfesselte und verdeckte ›Zerstreuung‹ der gesellschaftlichen Teile tritt schließlich hervor. Dies ist zugleich eine Chance und eine Gefährdung.49 47 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1 – Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1977, S.131f. 48 »Der Tartuffe von Moliére und der Hofmeister von Lenz repräsentieren in einem Abstand von über einem Jahrhundert die Überlagerung des Familiendispositivs durch das Sexualitätsdispositiv – zum einen in der geistlichen Seelenführung und zum andern in der Erziehung.« Foucault: Sexualität, S.133 49 »Es ist einsichtig, wie schnell ›Verwandtschaft‹ im Rahmen der globalen Ökonomie zum Beispiel angesichts der Politik internationaler Adoptionen und Spender-Befruchtung ihre Spezifik verliert. Denn neue ›Familien‹, deren Fili-

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Die von Agamben aufgegriffene Biomacht-These Foucaults bezeichnet genau diese Situation einer zunehmenden gesellschaftlichen Entdifferenzierung, der inneren Auflösung der familiären/patriarchalen Struktur durch ihre gesellschaftliche Totalisierung, also durch das, was Foucault als Biopolitik bezeichnet und das die Familie als gesellschaftliche Institution der Differenzierung und damit aber auch der inzestuösen Entdifferenzierung überhaupt erst eingesetzt hat. In gewisser Weise ist Biomacht genau der Punkt, an dem die familial konnotierte Souveränität im Moment ihrer Totalisierung zusammenbricht: dieser Umschlag ist die blank space, in der wir leben. Die Zeit in der alles möglich ist, weil alles unterzugehen scheint, keine Souveränität mehr einen von außen kommenden Sinn verspricht. Die Zeit, in der das Verschwinden des Tabus auch das Verschwinden des Inzest markiert, zugleich aber seine Entfesselung bedeutet, oder: in der Inzest und Gabe in eine »Zone der Ununterscheidbarkeit« zu gleiten drohen, zu einer einzigen Bewegung der ›blankness‹ werden und in der es möglich sein wird »in eben dem Prinzip, das die Zuschreibung von Subjektivität erlaubt, die Matrix der Desubjektivierung zu sehen«.50 Das kann allerdings auch den Moment eines Übergangs in ein absolutes Nicht-Nichts, eine bisher nicht vorstellbare lückenlose und anonyme Ökonomie der Gewalt bezeichnen. Darin – dass es sich dabei um ein und dieselbe Bewegung handelt – liegt wohl die Aporie, die unsere Kultur auszutragen hat. ation nicht biologisch begründet ist, sind in vielem von Innovationen in der Biotechnologie, von internationalen Handelsbeziehungen oder dem Handel mit Kindern abhängig. Im Moment wird die Kontrolle von genetischen Ressourcen diskutiert; sie gelten als ein neues Ensemble von Eigentumsrechten, das durch Gerichte ausgehandelt werden kann. Doch der Zusammenbruch der symbolischen Ordnung hat fraglos auch heilsame Konsequenzen, denn Verwandtschaftsbeziehungen, welche Personen aneinander binden, können sehr wohl nicht mehr oder weniger sein als die Intensivierung von Gemeinschaftsbanden, sie können auf langfristige oder exklusive sexuelle Beziehungen gegründet sein oder auch nicht, sie können sehr wohl aus Ex-Geliebten, NichtGeliebten, Freunden, Mitgliedern einer Gemeinschaft bestehen. In diesem Sinne ließe sich sagen, dass Verwandtschaftsbeziehungen an eine Grenze geraten, an der die Ununterscheidbarkeit von Verwandtschaft und Gesellschaft konstituiert wird oder die nach einem Differenzkriterium für Freundschaft verlangt. Sie führen zu einem ›Zusammenbruch‹ der traditionalen Verwandtschaft, der nicht nur den zentralen Platz von biologischen und sexuellen Beziehungen bei der Definition von Verwandtschaft verschiebt, sondern Sexualität auch als separate Domäne neben Verwandtschaft verortet, der es erlaubt, dauerhafte Bande außerhalb des ehelichen Rahmens zu denken und Verwandtschaft für ein Set von Gemeinschaftsbanden zu öffnen, die sich nicht auf die ›Familie‹ reduzieren lassen.« Judith Butler: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?, übers. v. Jutta Eming, in: Jutta Eming / Claudia Jarzebowski / Claudia Ulbrich (Hg.), Historische Inzestdiskurse – Interdisziplinäre Zugänge, Königstein/Taunus: Helmer 2003, S.304-342, hier: S.334f. 50 Giorgio Agamben: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, übers. v. Maria Zinfert und Andreas Hiepko, Berlin: Merve 1998, S.126

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Historisch zugespitzt könnte man vielleicht sagen, dass das 18. Jahrhundert den Moment vor dem Auftreffen der Würfel der Welt, in der wir leben, bezeichnet. Lenz hat in diesem Zustand des blank space bereits gelebt. Diesen Aporien hat er das abzuringen versucht, was er Handeln oder Tun nennt. Beides bezeichnet bei Lenz die Beziehung zwischen Unvermögen und Vermögen: ihre direkte Abhängigkeit voneinander. Und erscheint die Chiffre Lenz nicht mitunter als Name dessen, was hätte sein können? Das Auf und Ab der Lenz-Rezeption, die immer wieder aufwogende Inanspruchnahme seines Namens gerade in Zeiten der Unruhe, der Erwartung des Neuen, ist aber vielleicht nicht nur der historischen Konstellation geschuldet, der seine Texte angehören. Es sind vielleicht auch nicht allein die Zufälle oder die Tragik seiner Biographie, die dazu führten. Vielmehr erscheint mir das, was man als seine Biographie bezeichnet, als fiktives Ganzes vielzähliger Praktiken des Entziehens51, der Unbedingtheit eines Willens zum Nichtwollen. Diese Unbedingtheit ist die Bedingung eines Handelns jenseits der Souveränität, der Einverleibung, der Gewalt. Lenz’ sogenannte ›Projektemacherei‹ resultiert aus dieser Unbedingtheit. Seine ›Projekte‹ entwerfen Wege, die es gibt, obwohl niemand sie jemals gegangen ist, niemand sie jemals begehen wird: sie hätten – das ist wahrscheinlich die Bedeutung der Lenzschen Emphase des Tuns und des Handelns – begangen werden können. Vielleicht ist die ›berühmte‹ Selbstkastration Läuffers im Hofmeister die radikalste Figuration dieser Verwiesenheit von Vermögen und Unvermögen in Lenz’ Texten. Sie ist vielleicht die einzige wirkliche Handlung, die Lenz einer seiner Figuren zugebilligt hat (zumindest in den drei Stücken der Straßburger Zeit); als Annahme der eigenen Ohnmacht, die das Verbot gewissermaßen durch seinen Vollzug auslöscht: eine totale Reterritorialisierung, die gewissermaßen in eine absolute Deterritorialisierung umschlägt: als Pervertierung der Beziehung zwischen Vermögen und Unvermögen. Darin weisen einige von Lenz’ Protagonisten – auch er »ein Diener, der zu gut spricht« – vielleicht voraus auf Figuren wie Robert Walsers Gehülfen oder Melvilles Bartleby: Keine grotesken Figuren des Karnevals im Sinne Bachtins oder einer restlosen Zerstreuung, wie Diderots Neffe, sondern Figurationen des Unvermögens, bzw. – in paradoxer Verkehrung – der Unmöglichkeit der Ausschließung des Unvermögens. Das ist wohl auch die Richtung, die eine zukünftige Lektüre der Lenzschen Texte einschlagen müsste – sie im Zusammenhang dessen zu

51 Es handelt sich hier – wie im Laufe der Arbeit hoffentlich deutlich geworden ist – nicht um den in der lacanianischen Psychoanalyse thematisierten Entzug des inzestuösen Objekts selbst, sondern eher um eine Bewegung, die man als Entzug dieses Entzugs bezeichnen könnte.

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lesen, was Giorgio Agamben mit Bezug auf das »I prefer not to« der Bartleby-Figur schreibt: Die Unterbrechung des Schreibens kennzeichnet den Übergang zur zweiten Schöpfung, wo Gott ihre Potenz nicht zu sein zu sich zurückruft und aus dem Punkt der Indifferenz von Vermögen und Unvermögen schöpft. Die Schöpfung, die sich jetzt vollendet, ist weder eine Wieder-Schöpfung noch eine ewige Wiederholung, sondern eher eine Ent-Schöpfung, wo das, was geschehen ist und das, was nicht geschehen ist, gegeben wird und wo das, was nicht sein hätte können und gewesen ist, in dem verfliegt, was hätte sein können und nicht gewesen ist.52

Rousseaus Name wurde demgegenüber zur Chiffre einer Projektionsfläche, die der Bedeutung von ›Lenz‹ als Chiffre des ›Nichtgewordenseinkönnens‹ zugleich ganz nah und beinahe entgegengesetzt scheint. »Jede Zeit erschafft sich ihren eigenen Rousseau«, schreibt Robert Darnton.53 ›Rousseau‹ wurde zu so etwas wie einer blank space, deren gewaltsame Aneignung die europäische Geistesgeschichte fast ebenso prägte, wie die Einverleibung der blank spaces on the earth die Kolonialgeschichte. Jede dieser Aneignungen arbeitete an eben der phantasmatischen Verfestigung, der sich Rousseaus Texte (und Rousseaus Paranoia) zu entziehen suchen. Bei Diderot hingegen liegen die Dinge etwas anders. Er hat sich beinahe ohne jeden Vorbehalt eingelassen auf das Wagnis der Auslieferung an die kulturelle Prozessualität und sich dabei nicht nur dem Möglichen verschrieben, sondern es – jedenfalls im Neveu de Rameau – auf die ihm inhärente Unmöglichkeit zurückgeführt.

52 Agamben: Bartleby, S.72 Und weiter unten fährt Agamben fort: »Die Ent-Schöpfung ist der unbewegliche Flug, der sich nur auf dem schwarzen Flügel (des dem Nicht-Sein zugewandten Sein-Könnens, S.T.) hält. Bei jedem Schlag dieses Flügels wird die tatsächliche Welt ebenso wie die möglichen Welten zurückgeführt, die eine zu ihrem Recht nicht zu sein, die anderen zu ihrem Recht zu existieren, und Sextus der unglückliche Tyrann in Rom und Sextus der glückliche Bauer in Korinth sind unbestimmt bis sie zusammenfallen. Dieser Flug ist das ewige Gleichgewicht, auf der einzigen Waagschale, auf der die beste der möglichen Welten in eifersüchtigem Gleichgewicht gehalten wird vom Gegengewicht der unmöglichen Welt. Die Ent-Schöpfung findet an dem Punkt statt, an dem Bartleby auf der Seite liegt »im Herz der ewigen Pyramide« des Palastes der Schicksale – auch genannt, gemäß der ironischen Absicht dieser umgekehrten Theodizee: Die Hallen der Gerechtigkeit (The Halls of Justice).« Agamben: Bartleby, S.75 53 Robert Darnton: Rousseau in Gesellschaft – Anthropologie und der Verlust der Unschuld, in: Starobinski/Cassirer/Darnton, Drei Vorschläge Rousseau zu lesen, S.104-114, hier: S.104

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Das in Conrads Heart of Darkness entfaltete Kurtzsche Universum kann diese Indifferenz von Vermögen und Unvermögen, die Gleichzeitigkeit von Subjektivität und Desubjektivierung nur als Reziprozität der Gewalt hervorbringen: als mit der gewalttätigen Einverleibung der blank spaces on the earth einhergehende umfassende Deplatzierung, als »Leben inmitten des Unverständlichen«. Blank spaces können aber nicht einverleibt, sie können nicht betreten, sie können nicht ausgelöscht werden: Sie sind in ihrer unüberschreitbaren Abwesenheit immer schon anwesend. Dieser von Kurtz geleugnete Nichtort zwischen Phantasma und Potentialität, wäre dann die Ortlosigkeit des Lenzschen Standpunktes. Hier schlägt das »muß er so verbinden« in eine radikale Kontingenz um: »Wollte sagen – was wollt ich doch sagen? –« Der höchste Zustand der Bewegung ist unserm Ich der angemessenste, das heißt derjenige Zustand, wo unsere äußern Umstände unsere Relationen und Situationen so zusammenlaufen, daß wir das größtmögliche Feld vor uns haben, unsere Vollkommenheit zu erhöhen zu befördern und andern empfindbar zu machen, weil wir uns allsdenn das größtmöglichste Vergnügen versprechen können, welches eigentlich bei allen Menschen in der ganzen Welt in dem größten Gefühl unserer Existenz, unserer Fähigkeiten, unsers Selbst besteht.54

In Heart of Darkness ist dieser Ort des Übergangs unlesbar geworden, Mallarmé hingegen begegnet ihm noch in der Poesie. Das Ausgeschlossene, das, was nicht Wirklichkeit geworden ist, ist immer Teil dieser Welt, in der wir leben, ist überhaupt die Bedingung dafür, dass es diese Welt geben kann: Wir sind immer auch gerade im Begriff diese Welt wieder zu verlassen – Un coup de dés jamais n’abolira le hasard… Man sollte sich die blank spaces vielleicht nicht als feste Orte, als weiße Flecken auf der Landkarte, sondern als Immaterialität einer Ortlosigkeit vorstellen, die alle Orte durchquert, die jeden Ort ausliefert an die unzähligen anderen Orte, die er ausschließt. Vielleicht in einer Spur, die Paul Celan in seiner Rede zum Georg Büchner Preis angedeutet hat: Von hier aus, also vom »Commoden« her, aber auch im Lichte der Utopie, unternehme ich – jetzt – Toposforschung: Ich suche die Gegend, aus der Reinhold Lenz und Karl Emil Franzos, die mir auf dem Weg hierher und bei Georg Büchner Begegneten, kommen. Ich suche das alles mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Finger auf der Landkarte – auf einer Kinder-Landkarte, wie

54 Lenz: Versuch über das erste Principium der Moral, S.507f.

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BLANK SPACES ich gleich gestehen muß. Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte, und... ich finde etwas! Meine Damen und Herren, ich finde etwas, das mich auch ein wenig darüber hinwegtröstet, in ihrer Gegenwart diesen unmöglichen Weg, diesen Weg des Unmöglichen gegangen zu sein. Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde... einen Meridian.55

55 Paul Celan: Der Meridian – Rede anläßlich der Verleihung des Georg-BüchnerPreises, Darmstadt, am 22. Oktober 1960, in: Ders., Gesammelte Werke, Dritter Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S.187-202, hier: S.202

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V. L I T E R A T U R Aaron, Lewis: Die internalisierte Urszene, in: Jessica Benjamin, Unbestimmte Grenzen – Beiträge zur Psychoanalyse der Geschlechter, übers. v. Igor Jasinski, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, S.19-55 Abraham, Nicolas: The Shell an the Kernel: The Scope and Originality of Freudian Psychoanalysis, in: Ders./Maria Torok, The Shell and the Kernel, Vol. I – Renewals of Psychoanalysis, edited by Nicholas T. Rand, Chicago (Chicago University Press) 1994, S. 79-98 Abraham, Nicolas/Torok, Maria: Die Topik der Realität: Bemerkungen zu einer Metapsychologie des Geheimnisses, übers. v. Brigitte Große, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S.540-544 Abraham, Nicolas/Torok, Maria: Trauer oder Melancholie. Introjizieren – inkorporieren, übers. v. Brigitte Große, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Stuttgart: Klett-Cotta 2001, S.545-559 Achebe, Chinua: Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads »Herz der Finsternis«, übers. v. Thomas Brückner und Wulf Teichmann, Berlin: Alexander Verlag 2000 Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz gefolgt von Die absolute Immanenz, übers. v. Maria Zinfert und Andreas Hiepko, Berlin: Merve 1998 Agamben, Giorgio: Remnants of Auschwitz: The Witness and the Archive, übers. v. Daniel Heller-Roazen, New York: Zone Books 1999 Agamben, Giorgio: Noten zur Geste, in: Ders., Mittel ohne Zweck – Noten zur Politik, übers. v. Sabine Schulz, Freiburg-Berlin: diaphanes 2001 Agamben, Giorgio: Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 Agamben, Giorgio: L’étàt d’exception, in: Le Monde vom 11.12.2002 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt – Das Archiv und der Zeuge, übers. v. Stefan Monhardt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation – Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, übers. v. Benedikt Burkard und Christoph Münz, Berlin: Ullstein 1998

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Appadurai, Arjun: Globale ethnische Räume – Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, übers. v. Eva Grünstein Neumann, in: Ulrich Beck (Hg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S.11-40 Assmann, Jan: Moses der Ägypter – Entzifferung einer Gedächtnisspur, München/Wien: Hanser 1998 Auerbach, Erich: Philologie der Weltliteratur – Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 Bachmann-Medick, Doris: Kultur als Text – Zur Diskussion um »Writing Culture« in der Ethnologie, in: Frankfurter Rundschau vom 6.10. 1992 Bachmann-Medick, Doris: Einleitung, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text – Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1996 Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt – Volkskultur als Gegenkultur, übers. v. Gabriele Leupold, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 Bataille, Georges: Die psychologische Struktur des Faschismus – Die Souveränität, übers. v. Rita Bischof/Elisabeth Lenk/Xenia Rajewsky, München: Matthes & Seitz 1978 Bataille, Georges: Die Aufhebung der Ökonomie, übers. v. Traugott König/Heinz Abosch/Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz 1985, S.33–236 Benjamin, Walter: Illuminationen – Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 Benjamin, Walter: Der Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1978 Benjamin, Walter: Angelus Novus – Ausgewählte Schriften 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996 Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text – Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 Bernstein, Richard J.: Freud und das Vermächtnis des Moses, übers. v. Dirk Westerkamp, Berlin/Wien: Philo 2003 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl, Tübingen : Stauffenburg 2000 Blunden, Allen: J.M.R. Lenz and Leibniz: a point of view, in: Luserke, Matthias (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1995, S.343-358 Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche – Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, übers. v. Thomas Lindquist, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1994 Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, übers. v. Reiner Ansén, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 Butler, Judith: Psyche der Macht – Das Subjekt der Unterwerfung, übers. v. Reiner Ansén, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 336

LITERATUR

Butler, Judith: Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?, übers. v. Jutta Eming, in: Jutta Eming/Claudia Jarzebowski/Claudia Ulbrich (Hg.), Historische Inzestdiskurse – Interdisziplinäre Zugänge, Königstein/Taunus: Helmer 2003, S.304-342 Butor, Michel: Der Fatalist Diderot und sein Herr, übers. v. Helmut Scheffel, in: Denis Diderot, Das erzählerische Gesamtwerk, übers. v. Hans Hinterhäuser/Guido Meister/Raimund Rütten, hrsg. und mit einem Nachwort v. Hans Hinterhäuser, Bd.I, Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein 1987 Celan, Paul: Der Meridian – Rede anläßlich der Verleihung des GeorgBüchner-Preises, Darmstadt, am 22. Oktober 1960, in: Ders., Gesammelte Werke, Dritter Band, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S.187-202 Certeau, Michel de: Das Schreiben der Geschichte, übers. v. Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York: Campus 1991 Césaire, Aimé: Im Kongo, übers. v. Monika Kind, Berlin: Wagenbach 1966 Céline, Louis-Ferdinand: Reise ans Ende der Nacht, übers. v. Hinrich Schmidt-Henkel, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2004 Chartier, Roger: Die unvollendete Vergangenheit – Geschichte und die Macht der Weltauslegung, übers. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 Chase, Cynthia: Primary Narcissism and the Giving of Figure – Kristeva with Hertz and de Man, in: John Fletcher/Andrew Benjamin (Hg.), Abjection, Melancholia and Love – The Work of Julia Kristeva, London: Routledge 1990, S.124-136 Chase, Cynthia: Die witzige Metzgersfrau: Freud, Lacan und die Verwandlung von Widerstand in Theorie, übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: Vinken, Barbara (Hg.), Dekonstruktiver Feminismus – Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt a.M.: Fischer1992, S.97-129 Clastres, Pierre: Staatsfeinde – Studien zur politischen Anthropologie, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976 Clifford, James: Halbe Wahrheiten, übers. v. Gabriele Rippl, in: Gabriele Rippl (Hg.), Unbeschreiblich weiblich – Texte zur feministischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S.104-135 Clifford, James: Über ethnographische Autorität, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text – Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.109-157 Clifford, James: Über ethnographische Selbststilisierung: Conrad und Malinowski, übers. v. Anne Middelhock, in: Doris BachmannMedick (Hg.), Kultur als Text – Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S.194225 Clifford, James: Routes – Travel and Translation in the Late Twentieth Century, London/Cambridge: Harvard University 1997 337

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Conrad, Joseph: Lord Jim, übers. v. Fritz Lorch, Zürich: Diogenes 1974 Conrad, Joseph: Geschichten der Unrast, übers. v. Fritz Lorch, Frankfurt a.M.: Fischer 1982 Conrad, Joseph: Über mich selbst – Einige Erinnerungen, übers. v. Günther Danehl, Frankfurt a.M.: Fischer 1982 Conrad, Joseph: Mit den Augen des Westens, übers. v. Günther Danehl, Frankfurt a.M.: Fischer 1984 Conrad, Joseph: Lord Jim – A Tale, edited by Cedric Watts and Robert Hampson, London: Penguin 1989 Conrad, Joseph: Der Nigger von der Narzissus – eine Seemannsgeschichte, übers. v. Ernst Wagner, Frankfurt a.M.: Fischer 1991 Conrad, Joseph: Herz der Finsternis, übers. und mit einem Nachwort v. Urs Widmer, Zürich: Haffmanns 1992 Conrad, Joseph: Heart of Darkness, edited with an Introduction and Notes by Robert Hampson, Penguin Books 1995 Crapanzano, Vincent: Das Dilemma des Hermes: Die verschleierte Unterwanderung der ethnographischen Beschreibung, übers. v. Anne Middelhoek, in: Doris Bachmann-Medick (Hg.), Kultur als Text – Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S.161-193 Darnton, Robert: Das große Katzenmassaker – Streifzüge durch die französische Kultur vor der Revolution, übers. v. Jörg Trobitius, München: Hanser 1989 Darnton, Robert: Rousseau in Gesellschaft – Anthropologie und der Verlust der Unschuld, in: Starobinski/Cassirer/Darnton, Drei Vorschläge Rousseau zu lesen, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.104114 Deleuze, Gilles: Pierre Klossowski oder die Sprache des Körpers, übers. v. Sigrid von Massenbach, in: Pierre Klossowski/Georges Bataille/Maurice Blanchot/Gilles Deleuze/Michel Foucault u.a., Sprachen des Körpers – Marginalien zum Werk Pierre Klossowskis, Berlin: Merve 1979, S.39-66 Deleuze, Gilles: Lust und Begehren, übers. v. Henning Schmidgen, Berlin (Merve) 1996 Deleuze, Gilles: Die Falte – Leibniz und der Barock, übers. v. Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz, übers. v. Rodolphe Gasché, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976 Derrida, Jacques: Grammatologie, übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983 Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens, Henriette Beese, Mathilde Fischer, Karin Kabaczek-Schreiner, Eva Pfaffenberger-Brückner, Günter Sigl und Donald Watts Tuckwiller, Wien Passagen 1988 Derrida, Jacques: Falschgeld – Zeit geben I, übers. v. Andreas Knop und Michael Wetzel, München: Fink 1993

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LITERATUR

Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben, übers. v. Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann, Berlin: Brinkmann und Bose 1997 Derrida, Jacques: im Gespräch mit Michel Wieviorka: Jahrhundert der Vergebung – Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität, übers. v. Michael Wetzel, in: Lettre International Heft 48, Berlin: 2000, Derrida, Jacques: Seelenstände der Psychoanalyse – Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit, Vortrag vor den Etats généraux de la Psychanalyse am 10. Juli 2000 im Grand Amphithéâtre der Sorbonne in Paris, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 Diderot, Denis: Ästhetische Schriften – Band II, hrsg. v. Friedrich Bussange, Berlin: verlag das europäische Buch 1984 Diderot, Denis: Das erzählerische Gesamtwerk, übers. v. Hans Hinterhäuser, Guido Meister und Raimund Rütten, hrsg. und mit einem Nachwort v. Hans Hinterhäuser, Frankfurt a.M./Berlin: Ullstein 1987 Diderot, Denis: Über die Natur, übers. v. Theodor Lücke, hrsg. v. Jochen Köhler, Frankfurt a.M.: Fischer 1989 Diderot, Denis: Gründe, meinem alten Hausrock nachzutrauern, oder: Eine Warnung an alle, die mehr Geschmack als Geld haben, übers. v. Hans Magnus Enzensberger, in: Hans Magnus Enzensberger, Diderots Schatten – Unterhaltungen, Szenen, Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S.259-270 Diderot, Denis: Le Neveu de Rameau et autres dialogues philosophiques, Textes établis et présentés par Jean Varloot, Paris: Gallimard 1995 Diffey, Norman R.: Jakob Michael Reinhold Lenz and Jean-Jacques Rousseau, Bon: Bouvier 1981 Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung – Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, übers. v. Brigitte Luchesi, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988 Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. v. Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 Durkheim, Emile/Mauss, Marcel: Über einige primitive Formen der Klassifikation, in: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S.169-256 Dylan, Bob: Love Minus Zero/No limit, in: Ders., Lyrics – Songtexte 1962-1985, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1987 Eming, Jutta/Jarzebowski, Claudia/Ulbrich, Claudia: Einleitung, in: Dies. (Hg.), Historische Inzestdiskurse – Interdisziplinäre Zugänge, Königstein/Taunus: Helmer 2003, S.9-20 Fabian, Johannes: Präsenz und Repräsentation. Die Anderen und das anthropologische Schreiben, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg), Kultur, soziale Praxis, Text – Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, 335-364 339

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Febvre, Lucien: Das Gewissen des Historikers, übers. und hrsg. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 Ferenczi, Sandor: Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, in: Ders., Schriften zur Psychoanalyse I, Frankfurt a.M.: Fischer 1970 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit 1 – Der Wille zum Wissen, übers. v. Ulrich Raulf und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 Foucault, Michel: Andere Räume, übers. v. Walter Seitter, in: Barck/ Gente/Paris/Richter (Hg.), Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1991, S.3446 Foucault, Michel: Dits et Ecrits – Schriften I, übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondeck und Hermann Kocyba, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a.M.: Fischer 1986 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt a.M.: Fischer 1999 Fuchs, Martin: Textualising Culture: Hermeneutics of Distanciation, in: Österreichisches Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Hg.), The Contemporary Study of Culture, Wien: Turia und Kant 1999, S.145-156 Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung, Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 Geertz, Clifford: Die Künstlichen Wilden – Der Anthropologe als Schriftsteller, übers. v. Martin Pfeifer, München : Hanser 1990 Gennep, Arnold van: Übergangsriten (Les rites de passage), übers. v. Klaus Schomburg und. Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York: Campus 1999 Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 Girard, René: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz – Eine kritische Apologie des Christentums, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, München/Wien: Hanser 2002 Godelier, Maurice: Das Rätsel der Gabe – Geld, Geschenke, heilige Objekte, übers. v. Martin Pfeiffer, München : C.H. Beck 1999 Görling, Reinhold: Heterotopia – Lektüren einer interkulturellen Literaturwissenschaft, München: Fink 1997 Green, André: Die tote Mutter, übers. v. Erika Kittler, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Stuttgart: KlettCotta 1993, S.205-240

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LITERATUR

Greenblatt, Stephen: Verhandlungen mit Shakespeare – Innenansichten der englischen Renaissance, übers. v. Robin Cackett, Frankfurt a.M.: Fischer 1993 Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten – Betrachtungen zwischen Weltbildern, übers. v. Jeremy Gaines, Frankfurt a.M.: Fischer 1995 Grill, Bartholomäus: Die Hölle im Paradies, in: Die Zeit vom 17.3.2005 Grubrich-Simitis, Ilse: Freuds Moses-Studie als Tagtraum – Ein biographischer Essay, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 Haggard, Henry Rider: She, London (Penguin) 1994 Hamacher, Werner: The Word Wolke – If It Is One, übers. v. Peter Fenves, in: Rainer Nägele (Hg.), Benjamin’s ground: new readings of Walter Benjamin, Detroit: Wayne State University Press 1988, S.147-175 Hamacher, Werner: Entferntes Verstehen – Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998 Haselstein, Ulla: Poetik der Gabe: Mauss, Bourdieu, Derrida und der New Historicism, in: Neumann, Gerhard (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart/Weimar: Metzler 1997, S.272-289 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes – Werke 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986 Hegener, Wolfgang: Die Ur-Verführung und das verlorene Objekt – Zum Modell der Einschreibung in der Theorie Freuds, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Stuttgart: Klett-Cotta 2002, S. 721-755 Hinrichs, Tobias: Werden und Gedächtnis – (Drei) Lektüren gespenstischer Erinnerung (Arbeitstitel), bisher unveröffentlichtes Manuskript Hochschild, Adam: Schatten über dem Kongo – Die Geschichte eines fast vergessenen Menschheitsverbrechens, übers. v. U. Enderwitz, M. Noll u. R. Schubert, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2002 Humphries, Reynold: Restraint, Cannibalism and the ›unspeakable rites‹ in Heart of Darkness, in: L’Epoque Conradienne, ›Annual‹ der Societé Conradienne Francaise, Limogues 1990, S.51-78 Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 Jürjo, Indrek: Die Weltanschauung des Lenz-Vaters, in: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hg.), »Unaufhörlich Lenz gelesen...« – Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S.138-152 Kagel, Martin: Briefe an den Vater – Figurationen des Vaters in den Schriften von J.M.R. Lenz, in: Text und Kritik – Zeitschrift für Literatur 146: Jakob Michael Reinhold Lenz, München: Boorberg 2000, S.69-77 Karl, Frederick R.: Joseph Conrad – Eine Biographie, übers. v. Christian Spiel (Teilübersetzung), Hamburg: Hoffmann und Campe 1983

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Kasties, Bert: J.M.R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant – Ein Beitrag zur Neubestimmung des Sturm und Drang, Berlin/New York: de Gruyter 2003 Ki-Zerbo, Joseph: Die Geschichte Schwarzafrikas, übers. v. Elke Hammer und mit einem Geleitwort von Jochen R. Klicker, Frankfurt a.M.: Fischer 1981 Krieger, David J./Belliger, Andréa: Einführung, in: Dies., Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S.7-33 Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique – L’avant-garde à la fin du XIX siècle: Lautréamont et Mallarmé, Paris: Édition du Seuil 1974 Kristeva, Julia: Semiologie – Kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik, in: Julia Kristeva/Umberto Eco/M. Bachtin u.a., Textsemiotik als Ideologiekritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977 Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache, übers. und mit einer Einleitung v. Reinold Werner (Teilübers.), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978 Kristeva, Julia: Desire in Language, übers. v. Thomas Gora, Alice Jardine und Leon S. Roudiez, New York: Columbia University Press 1980 Kristeva, Julia: Geschichten von der Liebe, übers. v. Dieter Hornig und Wolfram Bayer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989 Kristeva, Julia: Pouvoirs de l’horreur – Essai sur l’abjection, Paris: Editions du Seuil 1980 Kristeva, Julia: Mächte des Grauens, übers. v. Xenia Rajewski (Teilübersetzung), bisher unveröffentlicht Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst, übers. v. Xenia Rajewski, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990 Lacan, Jacques: Schriften I, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986 Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse, übers. V. Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin: Quadriga 1986 Lacqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben – Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, übers. v. H. Jochen Bußmann, München (dtv) 1996 Laplanche, Jean: Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, übers. v. Udo Hock, Frankfurt a.M.: Fischer 1996 Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse, übers. v. Emma Moersch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Urphantasie – Phantasien über den Ursprung, Ursprünge der Phantasie, übers. v. Max Looser, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 Laub, Dori: Eros oder Thanatos? Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas, übers. v. Irmgard Hölscher, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 54. Jahrgang, Heft 9/10, Stuttgart (Klett-Cotta) 2000, S.860-894 342

LITERATUR

Lenz, Jacob Michael Reinhold: Philosophische Vorlesungen für empfindsame Seelen, in: Ders., Werke in zwölf Bänden, hrsg. von Christoph Weiß, Band 12, St. Ingbert: Röhrig 2001 (nach der Erstausgabe: Frankfurt und Leipzig 1780) Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe, herausgegeben von Sigrid Damm, Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel 1992 Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg, München: Alber 1992 Lévi-Strauss, Claude: Das Ende des Totemismus, übers. v. Hans Naumann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965 Lévi-Strauss, Claude: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie 1, übers. v. Henning Ritter, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S.7-41 Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 Lévi-Strauss, Claude/Eribon, Didier: Das Nahe und das Ferne – Eine Autobiographie in Gesprächen, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M., (Fischer) 1996 Luserke, Matthias: Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister, Der neue Menoza, Die Soldaten, München: Fink 1993 Luserke, Matthias/Marx, Reiner: Nochmals S(turm) und D(rang). Anmerkungen zum Nachdruck der Philosophischen Vorlesungen von J.M.R. Lenz, in: Matthias Luserke (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1995, S.407-414 Madland, Helga Stipa: »Lenz, Aristophanes, Bachtin und ›die verkehrte Welt‹«, in: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hg.), »Unaufhörlich Lenz gelesen...« – Studien zu Leben und Werk von J.M.R. Lenz, Stuttgart/Weimar (Metzler) 1994, S.167-180 Mallarmée, Stephane: Sämtliche Dichtungen, Zweisprachige Ausgabe, übers. v. Carl Fischer und Rolf Stabel, München (dtv) 1995, S.221-265 Man, Paul de: Allegories of Reading, New Haven (Yale University Press) 1979 Man, Paul de: Die Ideologie des Ästhetischen, übers. v. Jürgen Blasius, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993 Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie, übers. v. Henning Ritter, Eva Moldenhauer und Axel Schmalfuß, Frankfurt a.M.: Fischer 1989 Meinzer, Elke: Die Irrgärten des J.M.R. Lenz. Zur psychoanalytischen Inter-pretation der Werke Tantalus, Der Waldbruder und Myrsa Polagi, in: David Hill (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen (Westdeutscher Verlag) 1994, S.161-178 Menke, Bettine: Die Polargebiete der Bibliothek – Über eine metatextuelle Metapher, Vortrag, gehalten auf der Fachtagung Brüche-,

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Faltungen-, Sprünge: Topologien der (Jahrtausend) Wende an der Universität Hannover, 6.1.-8.1. 2000 Menke, Bettine: Die Polargebiete der Bibliothek – Über eine metapoetische Metapher, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte – LXXIII. Band, 74.Jahrgang, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 545-599 Menninghaus, Winfried: Ekel – Theorie und Geschichte einer starken Empfin-dung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 Morrison, Toni: Im Dunkeln spielen – Weiße Kultur und literarische Imagination, übers. v. Barbara von Bechtolsheim und Helga Fetsch, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1995 Naipaul, V. S.: An der Biegung des großen Flusses, übers. v. Karin Graf, München: dtv 1980 Naipaul, V. S.: Dunkle Gegenden – Sechs große Reportagen, Zusammengestellt und übers. v. Karin Graf, Frankfurt a.M. (Eichborn) 1995 Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, (KSA), München (dtv /de Gruyter) 1992 Poe, Edgar Allan: Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket, übers. v. Arno Schmidt, Zürich (Haffmanns) 1994 Preuß, Werner Hermann: Selbstkastration oder Zeugung neuer Kreatur – Zum Problem der moralischen Freiheit in Leben und Werk von J.M.R. Lenz, Bonn: Bouvier 1983 Ranciére, Jacques: Die Namen der Geschichte – Versuch einer Poetik des Wissens, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 Rector, Martin: Götterblick und menschlicher Standpunkt – J.M.R. Lenz’ Komödie Der Neue Menoza als Inszenierung eines Wahrnehmungsproblems«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 33. Jahrgang, Stuttgart: Kröner 1989, S.185-209 Rector, Martin: Sieben Thesen zum Problem des Handelns bei Jakob Lenz, in: Zeitschrift für Germanistik NF 2, Bern u.a.: Lang 1992, S.628-639 Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social – précédé de Discours sur l’économie politique et de Du Contrat social première version et suivi de Fragments politiques, Texte établi, présenté et annoté par Robert Derathé, Paris: Gallimard 1964 Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les homme, Texte établi, présenté et annoté par Jean Starobinski, Paris: Gallimard 1969 Rousseau, Jean-Jacques: Les rêveries du promeneur solitarie, Texte établi et annoté par S. de Sacy, Paris: Gallimard 1972 Rousseau, Jean-Jacques: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird, übers. v. Dorothea Gülke und Peter Gülke, in: Ders., Musik und Sprache, Wilhelmshaven/Locarno/Amsterdam: Heinrichshofen’s 1984 344

LITERATUR

Rousseau, Jean-Jacques: Schriften, hg. v. Henning Ritter, Frankfurt a.M.: Fischer 1988 Rousseau, Jean-Jacques: Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale, Texte établi et presenté par Jean Starobinski, Paris: Gallimard 1990 Said, Edward W.: Kultur und Imperialismus – Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 Said, Edward W.: Die Welt, der Text und der Kritiker, übers. v. Brigitte Flickinger, Frankfurt a.M.: Fischer 1997 Said, Edward: Freud und das Nichteuropäische, übers. v. Miriam Mandelkow, Zürich: Dörlemann 2004 Salich, Tajjib: Zeit der Nordwanderung, übers. v. Regina Karachouli, Basel: Lenox 1998 Schlesier, Renate: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud: zum Problem von Entmyhtologisierung und Remythologisierung in der psychoanalytischen Theorie, Frankfurt a.M.: Athenäum 1990 Schlesier, Renate: Kultur-Interpretation – Gebrauch und Mißbrauch der Hermeneutik heute, in: Österreichisches Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr und Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (Hg.), The Contemporary Study of Culture, Wien: Turia und Kant 1999, S.157-166 Schmitt, Axel: Die »Ohnmacht der Marionette«. Rollenbedingtheit, Selbstentäußerung und Spiel-im-Spiel-Strukturen in Lenz’ Komödien, in: David Hill (Hg.), Jakob Michael Reinhold Lenz – Studien zum Gesamtwerk, Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S.67-80 Schmitz, Bettina: Arbeit an den Rändern der Sprache – Julia Kristeva, Königstein: Helmer 1998 Schulz, Georg-Michael: J.M.R. Lenz, Stuttgart: Reclam 2001 Scott, Joan W.: Die Zukunft von gender – Fantasien zur Jahrtausendwende, in: Claudia Honegger/Caroline Arni (Hg.), Gender – Die Tücken einer Kategorie, Beiträge zum Symposion anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott, übers. v. Caroline Arni, Zürich: Chronos 2001, S.39-63 Sebald, W.G.: Die Ringe des Saturn, Frankfurt a.M.: Fischer 1997 Spitzer, Leo: Texterklärungen – Aufsätze zur europäischen Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer 1990 Starobinski, Jean: Das Leben der Augen, übers. v. Henriette Beese, Frankfurt a.M./Berlin/Wien : Ullstein 1984 Starobinski, Jean: Jean-Jacques Rousseau und die List der Begierde, in: Ernst Cassirer/Jean Starobinski, Jean/Robert Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, übers. v. Mirjam Josephson, Frankfurt a.M.: Fischer 1989 Starobinski, Jean: Das Rettende in der Gefahr – Kunstgriffe der Aufklärung, übers. v. Horst Günther, Frankfurt a.M.: Fischer 1992 345

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Starobinski, Jean: Rousseau – Eine Welt von Widerständen, übers. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a.M.: Fischer 1993 Starobinski, Jean: Gute Gaben, schlimme Gaben – Die Ambivalenz sozialer Gesten, übers. v. Horst Günther, Frankfurt a.M.: Fischer 1994 Stephan, Inge: Geniekult und Männerbund. Zur Ausgrenzung des ›Weiblichen‹ in der Sturm und Drang-Bewegung, in: Text und Kritik – Heft 146: Jakob Michael Reinhold Lenz, München: Boorberg 2000, S.46-54 Stern, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings, übers. v. Wolfgang Krege und Elisabeth Vorspohl, Stuttgart: Klett-Cotta 1992 Stern, Daniel N.: Die Mutterschaftskonstellation – Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie, übers. v. Elisabeth Vorspohl, Stuttgart: Klett-Cotta 1998 Szondi, Peter: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert, Studienausgabe der Vorlesungen – Band 1, hrsg. Von Gert Mattenklott, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973 Tambiah, S.J.: Form und Bedeutung magischer Akte. Ein Standpunkt, übers. v. Brigitte Luchesi, in: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.), Magie – Die sozialwissenschaftliche Debatte über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S.259-296 Tedlock, Dennis: Über die Repräsentation des Diskurses im Diskurs – Eine Replik, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text – Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.297-299 Thomä, Dieter: »Das Gefühl der eigenen Existenz« und die Situation des Subjekts – Mit Rousseau gegen Derrida und de Man denken, in: Andrea Kern/Christoph Menke (Hg.), Philosophie der Dekonstruktion – Zum Verhältnis von Normativität und Praxis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S.311-330 Torok, Maria: Trauerkrankheit und Phantasma des »Cadavre exquis«, übers. v.. Stephan Broser, in: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 37. Jahrgang, Stuttgart: Klett-Cotta 1983, S.497-519 Turner, Victor: Prozeß, System, Symbol: Eine neue antrhopologische Synthese, übers. v. Robin Cackett, in: Rebekka Habermas/Niels Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings – Beiträge zur Historischen Anthropologie, Berlin: Wagenbach 1992 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater – Der Ernst des menschlichen Spiels, übers. v. Sylvia Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M.: Fischer 1995 Turner, Victor: Das Ritual – Struktur und Antistruktur, übers. und mit einem Nachwort von Sylvia M. Schomburg-Scherff, Frankfurt a.M./New York: Campus 2000 Tyler, Stephen A.: Das Unaussprechliche – Ethnographie, Diskurs und Rhetorik in der postmodernen Welt, übers. v. Thomas Seibert, München: Trickster 1991 346

LITERATUR

Tyler, Stephen A.: Zum ›Be-/Abschreiben‹ als ›Sprechen für‹ – Ein Kommentar, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text – Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S.288-296 Weigel, Sigrid: Topographien der Geschlechter – Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1990 Winnicott, D.W.: Vom Spiel zur Kreativität, übers. v. Michael Ermann, Stuttgart: Klett-Cotta 1995 Winnicott, D.W.: Familie und individuelle Entwicklung, übers. v. Gudrun Theusner-Stampa, Frankfurt a.M.: Fischer 1997 Wrong, Michela: Auf den Spuren von Mr. Kurtz – Mobutus Aufstieg und Kongos Fall, übers. v. Norbert Hofmann,Berlin: Tiamat 2002 Wülfingen, Klaus Bock von: Franz Kafka – Die Inszenierung unmöglicher Überschreitung in »Der Process« und anderen Schriften, Frankfurt a.M./Egelsbach/St. Peters Port: Hänsel-Hohenhausen 1995 Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses – Endliches und unendliches Judentum, übers. v. Wolfgang Heuß, Frankfurt a.M.: Fischer 1999

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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

F. T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film

Michael Manfé Otakismus Mediale Subkultur und neue Lebensform – eine Spurensuche

Juli 2005, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3

Juli 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 10 z.T. farbige Abb., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-313-5

Georg Mein, Franziska Schößler (Hg.) Tauschprozesse Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen Juli 2005, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-283-X

Elke Bippus, Andrea Sick (Hg.) IndustrialisierungTechnologisierung von Kunst und Wissenschaft Juli 2005, ca. 250 Seiten, kart., ca. 50 Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-317-8

Veit Sprenger Despoten auf der Bühne Die Inszenierung von Macht und ihre Abstürze

Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien

Juli 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN: 3-89942-355-0

Juni 2005, 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-274-0

Christina Bartz, Jens Ruchatz (Hg.) Mit Telemann durch die deutsche Fernsehgeschichte Kommentare und Glossen des Fernsehkritikers Martin Morlock

Stephan Trinkaus Blank Spaces Gabe und Inzest als Figuren des Ursprungs von Kultur Juni 2005, 352 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-343-7

Juli 2005, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-327-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Kai Lehmann, Michael Schetsche (Hg.) Die Google-Gesellschaft Vom digitalen Wandel des Wissens

Kay Sulk »Not grace, then, but at least the body« J.M. Coetzees Schriften 1990-1999

Mai 2005, 410 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-305-4

Mai 2005, 204 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-344-5

Uta Atzpodien Szenisches Verhandeln Brasilianisches Theater der Gegenwart

Christa Brüstle, Nadia Ghattas, Clemens Risi, Sabine Schouten (Hg.) Aus dem Takt Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur

Mai 2005, 382 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-338-0

Holger Schulze Heuristik Theorie der intentionalen Werkgenese. Sechs Theorie Erzählungen zwischen Popkultur, Privatwirtschaft und dem, was einmal Kunst genannt wurde Mai 2005, 208 Seiten, kart., ca. 10 Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-326-7

Mai 2005, ca. 330 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-292-9

Birgit Bräuchler Cyberidentities at War Der Molukkenkonflikt im Internet Januar 2005, 402 Seiten, kart., 28,90 €, ISBN: 3-89942-287-2

Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de