Biographie Und Personlichkeit Des Paulus 9783161499524, 9783161514890, 3161499522

English summary: This volume contains articles from specialists in various fields on the biography and character of Paul

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Table of contents :
Cover
Vorwort (Peter Pilhofer)
Inhaltsverzeichnis
Biographie und Person des Paulus (Eve-Marie Becker)
I. Zur Forschungsgeschichte
Walter Sparn (Erlangen) Einführung in die Thematik „Biographie und Persönlichkeit des Paulus“
I. „Persönlichkeit“ – ein dubioser Begriff
II. „Charakter“ – eine Erinnerung
III. „Biographie“: eine Warnung
IV. „Biographie und Persönlichkeit“: Die Frömmigkeit des Apostels Paulus
Otto Merk (Erlangen) Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule
I
1. Kontext der Fragestellung
2. Hintergrund der Fragestellung in der religionsgeschichtlichen Schule
II
1. William Wrede
2. Wilhelm Bousset
Alexander J.M. Wedderburn (München) Eine neuere Paulusperspektive?
I
II
III
IV
II. Autobiographie und Person
Eve-Marie Becker (Erlangen) Autobiographisches bei Paulus. Aspekte und Aufgaben
1. Standortbestimmung
2. Paulus, der Brief-Autor
3. Autobiographie und Biographie – historische, literarische und anthropologische Aspekte
3.1. Der historische Wert der Autobiographie
3.2. Literarische Aspekte der Autobiographie
3.3. Anthropologische Aspekte von Autobiographie
4. Form und Funktion von Autobiographie bei Paulus
4.1. Methodische Zwischenüberlegung
4.2. Autobiographische Aussagen und Texte bei Paulus – Eine Übersicht
4.3. Autobiographie und Individuierung
5. Autobiographie bei Paulus: Rückblick und Ausblick
5.1. Biographie und Geschichte
5.2. Individuierung und Identitätsbildung
5.3. Literarizität
5.4. Theologie
5.5. Charakter und Personalität
Oda Wischmeyer (Erlangen) Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie
I. Die Fragestellung
II. Die Texte
III. Ergebnisse und theologische Würdigung
Lukas Bormann (Bayreuth) Autobiographische Fiktionalität bei Paulus
1. Das Problem
2. Autobiographisch relevante Texte und autobiographische Fragmente
3. Autofiktion
4. Fiktionalitätsindices
5. Autobiographische Fiktionalität: 2. Kor 11,21b-12,10
6. Ergebnis
Monika Göttel-Leypold und Joachim Heinrich Demling (Erlangen) Die Persönlichkeitsstruktur des Paulus nach seinen Selbstzeugnissen
Definition und Problemstellung
Instrumente zur Erfassung von „Persönlichkeit“
Persönlichkeitszüge des Paulus
Eigenschaftszentrierte Persönlichkeitszüge
Persönlichkeitsstruktur als „Verhaltensstil“
Die Kategorien der „akzentuierten Persönlichkeiten“
Die Leitlinien der „abnormen Persönlichkeit“
Zum Selbstverständnis des Paulus als Menschen
Zum Selbstverständnis des Paulus als Missionar und Apostel
Resümee
Literatur
François Vouga (Bethel) Personalität und Identität bei Paulus. Die theologische Entdeckung des Humors
I. Wahrheit und Subjektivität
II. Die subjektive Wahrheit und die Entdeckung der Person als Geschichte einer individuellen Subjektivität
III. Subjektive Wahrheit, Universalismus und Pluralismus
IV. Subjektive Wahrheit und die Erfindung des reflexiven Ich
V. Subjektive Wahrheit, Entstehung des reflexiven Ich und Revolution des Lachens
III. Biographie und Person
Anna Maria Schwemer (Tübingen) Verfolger und Verfolgte bei Paulus. Die Auswirkungen der Verfolgung durch Agrippa I. auf die paulinische Mission
1. Verfolger und Verfolgte bei Paulus
2. Die Verfolgung durch Agrippa I. in Jerusalem
3. Die Konsequenzen der Verfolgung
3.1 Die Folgen für die Urgemeinde
3.2 Die Folgen für Paulus und seine Gemeinden
Jörg Frey (München) Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen »Kollegen«
I. Paulus und der Aposteltitel: Zur Geschichte des Apostelbegriffs
1. Paulus neben Barnabas als antiochenischer Gemeindemissionar (Apg 14,4.14)
2. »Gemeindegesandte« im paulinischen Sprachgebrauch (2Kor 8,23; Phil 2,25)
3. Ein »weiter« Apostelbegriff in der paulinischen Frühzeit
4. Stationen der Verwendung des Apostelbegriffs im Urchristentum – oder: Wie konnte sich der Apostelbegriff mit Paulus verbinden?
5. Konkurrierende Verständnisse des Dienstes der Apostel
II. Paulus und die Apostel Zum spannungsreichen Verhältnis des Heidenapostels zu den Jerusalemern
1. Paulus und die Jerusalemer
2. Paulus und Barnabas
3. Paulus und Petrus
4. Ein tragisches Ende?
Gerd Theißen (Heidelberg) Paulus – der Unglücksstifter. Paulus und die Verfolgung der Gemeinden in Jerusalem und Rom
1. Paulus und das Schicksal der Jerusalemer Gemeinde
2. Paulus und das Geschick der Römischen Gemeinde
Udo Schnelle (Halle) Paulus und das Gesetz. Biographisches und Konstruktives
I. Einführung
II. Unausweichliche Aporien
III. Biographisches 1: Die Macht der Herkunft
IV. Biographisches 2: Der Kampf mit der Herkunft
V. Konstruktives: Kontinuität und die Möglichkeit des Neuen
VI. Schlussfolgerungen
Bernhard Heininger (Würzburg) Im Dunstkreis der Magie: Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte
I. Problemstellung
II. Paulus als Wundertäter
1. Der Wettkampf der Magier (Apg 13,6–12)
a) Der jüdische Magier Barjesus
b) Der christliche „Magier“ Paulus
2. Der Exorzismus an der wahrsagenden Sklavin (Apg 16,16–19)
a) Die wahrsagende Sklavin
b) Paulus als „Exorzist“
3. Die Austreibung der Magie (Apg 19,11–20)
a) Die Schweißtücher des Paulus (Apg 19,11f.)
b) Die jüdischen Exorzisten
III. Literarische Parallelen und rechtshistorischer Hintergrund
1. Die Apolloniusvita des Philostrat
2. Der rechtliche Hintergrund: Die Enteignung der Wahrsager
IV. Schluss
IV. Rezeption und Werk
Hanns Christof Brennecke (Erlangen) Die Anfänge einer Paulusverehrung
Carola Jäggi (Erlangen) Archäologische Zeugnisse für die Anfänge der Paulus-Verehrung
Wolfgang Wischmeyer (Wien) Paulus und Augustin
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Anhang
V. Meditativer Ausblick
Gunda Schneider-Flume (Leipzig) Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild
1. Die Dynamik der Geschichte
2. Die Bewegung der Geschichte Gottes: Erbarmen
3. Geschenkte Zeit
4. Rechtfertigung und Stellvertretung als erneuernde Ereignisse menschlichen Lebens
5. Bedürftigkeit
6. Tod: definitives Ende oder gnädige Begrenzung
7. Schlussbemerkung
Anhang
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Register
1. Stellen
2. Personen und Sachen
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Biographie Und Personlichkeit Des Paulus
 9783161499524, 9783161514890, 3161499522

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie · Judith Gundry-Volf Martin Hengel · Otfried Hofius · Hans-Josef Klauck

187

Biographie und Persönlichkeit des Paulus herausgegeben von

Eve-Marie Becker und Peter Pilhofer

Mohr Siebeck

Eve-Marie Becker, geboren 1972; 2001 Promotion; 2004 Habilitation; Privatdozentin und Oberassistentin an der Universität Erlangen. Peter Pilhofer, geboren 1955; 1989 Promotion; 1994 Habilitation; Professor für Neues Testament an der Universität Erlangen.

e-ISBN PDF 978-3-16-151489-0 ISBN 978-3-16-149952-4 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Unveränderte Studienausgabe 2009. © 2005 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg gebunden.

Vorwort Peter Pilhofer

In diesem Band sind Vorträge gesammelt, die fast alle bei einem neutestamentlichen Kolloquium am 21./22. Oktober 2004 in Erlangen zu Ehren von Frau Professorin Dr. Oda Wischmeyer anläßlich ihres 60. Geburtstags gehalten worden sind. Die Idee und die Konzeption dieses Kolloquiums gehen auf Frau Privatdozentin Dr. Eve-Marie Becker zurück. Der Fritz Thyssen Stiftung gilt unser Dank für die Förderung des Kolloquiums. Ohne ihre Hilfe wäre die Durchführung in dieser Form nicht denkbar gewesen.1 Was die Herstellung des Bandes selbst angeht, ist vielfach Dank abzustatten: Zunächst dem Verlag Mohr Siebeck für die Übernahme in sein Verlagsprogramm und für die gute Zusammenarbeit auf dem Weg zum fertigen Band. Dem Herausgeber der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament, Herrn Kollegen Frey, für sein Interesse an unserem Thema und seine Bereitschaft, den Band in diese Reihe aufzunehmen. Meiner Mitarbeiterin, Frau Julia Hager, die den Satz in TEX/LATEX in mustergültiger und geduldiger Weise durchgeführt hat. Meinem Mitarbeiter, Herrn Jörg Herrmann, der akribisch Korrektur gelesen und in immer neuen Anläufen die Registerwünsche der einzelnen Autorinnen und Autoren aneinander angeglichen und ein vorzügliches Register vorbereitet hat. Schließlich ist den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre gute Zusammenarbeit herzlich zu danken.

Erlangen, 12. Juli 2005

1

Peter Pilhofer

Eine Förderung auch dieses Bandes war der Thyssenstiftung bedauerlicherweise nicht möglich.

Inhaltsverzeichnis Vorwort (Peter Pilhofer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Biographie und Person des Paulus (Eve-Marie Becker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

I. Zur Forschungsgeschichte Walter Sparn (Erlangen) Einführung in die Thematik „Biographie und Persönlichkeit des Paulus“ . . . . 9 Otto Merk (Erlangen) Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule . . . . . . . 29 Alexander J.M. Wedderburn (München) Eine neuere Paulusperspektive? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

II. Autobiographie und Person Eve-Marie Becker (Erlangen) Autobiographisches bei Paulus. Aspekte und Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Oda Wischmeyer (Erlangen) Paulus als Ich-Erzähler. Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Lukas Bormann (Bayreuth) Autobiographische Fiktionalität bei Paulus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Monika Göttel-Leypold und Joachim Heinrich Demling (Erlangen) Die Persönlichkeitsstruktur des Paulus nach seinen Selbstzeugnissen . . . . . . 125 François Vouga (Bethel) Personalität und Identität bei Paulus. Die theologische Entdeckung des Humors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

VIII

Inhaltsverzeichnis

III. Biographie und Person Anna Maria Schwemer (Tübingen) Verfolger und Verfolgte bei Paulus. Die Auswirkungen der Verfolgung durch Agrippa I. auf die paulinische Mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Frey (München) Paulus und die Apostel. Zur Entwicklung des paulinischen Apostelbegriffs und zum Verhältnis des Heidenapostels zu seinen »Kollegen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerd Theißen (Heidelberg) Paulus – der Unglücksstifter. Paulus und die Verfolgung der Gemeinden in Jerusalem und Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Udo Schnelle (Halle) Paulus und das Gesetz. Biographisches und Konstruktives . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Heininger (Würzburg) Im Dunstkreis der Magie: Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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192

228 245

271

IV. Rezeption und Werk Hanns Christof Brennecke (Erlangen) Die Anfänge einer Paulusverehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Carola Jäggi (Erlangen) Archäologische Zeugnisse für die Anfänge der Paulus-Verehrung . . . . . . . . . 306 Wolfgang Wischmeyer (Wien) Paulus und Augustin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

V. Meditativer Ausblick Gunda Schneider-Flume (Leipzig) Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

Anhang Autorinnen- und Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 1. Stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 2. Personen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384

Biographie und Person des Paulus∗ Eve-Marie Becker

„Ein anatolischer und ein antiker Paulus, ein homo novus, der aus der Masse der Vielen und Kleinen herauswächst und, von keinem Literaten der heidnischen Umwelt beachtet, zur welthistorischen Führerpersönlichkeit bestimmt ist, ein homo religiosus, der ein Klassiker der Mystik ist und der nüchternste Praktiker zugleich, ein Prophet und Grübler, der, in Christus der Welt gekreuzigt, als Weltbürger und Weltwanderer unsterblich ist und als Weltbildner wirkt bis auf den heutigen Tag . . . “ – nach „dieses Menschen Umrissen“ suchte etwa A. Deissmann in seinem 1911 erschienenen Paulus-Buch1 , in dem er dem »Menschen« Paulus immerhin ein ganzes Kapitel widmet.2 Und dabei beklagt er das mangelhafte Interesse, mit dem die Paulus-Forschung des 19. Jhs. dem Menschen, d.h. der Person des Paulus, begegnet ist.3 Im Folgenden soll grundsätzlich nach der »Person« des Paulus gefragt werden, denn das Lexem »Persönlichkeit« muß – wie Walter Sparn deutlich macht – begriffsgeschichtlich neu überdacht werden. Die Biographie und die Person des Paulus stehen in engem Zusammenhang, ohne miteinander identisch zu sein. ∗ Dieser Beitrag versteht sich als Einführung in Titel und Thema des neutestamentlichen Forschungs-Kolloquiums. – Ich danke allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre kollegiale Mitarbeit an diesem Band, Professor Peter Pilhofer für die Mitorganisation des Kolloquiums und die Manuskriptherstellung sowie der Jubilarin – Professorin Oda Wischmeyer, deren gesammelte Aufsätze unter dem Titel: „Von Ben Sira zu Paulus“ 2004 (WUNT 173) erschienen sind – selbst für ihre Beteiligung an der vorliegenden Publikation. 1 A. Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 1911, V. Vgl. grundsätzlich ähnliche Überlegungen auch bei W. Wrede, Paulus, Halle 1904/2 1907, Vorwort, in dem Wrede deutlich macht, daß es ihm u.a. um die Darstellung der „Persönlichkeit“ des Paulus geht. 2 A. Deissmann, Paulus (wie Anm. 1), 39–58. 3 A. Deissmann, Paulus (wie Anm. 1), 41 verweist hierbei kritisch auf F. C. Baur, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristenthums, Leipzig2 1866/1867.

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Eve-Marie Becker

Die Beiträge des vorliegenden Bandes zielen auf die Wahrnehmung der Interdependenz von Biographie und Person, auch wenn sie materialiter teilweise eher die biographischen oder die personalen Aspekte des paulinischen Lebens und Wirkens in den Blick nehmen. Die Biographie des Paulus gehört – neben seiner Theologie – seit dem Aufkommen der historisch-kritischen Forschung4 zu den bevorzugten Gebieten der Paulus-Forschung. Es geht dabei darum, auf der Basis der einschlägigen Quellen5 – hierzu zählen in erster Linie die authentischen Paulus-Briefe, sekundär die biographischen Hinweise in der Apg6 und tertiär zeitgeschichtliche Quellen7 – den Lebensweg des Apostels zu rekonstruieren. Dieser Weg beginnt, soweit er aus der kritischen Sichtung der Quellen deutlich wird, mit der jüdischen Religion des Paulus8 , genauer: beim eifernden Pharisäer (Phil 3,5; Apg 23,6; 26,5) und Verfolger der κκλησα το θεο (Gal 1,13), der durch eine ποκλυψις des auferstandenen Sohnes Gottes als »Apostel«9 zur Predigt des Evangeliums ausgesondert wird (Gal 1,15f.; Röm 1,1ff.; 1 Kor 15,8; Apg 9.22.26), diesen Dienst durch die Gründung von Gemeinden in Kleinasien und Griechenland versieht und den Gemeinden durch Briefeschreiben in persönlicher Abwesenheit präsent bleibt. Ob und wann dieser Weg – nach der vermutlich gescheiterten Kollektenübergabe10 an die Urgemeinde in Jerusalem – mit der Hinrichtung des Paulus in Rom endet, kann aus den authentischen Paulus-Briefen kaum, könnte höchstens aus der eine Generation später verfaßten Apg erschlossen werden. Doch die Apg läßt die Ankunft des Paulus in Rom lediglich in den Hinweis auf die freie und ungehinderte Predigt und Lehre des Paulus münden (κηρσσων τν βασιλεαν 4 Vgl. dazu: A. Schweitzer, Geschichte der paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart, Tübingen 1911 (Nachdruck d. Ausgabe Tübingen 1911, Hildesheim 2004), bes. 1ff. Vgl. außerdem z.B. O. Merk, Erwägungen zum Paulusbild in der deutschen Aufklärung. Paulusforschung bei Johann Salomo Semler und in seinem Umkreis: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Ges. Aufsätze zum 65. Geburtstag, hg. v. R. Gebauer et al., Berlin/New York 1998 (BZNW 95), 71–97. 5 Vgl. hierzu grundlegend: M. Hengel/A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels, Tübingen 1998 (WUNT 108), bes. 31ff. 6 Vgl. dazu auch die Überlegungen zur kritischen Wertung der Apg als religionsgeschichtlicher Quelle für das paulinische Wirken: B. Heininger, Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte: im vorliegenden Band S. 271–291. 7 Vgl. dazu die Überlegungen bei A. M. Schwemer, Die Auswirkungen der Verfolgung durch Agrippa I. auf die paulinische Mission: im vorliegenden Band S. 169–191. 8 Vgl. dazu zuletzt z.B. O. Wischmeyer, Die Religion des Paulus. Eine Problemanzeige: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Ges. Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. v. E.-M. Becker, Tübingen 2004 (WUNT 173), 311–328. 9 Vgl. zur Herkunft des Apostel-Titels: J. Frey, Paulus und die Apostel: im vorliegenden Band S. 192–227. 10 Vgl. dazu: G. Theissen, Paulus – der Unglücksstifter: im vorliegenden Band S. 228–244.

Biographie und Person des Paulus

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το θεο κα διδσκων τ περ το κυρου Ιησο Χριστο μετ πσης παρρησας κωλτως, Apg 28,31). So bleibt als früheste, wenn auch uneindeutige Quelle für den Paulus-Tod in Rom 1 Clem 5,3ff. – und nicht zuletzt die Beobachtung, daß die monumentale Paulus-Verehrung, wenn auch zeitlich relativ spät, so doch in ihren Wurzeln wesentlich in Rom erkennbar wird11 . Die Biographie des Paulus ist neben ihren wenigen gesicherten Aspekten und den lediglich zwei absolut zu datierenden Eckdaten12 letztlich ein »Konstrukt«, das aus der historischen Rekonstruktion hervorgeht13 , so wie die historische Rekonstruktion über die Konstruktion eines »Bildes« von Paulus nie hinausgehen kann.14 Dies gilt in gleicher Weise für die Rekonstruktion der theologischen Entwicklung des Paulus15 wie für die Nachzeichnung seiner »Theologie«, auch wenn die authentischen Paulus-Briefe nicht nur eine Fülle teils konvergierender (vgl. Gal 3 und Röm 4; 1 Kor 12 und Röm 12), teils divergierender (vgl. 1 Thess 4,13ff., aber 1 Kor 15,50ff.) theologischer Grundaussagen formulieren, sondern Einblicke in die Geschichte brieflich-theologischer Korrespondenz (1 Kor 5,9; 2 Kor 7,8) und damit sogar Hinweise auf die mögliche Entwicklung theologischer Grundgedanken geben16 . Der konstruktive Charakter der Darstellung der paulinischen vita und Theologie wird nicht nur an den verschiedenen historischen und theologischen Akzentuierungen der in jüngster Zeit entstandenen Paulus-Biographien deutlich17 , sondern zeigt sich besonders bei der theologisch überaus brisanten, wesentlich

11 Vgl. dazu C. Jäggi, Archäologische Zeugnisse für die Anfänge der Paulus-Verehrung: im vorliegenden Band S. 306–322. Vgl. zu den literarischen Zeugnissen: H. C. Brennecke, Die Anfänge einer Paulusverehrung: im vorliegenden Band S. 295–305. 12 Es handelt sich dabei 1. um die in Delphi gefundene sog. Gallio-Inschrift, nach der sich der Korinth-Aufenthalt des Paulus (Apg 18) in die Jahre 50–52 n.Chr. und die Szene vor Gallio (Apg 18,12) datieren lassen, und 2. das sog. Claudius-Edikt (Sueton, Claud 25,4) aus dem Jahr 49 n.Chr., nach dem die in Apg 18,2 vermerkte Ankunft von Aquila und Prisca, die aus Rom verwiesen worden waren, in Korinth zu datieren ist. 13 Diesen Umstand spricht grundsätzlich U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 2ff., an. 14 Vgl. auch hierzu wieder A. Deissmann, Paulus (wie Anm. 1), 41, der diesen Relativismus des Historikers pointiert formuliert. 15 Vgl. dazu U. Schnelle, Paulus und das Gesetz: im vorliegenden Band S. 245–270. 16 Vgl. dazu E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, Tübingen/Basel 2002 (NET 4); dies., Letter Hermeneutics in 2 Corinthians. Studies in Literarkritik and Communication Theory, London/New York 2004 (JSNT.S 279), bes.140ff. 17 Vgl. dazu E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995 (engl.: Paul, Oxford 1991); J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen3 1998 (UTB 2014); E. Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996; J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids/Cambridge 1998; K. Berger, Paulus, München 2002; U. Schnelle, Paulus (wie Anm. 13).

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Eve-Marie Becker

von J. D. G. Dunn und E. P. Sanders18 angestoßenen Diskussion über die sog. new perspective(s) on Paul 19 . In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch die allgemein-geisteswissenschaftliche Skepsis gegenüber Leben, Wirken und Wirkung des Paulus.20 Sie kulminierte bei Friedrich Nietzsche21 und wird in jüngster Zeit beispielsweise von dem renommierten Yale-Literaturwissenschaftler H. Bloom22 programmatisch wiederaufgenommen. Die Paulus-Forschung23 ist gefordert, ihr Bemühen um die Rekonstruktion und das Eingeständnis der Konstruktion paulinischer Biographie zwei Strömungen kritisch und regulativ entgegenzuhalten: einer positivistischen und einer nihilistischen Vereinnahmung des bedeutendsten frühchristlichen Missionars. Autobiographik und autobiographische Passagen in den paulinischen Briefen bilden das Scharnier zwischen der zu ermittelnden Biographie des Paulus und der Frage nach der Konstitution seiner Person.24 Der Mensch erschließt sich besonders durch das, was er über sich schreibt, so wie autobiographisches Schreiben

18 J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul: BJRL 65 (1983) 95–122; E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A comparison of patterns of religion, London 1977. Zur kurzen Übersicht über die Diskussion vgl. zuletzt z.B. M. Wolter, Eine neue paulinische Perspektive: ZNT 14 (2004) 2–9; S. Vollenweider, Art. Paulus: RGG4 6 (2003) 1035–1065, 1043. 19 Vgl. dazu kritisch: A. J. M. Wedderburn, Eine neuere Paulusperspektive?: im vorliegenden Band S. 46–64. Vgl. zuletzt außerdem: S. Westerholm, Perspectives old and new on Paul. The »Lutheran« Paul an his critics, Grand Rapids 2004. 20 Vgl. speziell zur Wirkung des Paulus auf Augustinus: W. Wischmeyer, Paulus und Augustin: im vorliegenden Band S. 323–343. 21 Vgl. zur scharfen Paulus-Kritik, ja -Polemik: F. Nietzsche, Der erste Christ: Morgenröte: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 3, hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 1980 (dtv), 64–68: „Dass das Schiff des Christenthums einen guten Theil des jüdischen Ballastes über Bord warf, dass es unter die Heiden gieng und gehen konnte, – das hängt an der Geschichte dieses Einen [= Paulus, Verf.in] Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerthen, sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen“, a.a.O., 65.; ders., Der Antichrist: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 6, hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 1980 (dtv), 165–253, bes. 215f.: „Der »frohen Botschaft« folgte auf dem Fuss die allerschlimmste: die des Paulus. In Paulus verkörpert sich der Gegensatz-Typus zum »frohen Botschafter«, das Genie im Hass, in der Vision des Hasses, in der unerbittlichen Logik des Hasses. Was hat dieser Dysangelist Alles dem Hasse zum Opfer gebracht! . . . “. Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Pauluskritik Nietzsches: E. Biser, Paulus. Zeugnis – Begegnung – Wirkung, Darmstadt 2003, 269ff. 22 Vgl. dazu H. Bloom, Genius. Die hundert bedeutendsten Autoren der Weltliteratur, München 2004 (engl.: Genius. A mosaic of one hundred exemplary creative minds, New York 2002), 191ff. 23 Vgl. allgemein zur gegenwärtigen Situation der Paulus-Interpretation in Nordamerika: M. M. Mitchell, Paulus in Amerika: ZNT 14 (2004) 10–21. 24 Vgl. dazu auch die Überlegungen W. Sparns, Einführung in die Thematik: im vorliegenden Band S. 9–28.

Biographie und Person des Paulus

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die Konstitution von Person und Personalität voraussetzt.25 Daß Paulus sich als individueller Mensch und orthonymer Autor zu erkennen gibt und damit aus der Masse anonymer oder pseudonymer frühjüdisch-hellenistischer Autoren heraustritt, läßt sich auf seine »gebrochene Biographie«, d.h. seinen Austritt aus dem von ihm eingeschlagenen Weg im Judentum zurückführen – ähnlich wie der jüdische Historiograph Josephus seinen Weggang aus Palästina und seine Hinwendung zum flavischen Kaiserhaus in autobiographisch-apologetischer Literatur reflektiert und gestaltet, indem er die einzige Autobiographie der antiken jüdischen Literatur verfaßt.26 Die »gebrochene Biographie« bildet also einerseits die Voraussetzung für Selbstreflexion und literarische Selbstdarstellung, andererseits eröffnet die literarische Selbstdarstellung den sprachlichen Raum für die Reflexion der eigenen, mitunter gebrochenen Biographie. Biographik – Autobiographik – Personalität gehören bei Paulus eng zusammen. Friedrich Schiller – und damit komme ich abschließend zum Aspekt der Person des Paulus – bezeichnet »Person« als „das Bestehende in der Veränderung“27 . Den Menschen charakterisiert im Unterschied zur Gottheit der Wechsel von »Person« und »Zustand«: „Bei aller Beharrung der Person wechselt der Zustand, bei allem Wechsel des Zustands beharret die Person . . . Die Person also muß ihr eigener Grund sein, denn das Bleibende kann nicht aus der Veränderung fließen“28 . Diese Überlegungen zur philosophischen Anthropologie legen – über die komplexen Debatten des Personen-Begriffs in der Philosophie29 und der Systematischen Theologie30 , in den verschiedenen Fächern der Kultur- und Geisteswissenschaften im Zusammenhang der Anthropologie31 oder in den Konzeptionen von Autorschaft32 sowie über den aktuellen Kontext von Hirnforschung33 und 25 Vgl. hierzu: E.-M. Becker, Autobiographisches bei Paulus: im vorliegenden Band: S. 67–87; L. Bormann, Autobiographische Fiktionalität bei Paulus: im vorliegenden Band: S. 106–124; O. Wischmeyer, Paulus als Ich-Erzähler: im vorliegenden Band S. 88–105. 26 Vgl. Josephus, Vita. F. Siegert et al., Flavius Josephus. Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001. 27 F. Schiller, Ästhetische Erziehung/13. Brief: ders., Sämtliche Werke, hg. v. W. Riedel Bd.V, München 2004, 608. 28 F. Schiller, Ästhetische Erziehung/11. Brief (wie Anm. 27), 601. 29 Vgl. z.B. R. Spaemann, Personen. Versuche über den Unterschied zwischen »etwas« und »jemand«, Stuttgart 1996/ 2 1998. 30 Vgl. zuletzt z.B. E. Herms, Art. Person: RGG4 6 (2003) 1123–1129. 31 Vgl. z.B. P. Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996; S. Ausborn-Brinker, Person und Personalität, Tübingen 1999; K. Bort, Personalität und Selbstbewußtsein, Tübingen 1993; U.W. Diehl, Personalität und Humanität, Würzburg 1994. 32 Vgl. z.B. E. Kleinschmidt, Autorschaft. Konzepte einer Theorie, Tübingen/Basel 1998. 33 Vgl. dazu die Beiträge in: U. H. J. Körtner (Hg.), Die Wirklichkeit des Geistes. Konzeptionen und Phänomene des Geistes in Philosophie und Theologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2005 (im Druck).

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Eve-Marie Becker

Medizinethik34 hinaus – nahe, den »Person«-Begriff auch als Heuristikum der Paulus-Forschung zu begreifen. Entsprechende Fragen könnten daher auf Paulus bezogen lauten: Gibt es eine Person »Paulus« in und hinter einer Biographie, ohne daß »Person« und »Biographie« voneinander zu trennen oder miteinander identisch wären? Wer ist die »Person« Paulus hinter seinen Briefen? Lassen sich die Person oder wenigstens Spuren der Person in den rekonstruierten »Paulus-Bildern« fassen?35 Eine Heuristik paulinischer Personalität könnte konsequent die Aspekte von »Bewußtsein«, »Leidensfähigkeit« bzw. Krankheit, »Perspektivenannahme«, »Gedächtnis« und »Willensfreiheit« bzw. Verantwortung, die die philosophische Anthropologie als Konstituenten von Personalität nennt36 , im Blick auf die »Person des Paulus« auswerten.37 Die Frage nach der Person des Paulus ist historisch von Belang, weil sie – um mit Deissmann zu sprechen – Einblick in den »Menschen« Paulus und so auch in seine Persönlichkeitsstruktur erlaubt.38 Die Frage nach der Person des Paulus ist aber auch anthropologisch relevant, weil sie prüft, ob und wie ein möglicher Typus »Paulus« auf die Geschichte des christlichen Menschenbildes39 oder auf die Geistesgeschichte christlicher Personen oder »Persönlichkeiten«40 allgemein eingewirkt habe. Die Frage nach der »Person« des Paulus erschließt der PaulusForschung also ein durchaus neues Gebiet.

34 Vgl. J. Fischer, Medizin- und bioethische Perspektiven. Beiträge zur Urteilsbildung im Bereich von Medizin und Biologie, Zürich 2002. Ich danke Professor Ulrich H. J. Körtner (Wien) und Dr. Doris Hiller (Leipzig) für entsprechende Literaturhinweise. 35 Diese philosophisch-anthropologisch orientierten Fragen knüpfen grundsätzlich an die Ansätze von Personen-Forschung an, die B. J. Malina/J. H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville 1996, auf der Basis antiker kulturgeschichtlich orientierter Anthropologie vorschlagen – Überlegungen zur Physiognomie des Paulus z.B. (a.a.O., 100ff.) finden sich übrigens schon bei A. Deissmann, Paulus (wie Anm. 1). Vgl. – wiederum eher philosophischanthropologisch ausgerichtet – auch die Überlegungen bei F. Vouga, Personalität und Identität bei Paulus: im vorliegenden Band S. 149–165. 36 Vgl. dazu die Überlegungen im Beitrag von M. Pauen: U. H. J. Körtner (Hg.), Wirklichkeit (wie Anm. 33). 37 Vgl. dazu auch: E.-M. Becker, Die Person des Paulus: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen/Basel 2006 (UTB) (im Druck). 38 Vgl. dazu M. Göttel-Leypold/J. H. Demling, Die Persönlichkeitsstruktur des Paulus nach seinen Selbstzeugnissen: im vorliegenden Band S. 125–148. 39 Vgl. dazu allgemein: G. Schneider-Flume, Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild: im vorliegenden Band S. 347–365. 40 Zur Forschungsgeschichte speziell in der religionsgeschichtlichen Schule vgl. O. Merk, Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule: im vorliegenden Band S. 29–45.

I. Zur Forschungsgeschichte

Einführung in die Thematik: „Biographie und Persönlichkeit des Paulus“ Walter Sparn

Ich kann es nur als erfreulich bezeichnen, daß ein systematischer Theologe gebeten worden ist, in das Thema dieses Symposiums zu Ehren einer Exegetin einzuführen. Selber kein Exeget der paulinischen Schriften nach den Regeln der Kunst, muß ich mich wohl darauf beschränken, die Thematik „Biographie und Persönlichkeit“ so vorstellen, wie sie sich heutzutage als systematisch-theologische Aufgabe stellt, wenn man textlich überlieferte Zeugnisse von biographischen Narrationen methodisch verstehen will. Dies aber, die bewußte Verknüpfung historischer Deskription mit kategorialer Orientierung, ist eine Aufgabe, die einerseits eine Konstitutionsbedingung der historisch-kritischen Exegese darstellt, die andererseits eine kulturhermeneutische Aufgabe ist, durch welche die Theologie mit den anderen Disziplinen, zumal mit der Literarhistorie und der historischen Anthropologie, verknüpft ist. Nun ist das Verstehen anderer und fremder Lebensäußerungen in Gestalt von textlichen Diskursen alles andere als selbstverständlich. Zu den wichtigsten Einsichten nicht erst der postmodernen, sondern der Hermeneutik seit Friedrich Schleiermacher gehört ja, daß Mißverstehen vor, nach und im Verstehen so gewöhnlich ist, daß angemessenes und seine Grenzen realisierendes Verstehen einer eigenen Anstrengung bedarf, einer Kunst. Das ist die Hermeneutik, verstanden als die Wahrnehmung dessen, was ein Text überhaupt zu verstehen geben will und kann, und der Wahrnehmung zugleich der konstruktiven Momente des Unternehmens verstehender Auflösung und Erneuerung von Differenz „jenseits des Verstehens“.1 Eine solche Hermeneutik hat zweifellos deskriptive, aber ebenso 1 Es sei erlaubt, das Erlanger Graduiertenkolleg „Kulturhermeneutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz“ zu erwähnen, in dem der Autor ein Projekt verfolgt, das den Abbau, die Umformung und die Erneuerung kanonischer Autorität im Zusammenhang der hermeneutischen Lizenz gegenüber den heiligen Texten, aber auch der pragmatischen Überlieferungsbedingungen solcher Texte untersucht.

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unvermeidlich normative Aspekte, gehört insofern also zur Ordnungsdisziplin „Systematische Theologie“. Im folgenden möchte ich das Thema des Symposiums, „Biographie und Persönlichkeit des Paulus“ so auf seinen kulturhermeneutischen und im besonderen auf seinen systematisch-theologischen Kontext beziehen, daß die Interpretationen der historischen Gestalt des Paulus, die in diesem Symposium zur Diskussion gestellt werden, auch in ihren kategorialen und konstruktiven Momenten diskutiert werden können – diese Momente wohnen ihnen nämlich, wenn sie nicht in schieren Positivismus sich flüchten, unabweislich inne.

I. „Persönlichkeit“ – ein dubioser Begriff 1. Selbst wenn man kein Exeget der memorabilia Pauli ist, fällt einem sogleich auf, daß dieses Symposium zwei historisch heterogene Sachverhalte verknüpfen will: eine Person, die vor fast 2000 Jahren gelebt hat, und den neuzeitlichen Begriff der Persönlichkeit. Die Wahl dieses analytischen Begriffes und seine Zusammenstellung mit „Biographie“ scheint möglich, wenn man unter „Biographie“ zunächst einmal die Zusammenstellung der chronologischen und sonstigen statistischen Zahlen und Daten einer Person der Vergangenheit sowie ihrer Worte und Taten versteht, also das, was sich historisch als wahrscheinlich, nämlich mit guten Gründen nicht bestreitbar, über sie feststellen lässt. Dann wäre „Persönlichkeit“ dasjenige, das sich aufgrund all dieser Daten, Worte und Taten als lebendige, d.h. handelnde, leidende, sprechende, schweigende, denkende, wollende und sogar fühlende Person vorstellen, d.h. mit Anspruch auf historische Plausibilität vor Augen stellen lässt. Die Möglichkeit einer solchen Imagination, eines solchen Bildes liegt darin, dass wesentliche Elemente von dieser Person wirklich verkörpert und, noch wichtiger, nicht nur in einen einzigen Zusammenhang, sondern je nach Zeit, Ort und Gelegenheit oder Notwendigkeit in verschiedenartige Konstellationen gebracht wurden – diese zeitliche und sachliche Varianz der Selbstdarstellung ist die Bedingung eines lebensnahen Bildes, des Eindrucks einer wirklichen „Persönlichkeit“ auch für Nachgeborene, wie wir es sind. Der Begriff der „Persönlichkeit“ ist nun allerdings kein leerer Titel, den man historiographisch beliebig gebrauchen könnte; und die Frage ist, ob man ihn auf eine Person wie den Apostel Paulus anwenden kann. Denn sieht man ab von der mittelalterlichen personalitas, dem trinitätstheologischen Abstraktum von persona, dann ist „Persönlichkeit“ ein spezifisch neuzeitlicher Begriff.2 Seit John Locke, aber auch Gottfried Wilhelm Leibniz bezeichnet er die „Identität“ eines Individuums (auch dies ein neuer Begriff ), nämlich das „Selbst“, soweit es 2

Vgl. U. Dierse, R. Lassahn, Art. Persönlichkeit, in: HWbPh 7 (1989), 345–352.

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ein Handlungssubjekt ist, das über Selbstbewusstsein einschließlich Erinnerungen verfügt und das sich seine freien Handlungen zurechnet. „Persönlichkeit“ ist mithin das Ich als moral agent. Immanuel Kant unterschied an prominenter Stelle die empirische „Person“ von der „Persönlichkeit“, der Instanz der sittlichen Freiheit vom Naturmechanismus, d.h. der Instanz sittlicher Autonomie. Als „unsichtbares Selbst“ gehört sie für Kant nicht nur der empirischen, sondern zugleich der intelligiblen Welt an und macht, da niemals nur Mittel zum Zweck, sondern immer auch Selbstzweck, die Würde des Menschen aus.3 Über die naturrechtliche Beschränkung des Persönlichkeitsbegriffs hinausgehend verstanden Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller, maßgeblich für die deutsche Bildungswelt bis ins 20. Jahrhundert, die Persönlichkeit zugleich als ein Ideal, dem der Mensch in seiner Lebensgeschichte durch Bildung und Selbstbildung nahe kommen soll: das Ideal der reichen, seine eigenen Anlagen und Kräfte sowie die positiven Einflüsse der kulturellen Umwelt dynamisch entfaltenden, in der Verschiedenheit ihrer Erscheinung jedoch in sich selbst stabilen Persönlichkeit. Es geht, in Formeln gesagt, um die „Behauptung der Persönlichkeit“ im Modus „Werde, der du bist“. Die hier beanspruchte anthropologische Annahme ist, daß das eigene Selbst das Vermögen sei, im Verlauf der Lebensgeschichte, ihren Entwicklungen und ihren Widerfahrnissen ein innerlich Sicheres und Bleibendes zu behaupten. Persönlichkeit ist so der mit der sinnlich äußeren Welt zwar in Wechselwirkung stehende, doch von den Widrigkeiten des Lebens und sogar vom Schicksal nicht zerstörbare Selbstbesitz. Im Unterschied zu den beiden anderen, schon von Aristoteles benannten Glücksgütern, Sacheigentum und soziale Anerkennung, ist die beständig wirkende und unter allen Umständen wirksame Persönlichkeit als das, was einer ist, ein „absoluter Wert“, wie Arthur Schopenhauer im Anschluß an Goethe formuliert hat.4 2. Die Ausfaltung dieses Persönlichkeitsbegriffs im philosophischen, psychologischen und insbesondere im pädagogischen Denken der Moderne bis hin zu Eduard Spranger und Karl Jaspers braucht hier nicht nachgezeichnet werden. Ich muß jedoch im Blick auf die Frage, ob es tunlich sei, nach der „Persönlichkeit“ des Apostels Pauls zu fragen, auch die Bedenken gegen den Begriff zu Wort kommen lassen, die von Anfang, wenn auch nicht durchschlagend, erhoben worden sind. Sogleich Johann Gottfried Herder bemerkte, daß der neue Begriff angesichts der Frage nach der Fortdauer nach dem Tode im Unterschied zum Begriff der Seele schwierig ist; und wenn er die unzerstörbare Besonderheit des Individuums meint, so ist er nicht nur positiv, sondern auch negativ besetzt – die 3

I. Kant, Kritik der Praktischen Vernunft (1787), I, 1, 3 (154–159); Beschluß (288f ). A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Kap. 1, in: Parerga und Paralipomena I (1850), Darmstadt 1977, 377–385, Zit. 382. 4

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„wilde“, „selbstsüchtige“ Persönlichkeit bedarf der läuternden Umgestaltung.5 Obwohl Goethe den Begriff der Persönlichkeit meist überaus positiv, als Bedingung für den Charakter, versteht und Suleika die geläufige Meinung berichten läßt: „Höchstes Glück der Erdenkinder / Sei nur die Persönlichkeit“, denn: „Alles könne man verlieren, Wenn man bleibe, was man ist“, so kommentiert sein Hatem gleichwohl: „Kann wohl sein! So wird gemeinet / Doch ich bin auf anderer Spur: Alles Erdenglück vereinet / Find ich in Suleika nur. Wie sie sich an mich verschwendet, Bin ich mir ein wertes Ich . . . “6 – nicht, „was einer an sich selbst hat“, sondern empfangener Zuspruch ist das Wesentlichste. Schopenhauer zitiert allerdings nur Suleika und diese fälschlich als Goethes Sprachrohr . . . 7 . Schließlich war auch Friedrich Schleiermacher davon überzeugt, daß „Persönlichkeit“ im Sinne der individuellen Eigentümlichkeit oder des Charakters einer Person, einer Familie, ja eines Volkes gebraucht werden könne, daß diese Personalität jedoch nicht in scharf abgeschnittenen Grenzen, sondern nur in beständiger Wechselwirkung mit dem Gemeinschaftlichen sei, was sie sei, und dies zumal in religiöser Hinsicht.8 Der Zusammenbruch des Idealismus im Zuge der industriellen Revolution zeitigte im Linkshegelianismus den Verdacht, daß „Persönlichkeit“ eine die wissenschaftliche und vor allem die sozioökonomische Realität vernebelnde, bourgeoise Phrase sei; und die Forderung der vollen Hingabe der Persönlichkeit an die fortschreitende Kultivierung und Humanisierung der Welt wurde schon von Friedrich Nietzsche, der sie für naiv oder richtiger: für zynisch hielt, ironisch umgedreht: „Die Persönlichkeit und der Weltprozeß! Der Weltprozeß und die Persönlichkeit des Erdflohs!“9 Die Psychoanalyse des vermeintlichen „Herren im eigenen Haus“, eben der hehren Persönlichkeit, als keineswegs zentripetales, teleologisch sich vollendendes Wesen, sondern als instabiler Prozeß und kaum zu beherrschender Kampf zwischen „Über-Ich“ und „Es“ – diese Dekonstruktion durch Sigmund Freud ratifizierte die sich abzeichnende Demütigung der „Persönlichkeit“.10

5 J.G. Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität (1793/1797), in: Sämmtliche Werke Bd. 18, 309f. 344f. 6 J.W. Goethe, West-östlicher Divan (1819), Buch Suleika. 7 A. Schopenhauer, a.a.O. 381.384. 8 F.D.E. Schleiermacher, Über die Religion (1799), Berlin/New York 1999, 80. 99f (51f. 96– 99). 9 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1872), 8, in: Werke hg. v. Karl Schlechta, München 1966, Zit. 266. 10 S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/1918), Frankfurt a.M. 1969.

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Nietzsche hatte übrigens weniger Jacob Burckhardt als vor allem den theologus vulgaris liberalis des neuen Kaiserreiches im Blick, und das nicht zu Unrecht, denkt man an den alten David Friedrich Strauß oder an Albrecht Ritschl und die neuprotestantische Persönlichkeits- und Gewissensreligion. Es war überhaupt ein Charakteristikum der, wenn ich so sagen darf, bürgerlich-frommen Theologie fast aller Schulen, den Begriff der Persönlichkeit als die basale Kategorie der Möglichkeit menschlicher Rede von Gott anzusehen. Daß Gott, wie Menschen im Gewissen, „freie Persönlichkeit“ sei, gilt seit dem „Glaubensphilosophen“ Friedrich Heinrich Jacobi für alle Nichtspinozisten und Nichthegelianer als ausgemacht.11 Diese Überzeugung teilte nicht zuletzt die religionsgeschichtliche Schule und ihre Exegeten – und dies auch im Blick auf den Apostel Paulus.12 Freilich war auch das theologisch nobilierte Persönlichkeitsideal nicht davor geschützt, im „Weltanschauungskampf“ des ausgehenden Kaiserreiches als vermeintliche Instanz des Identisch-Substantiellen instrumentalisiert zu werden für die Immunisierung gegen die als bedrohlich empfundenen Transformationsund Differenzierungsprozesse, gegen den „Zerfall“ und die „Zersetzung“ der Kultur, wie man damals sagte. Das läßt sich besonders deutlich beobachten bei dem kulturprotestantischen Modephilosophen Rudolf Eucken, dem Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 1909 und Begründer der Luther-Gesellschaft 1917/18. Meist als „neuidealistisch“ eingestuft, stellt Euckens Plädoyer für „Persönlichkeit“ als rettender Instanz im kulturellen Chaos zwischen Säkularisierung und neuer Religiosität seinerseits eine weltanschauliche Fiktion dar, die ihre mangelnde Plausibilität mit dem drängenden Appell an das „Persönlichwerden“ verdeckte.13 Das war nicht viel besser als die Prognose der Entwicklung einer „allseitigen Persönlichkeit“ in den damals noch oppositionellen marxistischen Ideologien.

II. „Charakter“ – eine Erinnerung 1. Die Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts hat das neuhumanistische und kulturprotestantische, auf Einheitlichkeit, Geschlossenheit, Selbstbesitz und Selbstmächtigkeit geeichte Persönlichkeitsideal radikal und erstaunlich erfolgreich bekämpft, sei es mit existenztheologischem, sei es mit christologischem Impetus. Der Überwindung von „Historismus“ und „Psychologismus“ entsprechend proklamierte etwa Paul Tillich in einem sehr lesenswerten Vortrag „Die

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Vgl. F. H. Jacobi, Werke 4/1 (1819) ND Berlin 2001, Vorbericht, XLII–XLVI. Vgl. den Beitrag von Otto Merk in diesem Band S. 29–45. 13 Rudolf Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart (1878), 5. umgearb. Auflage Leipzig 1916, D 5: Persönlichkeit und Charakter (339–358). 12

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Überwindung des Persönlichkeitsideals“ (1927).14 Der erste Anthropologe der neuen Ära, Emil Brunner, dessen Werk nicht zufällig „Der Mensch im Widerspruch“ (1937) heißt und im 9. Kapitel „Die Einheit der Person und ihr(en) Zerfall“ erklärt, kommt ganz ohne den Persönlichkeitsbegriff aus. Brunner nimmt aber den konkreteren Begriff des Charakters auf, um freilich auch hier die Zweideutigkeit des Charakters und die Vielfalt der Charaktere vor Augen zu stellen, ja die „Überwindung des Charakters im Glauben“ zu postulieren.15 So weit, so gut, möchte man sagen angesichts der theologischen Zweifelhaftigkeit des Persönlichkeitsbegriffs. Für den Historiker, aber auch für den Systematischen Theologen tritt damit aber ein schwieriges Folgeproblem auf. Dies ist die Schwäche, ja der Ausfall des beschreibenden Moments der (historischen) Anthropologie. Die theologische Arbeit des 20. Jahrhunderts konnte Strukturen des Menschseins benennen, „Existenz“, „Selbstverständnis“, „Sein zum Tode“, „coram-Struktur“ und viele andere, aber sie verbot sich, die handelnden und leidenden, die denkenden und fühlenden Personen als individuelle, im Verhalten und im Ausdruck erscheinende oder auch sich verbergende Charaktere zu beschreiben. Auch wenn der ontologische Anspruch von so etwas wie „Persönlichkeit“ abzulehnen war, so blieb doch die methodologische Anforderung dieses Begriffs erhalten. Anders gesagt: Der phänomenologische Gehalt der Historiographie von Personen wurde deutlich ärmer – vielleicht allzu arm. Nicht zuletzt belegen das die Jesus-Forschung – man denke nur an Rudolf Bultmanns Jesus-Buch (1926) – und eben auch die Paulus-Forschung mit ihrem Verlust des konkret psychosozialen Reichtums, den unter dem Titel der „Persönlichkeit“ zu beschreiben nicht ganz unmöglich war, so problematisch dessen Konnotationen der Geschlossenheit oder des Selbstbesitzes sein mochte. Die Frage ist daher, ob es Alternativen zum Begriff der Persönlichkeit gibt, die den phänomenologischen Reichtum im Blick behalten, ohne seine weltanschauliche Konterbande mitzuführen? Ich schlage vor, den Begriff des Charakters, der, wie schon mehrfach berührt, auf einer konkreteren Ordnungsebene situiert ist, hierfür zu prüfen. Statt diesen (lebensweltlich meist für die Reduktion von Komplexität eingesetzten, wissenschaftlich aber komplexen) Begriff als solchen zu analysieren, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit in die Zeit unmittelbar vor der Etablierung des Persönlichkeitsbegriffes als der dominierenden anthropologischen Kategorie lenken. Denn im 18., dem Jahrhundert der „anthropologischen Wende“ aller kulturellen Diskurse, gewann der Begriff des Charakters neues Gewicht. Er hatte natürlich schon eine

14 P. Tillich, Die Überwindung des Persönlichkeitsideals (1927 u.ö.), The Idea and Ideal of Personality (1948), in: Main Works/Hauptwerke, Bd. 3, Berlin/New York 1998, 131–166. 15 E. Brunner, Der Mensch im Widerspruch, Zürich 1937, 215–237. 306–325.

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lange Gebrauchsgeschichte hinter sich, wurde nun aber von einer zunehmend an Beobachtung und Selbstbeobachtung orientierten, lebens- und entwicklungsgeschichtlich denkenden Anthropologie in Gebrauch genommen – man denke an Projekte wie die „Physiognomik“, die „Erfahrungsseelenkunde“ oder die neue Kinderpädagogik. In der Theologie wurde der analytische Begriff des Charakters überdies auch historiographisch verwendet und unter dem Titel der „Charakteristik“ auf nicht mehr lebende Personen angewandt, auch auf Personen der Bibel. Eine solche „Charakteristik der Bibel“ hatte Vorbilder in der frühneuzeitlichen Moralistik, die wiederum an antike Vorbilder, etwa Theophrasts „Ethikoi characteres“ (ca. 300 v.Chr.), die Satiren Senecas und Plutarchs, anknüpfend die christlich oder humanistisch normativ fixierte Anthropologie durch die Dichte ihrer Beschreibung quasi phänomenologisch unterlief, vor allem durch die humorvolle Beschreibung menschlicher Schwächen; so stilbildend Michel de Montaigne (Essais, 1580) und J. La Bruyère (Les caractères de Theophraste, 1688). Der englische Moralismus, der erkenntnistheoretisch lockeanisch, d.h. vom „self “ der Selbst- und Fremdbeobachtung her denkt, ist moralisch einem neuplatonisch inspirierten Optimismus verpflichtet; hier legen die „character-writers“ ihre Beschreibungen über das kritische Potential hinaus auch positiv an, denn sie dienen der erzieherischen Fortentwicklung des moral sense, der praktischen Seite des emotional-ästhetischen Selbstempfindens und Selbstwertgefühls. Stilbildend hierfür, nicht zuletzt für die deutsche protestantische Theologie und ihren Übergang in die aufklärerische Neologie, waren Earl Shaftesbury’s „Characteric’s of Men, Manners, Opinions, Times“ (1711).16 Nachdem sich Gottlieb Wilhelm Rabener und Christian Fürchtegott Gellert um die moralisch-psychologische Gattung der „moralischen Bildnisse“ oder der „Charakteristik“ in Deutschland verdient gemacht hatten, erschien erstmals im Jahr 1775 in Halle der erste Teil von insgesamt zehn Teilen einer „Charakteristick der Bibel“, verfasst vom Hallenser Zögling und späteren Direktor der Franckeschen Anstalten, dem neologischen Theologen und Reformpädagogen August Hermann Niemeyer.17 Dieses erfolgreiche, 1794 in 5. Auflage publizierte Jugendwerk bewegte sich bereits auf dem Niveau des modernen Begriffs der Religi-

16 Vgl. die Hinweise bei Ch. Seidel, Art. Charakter, I, in: HWPh 1 (1972), 984–991; G. Lamsfuss, Art. Moralist, Moralismus, in: HWPh 6 (1984), 175–179. 17 A.H. Niemeyer, Charakteristick der Bibel, Halle 1175–1782; im folgenden zitiert nach Seiten der 5. Aufl. Grätz o.J. (wohl gegen 1800). Zu dem im Austausch mit allen wichtigen Geistern der Zeit von F.G. Klopstock über J.W. Goethe bis zu F. Schleiermacher stehende Autor vgl. A. Beutel, Art. Niemeyer, 1. August Hermann, in: RGG4 Bd. 6 (2003), 307f, sowie W. Sparn, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II, 18. Jh., München 2005, 161ff.

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on, meinte damit nämlich nicht nur die öffentlich-rechtliche Institution, sondern primär eine Gestalt subjektiven Menschseins, d.h. das, was mit einem ebenfalls neuen Wort als „Religiosität“ bezeichnet wird. Niemeyer arbeitete ferner mit der inzwischen entwickelten Exegese eines David Ernst Michaelis oder August Hermann Nösselt, seines Lehrers neben Johann Salomon Semler. Er geht von der Annahme aus, daß in der Bibel nicht nur Göttliches und Heiliges, sondern zugleich durchaus Menschliches überliefert sei, das auch als solches theologisches Interesse verdiene, und überdies sei der Mensch nirgendwo „in einem so wohl getroffenen Bilde vorgestellt“ als in der Bibel (X). Niemeyer geht die gesamte Bibel durch und will keine Stelle übergehen, „darin wir den Menschen finden oder ihn näher kennen lernen können. Welch eine Abwechslung und angenehme Mannigfaltigkeit verspricht uns dies zum Voraus! Gutes und Böses, moralische Schönheit und moralische Verunstaltung, Wahrheit und Schein – alles werden wir dargestellt sehen, und hoffentlich nicht ohne Belehrung von den Gemählden weggehen.“ (XI). Für die aufklärerischen Zeitgenossen war nicht zuletzt wichtig, dass dieser Gebrauch der Bibel weder „Glaubenslehren“ noch „Particularmeinungen“ zum Gegenstand hatte, sondern einen Gesichtspunkt wählte, in dem alle christlichen Gemeinden übereinkamen (XVI) und auch diejenigen, die das ganze Christentum für eine Fabel hielten, interessieren oder sogar zu Bewunderung bewegen konnte. Dies, die Bewunderung, gilt im besonderen im Blick auf den Apostel Paulus. Ihm widmet Niemeyer, nach der Darstellung einiger Charaktere aus den Evangelien (Jesus selbst wird erst im letzten Teil aufgegriffen), den ersten, gut 250 Seiten umfassenden Text: „Leben und Charakter des Apostels Paulus“ (113–366). Während die Skizze des Lebens des Paulus den exegetischen Forschungsstand wiedergibt (einschließlich der seit Christian Wilhelm Thalemann 1769 erkannten jüdischen, nicht griechischen Bildung des Paulus, 116), stellen die Ausführungen über den Charakter des Paulus etwas Neuartiges dar. Sie scheinen mir noch heute, oder richtiger: heute wieder interessant, in einer Zeit, da sich herausgestellt hat, daß die bald danach aufkommende subjektivitätstheoretische und später die existenztheologische Formalisierung der Historiographie phänomenologisch allzu karg sind. Niemeyer entwickelt, auf dem angesprochenen methodologischen Niveau, eine psychologische und soziologische Beschreibung der Person des Apostels, des menschlich Individuellen an ihm, seiner Physiognomie, seiner Charaktereigenschaften, wie sie in den unterschiedlichen sozialen Verhältnissen zutage traten und sich entwickelten. Dem Autor ist klar, dass die Analyse der Einzelzüge nicht das Ganze ergibt, dass seine Harmonie nicht ohne Kampf der einzelnen Kräfte zu haben ist, und dass „wir nie einen Charakter ganz auslernen werden, weil wir ihn nie in allen möglichen Verhältnissen sehen“ (172). Er ist natürlich noch ganz unberührt von so etwas wie der Psychoanalyse, aber er verfällt auch nicht ein-

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fach in die Projektion des normativen Paulusbildes christlicher Theologie. Fast könnte man von einer dichten Beschreibung reden, würde Paulus nicht doch fast ausschließlich als ein erhabener, bewundernswerter Charakter beschrieben. Niemeyer benutzt natürlich auch wesentlich mehr biblische Schriften als Quellen, als wir das heute tun würden. In einem ersten Abschnitt wird „Paulus als Christ und Apostel“ (173–207) vorgestellt, seine „Denkungsart“, die Festigkeit seiner Überzeugungen aufgrund der Christusvision, seine Christusliebe und ihr Wunsch der Christusähnlichkeit, die Weite seines religiösen und moralischen Engagements, seine Tugendlehre usw. Ein zweiter Abschnitt betrachtet „Paulus als Mensch, oder von dem Eigenthümlichen seines Charakters“ (208–297). Hier werden die paulinischen Schriften und ihre autobiographischen Elemente auf die darin sich äußernden „Geisteskräfte“ hin untersucht, insbesondere auf seine „Freiheit im Denken“ (209ff ), sein gründliches Nachdenken mit dem Ergebnis der Weisheit des Urteils und der Vorsicht und Klugheit des Lebens, seine Herzenswärme auch in seinen Beweisführungen, die sich an seine Leser anpassen und immer deren Herz zu rühren suchen mittels einer sehr differenzierten Beredsamkeit, wie in 1Kor 2f. Des weiteren profiliert Niemeyer die sittlichen Eigenschaften des Paulus, beginnend mit der Aufrichtigkeit, der Seelenstärke, der Festigkeit des Willens über die Freimütigkeit und die Geduld im Leiden bis zur Ironie und zum getrosten Ernst im Verhältnis zum Tode (vgl. bes. 295). Ein dritter Abschnitt behandelt „den Gesellschafter“ (171), d.h. seinen Charakter im Medium der sozialen Beziehungen (297–366). In der größeren Welt stellt Niemeyer die Menschenliebe des Paulus, seine Toleranz und seine Fähigkeit heraus, zwischen äußerer Gestalt und innerer Gesinnung unterscheiden zu können; in der kleineren Welt der Freundschaft markiert er die Vertrauensfähigkeit des Paulus, seine Ausdrucksbreite zwischen Schärfe und Zärtlichkeit und seine Höflichkeit des Herzens. Soweit August Hermann Niemeyer . . . 2. Auch wenn ich den exegetischen Kolleginnen und Kollegen gerne die Lektüre dieser Charakteristik empfehle, so möchte ich damit gewiß nicht gesagt haben, daß ich sie für die genaueste und historisch wahrscheinlichste halte. Eine Charakteristik dieses Typs kann, das muß ich nun ausdrücklich ergänzen, auch zu unterschiedlichen, ja zu entgegengesetzten Wertungen führen. Eine äußerst negative Wertung des Charakters des Paulus hatte kurz vorher, freilich noch auf lange Zeit unpubliziert, Samuel Hermann Reimarus vorgenommen. Die alte These vom Priesterbetrug psychologisch wendend, schrieb Reimarus dem Apostel, den er als eigentlichen Stifter des Christentum ansah, Neid und Herrschsucht als die wahren Motive seiner Missionstätigkeit zu – eine These, die im folgenden Jahrhundert David Friedrich Strauß nicht dementierte, auch wenn er die Betrugstheorie als ganz unzureichend ansah zur Erklärung einer geschicht-

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lich sich so erfolgreich durchsetzenden Bewegung wie das Christentum.18 Das Extrem vernichtender Charakteristik des Paulus formulierte dann der „Psycholog“ Friedrich Nietzsche. Obwohl er unnötigerweise die Betrugstheorie pointiert nochmals aufnahm, malte Nietzsche im übrigen auf derselben textlichen Grundlage wie Niemeyer, allerdings nun als respektloser Psychologe des Verdachts, Paulus als „Genie im Haß“, als „Fälscher“ der Lehre Jesu, als „Dysangelist“. Das charakterliche Erklärungsmuster hiefür faßte Nietzsche, der übrigens Hermann Lüdemanns 1872 publizierte Deutung des Damaskuserlebnisses als Scheitern am jüdischen Gesetz aufgriff,19 im Begriff des Tschandala-Hasses oder des Ressentiment zusammen. Aus einem das Denken und Handeln motivierenden und dirigierenden Ressentiment heraus, aus Rache für erfahrene Erniedrigung und mit raffiniertem „Logiker-Cynismus“ log der frühere Gesetzeseiferer Paulus das von Ressentiment ganz und gar freie Evangelium Jesu in die Botschaft vom Schuldopfer am Kreuz um, mit dem Effekt des schlechten Gewissens, des Selbsthasses, des Niedergangs.20 Paulus, der Apostel der „geistigen Liebe“ oder der Apostel der „geistigsten Rache“? So kontrastieren sich Niemeyers und Nietzsches Charakteristiken. Beide sind exegetisch wohl ein gutes Stück weit falisifizierbar; und doch haben sie etwas Wesentliches erkannt, was die Epitheta „geistig“ und, bei Nietzsche, „geistigst“ durchaus deutlich zum Ausdruck bringen. Unter dem Titel des Charakters fördern sie jedenfalls reichlich Stoff für ihre Paulusbilder zutage. Und, um mein Plädoyer nicht zu überziehen: Mit dem Begriff des Charakters kommt der seit Georg Simmel oder Arnold Gehlen bis hin zu Theodor W. Adorno kritisch revidierte Begriff der „Persönlichkeit“ einigermaßen überein; beide Begriffe nicht mehr als Instanz des Enthobenseins von den zersetzenden Zumutungen der modernen Massengesellschaft, sondern als Instanz, ja, wie Gehlen sagt, Institution der Kritik, des möglichen Andersseins in aller Verflechtung mit der sozioökonomischen Umwelt.21 So verstanden ist der Begriff und die Rechtsgarantie der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ in unserer Verfassung am richtigen Platz (GG Art. 2, 1), nämlich als subjektive Perspektive des Begriffs der „Person“, diesem Ausdruck für die individuelle Sprech- und Handlungsinstanz, in der das Fremd18 H.S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (1736– 1768), Frankfurt a.M. 1972, Bd. II, 4. Buch Kap. 1, §15f (334–342); D. Fr. Strauß, Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift . . . , Leipzig 1862. 19 H. Lüdemann, Die Anthropologie des Paulus und ihre Stellung innerhalb seiner Heilslehre, Kiel 1872. 20 F. Nietzsche, Der Antichrist (1886), bes. Aph. 46f. 51. 58 (Werke in drei Bänden, München 1966, Bd. 2, 1210–1230); vgl. U.A. Sommer, Friedrich Nietzsches „Anitchrist“. Ein philosophischhistorischer Kommentar, Basel 2000; D. Havemann, Der „Apostel der Rache“, Berlin 2002. 21 Vgl. U. Dierse, R. Lassahn (Anm. 2, 350).

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bild und das Selbstbild eines Individuums sich wechselseitig ausbilden und in der zugleich, im guten Fall, diese Person ihre relativ-absolute Eigenständigkeit, ihre Würde hat. Die analytische Form einer Charakteristik ist es also wert, noch einmal in Augenschein genommen zu werden, wenn man historische Daten zum Bild eines als äußerlich und innerlich lebendig vorstellbaren individuellen Menschen erweitern will. Die Frage nach der „Persönlichkeit“ des Paulus sollte in einem ersten Schritt als Frage nach dem Charakter dieser Person präzisiert werden. Gewiß trägt auch dieser Begriff seine Erblast, sowohl das Verhältnis von Charakter, Naturell und Temperament als auch die Unterscheidung von empirischem (physischen) und intelligiblem (moralischem) Charakter betreffend, die Immanuel Kant entsprechend seinem doppeltem Begriff der „Persönlichkeit“ eingeführt hat; ein Dualismus, der nur idealistisch zu rechtfertigen war. Damit braucht sich die theologisch-exegetische Anthropologie jedoch nicht zu belasten, wenn sie phänomenologisch auf die Phänomene von Charakter zugeht. Denn dann bleiben, wie eben schon angedeutet, die beiden Aspekte von Person, die für eine theologische Anthropologie wesentlich sind, im Blick: daß ein Mensch ist, was er ist, stets im Horizont eines Innen-/Außenverhältnisses geprägt wird und sich prägt, d.h. einen Vermittlungs- und Differenzierungsprozeß in einem darstellt, und daß dieser Bildungs- und Umbildungsprozeß stets im Horizont der vergehenden Zeit verläuft, also in die (keineswegs lineare oder binäre) Unterscheidung von erlebtem Heute und erinnertem Gestern bzw. erwartetem Morgen eingespannt ist. Beide Aspekte ergeben sich daraus, daß die christliche Rede vom Menschen als einer individuellen Person ein privilegiertes Selbstverhältnis („Freiheit“, „Würde“) meint, das nicht schon und nicht unbestreitbar durch soziale Interaktion und bewußte Selbstbeziehung zustande kommt, sondern durch den namentlichen Zuspruch des Schöpfergottes begründet und in der lebensgeschichtlichen Bildungsarbeit Gottes an und mit dieser Person verwirklicht wird – notabene: innerhalb der Bildungsarbeit der beiden cooperatores, so daß Personalität nicht Eigenschaft oder Besitz eines absoluten »Subjektes« ist.22 Dieser soteriologische Personbegriff läßt sich gut mit der Phänomenologie des „Charakters“ einer Person verbinden; freilich, um das nochmals zu sagen, auch mit der Phänomenologie der „Persönlichkeit“, wenn man diesen Begriff von seiner (um es kurz zu sagen:) werkgerechten Konnotation freihält. 22 Am Rande sei bemerkt, weil auch in manche theologischen Köpfe noch nicht eingegangen, daß nicht schon „Gottebenbildlichkeit“ für eine christliche Anthropologie und z.B. nicht für die Begründung der „Menschenwürde“ ausreicht, daß sie vielmehr methodisch gesehen primär auf der Rechtfertigungslehre (oder einem Äquivalent) beruht. Im übrigen vgl. R. Spaemann, Personen. Versuch über den Unterschied von »jemand« und »etwas«, Stuttgart 2 1998; M. Welker, Person, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, in: JBTh 15 (2000), 247–262.

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III. „Biographie“: eine Warnung 1. An dieser Stelle möchte ich die oben offengelassene Frage aufnehmen, ob der auf den ersten Blick unproblematische Titelbegriff „Biographie“ für eine Charakteristik des Apostels Paulus geeignet ist. Der erste und offensichtliche Grund einer solchen Nachfrage liegt in dem Tatbestand, daß die zeitnächsten Quellen, aus denen wir etwas über die Lebensgeschichte des Paulus erfahren könnten, keine Lebenserzählung in schriftlicher Form, also keine Biographie darstellen; sie enthalten einige autobiographische Elemente, die sich zudem auf bestimmte äußere Konfliktlagen beziehen. Spätere Quellen wie die Apostelgeschichte enthalten zwar biographische Stücke, die jedoch wiederum einem Erzählrahmen, der über die persönliche Lebensgeschichte des Paulus weit hinausgreift, eingefügt und von diesem bestimmt sind. Was man noch etwas später dann eine Biographie des Paulus nennen könnte, die „Acta Pauli et Theclae“ stellen eine eigentümliche, auch von anderen als biographischen Voraussetzungen und Zielen mitbestimmte Hagiographie dar.23 Auf der anderen Seite hat die seit einer Generation neu betriebene und sehr fruchtbar gewordene Biographieforschung in (und oft im kulturhermeneutischen Verbund) der Literaturwissenschaft, der Soziologie und der Philosophie nicht nur die stilistischen und die narrativen Strukturen, sondern auch die normativen Implikationen der klassisch-modernen, der Figur der „großen Persönlichkeit“ verpflichteten Biographie herausgearbeitet.24 Unter kulturhermeneutischen, speziell soziologischen und theologischen Gesichtspunkten wird auch der Zusammenhang von Lebensgeschichte und Religion, vor allem im Blick auf religiöse Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen erforscht, gelegentlich sogar in Kooperation von Exegese, Dogmatik und Religionspädagogik25 . Ein besonders interessanter, von der Religionspsychologie seit ihrer Entstehung vor hundert Jahren aufgegriffener und erneut psychologisch, soziologisch und

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Vgl. die Beiträge von Eve-Marie Becker und von Hanns Christof Brennecke. H. Scheuer, Art. Biographie, in: W. Killy (Hg.). Literaturlexikon Bd. 13, 122ff.; S. Klein, Theologie und empirische Biographieforschung, Stuttgart 1994; John D. Barbour, Art. Biographie II.III, in: RGG4 , Bd. 1 (1998), 1602–1604; W. Fuchs-Heinritz, Biographische Forschung, Wiesbaden 2000. 25 A. Grözinger, H. Luther, Religion und Biographie, München 1987; W. Sparn (Hg.), Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie und Hagiographie in ihren Entstehungszusammenhängen, Gütersloh 1990; M. Wohlrab-Sahr (Hg.) Biographie und Religion, Frankfurt a.M.1995; F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung in Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 1999; D. Dormeyer u.a. (Hg.), Lebenswege und Religion. Biographie in Bibel, Dogmatik und Religionspädagogik, Münster 2000; M. v. Engelhardt, Biographie und Religion, in: Chr. Wulf u.a. (Hg.), Formen des Religiösen, Weinheim/Basel 2004, 146–147. 24

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theologisch bearbeiteter Aspekt ist die Bedeutung einer Konversion für Lebensgeschichte und Lebenserzählung26 . Für das Verständnis der Lebensgeschichte und der Selbstauslegung des Apostels Paulus kann man hier methodisch viel lernen; die Exegese profitiert davon anscheinend noch nicht. Die neue Biographieforschung gehört bekanntlich in den Kontext der spätoder auch postmodernen „Krise des Subjekts“, die manchmal auch als „Tod des Subjekts“ ausgerufen wird. Sie kritisiert aber die allzu pauschale These angesichts der offensichtlich keineswegs unmöglich gewordenen Biographik auf allen Stilebenen. Im Einklang auch mit den Einsichten der text- und überhaupt kulturhermeneutischen Diskussion analysiert sie lebensgeschichtliche Aspekte der sozialen Differenzierung und der psychischen Fragmentierung von Individuen. So hat die Frage nach einer Biographie des Paulus zur Zeit eine bessere Chance als früher, nicht fahrlässig allzu gut oder allzu puristisch gar nicht, sondern den verfügbaren und eben auch nicht verfügbaren Quellen und ihrer literarischen Eigenart entsprechend beantwortet zu werden. Die Frage dieses Symposiums begegnet jedoch einer weiteren Schwierigkeit. Sie gehört zu der zumal in der protestantisch-christlichen Kultur entstandenen Situation, daß biographisches Vorstellen, Erzählen und Schreiben, sofern es mehr als statistische Daten aneinander reiht, stets von einem autobiographisch sozialisierten Subjekt verantwortet wird. Wenn eine heute zu schreibende Biographie das gelebte Leben eines Menschen als „sein“ Leben deutet und es daher als trotz aller Risse und Brüche eines, als zusammenhängendes, ganzes Leben, das durch einen „Eigennamen“ identifiziert wird, zu verstehen sucht, dann muß sie Bedingungen gerecht werden, die in einer spezifischen Form der Biographik, nämlich in der modernen Autobiographie, aufgebaut worden sind. Eine Biographie, die sich erweitern will zur Vorstellung, zum Bild einer „Persönlichkeit“, auch im vorgeschlagenen Sinne als „Charakter“, unterliegt – bei Strafe naiver Projektion oder dissimulierter Fiktion, also der Trivialisierung27 – den Kriterien autobiographischer Reflexion des Autors dieser Biographie. Ein Paulus-Biograph, der nicht autobiographisch bewußt schreibt, tut seinem Helden einen Bärendienst; er verfällt der „biographischen Illusion“, wie Paul Bourdieu das genannt hat. Es ist daher nötig, sich diese Kriterien immer wieder vor Augen zu führen. 2. Die narrative und literarische Gattung der „Selbstlebensbeschreibung“, der sich die Forschung im Verbund mehrerer historiographischer Disziplinen ein26 K. Bitter, Konversionen zum tibetischen Buddhismus. Eine Analyse religiöser Biographien, Göttingen 1988; H. Knobloch u.a. (Hg.), Religiöse Konversion, Konstanz 1988; M. WohlrabSahr, Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a.M. 1999; Chr. Henning u.a. (Hg.), Konversion. Zur Aktualität eines Jahrhundertthemas, Frankfurt a.M. 2002. 27 Vgl. B. Mecking, Christliche Biographien. Beobachtungen zur Trivialisierung in der Erbauungsliteratur, Frankfurt a.M. 1983.

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schließlich Theologie und Rhetorik ebenfalls erneut zugewandt hat28 , prägte sich nach einer allerdings bedeutsamen Vorgeschichte in der christlichen Frömmigkeit, zuletzt des Pietismus, erst im 18. Jahrhundert voll aus. Dieser Vorgang reagierte auf eine Aporie des modernen, d.h. des cartesianischen, für alle objektivierenden Wissenschaften bis heute gültigen Konzepts „Subjekt“. Dieses als res cogitans im Gegenüber zu allen Objekten definierte Ich unterstellt für sich als das Subjekt von Wissen a priori bruchlose Einheit und Selbstübereinstimmung; als Denken fängt es voraussetzungslos stets bei sich selbst als principium an, „im Anfang“. Dieses Denken hat allerdings kein konstitutives Verhältnis zur res extensa, auch nicht zu der, in der es empirisch existiert, d.h. zum leib-seelisch verfaßten Menschen. Unersichtlich ist, wie abstrakte, allgemeine Reflexion und konkret individuelle Selbsterfahrung, wie Denken und Leben zusammengehen – was man als zugleich lebender und denkender Mensch doch unterstellen muß. Alle großen neuzeitlichen Denker, von B. Spinoza, J. Locke oder G. W. Leibniz bis zum Deutschen Idealismus arbeiten sich an diesem Problem ab. Die moderne Autobiographik stellt, bei der Lockeschen Auffassung des Selbst als Selbstwahrnehmung ansetzend und seit Jean-Jacques Rousseau dem Postulat der ästhetischen und moralischen Selbstempfindung folgend, einen Versuch dar, jenen Zusammenhang erzählend zu erklären und somit die Einzigartigkeit dieses Selbst auch in den Entwicklungen seines Charakters und mannigfachen Verstrickungen in seine Umwelt darzustellen. Weil der Autobiograph aber auch „Subjekt“ seines Schreibens ist, muß dieser Versuch „Selbst“ und „Subjekt“ auch verknüpfen; und schon weil die Frage des impliziten Lesers im Text faktisch beantwortet wird, kann sich dieses „Subjekt“ nicht auf eine schwache, narratologische Größe beschränken, sondern erhebt auch substantielle Ansprüche und spielt daher ins Apriorische oder doch Transzendentale hinüber. Der Verdacht „biographischer Illusion“ richtet sich auf die Autobiographie daher erst recht, und man kann mutmaßen, wie Peter Härtling stellvertretend für viele, daß jede Autobiographie eine „phantastische Lüge“ sei. Dagegen spricht immerhin, daß die moderne Autobiographie generell ein gewisses Problembewußtsein darin erkennen läßt, daß sie ganz unterschiedliche Formen ausgebildet hat, nicht nur diverse literarische Stile, sondern auch un-

28 Vgl. I. Aichinger, Art. Selbstbiographie, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, Berlin/New York 1977, 801–819; G. Niggl, Die Autobiographie, Darmstadt 1989; Ders., Art. Autobiographie, in: W. Killy (Hg.). Literaturlexikon Bd. 13, 65ff.; C.P. Thiede (Hg.), Christlicher Glaube und Literatur 3: Autobiographie, Wuppertal/Zürich 1989; R.-R. Wuthenow, Art. Autobiographie, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 1, Tübingen 1992, 1267–1278; R. Staats (Hg.), Biographie und Autobiographie (VuF 39), Gütersloh 1994; L. Kuld, Glaube in Lebensgeschichten, Stuttgart 1996.

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terschiedliche kommunikative Strukturen, innere Textperspektivitäten und Wirkungsästhetiken. Man kann die große Variationsbreite in drei Modelle gliedern:29 Die lange vorherrschende Gestalt der Autobiographie war die episch-teleologische Erzählung. Sie will den Imperativ „Werde der du bist“ plausibel machen, indem sie eine angenommene Ganzheit, einen inneren Sinn des Lebens als sich innerlich und äußerlich entwickelnd, in eine reife, in sich ruhende „Persönlichkeit“ sich entfaltend darstellt. Ein fiktionales Element der Erzählung ist wegen der zeitlichen Antizipation von Sinn und Ganzheit unvermeidlich; eine Autobiographie ist daher „Dichtung und Wahrheit“, um den Titel J.W. Goethes aufzunehmen. Zwar hat Goethe mit „Dichtung“ nicht dies gemeint, sondern seine poetische Produktion, aber auch und gerade sie beweist ja den persönlichen Daimon. Eine weniger verbreitete, im Gegenüber zur bürgerlichen Anmaßung gelungenen Lebens und runder Lebenserzählung auftretende Form war und ist die expressiv-authentische Äußerung. Oft nicht einmal einen Erzählfaden durchhaltend, sondern Einzelnes unverbunden hinstellend, verweigert sie sich dem Legitimierungszwang eines sinnhaften Ganzen. Ohne Sinnzumutung, dafür aber ungeschönt teilt sie die jeweiligen seelischen und intellektuellen Befindlichkeiten mit, auch wenn dies sprachlich und logisch nur fragmentarisch bis zur Selbstdestruktion möglich ist; Authentizität ist hier das letzte Kriterium. Diese emanzipative Autobiographie arbeitet sich nicht nur an sozialer oder psychischer Benachteiligung, sondern insbesondere an religiöser Sozialisation ab.30 Im 20. Jahrhundert hat sich der hermeneutisch-reflexive Erzähltext größeren Zulauf verschafft. Weil er zwar die Unfertigkeit und Ungewißheit von so etwas wie „Persönlichkeit“ kennt, aber den bloßen Verzicht auf Sinnzusammenhänge für unmöglich ansieht, verknüpft er die distanzierende und die identifizierende Selbstbetrachtung in einem unabschließbaren „hermeneutischen Zirkel“, der wegen seiner Dynamik eigentlich „hermeneutische Spirale“ heißen müßte. Hier wird versucht, Sensibilität für das Nicht-Selbst, für das einen selbst verändernde, ja brüchig machende Fremde mit der Annahme einer wünschbaren „Intimität des Selbstverstehens“ zu verbinden, wie H.-G. Gadamer es genannt hat. Allerdings tendiert diese Autobiographie, wie schon Sigmund Freud moniert hat, zur Abspaltung des Banalen des äußeren Lebens und des Fremden in mir selbst durch das erzählende Ich.

29 Vgl. W. Sparn, Dichtung und Wahrheit, in: Ders. (Anm. 25), 11–32; L. Friedrichs, Autobiographie und Religion der Spätmoderne, Stuttgart 1999, bes. 16ff. 57ff. 30 Das bekannteste neuere Beispiel ist T. Moser, Gottesvergiftung, Frankfurt a.M. 1976; vgl. jetzt: Ders., Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott, Stuttgart 2003.

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IV. „Biographie und Persönlichkeit“: Die Frömmigkeit des Apostels Paulus 1. Für ein Symposium, das sich der Biographie und Persönlichkeit des Apostels Paulus widmet, scheint es mir keineswegs möglich, die Problematik der modernen Autobiographik auf sich beruhen zu lassen und sich mit einer Hagiographie oder überhaupt mit Trivialität zu begnügen – denn das wäre die Folge, weil eine Biographie in unseren Breiten und unter unseren wissenschaftlichen Bedingungen autobiographische Nicht-Naivität voraussetzt. Es scheint mir aber auch gar nicht wünschbar. In der modernen Autobiographik arbeiten sich wesentliche Aspekte des christlichen Glaubens hervor, der ja das sich zu sich selbst verhaltende autobiographische Schreiben hervorgebracht hat, das nach einer langen Frömmigkeitsgeschichte auch in die literarische Gattung „Autobiographie“ münden sollte. Dies vollzog sich freilich nicht linear, sondern zugleich im Rahmen einer kulturellen Transformation, welche die Autobiographie aus der religiösen Praxis dieses Glaubens emanzipierte. So hat man es hier mit einer zweifellos überaus produktiven, aber theologisch gesehen zugleich höchst problematischen Präsenz der christlichen Anthropologie zu tun. Die aktuelle Orientierung über die autobiographischen Bedingungen einer Biographie sollte sich daher, ohne den phänomenologischen Mehrwert der modernen Autobiographik sich wegzunehmen, dennoch deren Hintergrund oder Widerlager im Christentum bewußt machen. Das empfiehlt sich zumal für die Aufgabe einer Biographie des Christen Paulus. Das autobiographische Schreiben des christlichen Glaubens folgt nicht nur der Einsicht, daß man sein Leben nicht Eins zu Eins abbilden kann, nicht „wahrheitsgmäß“ im Sinn der seinerzeit durchweg als adaequatio intellectus ad rem verstandenen Wahrheit. Die für Personen als Selbstverhältnisse irreduzible Differenz von Subjekt und Objekt wird im religiösen Personsein zugleich realisiert als die eigens, zugleich kunstvoll und riskant organisierte Differenz von „ich“ und „mich“ – eine binäre Differenz, die nicht, einmal etabliert, alsdann objektiv vorhanden wäre, die vielmehr subjektiv, unbeschadet der lebensgeschichtlich möglichen Routinisierung des Selbstverhältnisses, stets neu aufgebaut werden muß. Das religiös bestimmte Selbstverhältnis weiß, daß die eigene Person nicht essentiell stabil, sondern labil und fragil existiert. Sie täuscht sich nicht projizierend und trivialisierend darüber hinweg, daß sie auf eine dritte Instanz angewiesen ist, welche für die unterstellte Einheit und zugleich Unterschiedenheit von „ich“ und „mich“ einsteht. Im christlichen Glauben wird Gott als diese Instanz in Anspruch genommen.

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Dieser symbolische Rekurs auf eine dritte Instanz der Personhaftigkeit, d.h. auf das Selbstverhältnis in seinem Bezug auf das Gottesverhältnis, ist seinerseits riskant, da durchaus kontingent. Denn nur wenn Gott im Christusglauben einen „neuen Menschen“ eigenen Namens schafft, der jedoch seinerseits in problematischem und antagonistischem Verhältnis mit den „alten Menschen“ existiert, dann ist die Einheit der Lebensgeschichte eine zugesprochene Einheit; der Sinn dieses Lebens ist kein Besitz, über den der Besitzer verfügen könnte. Er kann zum Teil in lebensgeschichtlicher Erinnerung verifiziert und in gläubiger Erwartung festgehalten werden, hat seinen Ort aber auch im Jenseits des irdischen Lebens, wie das Symbol des „Jüngsten Gerichts“ in Erinnerung hält. Für einen Christen ist die (ohnedies nur scheinbare) Autarkie seiner inneren Sicht auf sich gebrochen, denn er behauptet die konstitutive Rolle einer äußeren Sicht auf sich für seinen (!) Lebenssinn. Die um ein „du“, etwa im Gebet, erweiterte Relation von „ich“ und „mich“ wird zu einer dreistelligen Relation mit der Folge der ontologischen Instabilität und der konstitutiv diachron-temporalen Existenz, und dies im mitwandernden Horizont von Erinnerung und Erwartung. Insofern uns die Sicht Gottes auf uns Menschen in Gestalt des überlieferten Wortes Gottes zugänglich ist, stellt christliche Autobiographik daher immer auch Bibelauslegung dar. Das ist schon historisch leicht zu zeigen, man denke nur an die größten Beispiele, Aurelius Augustinus’ „Confessiones“ (ca. 400), Martin Luthers Einleitung zur Ausgabe der Schriften (1539), oder auch Karl Barths „Römerbrief“ (1919). Der autobiographisch wesentliche Aspekt dieser (und natürlich jeder, auch der schlichtesten) Bibelauslegung besteht darin, daß der Autor Gottes Wort als an sich gerichtet und für seine Persönlichkeit konstitutiv betrachtet; er sieht sich mithin ermächtigt, Gott für sich zu zitieren – ohne den Unterschied zwischen Gott und sich zu negieren, denn ganz im Gegenteil unterscheidet er in dieser Konstellation Grund und Gegründetes kategorial. Es ist nicht zu leugnen, daß die Hypothese des menschlichen Autors, Gott sei der (noch schreibende!) Autor seiner Lebensgeschichte31 eine anspruchsvolle und oft auch beschwerliche Steigerung der Komplexität von „Person“ darstellt. Es ist ferner nicht zu leugnen, daß dieser Subjektivierungsschub aufgrund puritanisch oder pietistisch intensivierter Selbstbeobachtung im Auslegungslicht der Bibel seinerseits wieder essentialistisch objektiviert werden konnte. Die Selbsterzählung in Tagebuch oder Brief konnte schnell gesetzlich werden, nämlich „ich“ und „mich“ in der erfolgreichen Heiligung identifizieren. Die Folge waren seinerzeit zornige oder ironische Brechungen der christlichen Autobiographie, auch die Dissoziation von (unaussprechlicher) Innerlichkeit und empirischer Psychologie. Aber wie die Last der „Dauerreflexion“ bleibt, wie Helmut Schelsky es genannt hat, so 31

Vgl. Walter Sparn (Anm. 24), 21ff; O. Bayer, Gott als Autor, Tübingen 1999, bes. 21–40.

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erneuert sich das Strukturproblem der christlichen Autobiographie jedoch unvermeidlich, solang es den „alten Adam“ und die „alte Eva“ gibt. 2. Diese Gefährdung erlaubt aber nicht, um dies erneut zu betonen, die autobiographische Bedingung christlicher Biographik zu ermäßigen. Das betrifft negativ den Essentialismus, vor dem ich im dubiosen Begriff der „Persönlichkeit“ und der ihm zuspielenden episch-teleologischen Biographik warnen zu sollen meine und vor dem auch der Begriff des Charakters nicht sicher geschützt ist. Der christliche Biograph sollte wissen, daß er nicht bloß aus Gründen stummer Quellen nur das Fragment einer Lebensgeschichte erreichen kann, sondern weil die erzählte Lebensgeschichte ihm (wie seine eigene) auch ein Geheimnis bleibt, das letztlich nur Gott ganz versteht. Positiv bedeuten die autobiographischen Bedingungen im wesentlichen dies: Der christliche Biograph sollte die gelebte Zeit seines Gegenstandes von Gottes Ewigkeit unterscheiden und daher nicht aus der abstrakt göttlichen Perspektive eines den Zeitverlauf nur begleitenden nunc stans erzählen, sondern innerhalb einer Zeitmatrix von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, einschließlich vergangener Gegenwart und vergangener Zukunft. Das hat nicht nur die Mehrperspektivität innerhalb der erzählten Lebensgeschichte zur Folge, sondern auch das Bewußtsein, daß die Biographie zu andern Zeiten vielleicht anders erzählt werden muß. Der christliche Biograph sollte sodann nicht nur das Tun und das Erleiden seines »Helden« unterscheiden, sondern, noch weniger heldenhaft, seine äußere Lebensführung und sein inneres, im Bekenntnis zugängliches Leben aus Gott, seine vita passiva. Dann wird das affektive Leben zu einem wesentlichen Bestandteil der Lebensgeschichte, nicht bloß als ihr irritierender, zu disziplinierender oder abzudrängender Untergrund, und es schließt den (verletzbar machenden) Ausdruck der Leidenschaft ein, mit der man Theologe ist. Der christliche Biograph sollte schließlich Vernunft und Sprache, d.h. die logische und die rhetorisch-stilistische Form unterscheiden, die jene beiden in konkrete Einheit bringt. Ohnedies gilt seit Martin Luther und Johann Georg Hamann: „Vernunft ist Sprache“; und weil ein christliches Leben durch Sprachhandlungen konstituiert wird, sollten die gedankliche Logik und die sprachliche Form der christlichen Biographie aus derselben Plausibilität schöpfen. Diese Biographie sollte sich nicht nur der empirischen und der kategorialen Bedingungen einer Selbsterzählung bewußt sein, sondern sollte ebendiese auch biographisch vollziehen: von Paulus so erzählen, wie er von sich selbst erzählt: coram Deo, loquente Deo. Am Apostel Paulus ist dann nicht interessant die klassisch-moderne „Persönlichkeit“, sondern sein religiöser Charakter in seiner psychischen, physischen und sozialen Erscheinung in der Zeit. Für den Charakter eines Menschen als Christ (nach dem eben Gesagten eo ipso nicht transzendental, sondern phänomenologisch gemeint) gibt es neben dem alt-neuen Wort „Spiritualität“ ein spezifisch

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reformatorisches, von Martin Luther in die religiöse Sprache eingeführtes (und leider nicht einfach übersetzbares) Wort: Frömmigkeit. Das Interesse an der „Biographie und Persönlichkeit“ des Paulus läßt sich pointieren in der Frage nach der Frömmigkeit des Apostels. Mit „Frömmigkeit“32 wird seit seinen Anfängen der Reformation ein Individuum bezeichnet, dessen Physiognomie und dessen Habitus sich so zur Erscheinung bringen, daß sie einerseits auf dieses Individuum verweisen, daß sie dies andererseits aber so tun, daß sie zugleich auf etwas anderes verweisen; sie benennen also Identität und Alterität zugleich. Anders gesagt: Ein Christ ist er selbst gerade in der Differenz zu sich selbst, nämlich durch sein Sein in Christo. Die Dynamik seiner Lebensgeschichte resultiert aus der Gegenläufigkeit der gleichzeitigen Bewegung der Identifikation in se und der Verlagerung extra se; biographisch gesagt, des Zeigens des unverwechselbar eigenen Gesichts und des Zeigens auf Christus. Eine christliche Biographie ist daher, wie die Autobiographie eines Christen, im potenzierten Sinne nur als narrativer Gestus möglich. Nun hat der Paulus (noch) keine Autobiographie geschrieben, nur Bruchstücke einer solchen – sie aber seinem Sein in Christus angemessen. Er hat die Grundsätze einer seinem Christusglauben entsprechenden Biographie klar formuliert: in den Paradoxien des „als hätte ich nicht“ (1Kor 7,29f; auch 2Kor 6,9f ) und „meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2Kor 12,9). Eine Biographie des Paulus, die seine Frömmigkeit in Wort und Tat und dies in der zeitlich sich erstreckenden Interaktion mit ihrer Umwelt beschreibt, folgt daher der Dialektik von Weisheit und Torheit christlichen Selbstseins. Obwohl diese Biographie wegen der gegebenen Quellenlage mehr Lücken aufweist als ein vollständiges Gewebe darstellt, beschreibt sie doch charakteristische Aspekte eines religiösen Charakters; sie steht deshalb in der gleichen Perspektive wie die Lebenserzählung der Exegeten selbst. Sie erzählt keine Heldengeschichte, sie rühmt an Paulus keine starke »Identität«, und ihm und sich selbst keinen „Namen“ machend, materialisiert sie den beiderseits empfangenen Christen-Namen als wahre Namen historischer Personen. Die im unendlich reflexiven, aber leibhaft-individuell endlichen Selbst liegende Nicht-Identität oder Alterität wird hier sowohl potenziert, im Kontext von Wissenschaft, als auch reduziert, in der Beschreibung von Frömmigkeit.

32 Vgl. W. Sparn, „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch gewesen!“ Überlegungen zu einem evangelischen Begriff von Frömmigkeit, in: H.A. Krop u.a. (Hg.), Post-Theism: Reframing the Judaeo-Christian Tradition, Leuven 2000, 447–465; vgl. auch B. Jaspert (Hg.), Frömmigkeit als Forschungsaufgabe, Paderborn 1995.

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Steigerung und Vereinfachung von Komplexität, das ist die Aufgabe biographischer Narration unter autobiographischen Bedingungen ohnehin.33 Für einen christlichen Biographen kann man dies dahingehend präzisieren, daß er, wie das erzählte Selbst, (1) ein Selbst in der Zeit ist, das sich immer nur wieder erzählen, nicht aber auf einen Begriff bringen läßt. Der Sinn dieses Selbst liegt nicht in einem vermeintlichen Leben an sich, sondern innerhalb einer solchen Erzählung, weil nur diese die Frage „Wer bin ich?“ mit Gott und im Maße des Irdischen fortlaufend beantwortet und bis zum Jüngsten Gericht offen hält. Der Biograph ist, wie sein Gegenstand, (2) ein komplexes Selbst im Raum, das nicht an sich mit sich identisch ist, sondern was es ist, stets in Prozessen der Intersubjektivität und Interaktion ist; Prozesse, die sich in der Polarität von Individualisierung und Sozialisierung durch Korrelation mit signifikanten Anderen abspielen, so daß die irreduzible Differenz von „in me“ und „extra me“ ins Innen des Selbst eingeschrieben ist. Der Biograph ist, wie der Apostel, (3) ein vom Geist Gottes konstituiertes Selbst, ein Bild im Sinne sowohl des Abbildes als auch des Gebildes, nämlich des Ebenbildes Gottes und der Gleichgestaltung mit Christus. „Biographie und Persönlichkeit“ des Apostels Paulus meint, wenn man die neuere kultur- und religionshermeneutische Justierung des Unternehmens „Biographik“ ansieht, nicht mehr und nicht weniger als den lebensgeschichtlich faßbaren religiösen Charakter des von Christus beauftragten Apostels. Seine „Persönlichkeit“ ist seine Frömmigkeit, wie sie sich seit der Vision vor Damaskus und speziell in seiner missionarischen Tätigkeit als Apostel entwickelt und im kontrastiven Zusammenhang mit seiner religiösen Vorgeschichte einerseits, seiner religiös-kulturellen Umwelt andererseits profiliert hat: als individuelles Christsein.

33 Eine dieser Aufgabe entsprechende und auf die christliche Frömmigkeit hin offene Anthropologie ist neuerdings überaus eindrücklich formuliert worden von P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer (Soi-même comme un autre, 1990), München 1996.

Die Persönlichkeit des Paulus in der Religionsgeschichtlichen Schule Otto Merk∗

Das mir gestellte Thema ist für die Forschergruppe, die wir vereinfacht „Religionsgeschichtliche Schule“ nennen, in mancher Hinsicht ungewöhnlich und doch zugleich eine Herausforderung gewesen.

I 1. Kontext der Fragestellung Der Begriff »Persönlichkeit« war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert weitverbreitet. Spätestens seit Mitte des 18. Jahrhunderts war er gesellschaftsfähig, wenn auch als Wort und Vorstellungsbereich bereits im 15. Jahrhundert nachgewiesen.1 Doch erst durch Immanuel Kant in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ und auch in seiner Religionskritik2 wurde er zum Gegenstand ∗ Herrn Kollegen Prof. Dr. Peter Pilhofer und Herrn cand. theol. et phil. Jörg Herrmann danke ich sehr herzlich für die freundliche technische Aufarbeitung des Manuskripts für den Druck. 1 Vgl. Art. Persönlichkeit, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 7: N.O.P.Q, bearb. v. M. Lexer, Leipzig 1889, 1567–1568 (mit zahlreichen Beispielen); Art. Person, in: F. Kluge/A. Götze, Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache, Berlin 16 1953, 554 (mit Lit.). 2 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. IV, 5. Nachdruck, Darmstadt 1983, 107–302 (passim); ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. v. K. Vorländer. Mit einer Einleitung: Die Religionsphilosophie im Gesamtwerk Kants v. H. Noack, Philos. Bibl. 45, Abdruck der 7. Auflage von 1961, Hamburg 1966, zu 1,18.19 (S. 27; vgl. 25–28 u.ö.). Vgl. z.B. auch A. Pieper, Zweites Hauptstück (57–71), in: O. Höffe [Hg.], I. Kant. Kritik der praktischen Vernunft, Klassiker Auslegungen Bd. 26, Berlin 2002, 115ff.122f.; G. Irrlitz, Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart/Weimar 2002, 306– 310 („Kritik der praktischen Vernunft“); im Überblick: M. Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003, 359ff.

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wissenschaftlicher Erörterung, wurde er in der späten deutschen Aufklärung von Bedeutung und in der Literatur, Theologie, Philosophie, Jurisprudenz, Medizin und Psychologie im 19. Jahrhundert fast schon zum Modebegriff bis hin zum gängigen Klatsch und Tratsch in der Gesellschaft um die schon erwähnte Jahrhundertwende. Im Gerede über Personen, in ihrer jeweiligen Beurteilung ging es nicht selten darum, ob diese oder jene Person auch als eine Persönlichkeit einzuschätzen sei. Person und Persönlichkeit waren in der zumeist gehobeneren Gesellschaft, die sich gerne von der Masse abhob, nicht unbedingt das Gleiche. Im wissenschaftlichen Gespräch wurde freilich in der Regel die Sachfrage differenzierter angegangen. Doch genauerhin im theologischen Bereich gilt dieses: In allen Strömungen und Lagern damals zeitgenössischer Theologie herrschte derselbe Begriff »Persönlichkeit« vor.3 Hier unterschieden sich die Vertreter der liberalen Theologie, der Konservativen und auch der Religionsgeschichtlichen Schule nach außen hin nicht. Weithin war der Begriff ausgerichtet auf die »Persönlichkeit Jesu«, wobei Person und Persönlichkeit Jesu oft identifiziert wurden. Ein Hinweis auf Albert Schweitzers klassische und in dieser Hinsicht treffende „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ mag hier genügen.4 2. Hintergrund der Fragestellung in der religionsgeschichtlichen Schule Wenden wir uns entsprechend der Themavorgabe näherhin der »Religionsgeschichtlichen Schule« zu, so soll nicht in die Erörterung eingetreten werden, wer denn überhaupt zu dieser gehörte. Festgehalten sei nur: Es handelt sich nicht um eine »Schule«, wie der von außen herangetragene Name anzeigen könnte, sondern um einen Kreis gleichgesinnter, teilweise näher untereinander befreundeter, damals junger Privatdozenten5 , die fast alle zwischen 1888 und 1900 in der Göttinger Theologischen Fakultät habilitiert wurden und „Die »kleine Göttinger Fakultät«“ innerhalb der Gesamtfakultät bildeten, wie sie E. Troeltsch bezeichnete.6 Ist auch in Einzelfällen die Zugehörigkeit bis heute nicht voll geklärt,7 so gilt doch im Hinblick auf unsere Fragestellung als gesichert, daß unter den vornehmlich Exegeten und Neutestamentlern A. Eichhorn (1856–1926); H. 3 Vgl. u.a. M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie, Gütersloh 1992, 326ff. 4 A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede, Tübingen 1906; seit 2. Aufl.: Geschichte der LebenJesu-Forschung, Tübingen 2 1913. 5 Vgl. G. Sinn, Christologie und Existenz. Rudolf Bultmanns Interpretation des paulinischen Christuszeugnisses, TANZ 4, Tübingen 1991, 5ff.11ff.24f. 6 E. Troeltsch, Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, im Wiederabdruck bei G. Lüdemann/M. Schröder (s. Anm. 8), 22f. 7 Vgl. die einschlägigen Artikel „Religionsgeschichtliche Schule“ in RGG, 1.–3. Aufl.; zuletzt F. Hartenstein/H.D.Betz, Art. Religionsgeschichtliche Schule, RGG4 , Bd. 7, 2004, 321–326;

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Gunkel (1862–1932); W. Wrede (1859–1906); J. Weiß (1863–1914); W. Bousset (1865–1920); W. Heitmüller (1869–1926) gehören, und daß E. Troeltsch (1865–1923) und in gewissem Sinne R. Otto (1869–1937) die Systematiker dieser Forschungsrichtung waren.8 Man geht nicht fehl, die große Zeit der Religionsgeschichtlichen Schule von 1890–1920 anzugeben, ihre Nachwirkung/Wirkungsgeschichte reicht bis heute. Fast alle Vertreter waren ursprünglich Schüler A. Ritschls (1822–1889) und mit dessen liberaler Theologie zunächst verbunden. Alle aber erkannten die exegetische Einseitigkeit des Lehrers mit ihren nicht hinreichenden Folgerungen. – Andere diesen jungen Privatdozentenkreis begleitende, aber auch weiterführend herausfordernde akademische Lehrer waren P. de Lagarde (1827–1891); B. Duhm (1847–1928); J. Wellhausen (1844–1918) in Göttingen, dazu A. Harnack (1851–1930), den M. Rade 1913 „als unfreiwilligen Schöpfer der rg. Sch. [sc. religionsgeschichtlichen Schule]“ bezeichnete;9 aber auch A. Jülicher (1857–1938) und R. Reitzenstein (1861–1931). Am Beginn und im Verlauf der »Religionsgeschichtlichen Schule« stand für diese Gruppe „eine durchaus innertheologische Entwicklung“, „deren eigentliches und letztes Bestreben die Religion selber in ihrer Tiefe und Breite zu erfassen“ Anliegen und Ziel war.10 „Es stünde schlimm um die religionsgeschichtliche Schule und ihre Bedeutung für die Theologie, wenn sie ihr Augenmerk einseitig auf die Einwirkungen anderer Religionen gerichtet hätte . . . Religionsgeschichte treiben heißt“ für ihre Vertreter „in erster Linie die Geschichte der eigenen Religion

G. Lüdemann/A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, TRE 28, 1997, 618–624; G. Sinn (s. Anm. 5), 11ff.37–111. 8 Mit den in Anm. 7 Genannten vgl. z.B. H. Gressmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, bes. 25ff.; W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, OA III/3, Freiburg/München 2 1970, 310ff. u.ö.; O. Merk, Art. Bibelwissenschaft. II. Neues Testament, TRE 6, 1980, 375ff., hier: 386ff.; G. Lüdemann/M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987; G. Lüdemann, Die Religionsgeschichtliche Schule, in: B. Moeller [Hg.], Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttinger Univ. Schriften, Ser. A Bd. 1, Göttingen 1987, 325–361; ders., Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: H.M. Müller [Hg.], Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 78–107; ders., Die Religionsgeschichtliche Schule und ihre Konsequenzen, ebd., 311–338; ders./A. Özen (s. Anm. 7), 618ff. mit weiterer Lit.; G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart. Studien zu Geschichte und Methode des religionsgeschichtlichen Vergleichs in der neutestamentlichen Wissenschaft, Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte Bd. 7, Leipzig 2001 (passim; bes. 227ff.255ff.). Im Übrigen vgl. Lit. in Anm. 7. 9 Nach M. Rade, Art. Religionsgeschichte und Religionsgeschichtliche Schule, RGG1 , Bd. IV, 1913, 2191. 10 So H. Gunkel, Die Richtungen der alttestamentlichen Forschung, ChW 36, 1922, 64ff. hier: 66.

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verfolgen.“11 Zuvor schon hatte H. Gunkel erklärt: „Unsere historische Kardinalüberzeugung ist, dass wir nicht im stande sind, eine Person, eine Zeit, einen Gedanken zu verstehen, abgelöst von ihrer Vorgeschichte“, um dann gegenüber manchen Mißverständnissen/Fehldeutungen für das Neue Testament festzuhalten: „Demgegenüber soll hier ... festgestellt werden, dass die Untersuchung des N.T. selbst das eigentliche Thema der neutestamentlichen Forschung ist und bleibt.“12 Nicht geht es darum, Literarkritik in weitere Verästelungen hinein zu führen,13 so notwendig es ist, „die Wandlung der Texte zu verfolgen“, „Varianten“ aufzuspüren. Das ist der Einstieg, um dann – wie A. Eichhorn es meint – „die Entwicklung der Religion“ zu »rekonstruieren«, genauerhin „die inneren Triebkräfte“, Umgestaltung und Überlieferung in den Blick zu bekommen, und das „heißt . . . nichts anderes als mit dem Begriff der Geschichte vollen Ernst (zu) machen.“14 „Je feiner der historische Sinn und die historische Methode ausgebildet ist, desto besser vermag man zu erkennen, wo eine stetige geschichtliche Entwicklung vorliegt, und wo dies nicht der Fall ist.“15 Aber war in dem Bemühen, die Geschichte der eigenen Religion grundlegend historisch zu erfassen nicht angelegt, vielleicht sogar vorgegeben, auch die Persönlichkeiten der eigenen Religion zu eruieren? Hier ist ein weiteres Grundanliegen der Religionsgeschichtlichen Schule einzubeziehen: Indem diese sich den Pseudepigraphen und Apokryphen – entgegen der Konstruktion A. Ritschls, der sie völlig überging, – maßgebend zuwandte, befaßte sie sich mit einer Welt, in der es ihrer Meinung nach „der schöpferischen Persönlichkeiten ermangelte.“16 Dies läßt z.B. auch der nicht zur Religionsgeschichtlichen Schule gehörende P. Fie-

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So H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 29f. Vgl. auch H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, FRLANT 1. Heft, Göttingen 1903, 10f. 13 H. Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und ApJoh 12. Mit Beiträgen von H. Zimmern, Göttingen 1895, 209 Anm. 3: „Literarkritische Arbeiten haben natürlich ihr gutes Recht; aber ihre Resultate werden meist nur dann gesichert werden, wenn sie . . . in den Rahmen religionsgeschichtlicher Betrachtung eingestellt werden. Jedenfalls aber darf alle Literarkritik nur als Vorarbeit angesehen werden; sie hat nur so viel Wert, als sie zum historischen Verständnis der betreffenden Schrift beiträgt und dadurch an ihrem Teile die eigentliche Aufgabe aller biblischen Untersuchungen dh die Erkenntnisse der Religionsgeschichte fördert.“ Zu weiterem vgl. O. Merk, Art. Literarkritik. II. Neues Testament, TRE 21, 1991, 222–233. 14 H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 17.35; A. Eichhorn, Das Abendmahl im Neuen Testament, Hefte zur „Christlichen Welt“ Nr. 36, Leipzig 1898, 14f.28ff. 15 A. Eichhorn, Abendmahl, 30. 16 H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 37f. 12

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big indirekt zumindest in seinem Artikel „Pseudepigraphen des A.T.s“ in RGG1 (1913) erkennen.17 Geht man unter unserer Fragestellung der Religionsgeschichtlichen Schule nach, zeigt sich hier ein Dilemma, das in ihr durchaus gesehen wurde und dem man zu entgehen suchte. Gewiß wollte man vornehmlich Altes und Neues Testament und die zwischentestamentliche Literatur erfassen, aber es richtete sich dabei notwendig der Blick auf die Umwelt des Vorderen Orients ebenso wie auf die klassische und hellenistische Antike. Und da es ebenso selbstverständlich nicht einfach um das Sammeln von Parallelen/Analogien ging, wogegen sich die Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule immer wieder gegen ihre Kritiker mit Recht verwahrt haben, mußte aber doch ein für sie maßgebender Gesichtspunkt deutlich gemacht werden. Das Herausarbeiten geschichtlich eruierbarer Zusammenhänge und Entwicklungen, von Kontinuitäten und Diskontinuitäten – eine in der Religionsgeschichtlichen Schule zentral gewordene, wissenschaftlich auszuwertende Begrifflichkeit – führte zu der Einsicht, daß nicht selten „große Persönlichkeiten“ sich als „Herren der Überlieferung“, „der einheimischen wie der fremden“ erwiesen,18 ja daß – weit gefaßt – die Erforschung von „Volksglaube(n)“ und Synkretismus immer wieder auf »Persönlichkeiten« im Hintergrund stößt. „Die religionsgeschichtliche Schule“ – so Greßmann vor allem im Hinblick auf ihre Exegeten – „ist zwar überzeugt, daß die großen Männer mit der Umwelt ihres Volkes aufs engste zusammenhängen, aber sie leugnet darin ihre Selbständigkeit und Größe keineswegs.“19 Gerade diese Forschungsrichtung, die „den Nachdruck auf“ die „Religion . . . im Unterschied“ zu „Dogma und Kirche“ legte, bezog diesen Begriff „auf die persönliche Frömmigkeit des Einzelnen und vor allem der großen Männer.“20 Und Gunkel hielt schon 1895 in seiner Untersuchung der Apokalypse des Johannes fest, „dass selbstverständlicher Weise das älteste Christentum, aber auch das Judentum lebendige Religionen sind, mit selbständigen religiösen Bedürfnissen, in denen ein Buch zwar viel, geschichtlich aber nicht alles bedeutet. Grade das Lebenskräftige, geschichtlich Wirksame, dh das Bedeutsame in ihnen, so sehr es auch durch die Lektüre der »Schrift« genährt oder wenigstens beeinflusst sein mag, hat seinen letzten Grund nie in dem Buche, sondern in den Personen, ihren Erfahrungen und Erlebnissen, und in der Geschichte, in der sie wurzeln.“21 17

P. Fiebig, Art. Pseudepigraphen des A.T.s, RGG1 , Bd. IV, 1913, 1952–1964. H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 46 vgl. 42ff. 19 H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 47. 20 H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 29. 21 H. Gunkel, Schöpfung und Chaos (s. Anm. 13), 238; ders., Zum religionsgeschichtlichen Verständnis (s. Anm. 12), 11f. 18

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Das führt noch einen Schritt weiter: Es geht darum, „das Individuelle nicht zu vergewaltigen,“22 und das verlangt nach einer reflektierten „psychologischen Methode.“23 Das lebhafte Interesse der Religionsgeschichtlichen Schule an der zu Ende des 19. Jahrhunderts aufblühenden Psychologie als Forschungszweig24 verband sie einerseits mit den theologischen Strömungen der Zeit, unterschied sie aber andererseits dadurch, daß sie die psychologische Zuhilfenahme der streng historischen Entwicklung der Erforschung religionsgeschichtlicher Sachverhalte unterordnete. Aber auch psychologische Fragestellungen dienten in der Religionsgeschichtlichen Schule dazu, Möglichkeiten und Grenzen dessen aufzudecken, was »Persönlichkeit« ausmacht.

II Die Durchsicht der einschlägigen Schriften läßt es zu, die Fragestellung vor allem an den Forschungen von William Wrede und Wilhelm Bousset zu dokumentieren, wobei auch andere Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule – wie etwa Johannes Weiß und Wilhelm Heitmüller – mit erwähnt werden. 1. William Wrede In vornehmlich drei Abhandlungen hat Wrede25 auch unsere Fragestellung aufgegriffen: In „Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie“, Göttingen 1897 [folgende Seitenangaben entsprechen dem Nachdruck bei G. Strecker [Hg.], Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, WdF CCCLXVII, Darmstadt 1975, 81–154]; „Paulus“, Religionsgeschichtliche Volksbücher 1,5.6, Halle 1904; 2. Auflage, Tübingen 1907 mit einem einführenden Geleitwort von W. Bousset „William Wrede. Zur zweiten Auflage von Wredes 22

In etwas anderer Ausrichtung bei H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 46f. H. Gressmann, A. Eichhorn (s. Anm. 8), 43. 24 Vgl. instruktiv J. Wendland, Art. Psychologie. Allgemeines, RGG1 , Bd. IV, 1913, 1973– 1976; vgl. auch W. Bousset als Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, in: „Der religiöse Liberalismus“, in: L. Nelson u.a. [Hg.], Was ist liberal?, München 1910, 21ff. hier bes. 22: „. . . Historie und Psychologie sind für den modernen religiösen Liberalismus Labyrinthe geworden, in denen er sich zu verirren droht“ [vgl. auch Verheule (s. Anm. 30), S. 372]. 25 Zu W. Wrede zuletzt mit reichen Lit. Angaben W. Zager, Art. Wrede, William, TRE 36, 2004, 337–343; darüber hinaus W. Baird, History of New Testament Research, Vol. 2, Minneapolis 2003, 144–151; O. Merk, Art. Wrede, W., RGG4 , Bd. 8 2005, 1713; aus der Zeit der Religionsgeschichtlichen Schule noch immer herausragend: A. Jülicher, Art. W. Wrede, PRE, Bd. 21, 1908, 506–510; ders., Einleitung in das Neue Testament, GThW, IV, 1, 5.6 Tübingen 1906, 48 zu Wredes »Die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes«, TU, N.F. IX 2, 1903, was als grundsätzliche Feststellung zu Wredes Forschung gelten kann: „Muster einer von jeder advokatorischen Zutat freien, gründlichen und wahrhaft positiven Kritik, aber die Grenzen des bei Paulus Möglichen werden mit eisernen Pfählen abgesteckt.“ 23

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»Paulus«“, 3* –10* [nach dieser Ausgabe wird zitiert]; „Die Entstehung der Schriften des Neuen Testaments“. Vorträge, Lebensfragen 18, Tübingen 1907 [Die Vorträge wurden 1904 gehalten].26 In seinem genau vor hundert Jahren erschienenen Paulusbüchlein (1. Aufl.) schreibt Wrede im Vorwort: „Die folgende Darstellung beabsichtigt nicht eine Lebensgeschichte des Paulus zu geben, sondern seine Persönlichkeit, Wirksamkeit, Religion und geschichtliche Bedeutung zu charakterisieren.“ Dieser eine Satz faßt bereits zusammen, was Wrede sowohl unter „Persönlichkeit“ versteht als auch, in welchem Sinn Paulus eine solche ist. In seiner Untersuchung zur sog. ntl. Theologie (1897) hat er es bereits dargelegt: An sich sind Persönlichkeiten als Schriftsteller im Neuen Testament nicht von Belang, wohl aber kann ein einzelner dann als »Persönlichkeit« angesehen werden, „wenn er mit seinen Gedanken epochemachend auf die Kirche gewirkt hat“ (109). Deshalb muß „die Bedeutung der wenigen schöpferischen oder hervorragenden Persönlichkeiten . . . durch besondere Darstellung ihrer individuellen Anschauungen gewahrt bleiben“ (115f.). Dieser Hinweis verlangt nach Wrede der methodischen Vergewisserung. Die religionsgeschichtliche Einordnung und Erklärung des frühen Christentums ist unter anderem darin ein Gegensatz zum liberalen theologischen Verstehen, daß sie gerade nicht wie jene leichthin von »Persönlichkeit(en)« sprechen kann. Auch historisch eruierbare Gestalten wie Paulus stehen im Strom religionsgeschichtlicher Überlieferung. Wrede hält fest: „Daß wir bei diesem Erklären und historischen Analysieren die Bedeutung der Persönlichkeiten, z.B. die Bedeutung eines Paulus verkennen müßten, fürchte ich nicht. Weshalb sollte man nicht anerkennen können, daß die Eigenart und die Arbeit des Individuums selbst vieles erklärt, was ohne sie nicht erklärt werden kann? Ich glaube, die erklärende Methode [sc. gemeint ist die religionsgeschichtlich erklärende Methode] wird uns am gehörigen Ort die Bedeutung der Persönlichkeit in der denkbar schärfsten Beleuchtung zeigen. Nur hören wir auf, den einzelnen schon darum zum Schöpfer eines Gedankens zu machen, weil wir ihn zufällig zuerst bei ihm finden, und ferner aus der Persönlichkeit begreifen zu wollen, was nun einmal nicht aus ihr begriffen werden kann“ (127). „Konkrete Anschauungen werden zum wenigsten niemals allein aus noch so ausgeprägter Eigenart der Persönlichkeit verständlich“ (127f.). Ohne Erhellung des religionsgeschichtlichen Hintergrundes wird nicht der „Grund“ deutlich, „weshalb sich die Eigenart gerade in diese bestimmten Anschauungen ergießt“ (128). Das eingehend die geschichtliche Situation bedenkende Verfahren, die relig.gesch. Methodik ist notwendig, um konkret eigene Entscheidungen von Personen zu würdigen, etwa des Paulus Missionstheologie, 26 Die Seitenzahlen im fortlaufenden Text besagen: Ohne verkürzte Titelangabe = Aufgabe und Methode der sog. Neutest. Theologie; Pls1 ; Pls2 = erste bzw. 2. Auflage der Paulusschrift; Entst. = Die Entstehung der Schriften des NTs.

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seine im missionarischen Handeln entfaltete Rechtfertigungstheologie, die ihn als Persönlichkeit erkennen lassen. Das Proprium paulinischen Denkens und Handelns macht den Apostel zur Persönlichkeit (vgl. ebd. 128–132). Aber mit derselben streng historischen religionsgeschichtlichen Methodik läßt sich auch die Begrenzung des Propriums paulinischen Denkens erheben (z.B. 140), ja deutlich machen, wieviel Dunkles, nämlich nicht Deutbares bei einer solchen Persönlichkeit wie Paulus bleibt, von der wir mehr als über andere auch chronologisch und geographisch ermitteln können (136f.). „Eine Tatsache“ aber ist – so Wrede – nicht umzustoßen: „die Tatsache, daß Paulus in der Geschichte des ältesten Christentums die epochemachende Gestalt ist. Er ist nicht nur die mächtigste religiöse Persönlichkeit. Er hat durch seine Missionstätigkeit die Physiognomie der ganzen Kirche entscheidend verändert . . . Er ist . . . der Schöpfer einer christlichen Theologie. An dieser Gestalt, die deutlicher vor uns steht als Jesus selbst, hat man sich also zu orientieren“ (138). Damit ist unter unserer Fragestellung ein Stichwort gefallen: Kann man nach Wrede von einer Persönlichkeit Jesu reden? So gewiß er diese Ausdrucksweise gebraucht, historisch und theologisch verantwortet kann weder „die Predigt Jesu . . . als eine eigentliche Lehre dargestellt werden“ noch die „Persönlichkeit Jesu“, so wenig wie der „erkennbare(n) Verlauf seines Lebens“ (135). „Ipsissima verba von Jesus haben wir nicht . . . ; wir wissen über Jesus nur durch spätere Darstellungen . . . , das Bild der Persönlichkeit wie der Predigt Jesu“ ist – wie nicht nur der synoptische Vergleich zeigt – „von zahlreichen späteren Anschauungen und Auffassungen überzogen und getrübt“ (136). Schon in seinen Erwägungen zur sog. ntl. Theologie ist sein Werk „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien . . . “ (1901) sachlich vorprogrammiert und in seinem „Paulus“ (1 1904) bildet das genannte Werk die Grundlage zum Verstehen der »Jesus-Paulus-Debatte«. Letztlich geht es um die Unvereinbarkeit der beiden »Persönlichkeiten«, wobei zu bedenken ist, daß nach Wrede die „Predigt Jesu . . . sich nicht lösen (läßt) von der Persönlichkeit Jesu und vom erkennbaren Verlauf seines Lebens“ (135), eine Feststellung, in der er H.J. Holtzmann folgt (135, Anm. 64). Das bestätigt die christologische Grundaussage des Paulus, wie Wrede diese in seinen Vorträgen über „Die Entstehung des Neuen Testaments“ (Jan./Feb. 1904; im Druck 1907) kennzeichnet: „Im Mittelpunkt seiner [sc. Pauli] Gedanken steht die Person Christi, aber es ist nicht das Leben Jesu, nicht seine Worte, seine Lehre, nicht seine erhabene Persönlichkeit in ihrer Reinheit, Liebe und Frömmigkeit, worauf es ihm ankommt. Das ist für ihn ganz untergeordnet. Vielmehr ist ihm Christus ein göttliches Wesen, das vom Himmel auf die Erde gestiegen ist und Menschengestalt angenommen hat, und außer dieser Menschwerdung kommt es ihm eigentlich nur auf zwei Dinge an: auf den Tod Christi am Kreuz und auf seine Auferstehung“ (Entst., 18). Im Paulus-Buch wird noch verdeutlicht, daß

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Paulus für diese „der Begriff der Persönlichkeit, der menschlichen Individualität“ fehlt. „Daher bleibt für uns die Menschheit Christi, wie er sie denkt, ein unbegreifbarer Schemen“ (Pls2 , 55). Damit wir es nicht mißverstehen: Wrede denkt keineswegs gering von der „erhabene(n) Persönlichkeit“ Jesu (Entst., 18), aber sie ist uns historisch und kritisch bei allem Bemühen um Rekonstruktion nicht faßbar. Im Hintergrund steht die Kritik am Jesusbild seiner Zeit. Wredes Orientierung am Apostel ist aus seiner Eruierung der »Persönlichkeit« des Paulus genommen und methodisch begründet nicht auf ein »Leben Pauli« ausgerichtet. Auch das »Ich« in Röm 7 zielt nicht auf das Leben des Apostels. Es ist nach Wrede allgemein gefaßt und nicht das persönliche Ich des Paulus. „Das Ich ist der unerlöste Mensch überhaupt; sein Elend wird gemalt, und zwar darum so besonders düster, weil Paulus vom Standpunkt der Erlösung redet“ (Pls2 , 83). Wenn Wrede abschließend in seinem Paulus-Buch Paulus als den „zweiten Stifter des Christentums“ bezeichnet, weiß er um den primären. Und wenn Wrede charakterisiert: „dieser zweite Stifter der christlichen Religion hat ohne Zweifel gegenüber dem ersten im ganzen sogar den stärkeren – nicht den besseren – Einfluß geübt“ [Pls2 , 104], so ist diese Feststellung nicht ohne die Ergebnisse kritischer Erforschung der Persönlichkeit des Paulus getroffen. Hier ist auch zumindest das I. Kapitel dieses Buches rekapituliert und doch Umfassenderes gemeint. Entscheidend ist „der objektive Abstand der paulinischen Lehre von der Predigt Jesu“ (Pls2 , 92), den Paulus als Persönlichkeit denkerisch und theologisch bewältigt. Er bekommt in den Griff, daß zwischen Jesus und ihm die an Christus glaubende Urgemeinde liegt, wie forschungsgeschichtlich gesehen noch präziser als Wrede A. Jülicher nachweist27 und W. Heitmüller dahin erweitert, daß Urgemeinde und hellenistische Gemeinde den Abstand von Paulus zu Jesus historisch aufdeckt28 und daß dies theologische Konsequenzen zeitigt: Mit Paulus ist „der Schritt von der Religion zur Theologie“ vollzogen (Pls2 , 102). „Bei Jesus zielt alles auf die Persönlichkeit des Einzelnen“ (Pls2 , 93). Paulus ist darum eine Persönlichkeit, weil er Religion und Theologie so umgreift, „daß er das Christentum zur Erlösungsreligion gemacht hat“ (Pls2 , 103), daß er die „Heilstaten, die Menschwerdung, den Tod und die Auferstehung Christi, zum Fundamente der Religion gemacht hat“ (Pls2 , 103). Gegen die liberale Theologie der Zeit gerichtet gilt, so Wrede:

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A. Jülicher, Paulus und Jesus, RV 1. Reihe, 14. Heft, Tübingen 1907. W. Heitmüller, Zum Problem Paulus und Jesus (urspr. ZNW 13, 1912, 320–337), wiederabgedruckt in: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, in Verbindung mit U. Luck hg. v. K.H. Rengstorf, WdF XXIV, 1964, 124–143, hier: 124ff.131ff.; vgl. auch F. Regner, »Paulus und Jesus« im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des Themas »Paulus und Jesus« in der neutestamentlichen Theologie. Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 30, Göttingen 1977, 147ff. 28

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„Der Grund: er [sc. Paulus] denkt bei seiner Lehre gar nicht an das Individuum und die psychologischen Prozesse in ihm, sondern stets an die Gattung, die ganze Menschheit. Das Sterben mit Christus ist ein allgemeines Faktum, das sich an allen Gläubigen gleichmäßig vollzieht, kein mit besonderen Erfahrungen und Empfindungen verbundenes Erlebnis der einzelnen Seele“ (Pls2 , 67). Ist erkannt, daß nach Wrede die Persönlichkeit des Paulus Religion und Theologie umgreift, ist abrundend das I. Kapitel des Paulus-Buches näher einzubeziehen. Es trägt die Überschrift „Die Persönlichkeit“, und ist so abgefaßt, daß es auf die weiteren Kapitel („Das Lebenswerk“, „Die Theologie“, „Die Stellung des Paulus in der Geschichte des entstehenden Christentums“), diese im Vorgriff integrierend, hinzielt (Pls2 , 1–27), so wie die späteren Kapitel die Persönlichkeit des Paulus noch in weiteren Zügen beleuchten. Das Kapitel behandelt drei Fragestellungen „1. Jugend. Bekehrung“; „2. Grundzüge des religiösen Charakters“; „3. Menschlich-sittliche Individualität“. Es ergibt sich im Überblick: Die historisch eruierbaren anerkannten Briefe des Paulus zeigen „eine geschlossene, originale Persönlichkeit als Verfasser“ (Pls2 , 3); diese Briefe waren „bei ihrer Entstehung keine literarischen Produkte, sie waren rein persönliche Äußerungen für kleine Kreise mit dem ganzen Gelegenheitscharakter wirklicher Briefe“ (Pls2 , 97), an Christen geschrieben, vor allem aber geschrieben nach der „Bekehrung“, dem Geschehen, in dem Paulus bewußt wurde: „Der Gekreuzigte ist lebendig, also ist er der Messias. Dieser Augenblick entschied über sein Leben“ (Pls2 , 8). Einzelheiten können und sollen nicht hinterfragt werden. „Weit wichtiger, ja geradezu fundamental für das Verständnis seiner ganzen Arbeit und schließlich der Persönlichkeit selbst ist etwas Anderes: Paulus wußte sich verpflichtet; verpflichtet durch einen göttlichen Spezialauftrag“ (Pls2 , 14), darauf ausgerichtet: „Die Person geht ganz in der Sache auf“ (ebd.). Paulus war vor seiner Bekehrung Theologe und ist es geblieben (eine der Grundthesen von Wredes Paulus-Buch) (vgl. z.B. Pls2 , 73). Nicht auszumachen ist, ob Paulus nach seiner Bekehrung gleich Heidenmission betrieb – wahrscheinlich erst später. Diese Persönlichkeit des Paulus – und das trifft ganz seine Person – hat ein unansehliches Äußeres (Pls2 , 25) und ist von Krankheit gezeichnet, aber wie er besonders sein Leiden bewältigt, zeigt ihn als Persönlichkeit (Pls2 , 17). Inwieweit mit seiner Krankheit auch Visionen zusammenhängen, kann man erörtern, erheben läßt sich nur: „In seiner Persönlichkeit lagen . . . starke Elemente, die dem Überfluten des Schwärmerischen einen Damm entgegensetzten: vor allem der auf die Tat gespannte Wille, aber auch der scharfe Blick auf die wirklichen Dinge in seinem Gesichtskreise und die Fähigkeit verständigen Denkens“ (Pls2 , 18). Paulus ist eine starke religiöse Persönlichkeit, das spiegeln seine Briefe. Hier grenzt Wrede deutlich gegen die Sicht der liberalen Theologie ab – aber „darf man in

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gleichem Sinne auch von einer ethischen Persönlichkeit reden?“ (Pls2 , 20.66).29 Wrede bestreitet dies in seinem Paulus-Buch vehement, „so sicher Paulus auch unter den großen sittlichen Charakteren ein hoher Platz gebührt“ (Pls2 , 20). Dabei gibt Wrede unumwunden zu: „Jedenfalls ist es ziemlich schwer, ein volles, die feineren Züge fassendes Bild der sittlichen Individualität des Paulus zu gewinnen“ (Pls2 , 21). Auch im Blick auf Paulus gilt: „Briefe spiegeln die Persönlichkeit des Verfassers, aber Briefe täuschen auch darüber“ (ebd.). Briefe zeigen die „Persönlichkeit“ in dem „Licht, in dem sie sich selber sieht und in dem sie gesehen zu werden wünscht. Ein aktiver Charakter wie Paulus gibt sich ferner nur im Handeln deutlich zu erkennen . . . . Urteile Mitlebender über die Handlungen wie die Persönlichkeit fehlen fast ganz“ (ebd.). Insgesamt „empfangen wir“ – trotz des Philipperbriefes – „nicht gerade den Eindruck einer hervorragenden natürlichen Güte“, so verständlicherweise er „mit der ganzen Macht und Leidenschaft seiner Persönlichkeit . . . seine eigentlichen Gegner“ „trifft“ (Pls2 , 22). „Spuren einer gewissen Biegsamkeit“ kennzeichnen des Paulus Briefe, „man darf wohl sagen Politik, die ungünstiger Deutung eine Handhabe bot“. Man hat „kaum einen ganz angenehmen Eindruck“ (Pls2 , 24). Wrede will zwar „nicht aufbauschen; aber wer so schreiben kann, der hat auch in andern Fällen um der Wirkung willen ein Wort zu viel gesagt, kleine Kunstgriffe angewendet, ein wenig gefärbt und sich akkomodiert“(Pls2 , 25). Selbst der Philemonbrief zeigt „eine gewisse Berechnung“ (ebd.). „In seiner Mischung von Herzlichkeit und Verbindlichkeit, Vertraulichkeit und Zurückhaltung ist das Billet . . . das Feinste, was wir in dieser Art von der Hand des Paulus besitzen.“ Es zeigt „unübertrefflich, wie der bei aller Wucht seiner Persönlichkeit außerordentlich fein organisierte Mann auf Menschen einzudringen versteht“ (Pls2 , 25). Paulus hat verschiedene Seiten an den Tag gelegt. Er „scheint . . . kein ganz liebenswürdiges Naturell gehabt zu haben, so gewinnend er sein konnte und oftmals war“ (ebd.). Diese herbe, fast mit den Augen seiner Gegner gegebene kritische Beurteilung der Persönlichkeit des Paulus zielt bei Wrede auf einen Punkt: „Nicht einen Heiligen haben wir geschildert, sondern einen Menschen“ (Pls2 , 26). Es ist für Wrede keine Abmilderung, wenn er das zuvor Gesagte dem „leidenschaftlichen, reizbaren Temperamente“ des Paulus zuschreibt, der „die eigne Person völlig mit Gottes Sache identifizieren“ und daran sein Verhalten messen will (Pls2 , 26). „Seine Theologie ist seine Religion“ (Pls2 , 48). Wollte man Paulus zu einer harmonisch ausgeglichenen Persönlichkeit stilisieren, wäre dies eine falsche Verklärung. Das vielmehr macht seine Persönlichkeit aus: „Paulus kann es vertragen, daß man“ 29 Im Verlaufe seiner Ausführungen resümiert und erweitert Wrede diese Kritik: „Wir haben mehrfach eine einseitig ethische Deutung der paulinischen Lehre abgelehnt. Daß sie so herrschend geworden ist, erklärt sich eben auch daraus, daß man den Abstand des modernen Denkens von dem des Paulus nicht erkennt“ (Pls2 , 66).

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seine Schwächen „nicht zudeckt“ (Pls2 , 26). Auf diese Gesamtcharakterisierung kommt Wrede am Schluß seines Buches noch einmal zurück: „Daß er [sc. Paulus] religiös wie geistig und moralisch eine außerordentliche Persönlichkeit war, hat ihn befähigt, seine Lebensleistung zu vollbringen; ebensosehr freilich auch, daß er nicht auf normalem Wege Christ wurde“ (Pls2 , 105). Zusammenfassend ergibt sich: „Die Gestalt des Paulus in einer rein geschichtlichen Betrachtung zu erfassen und zu würdigen“ (Pls2 , 106), war die Aufgabe, die sich Wrede gestellt hatte. Das heißt für ihn: „rein geschichtlich“ ist die Persönlichkeit des Paulus nicht biographisch verrechenbar. Dieser Persönlichkeit, eben Paulus selbst, ist nach Wrede nur gerecht zu werden, wenn das theologische Denken des Apostels einbezogen ist. Paulus ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit, weil sein Menschsein aus seinem theologischen Denken zu erfassen ist, das Wrede darum auch nicht an den Fixpunkt seiner Bekehrung zum Christen allein oder überwiegend festmachen möchte, auch wenn an dieser des Paulus Christologie haftet. Die eminent geschichtliche Fragestellung Wredes bringt letztlich den Nachweis, daß historische Eruierung als Verstehen der Persönlichkeit des Paulus dessen Ringen um Theologie als Basis seines Lebens einschließt und daß ohne diesen für Paulus existentiellen Bezug nicht von ihm als Persönlichkeit geredet werden kann. Natürlich weiß Wrede Paulus als Person in seine Zeit einzuordnen und ihn betreffende Daten zu rekonstruieren [vgl. W. Boussets Geleitwort (Pls2 , 8* .9* , passim)], übrigens noch ohne die Kenntnis der Gallioinschrift, die erst im Jahre 1905, also nach Erscheinen des Paulus-Buches, gefunden wurde. Aber das genügte ihm nicht, es bleibt ihm einseitig. Denn geschichtliches Verstehen ist nach Wrede – und damit spricht er als Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule für seine Mitstreiter – immer zugleich theologische Aufarbeitung. Daß in der Religionsgeschichtlichen Schule Person und Persönlichkeit des Paulus unterschieden wurden, ist dafür beredter Ausdruck. 2. Wilhelm Bousset W. Boussets30 Beitrag zu unserer Fragestellung hat verschiedene Aspekte. Um diese zu erkennen, bedarf es einiger Hinweise. Als im Jahre 1892 Johannes Weiß in wissenschaftlich-kritischer Distanz zu seinem Schwiegervater A. Ritschl die Schrift „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ publizierte (Göttingen, 67 Seiten) und in ihr die eschatologische Reich-Gottes30 Zu W. Bousset vgl. A. F. Verheule, Wilhelm Bousset. Ein theologischer Versuch, Amsterdam 1973; H. Gunkel, Wilhelm Bousset. Gedächtnisrede, Evang. Freiheit 20, 1920, 141–162 (Sonderdruck, 3–28); O. Merk, Wilhelm Bousset (1865–1920)/Theologe, in: ders., Wissenschaftsgeschichte und Exegese, hg. v. R. Gebauer, M. Karrer u. M. Meiser, BZNW 95, Berlin 1998, 159–174 (Lit.); W. Baird, History (s. Anm. 25), 243–251.

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Verkündigung herausstellte,31 reagierte darauf noch im selben Jahr W. Bousset mit einer gegenteiligen Darstellung, die Jesus weiterhin im Sinne liberaler Theologie erfaßte.32 Noch Jahre später in seinem Jesus-Buch 190433 bleibt nach Bousset Jesus eine Persönlichkeit, wie ihn die liberale Theologie einschätzte. Auf gewisse Einschränkungen in dieser Sicht wird noch hinzuweisen sein. Er trifft sich darin weithin mit Joh. Weiß, als dieser in der 2. Auflage seines genannten Buches im Jahre 1900 fast ausschließlich in liberale Bahnen zurücklenkte. Das Persönlichkeitsbild der Liberalen war trotz aller Kritik Wredes bei verschiedenen Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule fest verankert. A. Ritschls Erbe trug weiterhin Früchte. Und dennoch unterschied sich Bousset von Joh. Weiß dadurch, daß er religionsgeschichtlich einen Weg von der „Volksreligion zur Individualreligion“ aufdeckte und anhand seiner – wie es damals hieß – Forschungen zum Spätjudentum zu dem Ergebnis kam, daß Jesus von Nazareth der Gipfel dieser Entwicklung und geradezu neuschöpferisch individuelle Persönlichkeit sei: es „strahlt aus unsern Evangelien das ungeheure autoritative Bewußtsein der Persönlichkeit Jesu.“34 Hinzu kommt ein weiteres. W. Bousset war – mit verschiedenen seines Freundeskreises – ein großer Verehrer des schottischen Theologen und Schriftstellers Thomas Carlyle (1795–1881), eines Gelehrten, dessen Herausarbeitung der führenden Persönlichkeit in der Geschichte, ja einer Heldenverehrung im geistesgeschichtlichen Denken im 19. Jahrhundert auch in Deutschland Bahn brach. Ihm widmete Bousset schon 1897 eine grundlegende Abhandlung35 , und in einer der letzten Vorlesungen Boussets im S.S. 1919 heißt es: Carlyles Werk „»Helden und Heldenverehrung«“ deckt auf, „wie die Menschheit von ihren Großen langsam emporgeführt wird zu Gott. Die Verehrung Jesu ist ein Fall unter vielen. Von allen der höchste ist Jesus von Nazareth. Der höchste Fall in einer Reihe von vielen Fällen.“36 31 Vgl. W. G. Kümmel, Neues Testament (s. Anm. 8), 286ff.450 Anm. 278.278a.279; im Kontext und Überblick B. Lammert, Die Wiederkehr der neutestamentlichen Eschatologie durch Johannes Weiß, TANZ 2, Tübingen 1989. 32 W. Bousset, Jesu Predigt in ihrem Gegensatz zum Judentum, ein religionsgeschichtlicher Vergleich, Göttingen 1892. 33 W. Bousset, Jesus, RV, 1. Reihe, 2/3, Halle 1904. 34 W. Bousset, Das Wesen der Religion dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, 211; vgl. ebd. 1–26.192ff.; A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 367ff.370f.; O. Merk, Bousset (s. Anm. 30), 167f. (passim). 35 W. Bousset, Thomas Carlyle. Ein Prophet des 19. Jahrhunderts, ChW 11, 1897, 249–255. 267–271.296–299.324–327; vgl. auch H. Kahlert, Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Protestantismus, EHS, Reihe XXIII, Bd. 238, Frankfurt/M./Bern/New York/Nancy 1984, bes. 171ff. 36 W. Bousset, Neutestamentliche Religionsgeschichte II. Teil, S.S. 1919 [Manuskript]; zitiert nach A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 373 Anm. 2.

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Das Verstehen von Persönlichkeit ist bei Bousset erheblich durch Carlyle geprägt. Hatte Bousset Persönlichkeit und Person Jesu noch in seinem Jesus-Buch (1904), wenn auch mit gewisser Zurückhaltung, verflochten,37 kamen ihm in den Folgejahren vermehrt Zweifel an dieser Sicht, und immer eindringender bestreitet er die Möglichkeit der Rekonstruktion der Person Jesu in dessen Lebensvollzug. Jesus selbst wird nicht infragegestellt – Bousset spricht öfter sehr bewußt vom »historischen Jesus« –, aber er ist ihm nicht mehr historisch nachvollziehbare Gestalt, nicht mehr der schöpferische »Heros« im Sinne Carlyles, auch wenn Bousset dessen Auffassung von »Persönlichkeit« weiterhin teilt. Die Nachwirkung von Wredes „Das Messiasgeheimnis in den Evangelien“ und dessen „Paulus“-Buch (und möglicherweise auch A. Schweitzers „Geschichte der LebenJesu-Forschung“ [1. Aufl. 1906]) ist seit 1907 in den Forschungen Boussets wahrnehmbar.38 Grundsätzlich äußert er sich später in der 1. Aufl. (wie auch in der 2. Aufl.) von „Kyrios Christos“: „Ich schließe mich im folgenden an Wredes vortreffliche Nachweise in dessen »Messiasgeheimnis« an. Hinsichtlich der von ihm aufgedeckten Tatsachen gebe ich ihm fast in jeder Hinsicht Recht. In der Beurteilung der Tatsachen differiere ich mit ihm, wie aus der Darstellung ersichtlich werden wird.“39 Letzteres war nicht ohne Grund gesagt. Denn seit etwa 1907 verband Bousset mit Wredes Forschungen gleichzeitig Gedanken des Neufriesianismus, die R. Otto zu jener Zeit vertrat.40 Diese gipfeln hinsichtlich unserer Fragestellung auch zum Erstaunen von Boussets Freunden in dem Satz in „Kyrios Christos“: „Denn das rein Historische vermag eigentlich niemals zu wirken, sondern nur das lebendig gegenwärtige Symbol.“ Das aber charakterisiert für Bousset die Persönlichkeit Jesu,41 freilich – was häufig übersehen wird – in deren

37 Vgl. O. Merk, Bousset (s. Anm. 30), 167f.; vgl. auch die Erwägungen von W. Bousset, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, ThR 5, 1902, 307ff.347ff.; A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 117.180.261 u.ö.; H. Kahlert, Held (s. Anm. 35), 30ff.42ff.: Bousset dachte bereits in Richtung »Formgeschichte«. 38 Das gilt auch für andere Bereiche in Boussets Forschungen; vgl. den Hinweis bei A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 372 Anm. 1. 39 W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, FRLANT 21. Heft, Göttingen 1 1913, 80 Anm. 1; gleichlautend 2 1921, 66 Anm. 1. 40 Vgl. auch A. F. Verheule, Bousset (s. Anm. 30), 372 und zu Einzelhinweisen O. Merk, Bousset (s. Anm. 30), 168f. Instruktiv bis heute sind J. Wendland, Art. Neufriesianismus, RGG1 , Bd. IV, 1913, 737–739; W. Bousset, Kantisch-Friessche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, ThR 12, 1909, 419–436.471–488; 419: Mit R. Ottos Überlegungen ist ein „Programm“ eingeleitet, „ein Wegweiser, der die Richtung andeuten soll, in welcher der Ausweg aus den vielfachen Wirrnissen der Gesamtlage unserer gegenwärtigen Theologie erfolgen könnte“. 41 W. Bousset, Kyrios Christos (s. Anm. 39), 1 1913, 91.

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kultischen Verehrung.42 – Dennoch war damit – weit gespannt – die »JesusPaulus-Debatte« mit angestoßen, wie der Verfasser von „Kyrios Christos“ selbst formuliert: „Wrede hat in seinem Paulus . . . bei vielleicht zu scharfer Formulierung im einzelnen die Hauptdifferenz zwischen Jesus und Paulus doch richtig empfunden.“43 Bis ins Kultische hin reicht die Fragestellung nach der »Persönlichkeit«, die unter diesem Aspekt hier nicht weiter verfolgt werden soll und doch in „Kyrios Christos“ immer auch Paulus mitbedenkt.44 Wie steht es nun mit der »Persönlichkeit« des Paulus bei Bousset? In seinem als Manuskript gedruckten Vortrag „Der Apostel Paulus“ (Halle 1898; Tübingen 2 1906) ist Paulus die „einzig große Persönlichkeit“ (1). Seine Wirkung ist sein missionarischer Einsatz, wenn er auch nach seiner Bekehrung nicht gleich Heidenmissionar war. Hat Bousset auch größeres Vertrauen zur Auswertbarkeit der Angaben im Paulusteil der Apostelgeschichte als Wrede in den genannten Untersuchungen, so zeigt sich in diesem Vortrag letztlich kein anderes Resultat zur Persönlichkeit des Paulus als bei Wrede. Religion und Theologie greifen bei dieser ungewöhnlichen „Willensnatur“ Paulus als Persönlichkeit ineinander (14f.). „Paulus“ ist „der Typus einer vollen Persönlichkeit“ (16). Weder als ethische Persönlichkeit moderner liberaler Theologie noch als Person biographisch faßbar steht Paulus im Raum (15f. u.ö.).45 Von besonderem Belang ist weiter Boussets Artikel „Paulus, Apostel“ (RGG1 , Bd. IV, 1913, 1276–1309). Hier wird deutlich zwischen Person = „A. Lebensgang . . . [mit weiteren Unterpunkten]“ und „B. Lebenswerk und Persönlichkeit“ unterteilt, ja unterschieden (1276f.). Unter „A.1“ werden die erkennbaren und ungekünstelt eruierbaren Punkte seines Lebens vorgestellt. Es handelt sich um eine Person, die in Tarsus im Umfeld der „griechischen Kultur“ aufwuchs, der Griechisch lernte und trotz gewisser wissenschaftlicher Bestreitung des Sachverhalts der griechischen Bildung als Sohn einer streng jüdischen Familie lediglich begrenzte Bedeutung zumessen konnte. Jedenfalls: „Seine Briefe sind und blei-

42 Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. K. Lehmkühler, Kultus und Theologie. Dogmatik und Exegese in der religionsgeschichtlichen Schule, FSÖTh 76, Göttingen 1996 passim (u.a. 208ff.215ff.). 43 W. Bousset, Kyrios Christos (s. Anm. 39), 1 1913, 136 Anm. 1; 2 1921, 130 Anm. 1. Zu manchen Klärungen vgl. W. Bousset, Jesus der Herr. Nachträge und Auseinandersetzungen zu Kyrios Christos, FRLANT, N.F. 8, Göttingen 1916; M. Meiser, Paul Althaus als Neutestamentler. Eine Untersuchung der Werke, Briefe, unveröffentlichten Mauskripte und Randbemerkungen, CThM, Reihe A Bd. 15, Stuttgart 1993, bes. 41ff. 44 Vgl. nur W. Bousset, Kyrios Christos (s. Anm. 39), 2 1921, 104.106f.110–112.115.119.123. 143f.154. 45 Daß Bousset in diesem Vortrag die Bedeutung der paulinischen Theologie mindere, ist nicht nachweisbar; anders F. Regner, »Paulus und Jesus« (s. Anm. 28), 158.

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ben trotz aller Rauheit und Unbeholfenheit ein Denkmal der spätgriechischen Sprache und Kultur“ (1277). Mutmaßlich in Jerusalem unter Gamaliel eignete er sich den „rabbinischen Schulbetrieb“ an. Er wurde jüdischer Theologe. Sein Beruf war „ZeltteppichZuschneider“ (1277ff.). Von Geburt her hatte er das römische Bürgerrecht (Apg 22,28). Zunächst „leidenschaftlicher Gegner“ der Christen ergriff „sein Personleben“ „ein göttliches Wunder“, er wurde Christ. „Daß jene Bekehrungsstunde sich in dem unbewußten Personleben des Apostels lange Zeit vorbereitet hat, und daß diese verborgen vorhandene Stimmung aus der Tiefe des Unbewußten plötzlich und mit elementarer Wucht in das bewußte Leben eingebrochen ist: der verfolgte Nazarener hat doch Recht!“, ist nach Bousset zu vermuten, wobei psychologische Erwägungen seiner eigenen Zeit einwirken (1279). In der Zusammenschau von Apostelgeschichte und des Paulus eigenen Briefen läßt sich die „Wirksamkeit“ des Apostels erkennen, genauerhin sein Weg, eine Persönlichkeit zu werden. „Die unmittelbaren Jünger Jesu waren Juden geblieben, als sie zu Jesus kamen; Paulus hörte auf, Pharisäer zu sein, als er Christ wurde“ (1280f.). Fortan ist er christlicher Theologe mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen (1281f.): „P.[aulus] war der erste christliche Theologe“ (1284). Die Chronologie des Paulus ist 1913 durch die Auswertung der Gallioinschrift genauer möglich. Doch Daten sind bei Bousset mehr am Rande erwähnt. Viel wichtiger ist ihm, was sich aus Beobachtungen zur Person und zum Lebenswerk bündeln läßt: „P.[aulus] ist eine von den Persönlichkeiten, die eine Welt aus den Angeln gehoben und dem Lauf der menschlichen Geschichte eine andere Richtung gegeben haben“ (1283). Gilt dies, dann kann – so unter „B.2“ – ein „Charakterbild des P.[aulus]“ gezeichnet werden (1284ff.), nämlich ein Apostel Paulus von „Wille“, „Tat und Energie“ (1285), der – wir kennen schon die Einzelheiten aus Boussets o.g. Vortrag und Wredes Zusammenstellung – nicht ohne menschliche Schwächen und belastender Krankheit mit intellektueller Kraft all dies in seine Persönlichkeit integrierte und theologisch bewältigte. „Bald schaut uns dieses oder jenes Gesicht an“, werden wir dieser oder jener Seite gewahr, „hinter dem allen aber ruht die unerschöpfliche Tiefe einer einheitlichen Persönlichkeit“ (1289). Dies bestätigt und interpretiert der abschließende Abschnitt „C. Frömmigkeit und theologisches Denken“ (1289ff.). Religion und Theologie sind bei Paulus so ineinander verbunden, daß personübergreifend vom Apostel als Persönlichkeit gesprochen werden muß. Und das ist nach Bousset nicht das modern ethische Persönlichkeitsbild der liberalen Theologie seiner Zeit, nicht das „rein Ethisch-Religiöse“ wie in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung (1290).

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Natürlich muß ein orientierender Lexikon-Artikel auch, soweit möglich und erforderlich, über Daten und Lebensweg einer Person Auskunft geben, aber das Gewicht liegt bei Bousset nicht auf dem Biographischen, sondern auf Paulus als Theologen. Als Theologe ist er Persönlichkeit. In der Jesusforschung bleibt Bousset bei allen Differenzierungen und allen liberale Positionen entkräftenden Einwänden in seinen einschlägigen Untersuchungen ein liberaler Theologe innerhalb der Religionsgeschichtlichen Schule. Hinsichtlich seines Paulusverständnisses aber ist er W. Wrede und anderen Vertretern derselben Religionsgeschichtlichen Schule verbunden und alles andere als ein liberaler Theologe. Gerade durch seine genannten Beiträge zur Paulusforschung, noch verstärkt durch seine Auslegungen des Galaterbriefs und der beiden Korintherbriefe,46 läßt er ein methodisches Anliegen deutlich werden, das er mit W. Wrede und anderen teilt: Isoliertes biographisches Erfassen als historische Untersuchung genügt nicht, trifft nicht das Entscheidende im faktischen Vollzug historischer Forschung in der Religionsgeschichtlichen Schule. Sie fordert die Interpretation heraus. Denn streng historische Forschung in religionsgeschichtlicher Arbeit zeigt das Proprium der Persönlichkeit des Paulus in seiner theologischen Dimension. Das Lebenswerk des Paulus besteht darin, daß er Religion und Theologie in seiner Persönlichkeit vereinte und diese als erster christlicher Theologe missionarisch ins Dasein eingebracht hat zum Segen seiner Gemeinden und der Welt. Es ist hier abzubrechen. Die reizvolle Aufgabe eines erneuten Studiums der einschlägigen Quellen läßt notwendig den Abstand der Zeiten erkennen und diese doch auch wieder nahe kommen. Leicht ist es, aus heutigem Forschungsstand heraus die behandelten Positionen der Religionsgeschichtlichen Schule zu kritisieren. Wichtiger ist es, die von ihren Vertretern aufgegebenen Frage- und gebliebenen Problemstellungen sich wieder vor Augen führen zu lassen und sie neu zu bedenken, sie nicht als schon fertige Ergebnisse weiterzutragen. A. Harnack hat in seiner Rektoratsrede im Jahr 1900 die Studierenden aufgefordert, sich auch mit der Geschichte ihres je eigenen Faches eingehend zu befassen und dann ausgesprochen: „Wer sich damit begnügt, nur die Resultate sich anzueignen, gleicht dem Gärtner, der seinen Garten mit abgeschnittenen Blumen bepflanzt.“47

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W. Bousset, in: Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, Bd. II, Göttingen 3 1917: Der Brief an die Galater (31–74); Der erste Brief an die Korinther (74–167); Der zweite Brief an die Korinther (167–233), bes. z.B. 32.45.94.154.175.185ff.193. 47 A. Harnack, Sokrates und die alte Kirche. Rektoratsrede, ChW 14, 1900, 1014–1022, hier: 1022.

Eine neuere Paulusperspektive?∗ Alexander J. M. Wedderburn

In den Jahren, seitdem James Dunn den Ausdruck „die neue Paulusperspektive“ zur Bezeichnung des Umschwungs in der Paulusforschung eingeführt hat, den die Werke von E. P. Sanders veranlasst haben1 , haben sich sowohl der Ausdruck als auch die Denkweise, die damit verbunden ist, in der wissenschaftlichen Arbeit über den Heidenapostel einigermaßen etabliert. Dies gilt wenigstens für die englischsprachige Welt, aber auch etwas zögerlich für die deutschsprachige.2 Aber nicht einmal für die englischsprachige Welt kann man eigentlich sagen, dass alle wissenschaftlichen Exegeten die Einsichten dieser neuen Perspektive teilen.3 Denn einige behaupten, der ältere Ansatz zur Frage nach der Sicht des Paulus ∗ Ich möchte mich bei meinem Assistenten Dr. Carsten Claußen besonders bedanken für all seine Hilfe bei der stilistischen Verbesserung dieses Textes. Für den Inhalt bleibe ich verantwortlich. 1 J. D. G. Dunn, „The New Perspective on Paul“, BJRL 65 (1983) 95–122, Nachdruck mit einer Ergänzung in: ders., Jesus, Paul and the Law: Studies in Mark and Galatians (London, 1990) 183–214. Vor allem verweist er auf E. P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion (London: SCM, 1977), aber auch relevant sind Paul, the Law and the Jewish People (Philadelphia, 1983) desselben Verfassers, sowie H. Räisänen, Paul and the Law (Tübingen, 1983, 2 1987). 2 Aber vgl., z.B., C. Strecker, „Paulus aus einer »neuen Perspektive«: Der Paradigmenwechsel in der jüngsten Paulusforschung“, KuI 11 (1996) 3–18. 3 Vgl. z.B. (vor allem was Sanders’ Stichwort „Bundesnomismus“ betrifft) Justification and Variegated Nomism 1: The Complexities of Second Temple Judaism (hg. v. D. A. Carson u.a.; WUNT 2/140; Tübingen, 2001); F. Avemarie, Tora und Leben: Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55; Tübingen, 1996) – viele rabbinische Aussagen fügen sich zwanglos in Sanders’ Modell ein, „andere aber erhalten eine Eindeutigkeit, die sie außerhalb dieses Deutungsmusters nicht haben . . . , und manche sperren sich; sie werden entweder künstlich umgedeutet oder beiseite geschoben“ (43), und es gebe zu viele Aussagen, „die die Teilhabe an der kommenden Welt oder das ewige Leben als die Folge eines gehorsamen Handelns beschreiben“ (583); die sehr nuancierte Untersuchung von M. A. Elliott, The Survivors of Israel: A Reconsideration of the Theology of Pre-Christian Judaism (Grand Rapids/Cambridge, 2000), wo u.a. das Spektrum zwischen dem Bund als (bedingungsloser?) Gabe und als (manchmal auch individualistisch konzipierter) Forderung, sowie das Spektrum zwischen dem Bund als statisch einerseits und als dynamisch und revidierbar andererseits ausführlich dargestellt werden; S. Gathercole, Where Is Boasting? Early Je-

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über das Wesen des Judentums, ein Ansatz, der lange durch Rudolf Bultmanns Darstellung der Theologie von Paulus und seiner Beurteilung des jüdischen Gesetzes vertreten wurde, sei nicht so leicht als verfehlt oder überholt zu kennzeichnen. Im Gegensatz dazu gibt es aber auch andere Kritiker der neuen Perspektive, die meinen, diese sei in ihrer Paulusinterpretation nicht weit genug gegangen, und die deshalb versuchen, die Einsichten der neuen Perspektive konsequenter und radikaler weiterzuführen. Ob man diese auch selbst als Vertreter der neuen Perspektive betrachten oder zwischen ihnen und denjenigen, die sie manchmal so scharf kritisieren, unterscheiden sollte, ist nicht so klar und deshalb stelle ich die Fragen: Sollten wir von einer neueren Paulusperspektive reden? Und wie ist sie zu beurteilen?4 Diese Kritik hat einen freimütigen und energischen Befürworter in John G. Gager, vor allem in seinem Werk mit dem etwas merkwürdigen Titel Reinventing Paul, obwohl sich Gager der früheren Arbeit einer Reihe anderer Forscher wie Lloyd Gaston, Stanley Stowers, Neil Elliott und anderer5 , einschließlich Krister Stendahl – auch wenn sich jener ausdrücklich von dem „zwei Bünde“-Ansatz wish Soteriology and Paul’s Response in Romans 1–5 (Grand Rapids/Cambridge, 2002), der zeigt, wie weit verbreitet die jüdische Behauptung sei, gesetzesgehorsam und gerecht gelebt zu haben, und wie oft die Erwartung zu finden sei, dass das Heil dieses gehorsame Tun belohne; S. Kim, Paul and the New Perspective: Second Thoughts on the Origin of Paul’s Gospel (WUNT 140; Tübingen/Grand Rapids/Cambridge, 2002), dessen „zweite Gedanken“ eigentlich eine Bekräftigung und Verteidigung seiner ersten sind; E. Lohse, „Theologie der Rechtfertigung im kritischen Disput – zu einigen neuen Perspektiven in der Interpretation der Theologie des Apostels Paulus“, GGA 249 (1997) 66–81; F. Watson, Paul and the Hermeneutics of Faith (London/New York, 2004); S. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul: The „Lutheran“ Paul and His Critics (Grand Rapids, 2004) und „The »New Perspective« at Twenty-Five“, in: D. A. Carson u.a. (Hg.), Justification and Variegated Nomism 2: The Paradoxes of Paul (WUNT 2/181; Tübingen, 2004) 1–38. 4 Strecker, z.B., rechnet Lloyd Gaston zu den Vertretern der neuen Perspektive („Paulus“, 13– 14), während Gager ihn als einen wichtigen Pionier seines eigenen, neueren Ansatzes betrachtet: J. G. Gager, Reinventing Paul (Oxford/New York, 2000) 15. Freilich ist die Bezeichnung „eine neuere Paulusperspektive“ schon von S. E. Porter beschlagnahmt worden, der sie im Zusammenhang einer literaturwissenschaftlichen Analyse von Röm 1–8 nach dem dramakritischen Modell von G. Freytag (Technik des Dramas [Leipzig, 1863, 3 1876]) verwendet: „A Newer Perspective on Paul: Romans 1–8 through the Eyes of Literary Analysis“, in: The Bible in Human Society: Essays in Honour of John Rogerson (hg. v. M. Daniel Carroll R. u.a.; JSOTSup 200; Sheffield, 1995) 366–392. Ob ein Versuch, die Struktur von nur 8 Kapiteln zu analysieren, diese Bezeichnung wirklich verdient, ist eine andere Frage, und die Ansicht, Kap. 5 sei die Klimax des Ganzen, überzeugt nicht; wenn es um einen bedeutsamen Wendepunkt geht (382), dann ist das emphatische νυν δ! von 3,21 näher liegend. 5 Gager, Reinventing. (Den Titel, der vom letzten Kapitel von Gagers The Origins of AntiSemitism: Attitudes toward Judaism in Pagan and Christian Antiquity [New York/Oxford, 1983] übernommen worden ist, finde ich merkwürdig, weil das Werk nicht z.B. Rediscovering Paul heißt; trotzdem legt nicht die Rede von „Erfindung“ nahe, dass das daraus entstehende Bild vom Verfasser geschaffen worden ist und der historischen Wirklichkeit nicht entspricht?) Vgl. auch insbesondere L. Gaston, Paul and the Torah (Vancouver, 1987); S. K. Stowers, A Rereading of Romans: Justice, Jews, and Gentiles (New Haven/London, 1994); N. Elliot, The Rhetoric of Romans: Argumentative Constraint and Strategy and Paul’s Dialogue with Judaism (JSNTSup 45; Sheffield, 1990).

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distanziert hat, den diese Gruppe von Forschern vorschlägt6 – verpflichtet weiß und ihre Unterstützung für sich in Anspruch nimmt. Insofern dieser Ansatz über die Lösung bzw. Lösungen hinaus geht, die Sanders und andere Vertreter der neuen Perspektive bieten, und insofern die einschlägigen Werke dieser Gruppe von Forschern seit der Veröffentlichung von Sanders’ Paul and Palestinian Judaism 1977 erschienen sind, darf man vielleicht fragen, ob jetzt in der Tat eine „neuere Paulusperspektive“ entstanden sei. Zugleich kann man eine Vorwegnahme dieser „zwei Bünde“-Theorie im Denken von Franz Rosenzweig am Anfang des 20. Jahrhunderts finden, auch wenn dieser Forscher nie behauptet hat, die Äußerungen des Apostels Paulus seien auch auf diese Weise zu interpretieren. Denn jener behauptet, dass für die Juden Gottes Offenbarung an sie noch immer völlig in Kraft bleibe, während für Nichtjuden der einzige Weg zum Vater durch Jesus Christus sei.7 Denn wesentlich für diese neuere Perspektive ist die Behauptung, dass sich Paulus’ Kritik an dem jüdischen Gesetz nicht auf dieses Gesetz, sofern es Israel betrifft, beziehe, sondern nur auf seine Relevanz für das Leben von Heidenchristen. Paulus’ Beurteilung des Gesetzes in seiner Anwendbarkeit auf Juden und Judenchristen sei seit der vorchristlichen Zeit des Apostels unverändert geblieben. Gottes Verhältnis zu Juden und Nichtjuden sei also grundsätzlich ein doppeltes: Es gelte die eine Grundlage für die Juden und eine andere für die Nichtjuden. Nun ist zuzugeben, dass dieser Vorschlag eine gewisse Attraktivität hat, indem die Achillesferse der neuen Perspektive in den Schwierigkeiten liegt, die sie hat, wenn sie versucht, jene Aussagen des Paulus zu erklären, die sich auf den ersten Blick auf das damalige Judentum beziehen und es kritisieren. Ich möchte also zunächst jene Schwierigkeiten der neuen Perspektive beleuchten (I), und dann die von Gager und anderen vorgeschlagene Lösung skizzieren (II), bevor ich zu zeigen versuche, warum diese neuere Perspektive weder der tatsächlichen Situation von Paulus’ Missionstätigkeit noch seinen Äußerungen gegenüber gerecht wird (III). Und schließlich möchte ich im Licht der Herausforderung, vor die die 6 Vgl. K. Stendahl, Final Account: Paul’s Letter to the Romans (Minneapolis, 1995) S. x (vgl. auch S. 7): Das „zwei Bünde Modell“ sei „Ausdruck einer »misplaced concreteness«“. Für ihn hat das Argument des Röm mit Juden und Heiden zu tun, nicht mit judaisierenden Christen gegenüber nicht-judaisierenden Christen (13). Andererseits hat Stendahl vielleicht in seinen früheren Werken den Eindruck erweckt, dass er solch ein Modell unterstützen würde, indem er z.B. betont, in Röm 9–11 habe Paulus nicht gesagt, Israel würde Jesus als Messias annehmen, und von der Koexistenz von Kirche und jüdischem Volk redet (Paul among Jews and Gentiles and Other Essays [Philadelphia, 1976] 4). 7 Vgl. H.-J. Schoeps, Paulus: Die Theologie des Apostels im Lichte der jüdischen Religionsgeschichte (Tübingen, 1959 = Darmstadt, 1972) 271, mit einem Hinweis auf Rosenzweigs Brief an Rudolf Ehrenberg am 1. Nov. 1913: Der Jude brauche nicht zum Vater durch Christus zu kommen, „weil er schon bei ihm ist“ (ders., Briefe [hg. v. E. Rosenzweig; Berlin, 1935] 73–74, kursiv im Original).

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neuere Perspektive die neue und auch zugleich die Paulusforschung im Allgemeinen stellt, Bilanz ziehen (IV).

I Ein Anliegen der „neuen Paulusperspektive“ war vor allem eine, wenn nicht neue, wenigstens eine erneuerte Judentumsperspektive, eine korrigierte Wahrnehmung vom Glauben des Judentums damals und heute, und nicht nur eine Paulusperspektive; sie versuchte, das, was sie als die alten Karikaturen jener Religion wahrnahm, abzuschütteln, die bisher in der christlichen Forschung und Exegese dominant waren und die eine mehr oder weniger explizite Verunglimpfung des Judentums bedeuteten. Insbesondere war es die Schilderung des Judentums als einer Religion der Werkgerechtigkeit im Sinne einer menschlichen Leistung, die Sanders ein Dorn im Auge war.8 Und ungefähr drei Viertel von Sanders’ bahnbrechendem Werk beschäftigten sich nicht so sehr mit Paulus, sondern mit der Korrektur unserer Wahrnehmung vom Wesen des Judentums. Wenn eine neue Paulusperspektive trotzdem daraus entstand, dann lag die Ursache darin, dass diese Beurteilung des Judentums Forscher dazu führte, über Paulus’ Aussagen über die Juden und deren Gesetz erneut nachzudenken. Ist Paulus demnach in hohem Maße für jene Karikaturen der jüdischen Religion verantwortlich gewesen? Hat er sie nicht selbst verbreitet? Das wäre aber um so überraschender, weil Paulus selbst Jude war und vermutlich gewusst hat, wie das Judentum war — wenn etwa Lukas ein ungenaues Bild gehabt haben sollte, dann wäre das verständlich, wenn er Heidenchrist gewesen sein sollte, aber mit Paulus ist es anders. Hätte er das Judentum so scharf kritisiert und so negativ beurteilt, dann fiele es um so schwerer, sein Zeugnis in Misskredit zu ziehen, obwohl einige es versucht haben, indem sie ihn z.B. als den Vertreter einer minderwertigen Form des Judentums schilderten.9 An diesem Punkt zeigt sich in der Tat ein gewisses Unbehagen und ein Maß an Unsicherheit unter den Pionieren der neuen Perspektive, um so mehr, seitdem beachtet worden ist, dass der „Bundesnomismus“, den Sanders als charakteristisch für das Judentum betrachtete, auf den ersten Blick und vielleicht auch auf 8 Und dennoch, während Sanders die Gesetzesobservanz als einen Weg, im Bund zu bleiben („staying in“), nicht aber des Eintritts in den Bund („getting in“) bezeichnet, so erläutert er nicht was passiert, wenn ein Mitglied des auserwählten Volkes das Gesetz nicht einhält, d.h. die Möglichkeit, dass man von dem Bund abfallen könnte; in diesem Sinne ist es klar, dass die Gesetzesobservanz doch (un)heilsrelevant ist. 9 Schoeps, Paulus, 224–225, redet von Paulus’ Missverständnis des Bundes und seiner entsprechenden Unfähigkeit, das Gesetz grundsätzlich als eine Sache des Bundes zu verstehen; der Weg zu diesem Missverständnis sei im „jüdischen Hellenismus“ vorbereitet worden.

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den zweiten der Struktur der Botschaft des Paulus sehr ähnlich zu sein scheint: Auch dort handelt es sich um eine Initiative der göttlichen Gnade, worauf die Menschen aus Dankbarkeit gehorsam antworten sollen.10 Was war also mit dem Judentum los und warum hat Paulus es kritisiert? Hier sind sich die Pioniere weniger einig. Sanders selbst hat einerseits die Struktur der paulinischen Soteriologie anders geschildert – in Anlehnung an Schweitzers mystische Paulusdeutung –, grundsätzlich als eine Sache von Partizipation, von Anteilhabe an Christus, und er betont andererseits in seinem berühmten und oft zitierten Diktum, dass der Grundfehler des Judentums darin liege, dass es nicht das Christentum sei, d.h. keinen Platz für Christus gefunden habe.11 Das Gravamen von Paulus’ Kritik lag m.a.W. nicht in einer Gesetzeskritik, sondern in Paulus’ „exclusivist soteriology“ (550). Dieser Vorschlag ist sicher erwägenswert, besonders wenn man die Logik solcher Aussagen des Apostels wie Gal 2,21 beachtet: Käme die Gerechtigkeit durch das Gesetz, dann wäre Christus vergeblich gestorben. Implizit ist diese Konsequenz in den Augen des Paulus undenkbar – eine unnötige Opferung des Gottessohnes. Es sei m.a.W. undenkbar, dass Gott der Menschheit sozusagen zwei Heilsoptionen angeboten habe, die beide gleich wirksam seien, die eine lediglich durch das Erlassen einer Reihe von Geboten, die andere aber auf Kosten des Lebens des eigenen Sohnes Gottes. Gott müsste also die zwingendsten Gründe gehabt haben, die zweite Alternative überhaupt anzubieten, nämlich dass die erste in Wirklichkeit keine brauchbare Option gewesen wäre. Jene Unzulänglichkeit des Gesetzes als eines Weges zur Gerechtigkeit oder eines Weges der Gerechtigkeit kommt wieder in einem ähnlich strukturierten Argument zum Ausdruck, wieder mit einem diesmal deutlicheren Irrealis12 , ein Kapitel später in 3,21: Wäre ein Gesetz gegeben worden, das Leben bringen könnte, dann käme in der Tat die Gerechtigkeit durch das Gesetz. Wieder ist es implizit ausgesagt, dass das Gesetz nicht Leben bringen konnte, so dass ein anderer Weg zum Leben gefunden werden musste. Das fällt um so mehr auf, weil im Alten Testament und im Judentum wiederholt behauptet wird, dass das Gesetz und die Einhaltung des Gesetzes zum Leben führen, und mindestens eine dieser Stellen wird von Paulus selbst zitiert.13 Hier ist es jedenfalls klar, dass in den Augen des Paulus das Gesetz oder das Judentum und die christliche Botschaft keine gleichrangigen Heilsmög10 Vgl. M. D. Hooker, „Paul and »Covenantal Nomism«“, in: Paul and Paulinism (FS C. K. Barrett; hg. von M. D. Hooker, S. G. Wilson; London, 1982) 47–56. Für Paulus aber sei der menschliche Gehorsam nicht Gesetzesgehorsam, sondern Geistesgehorsam (52). 11 Vgl. vor allem Paul, 552. 12 In 2,21 deutet nichts darauf hin, dass der Satz ein Irrealis ist, abgesehen von dem Inhalt. Vgl. BDR § 360,1. 13 Z.B. Lev 18,5 in Röm 10,5; Gal 3,12; auch Dtn 30,16. Und Paulus erkennt (Röm 7,10), dass Gottes ντολ . . . ε"ς ζω$ν sei, auch wenn ihre Auswirkung tödlich sei.

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lichkeiten sind. Paulus findet das Judentum mangelhaft, nicht nur weil es nicht das Christentum oder genauer die christliche Botschaft (denn es wäre eigentlich anachronistisch, vom Christentum zu diesem Zeitpunkt zu reden) ist, sondern und vor allem auch weil es das nicht anbieten kann, was die christliche Botschaft anbietet, auch wenn das Judentum das auf den ersten Blick doch anzubieten scheint.14 Es ist durchaus verständlich, dass Dunn und Räisänen hier andere Antworten vorschlagen als Sanders. Während Dunn Sanders’ Urteil zustimmt, dass Paulus’ Problem mit dem Gesetz und mit dem Judentum nicht darin liegt, dass sie legalistisch seien, betont Dunn, das Ziel der paulinischen Kritik sei die soziale Funktion des Gesetzes und seine Rolle als Grenzmarkierung zwischen Juden und Nichtjuden. Entsprechend definiere das Gesetz, wer zum Gottesvolk gehöre und wer nicht. Anders formuliert, diene das Gesetz, wenn es auf diese Weise verstanden und gebraucht werde, dazu, das zu trennen, was Gott vereinen wolle, weil es der Wille Gottes sei, dass das Gottesvolk aus Juden und Heiden stattdessen durch den Glauben definiert und charakterisiert sein solle, ebenso wie Abraham ihr gemeinsamer Vorvater gewesen sei. Und trotzdem, während einzusehen ist, dass Paulus sich an gewissen Stellen auf diese Rolle und Funktion des Gesetzes konzentriert, erwecken andere Stellen den Eindruck, dass sie eine umfassendere Bedeutung haben. Während z.B. die Diskussion von „Gesetzeswerken“ in Gal 2 primär „boundary markers“ wie die Beschneidung, den Streitpunkt in Gal 2,1– 10, und die jüdischen Speise- und Reinheitsgebote, die die Auseinandersetzung in Antiochia in Gal 2,11–14 veranlassten, betreffen dürften, wird die Reichweite von Paulus’ Äußerungen dann etwas breiter, spätestens in 3,10, wenn nicht vorher, etwa in 3,2 und 3,5; jedenfalls in 3,10 ist es eine Sache von „allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht“ (Dtn 27,26), und die Unfähigkeit, jenes „alles“ zu tun, hat nicht nur zu einer Trennung zwischen Juden und Nichtjuden geführt, sondern vielmehr zu einem Fluch auf allen, die jenes „alles“ nicht eingehalten haben (vgl. 3,13). Und in der Tat hat Dunn das zugegeben, wenn er sich in seinem Werk The Theology of Paul the Apostle gegen mögliche Missverständnisse seiner früheren Aussagen wehrt und erklärt, er habe nie gemeint, dass der Ausdruck „Gesetzeswerke“ nur Beschneidung und andere solche „boundary markers“ bedeute; diese seien eher Fokus- bzw. Krisenpunkte einer allgemeineren nomistischen Haltung.15 Auch Heikki Räisänen sieht – mit jener Offenheit und Scharfsinnigkeit, die für seine wissenschaftliche Arbeit so charakteristisch sind – diesem Problem ins 14 Paulus’ konzise Zusammenfassung dieses Tatbestands lautet: ε%ρ!θη μοι & ντολ & ε"ς ζω$ν, α'τη ε"ς θνατον (Röm 7,10). 15

97.

J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle (Grand Rapids/Edinburgh, 1998) 358 Anm.

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Gesicht und ringt darum, denn Paulus’ mutmaßliche Haltung der jüdischen Religion gegenüber und darauf gegründete christliche Urteile haben zahllose jüdische Forscher verärgert. Grundsätzlich habe nach seiner Meinung Sanders Recht, solch ein Zerrbild zu korrigieren, obwohl Räisänen zugibt, man müsse vielleicht der Möglichkeit einer tatsächlichen Verdrehung der jüdischen Ideale des Judentums unter den Anhängern dieser Religion mehr Rechnung tragen als Sanders dies tue; das sei trotzdem für seine Hauptthese irrelevant (167–168). Es gehe nämlich vielleicht zu weit, wenn man alle Untertöne eines anthropozentrischen Legalismus etwa in Röm 4,4 ausschließe. Paulus möge eine gewisse Neigung zu Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit im Leben seiner Volksgenossen gesehen haben. In dem Fall wären sie aber ein Nebenprodukt und nicht das dem Judentum zugrunde liegende Problem (176). Räisänen stimmt wieder Sanders’ Behauptung zu, dass die Juden die Gerechtigkeit, wie Paulus sie verstanden habe, im Gesetz nicht suchten, und dass sie das Gesetz nicht als einen Weg zum Heil betrachteten. Dennoch ist er anderer Meinung als Sanders, indem er darauf besteht, dass Paulus das Judentum in der Tat falsch dargestellt habe, wenn er behauptete, dieses lehre das Heil aus Werken und die Tora spiele darin eine Rolle, die mit der des Christus in der paulinischen Botschaft vergleichbar sei (188). Das lässt es aber offen, ob diese falsche Darstellung beabsichtigt war, oder ob die Kraft seiner eigenen Logik oder die Bedürfnisse jenes Arguments, das Paulus gewinnen wollte, ihn irregeführt haben, oder ob der Fehler, wenn nicht an einer minderwertigen Form des Judentums, wenigstens an einigen Individuen lag, die so lebten und dachten. Im letzteren Fall aber – wäre es nicht recht unklug oder vielleicht sogar böswillig, aus solchen Ausnahmen allgemeine Schlüsse zu ziehen oder auf einer untypischen Form des Judentums Pauschalurteile zu gründen, und so eine Zielscheibe aufzurichten, die so leicht getroffen werden konnte und die gegenüber der Mehrheit der Juden, damals wie heute, derart unfair war? Deshalb kann man mit einem gewissen Recht behaupten, die „neue Perspektive“ habe nicht alle Probleme hinsichtlich der paulinischen Haltung gegenüber dem Gesetz gelöst und habe auch einige recht unbequeme Fragen unbeantwortet gelassen. Auch wenn Gager erkennt, dass die neue Perspektive zu einer wertvollen Wiederentdeckung des Wesens des Judentums seitens der Nichtjuden geführt hat, übt er scharfe Kritik an Sanders’ Beitrag. Denn jener, so meint er, bleibe meistens innerhalb der alten Denkstrukturen und wiederhole deren vertraute Themen – Paulus habe mit dem Judentum gebrochen, auch wenn er selbst das nicht erkannt habe, indem er die Auserwählung Israels und die Notwendigkeit, das Gesetz einzuhalten, leugnete und sich dem Christentum zuwandte (48–49). Trotz Sanders’ Behauptung, Paulus habe nichts am Judentum auszusetzen, abgesehen davon, dass es nicht das Christentum sei, leugne sein Paulus selbst das Fundament des Judentums, indem er den Bund Gottes mit den Juden nicht für

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heilswirksam halte: Die Beschneidung ohne vollständigen Gehorsam sei wertlos, und die Verheißungen an Abraham bezögen sich nicht auf seine (physische) Nachkommenschaft, sondern auf Christen (551). Es ist also klar, dass die von Gager erwünschte und verlangte Paulusperspektive eine andere ist. Ist sie aber besser und gegenüber dem Apostel angemessener?

II Was sind die Charakteristika dieser neueren Perspektive? Gager sieht das Hauptproblem in der Spannung zwischen Aussagen des Apostels, die anscheinend gegen Israel gerichtet seien, und anderen, die als israelfreundlich betrachtet werden können, denn die ersteren haben zur Ansicht geführt, dass für Paulus Israel verworfen und durch ein neues Volk ersetzt worden sei (trotz Röm 11,25–32), und es sei vor allem diese Behauptung, die den Apostel falsch darstelle. Das mag richtig sein, fraglicher aber ist die Voraussetzung, Israel bleibe auf derselben Basis wie vorher Gottes Volk. Denn nach Gagers Meinung gilt: 1. Zunächst sei zu beachten, dass für Paulus die Juden noch immer verpflichtet seien, das Gesetz einzuhalten. Gager beruft sich hier auf Röm 3,1–2; Gal 5,3.11 als Beweis, dass Paulus das ausdrücklich sagt (18). 2. Bei seiner Bekehrung sei es nicht Paulus’ Einschätzung des Gesetzes oder des Gesetzes in Beziehung zu Israel, die sich änderte, sondern nur seine Einschätzung davon in Beziehung zu den Heidenvölkern (27; cf. 57). 3. Folglich betreffe Paulus’ Kritik am Gesetz nicht das Gesetz in Beziehung zu Israel, sondern nur in Beziehung zu heidnischen Anhängern der Jesusbewegung.16 Nach der Ansicht Gastons ist dies sowieso genau das, was zu erwarten wäre: Paulus redete Heidenchristen an, um ihnen zu erklären, wie sich solche Dinge wie die Tora auf sie beziehen.17 Und in der Tat ist es richtig, dass an vielen Stellen Paulus’ Hauptanliegen eine Widerlegung jener Mitchristen ist, deren Interpretation des Evangeliums anders als seine ist, und die versuchen, seinen Gemeinden und deren heidenchristlichen Mitgliedern Gesetzobservanz aufzudrängen; es seien ferner die letzteren, an die Paulus schreibe und appelliere, um ihnen zu zeigen, dass Gesetzesgehorsam für sie nicht obligatorisch sei. M.a.W.: Gewiss dürfte es richtig sein, dass Paulus’ Aussagen über das jüdische Gesetz durch die Versuche anderer Judenchristen, seine Missionstätigkeit rück16 Gager, Reinventing, 44, 48–9, 58; vgl. Gaston, Paul, 23; M. Wyschogrod, „The Impact of Dialogue with Christianity on My Self-Understanding as a Jew“, in: E. Blum u.a. (Hg.), Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff; Neukirchen-Vluyn, 1990) 725– 736, hier 732, und „A Jewish View of Christianity“, in: L. Klenicki (Hg.), Toward a Theological Encounter: Jewish Understandings of Christianity (New York/Mahwah NJ, 1991) 104–119, hier 119. 17 Paul, 4.

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gängig zu machen, provoziert wurden, indem jene darauf bestanden, dass die missionarische Botschaft des Paulus mangelhaft sei, und dass, um am durch Christus gebrachten Heil teilnehmen zu dürfen, Bekehrte aus den Heidenvölkern auch das jüdische Gesetz einhalten müssen. Es folgt aber nicht daraus, dass das, was Paulus über das Gesetz als Antwort darauf sagt, ohne Relevanz für Judenchristen und für Juden sei. Und nirgendwo finden wir in den paulinischen Schriften jenen Unterschied, dem wir in der Apostelgeschichte im Mund des Petrus begegnen, zwischen einerseits dem Gesetz als einer Last, die alle Juden, einschließlich Judenchristen und auch scheinbar sogar Paulus selbst, soweit man das aus seinem Handeln beurteilen kann, tragen müssen (15,10), und andererseits der Gesetzesfreiheit, die Heidenchristen genießen – auch wenn in der Apostelgeschichte diese Freiheit durch die vier Klauseln des Aposteldekrets eingeschränkt wird, die wenigstens gesetzliche Verbote sind, obwohl ihr spezifisches Verhältnis zum jüdischen Gesetz alles andere als deutlich ist.18 4. Letzten Endes stimmt Gager Gastons Behauptung zu, dass es für Paulus zwei Heilswege gebe, zwei Bünde, durch die Tora für Juden und durch Glauben an Christus für die Heidenvölker, obwohl Gager darauf besteht, dass diese beiden letztendlich zu ein und demselben Ziel führen (61). Es wäre aber angemessener von diesen zwei Wegen als einerseits vom Glauben an Christus ohne das Gesetz für die Heidenvölker und andererseits vom Glauben an Christus zusammen mit fortdauerndem Gesetzesgehorsam für die Juden zu reden; denn wäre es nicht unvorstellbar, dass Leute, die sich Christen nannten, sich nicht verpflichtet fühlten, einen zentralen Platz in ihrem Glaubenssystem für Christus zu finden?19 Wie genau Glaube an Christus und Gesetzesgehorsam miteinander verbunden waren, steht weniger fest, aber unter den möglichen Deutungen findet sich die Ansicht, dass Christi Tod Gesetzesübertretungen sühne (obwohl der vom Gesetz angeordnete Opferkult dann überholt und dieser Aspekt vermutlich außer Kraft gesetzt worden wäre) sowie die Meinung, Christus sei der vom Gesetz und Propheten verheißene jüdische Messias. Aber dieses Problem wäre gelöst, wenn auch auf Kosten der Glaubwürdigkeit, wenn man leugnete, Christus sei für Paulus der Messias Israels. Maria Neubrand, deren eigene Interpretation von Röm 4 der 18 Vgl. A. J. M. Wedderburn, „The »Apostolic Decree«: Tradition and Redaction“, NT 35 (1993) 362–389. 19 Die Zweideutigkeit von Gal 2,16a ist hier vielleicht von Bedeutung: Wenn das ε" μ$ nicht in einem exklusiven Sinne übersetzt wird, indem „Gesetzeswerke“ und πστις Ιησο Χριστο als Alternativen betrachtet sind, wie bei den meisten Übersetzungen und wie es deutlich in 16b der Fall ist, sondern im Sinne von „wenn nicht, außer“ (BA ε" VI,9a; auch BDAG s.v. 6 i α), dann bedeutet der Halbvers, dass „Gesetzeswerke“ allein nicht genügend sind, sondern nur in Verbindung mit πστις Ιησο Χριστο ; vgl. U. Borse, Der Brief an die Galater (RNT; Regensburg, 1984) 111: wir „wissen, daß der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt wird, wenn nicht durch den Glauben an Jesus Christus“.

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von Stowers in mancher Hinsicht ziemlich nahe steht, kritisiert deshalb trotzdem Gager und Gaston zu Recht, weil jene leugnen, dass für Paulus Jesus der Messias der Juden sei20 : Gerade als Messias Israels sei Jesus vielmehr „von Bedeutung für die Nichtjuden und auch als Messias Israels ebenfalls eschatologischer Herrscher über die Völker“.21 Aber gerade deshalb fällt es schwer, in Röm 4 jenen Juden eine wirkliche, Heil bringende Nachkommenschaft Abrahams zuzuschreiben, die nicht an Jesus glauben – trotz Neubrands Versuch, das Kapitel anders auszulegen.22 In vieler Hinsicht ist das Paulusbild, das aus dieser neueren Perspektive entsteht, dem Paulusbild der Apostelgeschichte ähnlich: Dort findet sich ein Paulus, der in der Tat zu Unrecht beschuldigt wird, er habe seine Volksgenossen in der Diaspora zum Abfall von Mose ermutigt und sie aufgefordert, ihre Kinder nicht mehr beschneiden zu lassen und sich nicht an die von Mose angeordneten Bräuche zu halten (Apg 21,21). Für einige wäre es ein ganz willkommenes Ergebnis, wenn gezeigt werden könnte, dass der Acta-Verfasser Paulus tatsächlich nicht falsch dargestellt hätte, und man könnte dann die traditionelle Verfasserschaft jenes Werkes als von einem Paulusgefährten geschrieben mit gutem Gewissen als bestätigt ansehen oder wenigstens nicht weiter untergraben. Eines der stärksten Argumente gegen jene traditionelle Verfasserschaft war und ist noch immer der Unterschied zwischen jener Schilderung des Denkens und der Tätigkeit des Paulus, die die Apostelgeschichte bietet, und den Einblicken, die wir aus seinen Briefen bekommen.23 In großem Maße begegnet uns dasselbe Problem bei dieser neueren Paulusperspektive. Aber wenn sie Recht hat, dann fällt dieser Einwand gegen die traditionelle Verfasserschaft der Apg weg.

20 Vgl. Gaston, Paul, 7 (nach 148 aber sei Christus „agent“ vom Sonderweg des Heils Israels); Gager, Reinventing, 142 (vgl. 146); Stowers’ Ansatz ist hier anders: Jesus sei für Paulus Messias und habe das messianische Gericht durch seinen eigenen Tod für Juden und für Heiden verschoben (vgl. bes. Rereading, 214). 21 M. Neubrand, Abraham – Vater von Juden und Nichtjuden: Eine exegetische Studie zu Röm 4 (FzB 85; Würzburg, 1997) 72. 22 Z.B. durch das Argument, dass in Röm 4,12 Abraham Vater zweier Gruppen sei (Abraham, 237–245); denn eine der Nachkommenschaften, oder wenigstens ein Teil davon (denn laut Neubrand seien ο( κ περιτομ)ς gesetzesobservante Juden, auch die, die zur Jesusanhängerschaft gehören: 241), wäre dann ohne Glauben. Der Wunsch, Hindernisse eines jüdisch-christlichen Dialogs aus dem Weg zu räumen, ist an sich sehr lobenswert, aber wäre der Versuch dann auf Kosten der historischen Wirklichkeit des Paulus, dessen Botschaft der Mehrheit der damaligen Juden und Jüdinnen in der Tat recht anstößig war? 23 Vgl. A. J. M. Wedderburn, „ The »We«-Passages in Acts: On the Horns of a Dilemma“, ZNW 92 (2002) 78–98.

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III Welche Vorteile auch immer diese Paulusinterpretation haben mag, so finde ich gewisse Aspekte trotzdem etwas beunruhigend, weil sie einige Dimensionen des Lebens und der Arbeit des Apostels sowie seiner Argumentation nicht genügend zu berücksichtigen und sie in der Tat unverständlich zu machen scheint: 1. Erstens gibt es jene Äußerung des Paulus über seine Missionsstrategie in 1 Kor 9,19–23: Obwohl von allen unabhängig machte er sich zum Sklaven für alle, um möglichst viele zu gewinnen; den Juden wurde er ein Jude, denen, die unter dem Gesetz sind, wurde er einer unter dem Gesetz24 , den Gesetzlosen ein Gesetzloser, obwohl eigentlich kein Gesetzloser, sondern unter dem Gesetz Christi, und schließlich den Schwachen ein Schwacher. Aber ein gesetzestreuer Jude und Eiferer für das Gesetz hätte keine Möglichkeit gesehen, so von der einen Lebensweise zur anderen zu wechseln, und der Versuch, den Paulus, der sich hier äußert, trotzdem als einen gesetzestreuen Juden darzustellen, muss als höchst unglaubhaft betrachtet werden.25 Er muss sogar zu einem Juden „werden“26 , wenn es die Situation verlangt, kann aber genauso gut zu einem Gesetzlosen werden, der unter dem Gesetz Christi ist. Wenn aber der Judenchrist Paulus in seinem Umgang mit Heiden das Gesetz manchmal, vielleicht sogar meistens, ignorieren konnte, wie könnte er gleichzeitig behaupten, dass andere Judenchristen noch immer verpflichtet waren, das Gesetz einzuhalten? Noch weniger könnte das für seine judenchristlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gelten. Jedenfalls betrachte24 Diese zwei Teile von 9,20 müssen sich nicht völlig miteinander decken, wenn sich in der Tat einige Judenchristen, wie Paulus selbst, als nicht „unter dem Gesetz“ betrachteten und einige Nichtjuden sich mehr oder weniger „unter das Gesetz“ gestellt hatten. Angesichts dieser Stelle geht es vielleicht zu weit, wenn man sagt, die Frage der Gesetzesobservanz habe für Paulus gar keine Relevanz mehr (vgl. aber O. Wischmeyer, „Paul’s Religion: A Review of the Problem“, in: Paul, Luke and the Graeco-Roman World [FS A. J. M. Wedderburn; hg. v. A. Christophersen u.a.; JSNTSup 217; Sheffield, 2002] 74–93, hier 89; in der Tat verlangte Paulus’ apostolische Berufung, dass er manchmal diese Frage berücksichtigen musste, gerade um das ihm anvertraute Evangelium zu fördern). 25 Vgl. Margaret Mitchells Kritik an P. J. Tomson, Paul and the Jewish Law: Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles (CRINT 3/1; Assen/Minneapolis, 1990) 274–281: „Pauline Accommodation and »Condescension« (συγκατβασις): 1 Cor 9:19–23 and the History of Influence“, in: Paul beyond the Judaism/Hellenism Divide (hg. v. T. Engberg-Pedersen; Louisville u.a., 2001) 197–214.298–309, hier 298–299 Anm. 2; auch H. Räisänen, „Romans 9–11 and the »History of Early Christian Religion«“, in: Texts and Contexts: Biblical Texts in Their Textual and Situational Contexts (FS L. Hartman; hg. v. T. Fornberg, D. Hellholm; Oslo u.a., 1995) 743–765, hier 754. 26 Vorzuziehen ist eine konsequente Übersetzung vom wiederholten γεν+μην (vgl. aber Tomson, Paul, 277: „was born“ in V 20, wie aber sind die folgenden Verse zu verstehen? Oder F. Watson, Paul, Judaism and the Gentiles: A Sociological Approach [MSSNTS 56; Cambridge, 1986] 29: V 20 beziehe sich auf Paulus’ frühere jüdische Lebensweise als ein Judenmissionar, V 21 auf seinen Bruch mit jener Lebensweise, als er von sich selbst als Heidenmissionar zu denken begann; im letzteren Fall bezieht sich γεν+μην auf einen Wechsel, nicht aber V 20).

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te er das Einhalten des Gesetzes als fakultativ, als ein Adiaphoron. Es mag sein, dass Gaston Recht hat, wenn er meint, Paulus wollte beides auf einmal haben, und zwar sich als einen Abtrünnigen in Beziehung zu seinen Bekehrten aus den Heiden sowie als einen treuen Sohn Israels in Beziehung zu Juden zu verstehen27 , obwohl man bezweifeln kann, ob er die Bezeichnung „Abtrünniger“ je für sich gewählt hätte. Es lässt sich aber noch immer fragen, ob sich jemand, der so beides auf einmal haben wollte, wirklich für gesetzestreu und dem Gesetz verpflichtet halten konnte. Wenn Paulus von seinem Judewerden in Beziehung zu den Juden redet und sagt, dass er sich so verhält, um seine Aufgabe als Missionar zu erfüllen (hier offensichtlich nicht nur als Heidenmissionar), lässt nicht diese Redeweise erkennen, dass er hinsichtlich seiner Gesetzesobservanz oder der Wahrnehmung seines Verhaltens seitens anderer Juden wenig Illusionen hatte? Sein Hinweis auf die Bestrafung, die er von ihren Händen erleiden musste (2 Kor 11,24), macht es um so wahrscheinlicher, dass es ihm (wörtlich) schmerzlich klar war, wie sie sein Verhalten beurteilten. Gesetzestreue war für seine Volksgenossen nicht einfach etwas, was man fallen lassen und dann wieder aufnehmen konnte, chamäleonartig, je nach der Gesellschaft, in der man sich jeweils befand. Paulus als ein ehemaliger Pharisäer hätte das wahrscheinlich besser gewusst als die meisten. Ist es aber dann wahrscheinlich, dass er meinte, dass er, und er allein aus den Kreisen der Judenchristen, sich frei fühlte, nicht mehr nach den Anordnungen des jüdischen Gesetzes wandeln zu müssen? Gilt nicht Ähnliches, zumindest in seinen Augen, für alle Judenchristen, die Anteil an seiner missionarischen Arbeit unter den Heiden nahmen? Diese Missionsstrategie sollte uns vielleicht dazu führen, dass wir jene Stellen in der 1. Person erneut in Betracht ziehen, wo Paulus anscheinend Heidenchristen anspricht und wo, nach dieser neueren Paulusperspektive, Heidenchristen in der Tat angesprochen werden.28 Trotzdem identifiziert sich Paulus mit ihnen in der 1. Person, obwohl er selbst Judenchrist war. Gager zitiert das Beispiel von Gal 3,13 (56): Paulus stellt fest, dass Christus „uns“ vom Fluch des Gesetzes erlöst hat, indem er für „uns“ ein Fluch geworden ist. Ist das ein Beispiel jener Prosopopoiia, die Stowers und andere so bereitwillig in Paulus’ Schriften finden wollen, und in der sich Paulus hier in die Lage der Heiden versetzt, ohne dass er meint, dasselbe beziehe sich auch auf ihn als Judenchristen? Sind es aber nur Heiden, die ξ 0ργων ν+μου sind, die unter einem Fluch sind, weil sie nicht alles eingehalten haben, was im Buch des Gesetzes geschrieben steht (3,10)? Sind es 27

Paul, 78–79. Vgl., bezüglich des Röm, Stowers, Rereading, bes. 277. T. L. Donaldson, „Jewish Christianity and the Sonderweg Reading of Paul“, in: Two Ways; Jews and Gentiles in Romans (ed. R. Gagnon; Grand Rapids/Cambridge, im Druck), zeigt aber, wie schwierig solch eine Lektüre von Röm 4,23 wäre. 28

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nicht vor allem die Juden, und ist das nicht vielmehr der Grund, warum Paulus Heidenchristen so anspricht, als ob sie die jüdische Erfahrung unter dem Gesetz teilten, gerade weil sie versucht wurden, jene Erfahrung zu teilen? Wäre das nicht eher das Gegenteil der Prosopopoiia, indem Paulus nicht die Worte anderer in den eigenen Mund nimmt, sondern eher seine eigenen Worte (und Erfahrungen) als Jude benutzt, um die Lage der galatischen Christen darzustellen? Das würden sie aber erst wirklich erleben, wenn sie sich von den Judaisten überreden ließen.29 2. Paulus’ eigene Praxis und seine Version der christlichen Botschaft hatten ferner schwerwiegende Konsequenzen, nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere Judenchristen, wie die Auseinandersetzung in Antiochia in Gal 2,11–14 deutlich macht30 , auch wenn man nicht so weit gehen will, dass man sagt, Paulus habe erwartet, dass sich alle Judenchristen wie er selbst bekehren und ihr früheres Leben als wertlos betrachten sollten.31 Andererseits wäre es völlig unrealistisch, die Implikationen für andere Judenchristen nicht zu erkennen; nichtsdestotrotz habe Paulus nach Gagers Meinung nie vorgeschlagen, dass Petrus und die anderen ihre Gesetzesobservanz aufgeben sollten32 ; trotzdem würde jede Fortsetzung ihrer Tischgemeinschaft mit Heiden das wenigstens zum Teil bedeuten.33 In Gal 2,11– 14 ist es jedenfalls klar, dass die Anwesenheit von Heiden- und Judenchristen in der einen Gemeinde und ihre Tischgemeinschaft, einschließlich des Herrenmahls, entweder nur möglich sind, wenn man von den Heidenchristen verlangt, dass sie zumindest gewisse Teile des Gesetzes einhalten, oder wenn die dortigen Judenchristen bereit waren, auf eine strenge Gesetzesobservanz einigermaßen zu verzichten. Als Petrus, Barnabas und die anderen sich auf Druck der Jakobusleute von ihrer Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen zurückzogen, war Paulus in keiner Weise bereit anzuerkennen, dass sie zur Gesetzestreue verpflichtet waren. Hier hat Sanders Recht, wenn er sieht, dass es Situationen gab, in denen man

29 Hier verstehe ich nicht, wie Gager von einer Rückkehr der Galater zur Gesetzesobservanz reden kann (Reinventing, 88), als ob sie früher das (vermutlich jüdische) Gesetz gehalten hätten. 30 So zu Recht W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition (FRLANT 139; Göttingen, 1987) 95. 31 Vgl. dagegen L. Wehr, Petrus und Paulus – Kontrahenten und Partner: Die beiden Apostel im Spiegel des Neuen Testaments, der Apostolischen Väter und früherer Zeugnisse ihrer Verehrung (NTA 30; Münster, 1996) 75. 32 Reinventing, 147; vgl. auch Origins, 247. 33 Donaldson, „Jewish Christianity“, hat hier zu Recht auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die selbst die Existenz eines Judenchristentums für die „zwei Bünde“-Paulusinterpretation macht, und wie Gaston so gut wie nichts dazu zu sagen hat, wenigstens was Paulus’ Haltung demgegenüber betrifft; für Stowers wäre es verfehlt gewesen, Glauben an Jesus als für Juden heilsnotwendig zu betrachten. Dennoch ist ein Judenchristentum ohne diese Voraussetzung kaum sinnvoll. Vgl. hier Gaston, Paul, 79; Gager, Reinventing, 146.

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nicht gleichzeitig gesetzestreu und „gesetzlos“ sein konnte, und die Situation in der gemischten Gemeinde von Antiochia war eine solche Situation.34 Der antiochenische Zwischenfall bedeutet also, dass Gesetzesfreiheit für Heidenchristen unvermeidliche Konsequenzen auch für jene Judenchristen hatte, die zur selben Gemeinde gehörten. Es geht nicht, einfach zu behaupten, dass es nur Heidenchristen in Paulus’ Gemeinden gegeben habe35 , auch wenn er sie als vorwiegend heidenchristlich anspricht. Aquila war Mitglied der korinthischen Gemeinde, dann der ephesinischen, und Aquila war Jude (Apg 18,2), auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt wird, dass auch seine Frau Jüdin war. Und möglicherweise, wenn der in 1 Kor 1,14 erwähnte Krispos derselbe ist wie der von Apg 18,8, der auch ρχισυνγωγος war, so war auch dieser Judenchrist. Der alexandrinische Jude Apollos war laut der Apostelgeschichte (18,24.27) anscheinend auch in diesen beiden Gemeinden tätig und wahrscheinlich auch gemäß der Auskunft, die Paulus selbst gibt (vgl. 1 Kor 3,6; 16,12). Und obwohl die römische Gemeinde nicht als eine paulinische zu betrachten ist, gehörte wahrscheinlich zumindest eine kleine Gruppe von Judenchristen und -christinnen dazu, wenigstens wenn Kap. 16 an jene Gemeinde gerichtet ist.36 Die Zahl der Judenchristen dürfte ein ganz kleiner Teil der wahrscheinlich nicht sehr zahlenreichen Mitgliedschaft dieser Gemeinden gewesen sein, aber wie Paulus erwartete, dass sie sich verhalten und mit ihren heidnischen Mitchristen umgehen sollten, könnte darauf andeuten, was er für Judenchristen im Allgemeinen als angemessen betrachtete. Die Vorstellung, dass Paulus die Existenz zweier separater Wege, für Judenund Heidenchristen, zumindest als einen provisorischen Zustand, bis alle mit ihrem Gott vereint werden, anerkannt habe, würde bedeuten, dass ihr gemeinsamer Glaube keinen konkreten Ausdruck diesseits jener Vollendung finden könnte.37 Obwohl beide Gruppen von Glaubenden die Erbschaft Abrahams und das ihm Versprochene teilten, könnte dann kein sichtbares, vereintes Gottesvolk in dieser Welt existieren. Gemeinden mussten entweder nach heidnischer Art leben oder grundsätzlich nach jüdischer Art. Vielleicht wollten Jakobus und die Jerusalemer Gemeinde das Letztere, aber ob solch ein Szenario dem Paulus gefallen hätte, ist höchst fraglich. Denn dann müssten sich alle Judenchristen und -christinnen von den heidnisch lebenden Gemeinden zurückziehen, wie es in Antiochia ge34 Sanders, Paul (1983), 177; vgl. auch P. Frederiksen, From Jesus to Christ: The Origins of the New Testament Images of Jesus (New Haven/London, 1988) 162–163. 35 Gager, Reinventing, 51. 36 Unter den Gegrüßten befinden sich nicht nur Aquila, sondern auch Paulus’ συγγενε2ς Andronicus und Junia (16,7) und Herodion (V 11). Weitere συγγενε2ς sind mit dem Apostel, als er seine Grüße schickt (V 21). 37 Vgl. Gager, Reinventing, 61.

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schah. Sollte also keine Gemeinschaft zwischen heidnisch lebenden Christinnen und Christen einerseits und Judenchristen und -christinnen andererseits möglich sein, dann ist das angesichts des Nachdrucks, mit dem Paulus die konkrete Auswirkung der geteilten Zugehörigkeit zu Christus betonte, ein sehr schwerwiegendes Zugeständnis. Darin liegt aller Wahrscheinlichkeit nach die Pointe seiner Klage, dass Petrus durch sein Verhalten in Antiochia die Heidenchristen zwang, wie Juden zu leben (Gal 2,14). Denn mit dem Rückzug der Judenchristen von dem konkreten Ausdruck ihrer Einheit in Christus mit den Heidenchristen in der Form der Tischgemeinschaft blieb den antiochenischen Heidenchristen eine schlichte Wahl übrig: Entweder mussten sie ihre eigene, separate Tischgemeinschaft halten, so dass es in Wirklichkeit zwei Gemeinden in Antiochia geben würde, oder sie mussten jene Bedingungen hinnehmen, egal welche, die die dortigen Judenchristen ihnen als Voraussetzung für die Wiederaufnahme ihrer gemeinsamen Tischgemeinschaft auferlegten. 3. Und ferner, wenn das Nebeneinander von zwei unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften mit je unterschiedlichen Vorstellungen davon, was Gott von ihnen verlangt, ein ernsthafteres Problem ist, als Gager zugeben will, so entsteht eine ähnlich praktische Schwierigkeit in Bezug auf seine Behandlung der Berichte in der Apostelgeschichte über Paulus’ anfängliche Verkündigung in jüdischen Synagogen während seiner Missionsreisen. Denn Gager gibt zu, dass solch ein Szenario an sich plausibel sei, betont aber, dass diese Verkündigung nicht an Juden gerichtet worden sei, sondern an Heiden. Dennoch ist es recht unwahrscheinlich, dass Paulus in solch einem Kontext eine separate heidnische Zuhörerschaft hätte, zu der er in Abwesenheit anderer Juden sprechen konnte. Es ist nur schwer vorstellbar, dass er etwa die anwesenden Heiden gebeten habe, nach der Hauptversammlung zurückzubleiben, so dass er mit ihnen dann allein reden könnte. Wenn er ihnen das Evangelium dort predigen könnte, so wäre es wahrscheinlicher, dass er das in Anwesenheit der jüdischen Mitglieder der Synagoge tun musste, und weil Paulus selbst Jude war, ist es unwahrscheinlich, dass jene versäumt hätten zu fragen, welche Bedeutung dieser angekündigte Weg Gottes für die Heiden dann ihrerseits für Juden haben sollte, auch wenn Paulus das nicht schon ausdrücklich erklärt hätte; es ist umso wahrscheinlicher, dass sie das fragen würden, wenn dieser Prediger selbst offensichtlich bereit war, so viele Aspekte seiner eigenen jüdischen Identität beiseite zu lassen, wenn es ihm vorteilhaft zu sein schien. Egal ob er diese Implikationen seiner Botschaft ausdrücklich deutlich machte oder nicht, so haben Paulus’ jüdische Zuhörer sie wahrscheinlich erkannt, und das führte zu jenen disziplinarischen Maßnahmen, die Paulus schon fünfmal erlitten hatte, als er den 2. Korintherbrief schrieb (nochmals 11,24). 4. Der folgende Punkt mag spekulativer sein, aber die Umstände, unter denen sich Paulus bekehrte und der Anhängerschaft Jesu anschloss, dürften auch hier

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relevant sein. Wie Gager erkennt (54), wird oft angenommen, dass die Heiden irgendwie ein Faktor bei der Bekehrung des Paulus waren, und eine Weise, in der dieser Faktor wohl relevant sein mag, ist die Überlegung, dass die Gründe, warum Paulus die frühchristliche Gemeinde verfolgte, in der Bereitschaft einiger von ihnen lagen, Heiden an ihren Versammlungen (einschließlich gemeinsamer Mahlzeiten) teilnehmen zu lassen.38 In dem Fall aber war diese judenchristliche Gemeinde, die Paulus damals verfolgte, in den Augen ihrer Volksgenossen, einschließlich Paulus, eine, die den Verpflichtungen des Bundes untreu war. Die Lebensweise solch einer Gemeinde, zu deren Mitgliedern sowohl Juden als auch Heiden gehörten, war dann eine, die Paulus später mit seiner Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben allein verteidigen würde; und es sei zu betonen, dass sie eine Lebensweise für Juden- und Heidenchristinnen und -christen war, und dass Paulus’ Verteidigung dementsprechend auch für Judenchristen und -christinnen galt. 5. Es muss auch gefragt werden, ob einige der Argumente, die Paulus in Bezug auf den Status des jüdischen Gesetzes gebraucht, noch immer sinnvoll oder stichhaltig sind, wenn sie sich nur auf Heiden und ihr Verhältnis zum Gesetz beziehen. Könnten z.B. Judenchristen durch das Gesetz die Gerechtigkeit erlangen, wäre Christus dann nicht umsonst gestorben, wenigstens was sie anbetrifft? Denn man könnte dann fragen, warum Heiden die Gerechtigkeit nicht auf demselben Weg suchen sollten, wie Proselyten es taten, statt einen so drastischen Schritt wie den Tod des Gottessohnes zu benötigen (vgl. Gal 2,21). Oder warum weist Paulus darauf hin, dass kein Gesetz gegeben worden ist, das das Leben bringen könnte, wenn es in der Tat der Weg des Lebens oder der Weg zum Leben für Judenchristinnen und -christen wäre (vgl. Gal 3,21)? Ist es nicht der Fall, dass solche Argumente nur dann verständlich wären, wenn das Gesetz selbst inadäquat wäre und wenigstens durch Glauben an Christus ergänzt, wenn nicht ersetzt, werden müsste? Das gälte dann ebenso sehr für Judenchristinnen und -christen. 6. Trotzdem hat die neuere Perspektive in mindestens einer Hinsicht völlig Recht: Paulus schreibt an christliche Gemeinden und redet keine nichtchristlichen Juden als solche unmittelbar an; er setzt sich mit Christen auseinander und wird durch die Tätigkeiten von Christen provoziert, sowohl Judenchristen als auch Heidenchristen; es geht nämlich um interne christliche Sachen. Zugleich aber sei es wichtig zu beachten, auch wenn sich Paulus gegen die Tätigkeiten von Judenchristen wehrt, erstens, dass diese Tätigkeiten wahrschein38 Vgl. A. J. M. Wedderburn, „Paul and Jesus: Similarity and Continuity“, NTS 34 (1988) 161–182 = Ders., Paul and Jesus: Collected Essays (JSNTSup 37; Sheffield, 1989) 117–143 sowie A History of the First Christians (London/New York, 2004) bes. 49–54; vgl. auch z.B. J. Becker, Paulus: Der Apostel der Völker (Tübingen, 1989) 68–71; H. Räisänen, „Die »Hellenisten« der Urgemeinde“, in: ANRW II 26.2 (Berlin/New York: de Gruyter, 1995) 1468–1514, hier 1498–1499.1501.

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lich oft durch die ihrer nichtchristlichen Volksgenossen beeinflusst oder sogar veranlasst wurden und, zweitens, dass das Denken und die Überzeugungen, die die Tätigkeiten dieser Judenchristen zugrunde liegen, oft mit denen nichtchristlicher Juden übereinstimmen. Ein deutliches Zeichen des Einflusses von nichtchristlichen Juden auf das Leben und Denken ihrer christlichen Volksgenossen findet sich wahrscheinlich in jener Furcht vor „denen der Beschneidung“, die Paulus als die Motivation für Petrus’ Verhalten in Antiochia in Gal 2,12 identifiziert. Denn obwohl viele hier eine innerchristliche Gruppierung sehen, lässt es sich nur schwer erklären, warum Petrus Mitchristen wirklich fürchten müsste, es sei denn, er fürchtete den Verlust seines Einflusses und seiner Glaubwürdigkeit ihnen gegenüber, wenn er „wie ein Heide“ lebte (2,14). Wahrscheinlicher hier und auch im Falle der Motivation, die Paulus seinen Gegnern in den galatischen Gemeinden zuschreibt (6,12)39 , ist die Verfolgung durch nichtchristliche Juden, die Petrus und andere Judenchristen drohte, sowie die positivere Überlegung, dass Petrus’ Rolle als Judenmissionar ernsthaft gefährdet und untergraben werden könnte, wenn man meinte, er lebte wie ein Abtrünniger. 7. Schließlich bietet eine andere Passage erhebliche Schwierigkeiten für eine „Zwei-Bünde“-Deutung der Theologie des Apostels: Denn bliebe der alte Bund mit Israel von der paulinischen Botschaft unberührt und funktionierte er befriedigend, dann wären Paulus’ leidenschaftlicher Wunsch und sein gequältes Gebet am Anfang von Röm 9 völlig unverständlich. Wäre das Volk Israel noch immer in vollem Besitz und Genuss seiner alten Privilegien und Vorrechte, dann fiele es schwer, das folgende „geistliche Ringen“ des Apostels zu erklären.40 Nur wenn sein Volk das Evangelium und ihren Messias größtenteils abgelehnt und sich anscheinend dadurch enterbt hatte, so sieht man, warum auch dieses Thema unentbehrlich zu Paulus’ Verteidigung seines Evangeliums und vor allem der Kompatibilität davon mit der Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit Gottes gehört. Denn auf den ersten Blick erscheint es in der Tat so zu sein, dass der Erfolg der Heidenmission und der Misserfolg der Judenmission die göttlichen Verheißungen an Israel untergraben und zum Scheitern gebracht und deshalb die göttliche Bundestreue in Frage gestellt hatten.

IV Die Paulusdarstellung der neueren Perspektive erleichtert zweifellos den jüdischchristlichen Dialog und scheint auf den ersten Blick eine gravierende Schwäche 39

Vgl. R. Jewett, „The Agitators and the Galatian Congregation“, NTS 17 (1970–1) 198–212. So bezeichnet, zu Recht, H. Räisänen die Argumente von Römer 9–11: „Römer 9–11: Analyse eines geistigen Ringens“, in: ANRW II 25,4 (Berlin/New York, 1987) 2891–2939. 40

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oder Unsicherheit der neuen Paulusperspektive zu entfernen, zugleich aber nach meiner Meinung auf Kosten eines gewissen Wirklichkeitsverlustes hinsichtlich des Verlaufes von Paulus’ Missionstätigkeit sowie erheblicher Schwierigkeiten im Verstehen einiger Stellen in den paulinischen Schriften zu gehen. Das bedeutet aber keineswegs, dass entweder die neue Paulusperspektive von Sanders und anderen oder die traditionellere Paulusdeutung, die Sanders so scharf kritisierte, völlig befriedigend sind. Mit Recht beobachtet Bruce Longenecker, dass weder die neue Paulusperspektive noch die traditionellere, vor allem lutherische Interpretation behaupten könne, alle Argumente seien auf ihrer Seite. In der Tat spreche einiges für die eine Deutung, einiges für die andere.41 Gewissermaßen liegt der Grund der Zweideutigkeit der paulinischen Argumentation darin, dass Paulus zwei oder mehrere Elemente aus seiner persönlichen Geschichte und Erfahrung miteinander zu vereinen versuchte, obwohl dieser Versuch vielleicht der Quadratur eines Kreises gleich kam: Einerseits hat er als Christ eine Form des Christentums erlebt, in der das Gesetz, und vor allem die rituelle Seite des Gesetzes, als ein Adiaphoron betrachtet wurde, als weder verbindlich noch heilsnotwendig; stattdessen war Glaube an Christus und das gnadenvolle Geschenk des Geistes Gottes maßgebend und entscheidend. Andererseits wusste er als Jude, dass Gott durch die alttestamentlichen Schriften gesprochen hatte, und dass diese Schriften deshalb noch immer die Offenbarung von der Wahrheit Gottes enthielten. Nicht nur das, sondern er konnte auf eine Vergangenheit als Jude zurückblicken, in der er die meisten seiner Altersgenossen in seiner Treue zum Gesetz und in seinem Eifer dafür übertraf (Gal 1,14). Das impliziert dort ein gewisses Mehr oder Weniger im Dienst des Gesetzes, auch wenn er das Heil der weniger Eifrigen nicht grundsätzlich in Frage stellen wollte; es mag sein, dass darin der Grund zu finden ist, warum er seine Gegner in den galatischen Gemeinden beschuldigen kann, selber das Gesetz nicht zu halten (Gal 6,13). Auch wenn er als Jude die Wirksamkeit und die Priorität der göttlichen Gnade für alle nicht hatte leugnen wollen, so folgte doch aus seiner Betonung seines Gesetzeseifers sowie seiner tadellosen Gerechtigkeit dem Gesetz nach (Phil 3,6), dass einige Juden viel mehr auf diese Gnade angewiesen waren als andere, auch wenn letztendlich alle sie nötig hatten. Auch in Gal 1,14 kommt der Leistungsaspekt von Paulus’ jüdischer Frömmigkeit noch deutlicher zum Ausdruck, als er beschreibt, wie er in seiner Verfolgung der frühchristlichen Gemeinde die meisten seiner Altersgenossen in seinem Ιουδαϊσμ+ς übertraf (προ!κοπτον . . . %π!ρ).42 M.a.W.: 41 B. W. Longenecker, The Triumph of Abraham’s God: The Transformation of Identity in Galatians (Nashville, 1998) bes. 179–183. 42 Es mag kein Zufall sein, dass Paulus hier einen Ausdruck benutzt, der u.a. ein terminus technicus der stoischen Ethik ist (auch wenn es von Vertretern anderer philosophischer Traditionen gebraucht

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Das Element der Leistung, das die Vertreter der „neuen Paulusperspektive“ als so befremdlich und anstößig bei der paulinischen Darstellung des Judentums empfinden, ist in Paulus’ vorchristlichem Leben klar erkennbar, und das erhebt die Frage, ob nicht diese ganz persönliche Erfahrung seine Wahrnehmung des jüdischen Glaubens im Allgemeinen entscheidend geprägt hat, auch wenn Oda Wischmeyer darin Recht haben mag, dass der Apostel nicht immer das Judentum in die Zwangsjacke seiner eigenen Erfahrung als Jude gesteckt habe, sondern auch jenen Aspekt wahrnimmt, den das Stichwort „Bundesnomismus“ zusammenfasst.43 Paulus selbst erkennt, dass sein eigener Gesetzeseifer keineswegs typisch für seine Zeitgenossen sei44 ; trotzdem hat er das Judentum manchmal so dargestellt, dass seine Schilderung seine eigene Form und Erfahrung des jüdischen Lebens widerspiegelt.45 D.h.: Auch wenn Paulus’ Darstellung des Judentums nicht in jeder Hinsicht dem Wesentlichen des Judentums entspricht, und sogar irreführende Akzente setzt, wenn man das damalige Judentum im Allgemeinen betrachtet, so ist trotzdem zu überlegen, ob nicht sein Bild durch seine eigene, ganz persönliche Erfahrung und Biographie geprägt und gefärbt worden ist, seine Erfahrung eines Judentums nämlich, das keine entartete Form jenes Glaubens ist, sondern eine Form, die glaubte, das Judentum nach dem Modell des Pinhas vor Verunreinigung und Verrat zu retten und zu behüten. M.a.W.: Während Longenecker Paulus’ Erfahrung als Christ für seine Darstellung des Judentums als prägend ansieht, ist es überlegenswert, ob nicht auch Paulus’ Erfahrung und persönliche Biographie als eifriger Jude seine Darstellung und Akzentsetzung ebenso sehr geprägt und gefärbt haben, besonders wenn man erkennt, wie divers und vielfältig das damalige Judentum war und dass es nicht als ein monolithischer Bundesnomismus zu betrachten ist.

wird: vgl. Philo Spec. leg. 3,132.140.143f.159.196 usw.) und sich auf den sittlichen Fortschritt bezieht (vgl. z.B. Plutarch Mor. 1063A). 43 Sie denkt v.a. an Röm 3,2; 9,4–5: „Religion“, 85, gegenüber G. Theissen, Die Religion der ersten Christen: Eine Theorie des Urchristentums (Gütersloh, 2000) 290 Anm. 11. Andererseits aber gibt Theißen selbst kurz danach zu, dass Paulus sich bewusst war, „dass sein Judentum für das Judentum überhaupt nicht typisch war“ (295). 44 Vgl. Theissen, Religion, 295. 45 Ob er aber damals an sein Heil als κατ4 5φελημα (Röm 4,4) dachte, mag fraglich sein. Denn an dieser Stelle ist das κατ4 5φελημα zum Teil aus der Kontrastierung mit κατ χριν entstanden, spiegelt aber zum Teil auch die Behauptung seiner Kritiker wider, ein ργζεσθαι nach dem Gesetz sei auch für die Glaubenden noch immer nötig. Ob aber Paulus’ Kritiker das Heil dann als einen verdienten Lohn betrachtet oder es so formuliert hätten, ist eine andere Sache; Paulus sucht eher einen geeigneten Gegensatz zum Gnadengeschenk.

II. Autobiographie und Person

Autobiographisches bei Paulus Aspekte und Aufgaben Eve-Marie Becker Die Antike kennt einen Begriff für Biographie (βος), nicht jedoch für Autobiographie1 , obgleich autobiographische Texte von ihrem Wesen her spätestens seit den Reiseaufzeichnungen des Skylax von Karyanda (519/512 v.Chr. [FGrHist 709], † nach 480 v.Chr.) im griechischen Sprachraum existieren.2 Die folgenden Überlegungen tragen also einen terminologisch fremden Begriff des späten 18. Jhs.3 an antike, in diesem Fall an paulinische Texte heran.4 Sachlich lassen 1 So findet sich auch das Lemma »Autobiographie« in einigen einschlägigen altertumswissenschaftlichen Lexika nicht (RE; OCD; KlP – hier aber mit Verweis auf: M. Fuhrmann, Art. Biographie: KlP 1 (1979) 902–904, wo in Sp. 903f. Hinweise zu antiken autobiographischen Formen erfolgen: „Nach Form und Inhalt einzigartige autob(iographische) Dokumente sind der 7. Brief Platons, die Bildungsgeschichte Ciceros [Brut 304ff.] sowie die Res gestae des Augustus“ [s. dazu unten], a.a.O., 904), wohl aber in DNP: K. Jansen-Winkeln/H. Görgemanns/W. Berschin, Art. Autobiographie: DNP 2 (1997) 348–353, und bereits im RAC: A. Sizoo, Art. Autobiographie: RAC 1 (1950) 1050–1055. 2 Vgl. dazu A. Momigliano, The Development of Greek Biography, Cambridge/London2 1993, 28ff. 3 G. Misch, Geschichte der Autobiographie Bd.1.1 und 1.2, Frankfurt3 1949/1950; Bd.2.1. und 2.2., Frankfurt 1955; Bd.3.1. und 3.2., Frankfurt 1959/1962; Bd.4.1. und 4.2., Frankfurt 1967/1969, hier: Bd.1.1, 7 Anm. 1 stellt den Begriff der »Selbstbiographie« erstmals 1796 in dem Titel einer Sammlung, die von dem Tübinger Literarhistoriker Seybold herausgegeben ist, fest. 4 Eine Betrachtung des paulinischen Briefeschreibens unter dem Aspekt der »Autobiographie« wird in der Paulus-Forschung jedoch zumeist nicht vorgenommen, obwohl bereits Misch das autobiographische Potential des paulinischen Schreibens und dessen Fortwirken auf die Geschichte der Autobiographie hervorgehoben hat, vgl. Misch, Geschichte 1.2 (wie Anm. 3) 540ff., bes.544 Anm. 1. und 541: „So ist auch in der Bekehrungsgeschichte des Apostels, obwohl er selbst sie nur gelegentlich berührt, ein neuer Ansatz der Selbstdarstellung enthalten“, mit Hinweis auf Gal 1,11ff.; 1 Kor 15,8; Phil 3,7ff. Vgl. aber die fehlenden Hinweise in den jüngsten Paulus-Darstellungen: E. P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995 (engl.: Paul, Oxford 1991); J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen3 1998 (UTB 2014); E. Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996; K. Berger, Paulus, München 2002; U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003.

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sich die autobiographischen Passagen in den paulinischen Briefen allerdings als Elemente antiker Autobiographik in die altertumswissenschaftlichen Debatten einbetten und – wenn auch nur mit Einschränkung5 – sogar in den literaturwissenschaftlichen Diskursen der jüngeren Autobiographie-Forschung verorten.6 Es geht im Folgenden also darum, Texte und Passagen der paulinischen Briefe, in denen Paulus »von und über sich selbst schreibt«, erstens als historische Nachrichten auszuwerten, sie zweitens in ihrer literarischen Bedeutung und Funktion zu betrachten und drittens nach den Wechselwirkungen mit der Konstituierung paulinischer Individualität und Personalität zu fragen. Diese drei Aspekte des Vortrags korrelieren mit den drei Silben des Begriffs »Auto-bio-graphie«, die Georg Misch zur Grundlage seiner bekannten Begriffs-Definition genommen hat: Die Autobiographie „läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“.7

1. Standortbestimmung Ich beginne mit zwei unterschiedlichen Voten, die erstens die literarische, zweitens die historische Bedeutung autobiographischer Texte in der Antike charakterisieren. „Eine einzige Selbstbiographie von unvergänglichem Werte hat das Altertum hervorgebracht, die Konfessionen des h. Augustin . . . “. Doch das Buch Augustins ist „eingeordnet in die geschichtliche Kontinuität. Es versteht sich von selbst, daß es darum nicht aufhört, eine eigene und neue und unvergleichliche Leistung zu sein . . . Augustin hat nicht geschrieben, um über sein Leben zu berichten; seine Konfessionen sind die Potenzierung seiner Soliloquien“8 . 5

S. dazu unten. Die jüngere und jüngste Autobiographie-Forschung hat in den Geschichtswissenschaften und in den Literaturwissenschaften einen deutlichen Aufschwung erlebt (vgl. auch einführende Überlegungen dazu bei: E.-M. Becker, »Autobiographie« als Herausforderung an die Neutestamentliche Wissenschaft: dies. [Hg.], Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen/Basel 2003 [UTB 2475], 1–6). Aus der Fülle der Literatur sei hier nur hingewiesen auf: L’ Autobiografia nel Medioevo. Atti del XXXIV Convegno storico internazionale Todi, 12–15 ottobre 1997, Spoleto 1998; J. Jessen/R. Voigt, Bibliographie der Autobiographien, 4 Bde., München 1987–1996; G. Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989; M. Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000 (RUB 17624); J.-P. Carron, Ecriture et identité. Pour une poétique de l’autobiographie, Bruxelles 2002; T. Klaiber, Ce triste Système. Anthropologischer Entwurf und poetische Suche in Rousseaus autobiographischen Schriften, Tübingen 2004; E. Kormann, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert, Köln etc. 2004, mit einer guten Übersicht über die Geschichte der AutobiographieForschung besonders im 20. Jh., a.a.O., 43–101. 7 Misch, Geschichte 1.1 (wie Anm. 3), 7. 8 U. von Wilamowitz-Moellendorff, Die Autobiographie im Altertum: ders., Kleine Schriften VI, Berlin 1972, 120–127, 120 und 126. 6

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So beschreibt Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1907 in einer Besprechung des soeben erschienenen ersten Bandes von Mischs „Geschichte der Autobiographie“9 , die die neuere Autobiographie-Forschung maßgeblich veranlaßt hat10 , aus seiner Sicht die Geschichte und Bedeutung der Autobiographie in der Antike. Zweifellos fallen für von Wilamowitz Paulus als Autor und seine Briefe nicht in den Bereich autobiographischer Literatur. Mit dieser Beschreibung der Bedeutung Augustins für die Geschichte der Autobiographie läßt sich eine Aussage Eduard Nordens konfrontieren: „Cicero ist uns von allen Menschen des Altertums am genauesten bekannt, genauer noch als Augustinus: denn dessen Konfessionen sind stark stilisiert und für die Wirkung auf ein Lesepublikum berechnet, während wir von Cicero nicht viel weniger als tausend Briefe besitzen, unter denen nur wenige für die Öffentlichkeit bestimmt waren“11 .

Beide Voten akzentuieren – ohne sich inhaltlich zu widersprechen – zwei unterschiedliche Aspekte, die für die Beschäftigung mit Autobiographie und autobiographischen Literaturformen der Antike zu bedenken sind: – die Autobiographie, d.h. literarische Aspekte autobiographischer Literatur im engeren Sinne (Wilamowitz-Moellendorff ), – und die Erschließung einer antiken Biographie im Kontext einer historischen Fragestellung und im weiten Feld autobiographisch gefärbter Literatur (Norden).12 Im Folgenden werde ich erstens nach dem historischen Wert autobiographischer Texte als Teil von Biographie und zweitens nach den literarischen Aspekten autobiographischer Literatur im Kontext antiker Gattungsgeschichte fragen. Dabei setze ich drei13 einschlägige literaturwissenschaftlich wie literatur- und gattungsgeschichtlich geprägte Begriffe in ein Verhältnis zueinander: Autor – Biographie – Autobiographie.

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Vgl. Misch, Geschichte (wie Anm. 3). Vgl. z.B. Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 6), 14. 11 E. Norden, Die römische Literatur: Einleitung in die Altertumswissenschaft, hg. v. A. Gercke/E. Norden, Leipzig/Berlin3 1927, 4. Teil, 1–118, 39. 12 Letztere Auffassung korreliert mit der exegetischen Übung, aus den persönlichen Bemerkungen des Paulus Teile seiner vita zu rekonstruieren. 13 Der für die paulinischen Briefe zudem wichtige Begriff der Autographie (vgl. z.B. Gal 6,11ff.), der sich letztlich auf die „Hinzufügung der Unterschrift von eigener Hand beschränkte“, T. Dorandi, Den Autoren über die Schulter geschaut. Arbeitsweise und Autographie bei den antiken Schriftstellern: ZPE 87 (1991) 11–33, 25, wird hier allerdings nicht weiter bedacht. 10

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Damit bewegen wir uns – dem Anlaß entsprechend – auf ein von Oda Wischmeyer mehrfach untersuchtes Gebiet der Paulus-Forschung zu.14 Diese Überlegungen geben drittens Aufschluß über die Wechselwirkungen zwischen Biographie, Autobiographie und Personalität bei Paulus. Die Autobiographie wird sich dabei als ein wesentliches Bindeglied zwischen der Biographie und der Konstituierung paulinischer Personalität erweisen.

2. Paulus, der Brief-Autor Als Verfasser autobiographischer Texte verstanden, muß der Briefeschreiber Paulus zunächst als literarischer Autor gewürdigt werden. Paulus schrieb mindestens sieben uns erhaltene und für authentisch befundene Briefe15 und läßt sich daher in dreifacher Weise als historischer und literarischer »Autor« bezeichnen: Im Sinne eines auctor ist Paulus erstens der geistige Urheber der an fünf Gemeinden oder Gemeindebezirke (Korinth, Thessaloniki, Galatien, Rom, Philippi) und an eine Privatperson (Philemon) gerichteten Briefe.16 Zweitens: Im Sinne der auctoritas binden sich die apostolische Autorität des zuletzt berufenen Augenzeugen der Auferstehung Christi (1 Kor 15,8ff.) und der Briefautor Paulus gegenseitig.17 Dieser Vorgang findet rezeptionsgeschichtlich und zunächst nicht autoren- bzw. produktionsorientiert statt: Die korinthische Gemeinde als kontinuierlichste Adressatin paulinischer Briefe erkennt die Gewichtigkeit und Kraft der Paulus-Briefe (2 Kor 10,10) an. Paulus selbst beginnt im 2. Korintherbrief, die Funktion seiner Briefe hermeneutisch zu bedenken (bes. 2 Kor 2.7), und formuliert Ansätze zu einer Brief hermeneutik.18

14 Vgl. zuletzt: O. Wischmeyer, 2. Korinther 12,1–10: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. v. E.-M. Becker, Tübingen 2004 (WUNT 173), 277–288; dies., Paulus als Autor: a.a.O., 289– 307. 15 1 Thess; 1 und 2 Kor; Gal; Phlm; Röm; Phil. Vgl. dazu neuerdings: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen/Basel 2006 (UTB) (im Druck). 16 Zur hiermit verbundenen Frage der Co-Autorschaft bzw. Co-Adressatenschaft vgl. E.-M. Becker, Schreiben (wie Anm. 4), 149ff.; dies., Letter Hermeneutics in 2 Corinthians. Studies in Literarkritik and Communication Theory, London/New York 2004 (JSNT.S 279), 121ff. 17 Vgl. zum Autoritäts-Begriff auch: E.-M. Becker, Autorität und κκλησα. Paulus und die korinthische Gemeinde. Historische und theologische Wurzeln: T. Klausnitzer (Hg.), Autorität und Kirche, 2006 (im Druck); O. Wischmeyer, Die Grundlagen der Autorität des Apostels Paulus: a.a.O. (im Druck). 18 Vgl. hierzu noch einmal: E.-M. Becker, Schreiben (wie Anm. 4); dies., Letter Hermeneutics (wie Anm. 16).

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Das Phänomen der Pseudepigraphie (2 Thess, Kol, Eph, Tritopaulinen bzw. Pastoralbriefe) im möglichen Rahmen einer sog. Paulus-Schule zeigt19 , daß die ca. 12 Jahre paulinischer Schreibtätigkeit20 traditionsbildend und autoritätssichernd gewirkt haben. Die pseudepigraphen Briefeschreiber leihen die briefliche Autorität des Paulus, um die Tradition paulinischer Lehre und Gemeindetheologie nach Pauli Tod fortsetzen, d.h. sichern und ergänzen, zu können. Drittens: Die rezeptionsgeschichtliche Erfahrung der Bedeutung seiner Briefe und die briefhermeneutischen Überlegungen dazu lassen Paulus schließlich auch in literarischer Hinsicht zum Autor werden. Schon im 2 Kor, spätestens aber im Röm vervollkommnet Paulus sein Briefeschreiben soweit, daß die Briefe über eine konkrete Gemeindesituation hinausweisen, d.h. den Charakter von Gelegenheitsbriefen zugunsten theologisch wie literarisch anspruchsvoller antiker Briefe eintauschen. In diesem Zusammenhang ist dann auch das Phänomen der Autobiographie zu würdigen. Denn ein Schreiber autobiographischer Texte weist sich in besonderer Weise als historische Person und literarischer Autor aus. Paulus ist – neben dem Apokalyptiker Johannes (Apk 1,9–17) – der einzige ntl. Autor, der sich autobiographisch äußert und der sich als orthonymer Schreiber überhaupt autobiographisch äußern kann. Orthonymität, d.h. historische und literarische Autorschaft, und Autobiographie bedingen sich also gegenseitig. Der »Brief« erweist sich insofern als nicht ungeeignete Form autobiographischer Reflexion, als er – schon gemäß antiker Epistolographie21 – als »Spiegel der Seele« des Absenders gilt.22

3. Autobiographie und Biographie – historische, literarische und anthropologische Aspekte 3.1. Der historische Wert der Autobiographie Unter historischer Fragestellung liegt die Bedeutung autobiographischer Texte in ihrem Aussagegehalt für die Biographie einer historischen Person. 19 Zur kurzen Übersicht vgl. bei U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen5 2005 (UTB 1830), 45ff. 20 Der 1 Thess ist – als frühester Brief – ca. auf die Jahre 49/50 n.Chr. datiert; die letzten Briefe könnten der Phil und Phlm, geschrieben vielleicht 60/61 n.Chr., sein. 21 Vgl. dazu K. Thraede, Grundzüge griechisch-römischer Brieftopik, München 1970 (Zet. 48), bes. 23: „Was von jedem anderen λ+γος gilt, trifft erst recht für den Brief zu: daß man aus ihm die Sinnesart des Autors erkennen kann“. 22 Aus der Fülle der Literatur vgl.: W. Müller, Der Brief als Spiegel der Seele. Zur Geschichte eines Topos der Epistolartheorie von der Antike bis zu Samuel Richardson: Antike und Abendland 26 (1980) 138–157.

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Hierbei lassen sich mindestens vier methodische Annäherungen vornehmen: (1.) Die gegenwärtigen Geschichtswissenschaften fassen unter Autobiographien im weiteren Sinne auch »Selbstzeugnisse«, »Memoiren« oder sog. »EgoDokumente«.23 Auch wenn das geschichtswissenschaftliche Interesse an autobiographischen Texten auf eine verstärkte „Anthropologisierung der Geschichtswissenschaft“ zurückgeführt werden kann24 , steht bei der Beschreibung und Auswertung von Autobiographien z.B. als Ego-Dokumenten der dokumentarische Wert autobiographischer Texte als geschichtlicher Quellen mit subjektiver Färbung im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses.25 Die historische Auswertung von Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten spiegelt vice versa das geschichtswissenschaftliche Interesse an individuell gestalteten literarischen Quellen wider und führt zu einer Ausweitung dessen, was als autobiographisch im weiteren Sinne bezeichnet werden kann. Dieser Umstand konvergiert mit einer für unsere Fragestellung geeigneten Definition autobiographischer Literatur durch Arnaldo Momigliano: „. . . any statement about oneself, whether in poetry or in prose, can be regarded as autobiographical“ 26 . (2.) Autobiographie und autobiographische Texte sind ein konstitutiver Gegenstand der historischen Anthropologie. Denn die „anthropologisch orientierte Geschichtsschreibung“ thematisiert „nicht nur objektive Lebenszusammenhänge wie die materiellen Sachgüter, die familiare Struktur. . . “, sondern richtet sich ebenso „auf die soziale Praxis, auf die Wahrnehmungsweise, Gefühls-welt und Subjektivität der Menschen“27 . Historische Anthropologie basiert also auf der Erschließung von Subjektivität und Personalität. Autobiographische Texte leisten einen Beitrag zu dieser Fragestellung und tragen zur Deutung historischer Pro23

Vgl. zur Übersicht über die verschiedenen Formen der Autobiographie: W. Schulze, Art. Autobiographie: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. v. Jordan, Stuttgart 2002, 37–40. Zur Definition der sog. Ego-Dokumente: „»Ego-Dokumente« ist ein weitgefasster Begriff . . . Es werden darunter einerseits jene Quellen verstanden, in denen ein Mensch freiwillig Auskunft über sich selbst gibt . . . Andererseits versteht man darunter auch Aussagen »normaler« Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten über sich selbst, die durch besondere Umstände oder Zwang veranlasst wurden . . . “, ders., a.a.O., 38. Vgl. z.B. auch die Beiträge in: W. Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. Zur literaturwissenschaftlichen Kritik am Begriff der »Ego-Dokumente« vgl. z.B. Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 6), 23. 24 Schulze, Art. Autobiographie (wie Anm. vorher), 37. 25 Vgl. zu dieser Fragestellung: V. Depkat, Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung: T. Rathmann/N. Wegmann (Hg.), Quelle. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin 2004 (Beihefte zur Zeitschrift für Deutsche Philologie 12), 102–117. 26 Momigliano, Biography (wie Anm. 2), 23 (im Original nicht kursiv). 27 R. van Dülmen, Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, Wien2 2001 (UTB 2254), 44.

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zesse bei.28 Dies gilt insbesondere für den an »Mentalitäten« orientierten Bereich der Geschichtswissenschaften.29 (3.) Die Altertumswissenschaften differenzieren antike Formen der »Autobiographie« gattungs- und formspezifisch. Die dabei entstehenden unterschiedlichen Klassifizierungen30 autobiographischer Formen rühren vom bereits zu Anfang benannten Definitionsproblem her: Autobiographien im modernen Sinne als umfassende Selbstreflexion und Selbstdarstellung bzw. „introspektive Selbsterfahrung“ in literarischer Form existieren in der Antike – zumindest vor Augustinus – nicht31 , ebensowenig wie eine eigene Gattung »Autobiographie«. Es finden sich aber autobiographisch gefärbte Texte, die – wie Herwig Görgemanns für die griechische Literatur vorschlägt – zunächst in verschiedenen literarischen Ursprungsbereichen (Rhetorik, Briefe, Memoiren, Autorenvorstellungen und sittliche Selbsterforschung) beheimatet sind, hieraus entstehen32 und gleichsam das Phänomen der Autobiographik in der antiken Literatur und Kultur konstituieren.33 Festzuhalten ist, daß autobiographische Aussagen und Texte zunächst in verschiedenen Bereichen der Literatur (z.B. Briefe, Rhetorik) begegnen und daß sie in gattungsspezifischer Hinsicht tendenziell mit biographischer Literatur verwandt sind.34 Autobiographische Texte lassen sich historisch auswerten. Dies gilt 28

Van Dülmen, Anthropologie (wie Anm. vorher), bes. 44–47. Vgl. hierzu: L. Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, 156ff. 30 Z.B. wird die Nähe autobiographischer Formen zur biographischen Literatur unterschiedlich bestimmt, und einzelne Literatur-Formen (z.B. Hypomnemata, Commentarii oder Memoiren) werden teilweise der autobiographischen Literatur zugerechnet, teilweise aber auch von ihr unterschieden. 31 Görgemanns, Art. Autobiographie II. und III. (wie Anm. 1), 349. 32 Vgl. Görgemanns, Art. Autobiographie II. und III. (wie Anm. 1), 349f. 33 So ordnet auch bereits Sizoo, Art. Autobiographie (wie Anm. 1), 1050ff. aus der Erkenntnis heraus, „die Selbstdarstellungen gehören verschiedenen Literaturgattungen an. Man muß unterscheiden zwischen der eigentlichen A(utobiographie) u(nd) dem autobiographischen Element in der Literatur überhaupt“ (a.a.O., 1050, mit Hinweis auf F. Jacoby: DLZ 30 [1909]), das »autobiographische Material« der christlichen und nichtchristlichen Antike in: „Grabinschriften . . . , Selbstzeugnisse der Schriftsteller . . . , Apologien . . . , Memoiren . . . , Berichte über innere Erfahrungen . . . , Bekehrungsgeschichten . . . , Religiöse Seelengeschichte“. G. A. Benrath, Art. Autobiographie, christliche: TRE 4 (1979) 772–789, zeichnet auf der Basis dieser Ausweitung autobiographischer Formen explizit auch „die apologetisch motivierte kurze Rückschau des Apostels Paulus auf seinen Lebensgang“ in Gal 1,11ff. (s. dazu unten) in die Geschichte der christlichen Autobiographie ein, a.a.O., 773. 34 Vgl. zur Übersicht: K. Meister, Autobiographische Literatur und Memoiren (Hypomnemata): Purposes of History. Studies in Greek Historiography from the 4th to the 2nd Centuries B.C., ed. by H. Verdin et al., Leuven 1990 (StHell 30), 83–89; vgl. auch ders., Die griechische Geschichtsschreibung. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Stuttgart etc. 1990, 187ff. Zur Sammlung autobiographischer Texte bei F. Jacoby, vgl.: FGrHist II C. A. Dihle, Die griechische und lateini29

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insbesondere für die Hypomnemata35 -, Memoiren- und Commentarii-Literatur, die seit dem Hellenismus, besonders aber in der Tradition der Aufzeichnungen Caesars in der frühen Kaiserzeit einen deutlichen Aufschwung erlebt und dem Feld der autobiographischen Literatur, hier im weiteren Umfeld der historiographischen Literatur36 , zugerechnet werden kann. Ein prominentes Beispiel sind die Selbstdarstellungen des Augustus, die sich allerdings trotz ihrer erheblichen Bedeutung37 nicht in der literarischen Form der Selbstbiographie (de vita sua, [Sueton, Aug 85,1]; griech.: %πομν$ματα [z.B. Plutarch, Brut 27 und 41] – diese Schrift des Augustus dürfte den Titel: Imperatoris Caesaris Augusti de vita sua libri XIII gehabt haben38 ), sondern als res gestae durch das Monumentum Ancyranum39 erhalten haben. An die Tradition kaiserlicher Selbstdarstellung schließen sich die iulisch-claudischen Memoiren40 und in programmatischer Weise auch die Memoiren Vespasians41 , die den Aufstieg der Flavier dokumentieren, an. sche Literatur der Kaiserzeit. Von Augustus bis Iustinian, München 1989, 536, sieht die Funktion autobiographischer Texte darin, „rechtfertigende Berichte über das eigene Tun“ zu sein. 35 Aratos von Sikyon (ca. 271–213 v.Chr.) ist als einer der frühen Verfasser von Hypomnemata in hellenistischer Zeit bekannt (vgl. FGrHist 231), vgl. auch O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung. Von Hekataios bis Zosimos, Darmstadt 1992, 192ff.; J. Engels, Die Hypomnemata-Schriften und die Anfänge der politischen Biographie und Autobiographie in der griechischen Literatur: ZPE 96 (1993) 19–36. K. Meister, Autobiographische Literatur (wie Anm. vorher). 36 Die Memoiren- oder Hypomnemata-Literatur erwächst – z.B. bei Aratos – aus seiner politischen Tätigkeit und verfolgt – im Unterschied zu den etwa zeitgenössischen Historien des Phylarchos (FGrHist 81) – eine eminent historiographische Funktion, vgl. z.B. Lendle, Geschichtsschreibung (wie Anm. vorher), 192. 37 „Augustus’ autobiography is unique in the tradition since it is the only such work we know to have been written by a statesman before his retirement from public life“, M. Toher, The »Bios Kaisaros« of Nicolaus of Damascus. An Historiographical Analysis, Ann Arbor 1985, 135. 38 Vgl. F. Blumenthal, Die Autobiographie des Augustus: Wiener Studien 35 (1913) 113–130 und 267–288, und 36 (1914) 84–103, 113. Vgl. insgesamt auch ausführlich H. Hahn, Untersuchungen zur Autobiographie des Kaisers Augustus, Diss. Leipzig 1957. 39 Vgl. Blumenthal, Autobiographie (wie Anm. vorher), 103 und G. Dobesch, Nikolaos von Damaskus und die Selbstbiographie des Augustus. Zugleich ein Beitrag zur Chronologie der Regierung Caesars: ders., Ausgewählte Schriften Bd.1. Griechen und Römer, hg. v. H. Heftner/K. Tomaschitz, Köln etc. 2001, 205–273, 264. Vgl. neuerdings zum geistes- und religionsgeschichtlichen Kontext der res gestae und ihrer Funktion: B. Bosworth, Augustus, the Res Gestae and Hellenistic Theories of Apotheosis: JRS 89 (1999) 1–18: „What seems to me undeniable is that there are strong resonances of the Hellenistic doctrine of apotheosis through conquest and benefaction . . . “, a.a.O., 1. Vgl. hierzu auch R. Gordon, Roman Inscriptions 1995–2000: JRS 93 (2003) 212–292, 230: „. . . complex and many-layered as that document is, one of its tacit claims is that the combination of (world-)conquest and massive benefaction qualifies a human being for apotheosis“. 40 Vgl. dazu J. Wilkes, Julio-Claudian Historians: CW 65 (1972) 177–203, 181ff. 41 Vgl. dazu HRR 2,108. Zur Benutzung der vespasianischen commentarii durch Josephus vgl. Vita 342 und 358. Vgl. insgesamt zur frühen kaiserzeitlichen Autobiographie: R. G. Lewis, Imperial Autobiography. Augustus to Hadrian: ANRW 2.34.1 (1993) 629–706.

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(4.) Die jüngste sog. »gender-orientierte« bzw. »gender-sensible«42 Autobiographie-Forschung beleuchtet einen zentralen Aspekt, der auch für die Analyse autobiographischer Passagen bei Paulus von großer Bedeutung sein könnte. Die gender-orientierte Autobiographietheorie nämlich „muß . . . vor allem fragen, inwieweit Geschlechtervorstellungen (mit)bestimmen, welche Kommunikationsbeziehungen eingegangen werden können, welche textuellen und paratextuellen Signale für deren Steuerung somit erfolgreich verwendbar sind, welche Chancen ein Text hat, in den Gattungskanon aufgenommen zu werden, und welcher Gattung Lesende einen bestimmten Text überhaupt zuordnen . . . Geschlecht ist nach heutigen Verständnis ein soziokulturelles Konstrukt“43 . Analog zu diesem gender-orientierten Ansatz der jüngsten Autobiographie-Forschung müßten die autobiographischen Passagen bei Paulus konsequent religions-orientiert erfaßt und ausgewertet werden: Das Paradigma der Gender-Forschung lenkt das Augenmerk der Autobiographie-Forschung darauf, daß die von Männern und Frauen verfaßten autobiographischen Texte zwar nicht dichotomisch einander gegenübergestellt44 , wohl aber geschichts- und literaturtheoretisch differenziert werden müssen. Analog dazu müßte das von der Paulus-Forschung vielfach betrachtete Paradigma der »Religion« des Paulus45 die Wahrnehmung und Interpretation der autobiographischen Aussagen in den paulinischen Briefen schärfer in den Blick nehmen.46 Die vier genannten geschichtswissenschaftlich orientierten Ansätze zeigen, in welcher Weise das Phänomen der »Autobiographie« historisch und insofern auch für die Frage nach der historischen Biographie und Person des Paulus relevant ist: – autobiographische Texte dokumentieren Zeit- und Ereignisgeschichte, – autobiographische Texte stellen eine wichtige Quelle für historische Anthropologie dar, – verschiedene autobiographische Einzeltexte und -formen können, wenn auch nur in unspezifischer Weise, einer Makro-Gattung »autobiographi42

Zu diesem Ausdruck vgl. I. Schabert, Gender als Kategorie einer neuen Literaturgeschichtsschreibung: H. Bussmann/R. Hof (Hg.), Genus, Stuttgart 1995, 162–204. 43 Kormann, Ich (wie Anm. 6), 11. 44 Gegen diese Dichotomie wehrt sich auch Kormann, Ich (wie Anm. 6), 11. 45 Vgl. dazu zuletzt im vorliegenden Band den sich mit der Forschung kritisch auseinandersetzenden Beitrag von A. Wedderburn; vgl. auch: O. Wischmeyer, Die Religion des Paulus. Eine Problemanzeige: dies., Von Ben Sira zu Paulus (wie Anm. 14), 311–328. 46 Diese Überlegungen berühren sich teilweise mit den von W. Sparn seitens der Systematischen Theologie an die Paulus-Forschung gerichteten Erwartungen der Konstruktion einer »religiösen Biographie«, vgl. dazu seinen Beitrag im vorliegenden Band.

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scher Literatur« zugerechnet werden; sie lassen sich auf ihren historischen Aussagegehalt hin untersuchen, – autobiographische Texte weisen, wenn sie sozial- und religionsgeschichtlich differenziert betrachtet werden, spezifische Kommunikationsstrukturen auf, die Einblick in die Individualität der historischen Person geben und zugleich gattungstheoretisch bedeutsam sind. 3.2. Literarische Aspekte der Autobiographie Autobiographische Texte konstituieren eine eigene literarische Gattung, die sich von der antiken bis in die moderne Literatur- und Gattungsgeschichte verfolgen läßt. Verfasser autobiographischer Texte betätigen sich als literarisch zu würdigende Autoren. (1.) Dazu zunächst zwei sehr unterschiedliche Beispiele aus der Literatur des 1. Jhs. n.Chr. und der Literatur des 20. Jhs.: Flavius Josephus verfaßt vermutlich in den letzten Jahren des 1. Jhs.47 eine autobiographische Schrift (Ιωσ$που βος). Diese Schrift ist in mehrfacher Weise bemerkenswert: Sie ist, obgleich der Form nach insgesamt durchaus als Autobiographie im engeren Sinne zu bezeichnen48 , als Anhang zu den Antiquitates konzipiert49 und hat besonders in der Auseinandersetzung mit Justus von Tiberias50 über die Ereignisse in Tiberias während des jüdischen Aufstands gegen Rom eine apologetische Funktion51 : „Josephus nützt die Gelegenheit einer Selbstdarstellung . . . , um sein Renommee zu wahren, wenn nicht gar zu erhöhen“52 . Der Verfasser des Bellum Iudaicum und der Antiquitates läßt auf seine historiographischen Schriften eine autobiographische Schrift folgen, damit – wie er am Schluß selbst sagt (vit 430) – andere (7τεροι) seinen Charakter (τ8 9θος) beurteilen sollen. Damit rückt die autobiographische Selbstdarstellung literarisch und gattungsspezifisch – wie bereits angedeutet – in die Nähe biographischer Literatur. Denn auch Plutarch (Alex 1 u.ö.) geht es bei 47 Zur Datierung vgl. F. Siegert et al., Flavius Josephus. Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar, Tübingen 2001, 1: „Terminus a quo und Fixpunkt der gesamten Datierung ist die Angabe A 20:267, wonach Josephus sein Hauptwerk im 13. Jahr des Kaisers Domitian (93/94 n.Chr.) abschloss, um sich sogleich an die besagten Zusätze [C Ap; Vit] zu machen. Diese können nicht mehr viele Jahre gebraucht haben“. 48 Dies gilt auch, wenn Siegert et al., Josephus (wie Anm. vorher), 3 lediglich die Anfangs- und Schlußabschnitte (1–29; 414ff.) als eigentlich autobiographisch bezeichnen. 49 Vgl. dazu H. S. J. Thackeray, Josephus. The Life. Against Apion, Cambridge/London 1926, 1997 (repr.), xiv. 50 Vgl. zu den historischen Ereignissen besonders vit 390ff. 51 „The Life . . . is not a complete biography. The bulk of it is the author’s defence of his conduct during the half-year of his command in Galilee before the siege of Jotapata“, Thackeray, Josephus (wie Anm. 49), xiv. 52 Siegert et al., Josephus (wie Anm. 47), 3f.

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seiner Darstellung von »Geschichte« in Form von βος darum, den Charakter des Menschen (τ τ)ς ψυχ)ς σημε2α), d.h. ρετ$ und κακα, darzustellen. Die vita des Josephus ist kein singuläres Zeugnis autobiographischer Literatur im 1. Jh. n.Chr. Auch Nikolaos von Damaskus (*64 v.Chr.) z.B. berichtet in seiner nur in Fragmenten erhaltenen Autobiographie (Περ το "δου βου κα τ)ς ;αυτο γωγ)ς vgl. FGrHist 90 T 1 und F 131–139) über seinen Bildungsgang und seine philosophischen Grundüberzeugungen. Bemerkenswert aber ist, daß Josephus der vorläufig einzige Jude ist, der eine Autobiographie schreibt, und daß der Anlaß hierfür wohl in seiner Grenzüberschreitung jüdischer Tradition zugunsten römischer Politik, d.h. in einer »Brechung der Biographie«, zu suchen ist.53 Dies führt vor allem zu einem innerjüdischen Konflikt und fordert persönlich verantwortete Apologetik, d.h. literarisch gestaltete Selbstdarstellung heraus. Emily Carr (1871–1945), die bedeutendste kanadische Malerin des 20. Jhs., eröffnet ihre kurz vor ihrem Tode 1945 fertiggestellte Autobiographie „Growing Pains“ folgendermaßen: „My Baptism is an unpleasant memory. I was a little over four years of age. My brother was an infant. We were done together, and in our own home. Dr. Reid, a Presbyterian parson, baptized us. He was dining at our house“54 . An diesem Werk scheint – abgesehen von der gerade zitierten, überaus interessanten Werkeröffnung, in welcher Emily Carr ihre Taufe als Beginn ihrer Biographie definiert – vor allem etwas Grundsätzliches bedeutsam zu sein: Eine Malerin, die in der Form des Selbst-Portraits vielfache Möglichkeiten der Selbst-Reflexion und Selbst-Darstellung hat und diese auch nutzt55 , wählt die literarische Form der Autobiographie, um gleichermaßen über ihre Biographie geschichtlich Auskunft zu geben56 und diese Biographie intentional nach außen hin literarisch zu formen. Carr steht hiermit in einer – mindestens seit J.-J. Rousseau und J. W. von Goethe bestehenden und bis in die Gegenwart anhaltenden – Tradition autobiographisch schreibender Künstler.57 53 Zum Verhältnis von orthonymer Autorschaft, Autobiographie und Personalität vgl. auch die einleitenden Überlegungen von E.-M. Becker im vorliegenden Band und unten 4.3. und 5.2. 54 E. Carr, Growing Pains. An Autobiography with a foreword by Ira Dilworth, Markham/ Allston 2004, 3. 55 Vgl. z.B. ihr Selbst-Portrait aus dem Jahr 1938/1939 in der National Gallery of Canada in Ottawa. So wertet A. Newlands, Emily Carr. An Introduction to her Life and Art, Toronto 1996, 4 das Selbst-Porträt eminent psychologisch aus: „In its simplicity and directness, the self-portrait is both a view of Carr’s exterior self and an expression of her inner beliefs“. 56 So wird u.a. die Autobiographie Carrs für die junge Geschichte der kanadischen Nation bzw. der Provinz British Columbia historisch ausgewertet, vgl. z.B. J. Barman, The West Beyond the West. A History of British Columbia, Toronto etc. 2001 (revised edition), 352. 57 Dazu zählen auch bildende Künstler (vgl. z.B. W. von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, Berlin2 1870), deren Autobiographien sich dadurch als markantes Beispiel für

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(2.) Autobiographische Texte haben in literaturpragmatischer Hinsicht eine bekenntnishafte oder apologetische Funktion. Denn: „Autobiographie ist eine Textart, durch die ihr Autor in der Vergangenheit erfahrene innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen in einer das Ganze zusammenfassenden Schreibsituation sprachlich in narrativer Form so artikuliert, daß er sich handelnd in ein bestimmtes Verhältnis zur Umwelt setzt“58 . Diese zunächst rein kommunikative Struktur autobiographischer Texte realisiert sich – je nach Kommunikationssituation – intentional und in unterschiedlichem Ausmaß in bekenntnishafter oder apologetischer Sprache und Textpragmatik. In 2 Kor 10– 13, dem vermutlich letzten Brief der korinthischen Korrespondenz, schlägt sich eine deutlich apologetische Tendenz autobiographischen Schreibens nieder, die auf die verschärfte Situation der paulinischen Kommunikation mit der korinthischen Gemeinde verweist.59 (3.) Zu den literarischen Aspekten autobiographischer Formen gehört schließlich auch die Frage nach dem Verhältnis von Autobiographie und Autofiktion. Das Phänomen der Autofiktion, d.h. der fiktionale Entwurf von Personalität, begegnet zwar besonders in den autobiographischen Romanen der modernen Literatur. 60 Elemente von Autofiktion finden sich aber bereits generell in antiker Literatur61 und speziell in den biographischen und autobiographischen Formen.62 Denn der sich selbst darstellende Autor gestaltet sich als Charakter und Person, d.h. literarisch und z.T. fiktiv.63

die Eigenbedeutung autobiographischer Literaturformen etwa im Vergleich mit dem Selbst-Portrait erweisen. 58 J. Lehmann, Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, 36. 59 Vgl. E.-M. Becker, Schreiben (wie Anm. 4), bes. 235f. Vgl. allgemein zu den apologetischen Motiven antiker Autobiographik auch die Überlegungen bei M. Fuhrmann, Rechtfertigung durch Identität – Über eine Wurzel des Autobiographischen: O. Marquard/K. Stierle (Hg.), Identität, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), 685–690. 60 Darauf weist auch Holdenried, Autobiographie (wie Anm. 6), 20 hin. 61 Vgl. z.B. in Bezug auf die griechische Tragödie die Überlegungen bei: P. E. Easterling, Constructing Character in Greek Tragedy: C. Pelling (Ed.), Characterization and Individuality in Greek Literature, Oxford 1990, 83–99. 62 Vgl. z.B. C. Pelling, Childhood and Personality in Greek Biography: ders. (Ed.), Characterization (wie Anm. vorher), 213–244. 63 Vgl. hierzu unten; zu den literarischen Funktionen von »Charakter« und »Person«: C. Gill, The Character-Personality Distinction: Pelling (Ed.), Characterization (wie Anm. 61), 1–31.

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3.3. Anthropologische Aspekte von Autobiographie Autobiographische Texte sind individuelle Formen des Erinnerns und stellen ein Pendant zu öffentlichen, d.h. kollektiven und offiziellen, Formen der Erinnerung dar. Dieser thetisch formulierte Satz beinhaltet mindestens drei Aspekte, die die Funktion von Autobiographie – schon in der Antike und bis in die Gegenwart – in anthropologischer und soziologischer Hinsicht benennen. (1.) Autobiographische Texte setzen Individuierung voraus. Über sich selbst schreiben kann nur derjenige, der nicht nur kollektiv, d.h. gruppenbezogen, sondern auch individuierend, d.h. auf sich selbst bezogen, denkt. Das individuierende Denken entsteht im griechisch-römischen Kulturbereich.64 Daher leitet auch Misch die Entstehung autobiographischer Literaturformen wesentlich aus der griechisch-römischen Antike her.65 (2.) Literarische Gestaltung setzt in dreifacher Weise Individuierung frei. Dies gilt für die Ebene und das Thema der Darstellung sowie für die Entwicklung des Autors: In der antiken Dichtung werden Charaktere und Personen programmatisch konstruiert.66 Dieser Vorgang wird in der Dichtungstheorie reflektiert: Aristoteles definiert in seiner Poetik (15. Kap.) vier Merkmale, die den Charakteren der Darstellung zuzuweisen sind.67 Horaz fordert die Identität der konstruierten Personen in der Darstellung des Gesamtwerks (Ars poetica 119ff.).68 Der Aspekt darstellerischer Individuierung gilt aber in besonderem Maße für autobiographische Texte. In der selbsterzählten Biographie wird die Person des Autors zum Thema seiner Darstellung. Im Akt des Schreibens wirkt sich die Individuierung zudem auf die Entwicklung der Person des Autors aus. Denn die Autobiographie kann als Weg betrachtet werden, im Genus der literarischen Darstellung auch thematisch „seine eigene Identität zu konstruieren bzw. zu rekonstruieren, die 64 Das individuierende Denken ist in der griechisch-römischen Philosophie beheimatet: Cicero (z.B. De fin 1,17) übersetzt bekanntlich φανερ8ν ? λ+γος @ & πρAξις προαρεσν τινα . . . , vgl. dazu M. Fuhrmann, Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles, Horaz, »Longin«, Darmstadt2 1992, 46f. 68 siquid inexpertum scaenae conmittis et audes personam formare novam, servetur ad imum, qualis ab incepto processerit, et sibi constet, Ars poetica 125ff., vgl. dazu Fuhrmann, Dichtungstheorie (wie Anm. vorher), 133ff.

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eigene geistig-moralische Persönlichkeit aufzubauen“69 . So setzt autobiographisches Schreiben Individuierung frei und trägt zur Identitätsbildung bei.70 (3.) Autobiographische Texte gestalten Biographie und deuten damit subjektiv erlebte Geschichte. Sie stehen dadurch kollektiven Formen der Erinnerung71 gegenüber, auch wenn sie teilweise selbst kollektivierende Funktion haben, indem sie typologisch, d.h. identifikationsstiftend, wirken.72

4. Form und Funktion von Autobiographie bei Paulus 4.1. Methodische Zwischenüberlegung Die bisher angestellten Überlegungen zu Paulus als Autor und zur Erforschung der Autobiographie in historischer, literarischer und anthropologischer Perspektive (vgl. 2. und 3.) führen zu einem methodisch verwertbaren Zwischenergebnis, das die theoretische Basis für die Durchsicht der Paulus-Briefe auf autobiographische Aussagen hin darstellen kann: – autobiographische Texte haben historischen Wert, – autobiographische Texte sind von literarischer Bedeutung, 69

J. Dalfen, Autobiographie und Biographie. Der Fall Marc Aurel: GrB 23 (2000) 187–211,

198. 70 S. dazu unten 5.2. Zum literaturwissenschaftlichen Aspekt vgl. auch Carron, Ecriture (wie Anm. 6). Vgl. insgesamt zum Begriff der »Identität« auch: O. Marquard/K. Stierle (Hg.), Identität (wie Anm. 59). P. Bürger, Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt2 1998, faßt diese Beobachtung in den Begriff des »Subjektes«: „Um sich zu erzählen, d.h. um sagen zu können, wie es der oder die geworden ist, die es ist, muß das Ich wissen, was es im Augenblick des Schreibens ist. Mit anderen Worten: jede narrative Selbstdarstellung setzt den Abschluß der Entwicklung des Ich voraus“, a.a.O., 30. In der Antike – so bei Augustinus – geschieht diese Selbsterfahrung nach Bürger in der Hinwendung zu Gott. Das Ich „muß gleichsam den Hafen des Selbst erreicht haben, um von seiner Fahrt berichten zu können. Diese Stillstellung erfolgt bei Augustinus durch die Anrede Gottes. Sie ist die Formel der Konstitution des Ich, das ohne sie nicht von sich zu sprechen vermöchte. Erst die Hinwendung zum Du gibt dem Ich Konsistenz und Dauer“, a.a.O., 30f. 71 Hiermit kann z.B. besonders römische (vgl. J. Rüpke, Geschichtsschreibung in Listenform. Beamtenlisten unter römischen Kalendern: Philologus 141 [1997] 65–85) oder frühchristliche (vgl. W. Wischmeyer, Wahrnehmungen von Geschichte in der christlichen Literatur zwischen Lukas und Eusebius. Die chronographische Form der Bischofslisten: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung, Berlin/New York 2005 [BZNW 129] 263–276) Geschichtsschreibung in Listenform gemeint sein. 72 Vgl. hierzu die Überlegungen bei B. Aland, Märtyrer als christliche Identifikationsfiguren. Stilisierung, Funktion, Wirkung: dies. et al. (Hg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003 (STAC 16), 51–70, bes. 51 Anm. 3: Auch der „christlichen Gemeinde ist von ihren Anfängen an die Identifikation mit Vorbildern vorgegeben. Paulus erinnert schon in seinem frühesten Brief an die Thessalonicher mahnend daran, daß sie seine Nachahmer (μιμητα) und Nachahmer des Herrn seien . . . “.

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– autobiographisch gefärbte Texte finden sich kulturübergreifend, – spezifisch als Autobiographien geformte Texte stammen aus dem griechisch-römischen Bereich; sie erleben in der frühen Kaiserzeit eine gewisse Blütezeit, – autobiographische Texte sind mit biographischen Texten gattungsverwandt, – Josephus vertritt den singulären Typus eines orthonym schreibenden jüdischen Autobiographen im hellenistisch-römischen Kontext, – die Autobiographie ist eine spezifische literarische Gattung der Selbstinterpretation und der Selbstdarstellung, – autobiographische Texte haben apologetische oder bekenntnishafte Funktion, – autobiographische Texte stehen in literarischer, thematischer und autorenpsychologischer Hinsicht mit dem anthropologisch relevanten Aspekt der Individuierung in Zusammenhang. 4.2. Autobiographische Aussagen und Texte bei Paulus – Eine Übersicht Paulus hat keine Autobiographie geschrieben, die mit der in etwa zeitgenössisch verfaßten vita des Josephus oder der autobiographischen Schrift des Nikolaos vergleichbar wäre. In den paulinischen Briefen sind jedoch autobiographische Aussagen und Passagen zu finden.73 Die autobiographischen Texte in den paulinischen Briefen können – in Anknüpfung an die Herkunftsbestimmung griechischer Autobiographik durch H. Görgemanns (s.o.) – daher als »Ursprungsbereich« frühchristlicher Autobiographik bezeichnet werden.74 Die autobiographischen Texte des Paulus lassen sich zum einen eher in Hinsicht auf ihren biographisch-historischen Wert und zum anderen eher in Hinsicht auf ihre literarische Gestaltung untersuchen.75 Zur Untersuchung der autobiogra73 Vgl. hierzu auch E.-M. Becker, Schreiben (Anm. 4), 232ff. sowie die Beiträge von O. Wischmeyer und L. Bormann im vorliegenden Band. 74 Ähnlich auch Benrath, Art. Autobiographie (wie Anm. 33). 75 Während der biographisch-historische Aspekt zumeist – methodisch wenig reflektiert – in die Paulus-Darstellungen einfließt (vgl. hierzu z.B.: Schnelle, Paulus [wie Anm. 4], 29ff.), spielt die literarische Gestaltung autobiographischer Texte besonders dann eine Rolle, wenn der Briefeschreiber Paulus als literarisch zu würdigender Autor (vgl. z.B. O. Wischmeyer, Autor [wie Anm. 14]) in den Blick genommen wird.

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phischen Texte in den paulinischen Briefen ergibt sich daher folgende Heuristik76 : autobiographische Einzelaussagen autobiographische Passagen

– biographisch-historisch – literarisch – biographisch-historisch – literarisch

(1.) In folgenden autobiographischen Einzelaussagen macht Paulus historische bzw. biographische Angaben zu seiner Herkunft, seiner Missionstätigkeit etc.: biographisch-historische Einzelaussagen Herkunft

Missionswirken/Missionsgeschichte (Reise-)Pläne

Berufung und Apostolat Apostolische Lebensweise

Krankheit Verfolgung, Bedrängnisse, Peristasen, Gefangenschaft

Vorgeschichte des Briefeschreibens

Belege 2 Kor 11,22 Röm 1,1ff. Phil 3,5ff. 1 Thess 1,2ff.; 3,1ff. 1 Kor 2,1ff.; 3,1ff. 1 Kor 16,5ff. Röm 15,22ff. Phil 2,19ff. 1 Kor 1,17; 4,9ff.; 15,3ff. Röm 15,15 1 Kor 9 2 Kor 11,7ff. Phil 3,12ff.; 4,11ff. Gal 6,17 1 Thess 2,2 1 Kor 15,32 2 Kor 1,8ff.; 11,23ff. Phil 1,7.13ff. 2 Kor 2,1ff.; 7,5ff.

Einige autobiographisch gestaltete Aussagen sind weniger in Hinsicht auf ihren historischen oder biographischen Wert, als vielmehr hinsichtlich ihrer litera76 Diese Heuristik darf – dies hat die Diskussion des Vortrags während des Paulus-Kolloquiums gezeigt – nicht im Sinne einer abschließenden Differenzierung historischer und literarischer Elemente in den autobiographischen Texten der Paulus-Briefe verstanden werden. Die Heuristik dient vielmehr einer methodisch geschärften Wahrnehmung historisch-biographischer Aspekte einerseits und literarischer Aspekte andererseits, die auch deswegen notwendig scheint (vgl. auch die Anm. vorher), weil sich die Bedeutung der paulinischen Briefe nur in einer Spannung von Situativität bzw. historischer Situation und intentionaler literarischer Gestaltung angemessen erschließen läßt.

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rischen Valenz von Bedeutung: Paulus gestaltet z.B. das erzählerische »Ich« über das autobiographische Moment hinaus teils topisch, teils fiktiv weiter aus.77 literarische Einzelaussagen generisches/autofiktionales »Ich« Topos »Gefangener« »Schwachheit« und Körper

Belege 1 Kor 13,1–3.8ff. Röm 7,7ff. Phlm 1.8ff.23 Gal 4,13f.; 6,17

(2.) In zwei zentralen autobiographischen Texten widmet sich Paulus autobiographischen Themen unter wiederum eher historisch-biographisch zu würdigender Perspektive (Gal 1.2), in welcher er über die Anfänge seines apostolischen Wirkens chronologisch berichtet. 2 Kor 12,1–10 ist hingegen programmatisch literarisch gestaltet: Paulus formuliert seine autobiographische narratio weitgehend in der 3. Person Singular und verleiht ihr dadurch narrativ-fiktive und dabei teilweise apokalyptische Züge.78 biographisch-historischer Text Berufung und Missionswirken

Beleg Gal 1,12–2,14

Literarischer Text Entrückungs-Erlebnis

Beleg 2 Kor 12,1–10

77 Diese Sicht auf das schwer zu interpretierende »Ich« in Röm 7 (vgl. zur Übersicht: E. Lohse, Der Brief an die Römer, Göttingen 2003 [KEK 415 ], 213ff.) könnte sich als weiterführend erweisen: Sie vermeidet nämlich die bloße Identifizierung des Ich als biographisch-paulinisches (vgl. z.B. A. Deissmann, Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen 1911, 64f.: „Paulus denkt hier wohl zunächst an seine ersten Kinderjahre . . . “, a.a.O., 64; dagegen: W. G. Kümmel, Römer 7 und das Bild des Menschen im Neuen Testament. Zwei Studien, München 1974 [TB 53], 74ff.; vgl. auch G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983 [FRLANT 131], 181ff., der in Röm 7 „persönliche und typische Züge“ sieht, a.a.O., 204), als generalisierendes christliches (vgl. z.B. U. Wilckens, Der Brief an die Römer [Röm 6–11], Neukirchen-Vluyn3 1993 [EKK VI/2], 76ff.: Dieser Abschnitt unterscheidet sich „von Phil 3,4–14, wo Paulus zwar auch generelle Aussagen über das Christwerden in der 1. Person Singular macht, dieser Ich-Stil aber zu Beginn [VV 4–6] deutlich biographischen Charakter hat“, a.a.O., 76; oder Schnelle, Einleitung [wie Anm. 19], 146), als universal anthropologisches (vgl. in diese Richtung: J. A. Fitzmyer, Romans, New York etc. 1993 [AncB 33], 463ff.) oder als fiktives, das als rhetorisches Stilmittel fungiert (vgl. z.B. Kümmel, a.a.O., 121ff.). Die literarische Valenz dieses »Ich« erwächst vielmehr daraus, daß sich Paulus als Briefeschreiber persönlich und literarisch autobiographisch artikuliert und sich hieraus prozeßhaft auch autofiktionale Elemente entwickeln. In diesem Sinne könnte das »Ich« in Röm 7 vielleicht am sinnvollsten narrativ als autofiktionales Ich, das im Prozeß autobiographischen Schreibens formuliert wird, beschrieben werden. In eine ähnliche Richtung zielt auch O. Wischmeyer, Paulus als Ich-Erzähler: im vorliegenden Band S. 88–105, bes. 101: Das „generische oder ideale und das individuelle, autobiographische Ich“ fallen im Modus der Ich-Erzählung zusammen, denn „die adamitische Ideal-Biographie ist eben zugleich die Autobiographie des Menschen Paulus“. 78 Vgl. dazu O. Wischmeyer, 2. Korinther 12,1–10 (wie Anm. 14); dies., 2 Korinther 12,7–8. Ein Gebet des Paulus: Prayer from Tobit to Qumran, ed. R. Egger-Wenzel/J. Corley, Berlin/New York 2004 (DCLY), 467–479.

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4.3. Autobiographie und Individuierung (1.) Die in seiner Biographie erfahrene Individuierung (κλητ8ς π+στολος φωριοσμ!νος . . . , Röm 1,1) führt Paulus zum autobiographischen Schreiben. Dieser Zusammenhang von Individuierung und autobiographischem Schreiben wird in der Autobiographie-Forschung spätestens seit Wilhelm Dilthey deutlich gesehen und in den Prozeß geschichtlicher Entwicklung eingebettet.79 Die gegenwärtigen Geschichtswissenschaften betonen eher die geschichts-konstruktive Tendenz autobiographischer Texte.80 Beide Tendenzen – die Wirkung und die Konstruktion von (Lebens-)Geschichte auf und durch Autobiographik – lassen sich bei Paulus, besonders in Gal 1,10ff. beobachten: Paulus beschreibt sich selbst in seinem »früheren Leben« im Judentum als Verfolger und Zerstörer der Gemeinden Gottes (Gal 1,13). Dabei übertraf er (προ!κοπτον . . . %π=ρ πολλος . . . περισσοτ!ρως) viele seiner Altersgenossen (Gal 1,14). Zumindest im autobiographischen Rückblick skizziert Paulus Momente von Individuierung also bereits in seinem Leben im Kontext des pharisäischen Judentums. Zugleich finden sich in dieser autobiographischen Skizze auch Elemente konstruierter Lebensgeschichte (z.B. Gal 1,15f.). Der eigentliche Individuierungsprozeß beginnt freilich mit der ποκλυψις Ιησο Χριστο (Gal 1,12)81 : Paulus versteht und beschreibt seine Berufung zum Apostel Jesu Christi als »Aussonderung« nämlich zur Evangelienpredigt unter den Heiden (φορζω: Gal 1,15; Röm 1,1). Es ist eine Berufung ad personam, die in dieser Weise nur ihm zuteil wird. Die notwendige Apologie dieser Evangeliums-Verkündigung (Gal 1,11) führt Paulus dazu, seinen individuellen

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„Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf“, W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt 1981 (stw 354), 247 (zuerst erschienen: Berlin 1910 [APAW.PH Jg. 1910, 1–123]. 80 Vgl. hierzu z.B.: V. Depkat, Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003) 441–476. 81 So sehen Misch, Geschichte 1.2. (wie Anm. 3), 540ff. und W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte: ders., Gesammelte Schriften I. Band, Leipzig/Berlin 1922, 254 in der Bekehrung des Paulus das Initium für seine Selbstdarstellung: Als „in einem Paulus in den Kämpfen des Gewissens das jüdische Gesetz, das heidnische Weltbewußtsein und der Christenglaube aneinanderstießen, als in seinem Erlebnis Gesetzesglaube und Christenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerstem Verstehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Erfahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in diesem Bewußtsein eine große geschichtliche Vergangenheit und eine große geschichtliche Gegenwart zusammen gegenwärtig, beide in ihrer tiefsten, der religiösen Grundlage erfaßt, ein innerer Übergang wurde erlebt, und so ging das volle Bewußtsein von einer geschichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf . . . “. Das „Ringen der Religionen untereinander in dem von geschichtlicher Realität erfüllten christlichen Seelenleben hat das historische Bewußtsein einer Entwicklung des ganzen Seelenlebens hervorgebracht“, Dilthey, ebd.

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Autoritätsanspruch als Apostel Jesu Christi vor dem Hintergrund seiner erfahrenen Individuierung darzulegen und autobiographisch zu gestalten. Individuierung führt also zu orthonymer Autorschaft und Autobiographie. (2.) Dies gilt auch umgekehrt: Autobiographisches Schreiben führt zu Individuierung. Je mehr Paulus die mit seiner Bekehrung einhergehende Individuierung reflektiert, beschreibt und autobiographisch gestaltet, umso mehr individuiert er sich wiederum vor und gegenüber seinen Gemeinden (z.B. 2 Kor 10,1ff.) und möglichen judaisierenden Gegnern (z.B. 2 Kor 11,22): Im Präskript des Römerbriefes verknüpft Paulus seinen Apostolat und die Aussonderung dazu formalepistolographisch, d.h. nahezu stereotyp bzw. als Topos apostolischer Existenz.

5. Autobiographie bei Paulus: Rückblick und Ausblick 5.1. Biographie und Geschichte Der historische Wert autobiographischer Aussagen für die Rekonstruktion der paulinischen Biographie ist in der Paulus-Forschung zwar grundsätzlich kaum umstritten, bleibt aber meist in der historischen Rekonstruktion der Paulus-Vita verortet. Das geschichtswissenschaftliche Interesse an autobiographischen Texten als historischen Quellen macht aber deutlich, daß diese Perspektive zu eng gewählt ist. Die Erforschung von Geschichte, Biographien und Mentalitäten ist untrennbar miteinander verbunden: Autobiographische Aussagen des Paulus können also über eine aspekthafte Auswertung für die paulinische Biographie hinaus als Basistexte für frühchristliche Ereignis- und Mentalitätsgeschichte herangezogen werden. 5.2. Individuierung und Identitätsbildung Colin Morris beschreibt in einer Untersuchung zur Entdeckung der Individualität im europäischen Hochmittelalter einleitend die Wurzeln der Individualität wie folgt: „The hard core of this individualism lies in the psychological experience with which we began: the sense of a clear distinction between my being, and that of other people“82 . Individualität wird durch Abgrenzung entdeckt. Autobiographische Formen sind, wie Morris selbst konzediert – wenn auch freilich frühestens erst mit den Confessiones des Augustinus beginnend – ein entscheidendes Vehikel der Selbst-Reflexion und -Artikulation.83

82 C. Morris, The Discovery of the Individual 1050–1200, London 1972, reprinted 2000 (Medieval Academy Reprints for Teaching 19), 3. 83 Vgl. Morris, Discovery (wie Anm. vorher), 79ff.

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Für Paulus sind hier seine ständige Reflexion über Israel und das Judentum einerseits und seine heftige Auseinandersetzung mit seinen Gemeinden und seinen »Gegnern« andererseits heranzuziehen. Seine Personalität und Identität als Apostel formt sich in diesem von ihm als freundlich-feindlich erlebten Koordinatensystem. Die Wechselwirkungen von Autobiographie und Individuierung lassen sich also auch bei Paulus deutlich beobachten: Weder die religiösen oder sozialen Faktoren seiner Individuierung noch seine autobiographischen Texte als literarische Leistung lassen sich allein und von einander unbeeinflußt untersuchen. Erst die wechselseitige Zusammenschau von Individuierung und Autobiographie erschließt Paulus als Apostel und als frühchristliche Person. 5.3. Literarizität Auch Autobiographie und Literarizität stehen in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis. Autobiographische Texte sind zum einen als literarische Leistung zu werten: Ein historisch greifbarer Autor schreibt über sich selbst. Zum anderen prägen autobiographische Texte Literatur weiter aus und schaffen dabei auch eigene literarische Topoi, Formen und Gattungen: Es wäre (s.o.) zu prüfen, ob die bei Paulus schwer verständlichen literarischen »Ich«-Aussagen (z.B. Röm 7; 1 Kor 13) als »Autofiktion« interpretiert werden könnten, also als »Ich«-Aussagen, die kaum biographisch gestaltet, aber autofiktional, d.h. literarisch stilisiert sind (s. dazu die Tabelle oben). 5.4. Theologie Der 2 Kor enthält umfassende Selbstaussagen des Paulus zu seinem Selbstverständnis als Apostel und Person, so z.B. auch zu seiner Krankheit. Die daraus abgeleitete »Schwachheitstheologie« in Hinsicht auf den Apostolat (2 Kor 11,30; 12,9) korrespondiert mit der in 1 Kor 1,18ff. formulierten »Kreuzestheologie«. Paulus stellt also sein apostolisches Selbstverständnis in expliziten Bezug zur Christologie (vgl. 2 Kor 4,7ff.). Biographie und Theologie bzw. Autobiographie und apostolisches Selbstverständnis einerseits und Christologie andererseits bilden einen gemeinsamen Deutungshorizont.84

84 Vgl. dazu auch: E.-M. Becker, Autorität (wie Anm. 17); dies., Die Person des Paulus: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, Tübingen/Basel 2006 (UTB) (im Druck).

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5.5. Charakter und Personalität Paul Ricoeur formuliert in „Oneself as Another“ (1992)85 die gleichermaßen literaturwissenschaftlich wie anthropologisch interessante Überlegung, das Wesen der Personalität werde im Zuge autobiographischen Schreibens gleichsam wie ein »Charakter« erschaffen: „A character is the one who performs the action in the narrative. The category of character is therefore a narrative category as well, and its role in the narrative involves the same narrative understanding as the plot itself . . . characters, we will say, are themselves plots“86 . Nach Ricoeur entsteht der Charakter also als plot im Zuge des autobiographischen Schaffens. Auch diese Beobachtung benennt m.E. eine genuine Aufgabe der Paulus-Forschung: Die Frage nach dem Charakter- und Personen-Begriff in der Antike ist höchst komplex.87 Christopher Gill schlägt vor, »Charakter« zumindest in der Antike als moralisch bewertete und bewertbare Größe zu verstehen: „I have associated the term »character« with the process of making moral judgements . . . “88 . Im Unterschied zum Charakter, der allgemeinen moralischen Normen und Normierungen unterliegt89 , verbindet Gill erst mit »Person« und »Personalität« ein individuelles, reales oder authentisches Selbst: „I have connected [the term personality, Verf.in] . . . with a response to people that is empathetic rather than moral: that is, with the desire to identify oneself with another person, to »get inside her skin«, rather than to appraise her »from the outside«“90 . Im Hinblick auf das Verhältnis von »Autobiographie« und »Personalität« bei Paulus könnten mögliche Fragestellungen der Paulus-Forschung daher lauten: Inwieweit ist die paulinische Selbst-Bezeichnung als »Apostel Jesu Christi« ein zunächst fiktives Moment paulinischer Selbst-Wahrnehmung und Selbst-Darstellung, d.h. ein zentraler Aspekt des von Paulus in seinen Briefen selbst geschaffenen und literarisch gestalteten Charakters? Wieweit unterliegt dieser Charakter im Kontext frühchristlicher Identitätsbildung moralischer oder ethischer Beurteilung? In welchem Verhältnis stehen die paulinische Apostolizität als literarischer Charakter und Paulus als möglicher Prototyp individueller christlicher Personalität?

85 Vgl. P. Ricoeur, Oneself as Another, transl. by K. Blamey, Chicago 1992 (engl. Übersetzung von: Soi-même comme une autre, 1990). 86 Ricoeur, Oneself (wie Anm. vorher), 143. 87 Vgl. z.B. Gill, Art. Person (wie Anm. 64); vgl. auch E. Lohse, Art. πρ+σωπον κτλ.: ThWNT 6 (1959) 769–781; M. Fuhrmann, Persona, ein römischer Rollenbegriff: O. Marquard/K. Stierle (Hg.), Identität (wie Anm. 59), 83–106. 88 Gill, Character (wie Anm. 63), 2. 89 Vgl. auch C. Gill, Art. Character: OCD3 revised ed. (2003) 317. 90 Gill, Character (wie Anm. 63), 2.

Paulus als Ich-Erzähler Ein Beitrag zu seiner Person, seiner Biographie und seiner Theologie∗ Oda Wischmeyer

I. Die Fragestellung Die Briefe, die Paulus an verschiedene Gemeinden schreibt, wurden zumindest von den korinthischen Hörern als „gewichtig und kraftvoll“ empfunden und konnten die Gemeinden durchaus „erschrecken“ (2 Kor 10,9f ). Die Person des Paulus trat den Erstlesern seiner Briefe also wuchtig vor Augen. So hörte die römische Gemeinde bei der ersten Verlesung des an sie gerichteten Briefes, der Absender Paulus richte als berufener Apostel „den Gehorsam des Glaubens auf unter allen Heiden“ (Röm 1,1–7). Paulus milderte daher in Röm 15,14ff die Wucht seines großen Briefes selbst ab und verwies lobend auf die christliche Einsicht der Adressaten, eben um diese nicht zu erschrecken. Paulus selbst macht seine Stärke und Durchsetzungskraft, deren er sich sehr wohl bewusst ist und die er rhetorisch-pragmatisch souverän einsetzt, weder an seinem Auftreten noch an seinem Briefstil, sondern in paradoxer Weise an seiner krankheitsbedingten Schwäche fest, indem er diese Schwäche als jene, die Christi δναμις Platz gibt (2 Kor 12,1–10), interpretiert. Nun wissen wir, dass die intellektuelle und auktoriale Stärke einer Person zu einem erheblichen Teil in der sprachlichen und sachlichen Präzision ihrer Selbstartikulation liegt. Eben dies Phänomen treffen wir bei Paulus an. In den unterschiedlichsten literarischen Formen, Begriffen und Argumentationsfolgen hat Paulus in seinen Briefen die persönliche Dimension seiner Verkündigung und seiner Theologie artikuliert. Eine dieser Möglichkeiten ist der Rückgriff auf die ∗ Der vorliegende Beitrag versteht sich als Dank an die Veranstalterin und den Veranstalter sowie an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kolloquiums und entstand in Auseinandersetzung mit einigen auf dem Kolloqium vorgetragenen Thesen.

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eigene Geschichte, niedergelegt in autobiographischen Passagen. Hier wird besonders das Element der Erfahrung hervorgehoben und zur Durchsetzung eigener Ziele eingesetzt. Die Plausibilität liegt gerade im literarischen Modus der Erzählung, die den Charakter des Authentischen, Realen, Eindringlichen und persönlich Verantworteten hat. Die genannten Aspekte, das Ich des Paulus, d.h. der Einsatz und das Selbstverständnis seiner Person, seine Vergangenheit als prägende Größe und sein Erzählverhalten, lassen sich unter dem Stichwort „Autobiographie des Paulus“ bündeln. Eve-Marie Becker hat das Thema „Autobiographisches bei Paulus“ neu in die Diskussion gebracht, strukturiert1 und eine „Heuristik der Auswertung autobiographischer Aussagen und Texte“ vorgelegt.2 Ich beschäftige mich im Folgenden mit einigen von Eve-Marie Becker genannten Texten, die ich als Gruppe zusammenstelle. Es handelt sich um jene Texte, in denen Paulus in Ich-Form im Tempus der Vergangenheit erzählt. Ich verstehe diese Untersuchung als Beitrag zur Person und zur Theologie des Paulus. Zwei wesentliche Fragen zur Person und zur Theologie des Paulus lassen sich an dieser Textgruppe klären. Erstens ist zu fragen, wie Paulus mit seiner Person erzählend umgeht. Dabei geht es um die eigene Konstruktion seiner Person im Medium seiner Korrespondenz und um den literarischen Einsatz dieser autobiographischen Konstruktion. Die zweite Frage betrifft die Rolle, die seine Lebenserfahrung und seine Biographie für die theologische Argumentation in seinen Briefen spielen. Meine Interpretation der Textgruppe erfolgt über die Wahrnehmung seines Erzählmodus. Mit Gérard Genette nenne ich diesen Erzählmodus zunächst allgemein auto-diegetisch. Die Autodiegese ist eine der drei Erzählmöglichkeiten, die Genette in die literaturwissenschaftliche Erzählforschung bzw. die Narratologie3 eingeführt hat und die sich weitgehend durchgesetzt hat.4 Genette unterscheidet zwischen der heterodiegetischen, der homodiegetischen und der autodiegetischen Erzählung. In Letzterer ist der Erzähler die beherrschende Figur der 1 E.-M. Becker, Autobiographisches bei Paulus. Aspekte und Aufgaben, vgl. in diesem Band 67–87. Vgl. auch dies., Exkurs IV: Autobiographische Passagen bei Paulus, in: Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen-Basel 2002, 232– 236. 2 In diesem Band 82. 3 Vgl. die Art. Erzähler, Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RDLW) 1, Berlin-New York 1997, 502–505 (R. Zeller); Art. Erzähltheorie, a.a.O. 513–517 (A. Nünning); Art. Erzählung 1 , a.a.O. 517–519 (M. Schmeling/K. Walstra); M. Martinez/M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 20034 . 4 G. Genette, Die Erzählung, UTB 8083, München 19982 , bes. 176ff. (= Discours du récrit. Essai de méthode, in: ders., Figures III, Paris 1972, 65–273; ders., Nouveau discours du récit, Paris 1983).

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Diegese. Unter Umständen erzählt er sogar seine eigene Geschichte, d.h. er tritt als Ich-Erzähler eines nicht-fiktionalen, sondern faktualen Erzähltextes, eben seiner Autobiographie, in Erscheinung. Für die Interpretation der Paulusbriefe hat dieser Umstand zwei methodische Konsequenzen. Erstens gilt: Die Paulusbriefe müssen auch erzähltheoretisch gelesen werden. Bei den autobiographischen Erzähltexten kommt zweitens zugleich die literaturwissenschaftliche und historische Autobiographieforschung5 ins Spiel. Zunächst zur Erzähltheorie. „Die Erzähltheorie untersucht mit unterschiedlichen Modellen und Verfahren die spezifisch narrative Dimension von Erzähltexten“6 , die grundsätzlich in „der sprachlichen Gestaltung zeitlich angeordneter Ereignisse und Situationen“ gefunden wird.7 Folgt man dem Modell von Gérard Genette, dann stehen „die Analyse der Beziehungen zwischen erzählten Geschichten und der Form ihrer Wiedergabe“ sowie die Differenzierung zwischen der Frage: Wer spricht? (Erzählung) und Wer sieht? (Fokalisation) im Mittelpunkt.8 Allerdings ergibt sich eine Differenzierung für die einfache Anwendung dieser narratologischen Fragen auf die Texte, in denen Paulus als Ich-Erzähler auftritt, und hier kommt zum ersten Mal der spezifisch autobiographische Aspekt der Thematik, der Sonderfall der Auto-Diegese in den Blick. Denn Paulus versteht sich nicht als fiktionaler literarischer Autor, der als führender Erzähler im Sinne der Literaturwissenschaft agiert und eine Erzählung schreibt. Vielmehr greift er erzählend auf reale Begebenheiten aus seiner vita zurück. Damit bewegen wir uns in unterschiedlichen weiteren Kontexten: im Bereich der Historiographie mit ihrer gattungsgeschichtlichen Spezialform der historischen Autobiographie und ihren Vorformen9 , so dass wir den Erzähldiskurs der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft berücksichtigen müssen10 , weiter in der schon genannten literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung, die darauf hinweist, dass nur bei der nicht-fiktionalen Autobiographie der Erzähler, der die Geschichte erzählt, „identisch ist mit dem empirischen Autor“11 und daher keine „Erzählung“ im Sinne 5

Art. Autobiographie, RDLW 1, 169–173 (J. Ickmann). Art. Erzähltheorie, RDLW 1, (A. Nünning), 513. 7 Ebd. mit Genette. 8 Ebd. mit Genette: story und plot. Vgl. dazu einführend Th.A. Schmitz, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 68–75. 9 Art. Autobiographie, Der Neue Pauly 2 (DNP), 1997, 348–353 (H. Görgemanns), 353. 10 Vgl. H. White, The value of narrativity in the representation of reality, in: Critical Inquiry 7, 1980, 5–27. Allgemeiner P. Ricœur, Temps et récrit, 3 Bde, Paris 1983–85, dt.: Zeit und Erzählung, 3 Bde, München 1988–1991; ders., Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, München 2002. 11 Art. Erzähler, RDLW 1, 502–505 (R. Zeller), 502. 6

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Genettes verfasst12 , schließlich im Bereich der Rhetorik, d.h. der antiken Rede mit ihrer argumentativen Struktur, zu der auch die sog. narratio gehört. Nun also zur Geschichtswissenschaft. Hierzu müssen einige kurze Hinweise ausreichen. Lawrence Stone hat 1979 den „Revival of the Narrative“ diagnostiziert.13 Vor allem Studien über den heuristisch-historischen „Wert von Romantechniken, . . . (von) Beschreibung, (von dem) Gebrauch rhetorischer Figuren . . . (und) der Rolle der Einbildungskraft in der Arbeit des Historikers“14 hängen mit der sog. Wiederkehr der Narrativität in die Geschichtswissenschaft zusammen. Am grundlegendsten aber wirkte die heftige Debatte um die Bedeutung des linguistic turn auf die Geschichtswissenschaft. Beide Seiten des literarischen Umgangs mit Geschichte sind davon betroffen: die Seite der literarischen Darstellung, d.h. die Welt der sog. Quellen in ihrer ganzen Breite, und die Auswertung der Quellen durch die Geschichtswissenschaft in der wissenschaftlichen Darstellung, d.h. die Welt der Geschichtsschreibung und – seit dem 19. Jahrhundert – der Geschichtswissenschaft. Beide Bereiche, die Quellen und die Geschichtswissenschaft, rücken näher zusammen und sind miteinander in einer gewissen Unschärferelation verbunden, die letztlich jede sprachliche Gestaltung von Vergangenem – sei sie eher faktual oder fiktional intendiert – als Akt der Konstruktion einer neuen Textwelt vor dem Hintergrund der vergangenen realen Welt versteht. Stellt man nun die autodiegetischen Texte des Paulus in diesen Problemhorizont, dann haben sie zugleich den Status autobiographischer Quellen und autobiographischer Konstruktionen. Und ebenso gilt: Auch bei unserer exegetischen Behandlung dieser Texte verbinden sich kritische Rekonstruktion und produktive Paulusinterpretation, die das Werk der Exegese bleibt. Die Gattung der Autobiographie wird literaturwissenschaftlich als „Gattung nichtfiktionalen Erzählens lebensgeschichtlicher Fakten des Autors“ definiert, genauer „als nichtfiktionaler, narrativ organisierter Text im Umfang eines Buches, dessen Gegenstand innere und äußere Erlebnisse sowie selbst vollzogene Handlungen aus der Vergangenheit des Autors sind“.15 Wichtig ist der Modus der Sprechhandlung in der Autobiographie: „Der Autobiograph setzt sich sprachlich handelnd in ein je nach Typus verschiedenes (rechtfertigendes, informieren-

12 G. Genette, Die Erzählung, bes. 199: Die Erzählung ist der schriftliche und mündliche Diskurs, der von der Gesamtheit der Ereignisse erzählt. Dies gilt für fiktionale Texte. 13 G. Noiriel, Die Wiederkehr der Narrativität, in: J. Eibach/G. Lottes (Hg.), Kompass der Geschichtswissenschaft, UTB 2271, Göttingen 2002, 355–370. – L. Stone, The Revival of the Narrative. Reflexions on an Old New History, in: Past and Present 85, 1979, 3–24. Vgl. die Tabelle Noiriels zu Stone, Noiriel, a.a.O. 356. 14 Noiriel, a.a.O. 364. 15 Art. Autobiographie, RDLW 1, 1997, 169–173 (J. Lehmann), 169.

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des, unterhaltendes u.a.) Verhältnis zu seiner Umwelt“.16 Es ist deutlich, dass diese Definition von Autobiographie kaum hinter Augustins Confessiones zurückgehen kann.17 Herwig Görgemanns trägt zur Klärung der Frage, wieweit der Autobiographiebegriff für Texte der griechisch-römischen Antike zutreffe, bei, indem er zwischen Autobiographie und autobiographischen Zügen differenziert: „Die A(utobiographie) ist im Gegensatz zur Biographie in der Ant(ike) nie als lit(erarische) Gattung betrachtet worden. Neuzeitliche Muster (Rousseau) legen es nahe, introspektive Selbsterfahrung zu einem wesentlichen Kriterium der A(utobiographie) zu machen; aber in der Ant(ike) tritt Vergleichbares erst spät bei Gregor von Nazianz und Augustinus auf. Autobiographische Elemente finden sich freilich zerstreut in verschiedenen Zusammenhängen“.18 Zu den Ursprungsberichten der antiken Autobiographie zählt Görgemanns u.a. die Rhetorik, den Brief und die Hypomnemata. Diese drei Gattungen haben häufig eine Tendenz zur Selbstrechtfertigung.19 Stellt man nun Paulus in diese Zusammenhänge, dann ist zunächst ganz deutlich: Paulus hat weder im antiken noch im modernen Sinn eine Autobiographie geschrieben. Wir finden aber autobiographische Züge in seinen Briefen, und die Briefgattung ist, wie wir sahen, eine der autobiographischen Trägergattungen. Der autobiographische Erzählgestus ist tendenziell selbstrechtfertigend. Diese Tendenz findet sich in weiten Teilen der paulinischen Briefe. Erzählung in argumentativem Zusammenhang ist das Thema der RhetorikForschung. Die Einsicht in den Umstand, dass die Paulusbriefe aus der Perspektive der antiken Rhetorik, vor allem im Licht des Genus der Gerichtsrede, zu interpretieren sind, verdanken wir Hans Dieter Betz.20 Uns interessiert hier je16

Ebd. J. Lehmann verweist auf Platons 7. Brief (der allerdings nur dann autobiographische Bedeutung hat, wenn er echt ist (vgl. dazu Art. Platon, DNP 9, 2000, 1095–1110, T.A. Szlezák: Unechtheit nicht nachgewiesen, 1099), und auf die Antidosis-Rede des Isokrates (353 v. Chr.)). Für beide Texte betont Lehmann „die Instrumentalisierung von Autobiographien zum Zwecke der Verteidigung, Erläuterung und Legitimierung eigenen Handelns“ (RDLW 1, 170). Szlesák weist darauf hin, dass der 7. Brief Platons „keine vollständige Autobiographie geben will“, DNP 9, 1095. 18 Art. Autobiographie, DNP 2, 1997, 348–353 (H. Görgemanns). 19 Dies gilt auch für die römische Gattung der commentarii. 20 H.D. Betz, Der Galaterbrief, Hermeneia, München 1988 (engl. Galatians, Philadelphia 1979), 54ff. Betz versteht den Galaterbrief als „Beispiel für die Gattung des »apologetischen Briefes«“ (55). Die narratio findet er in 1,12–2,14. Vgl. dazu modifizierend R. Longenecker, Galatians, World Biblical Commentary 41, Dallas 1990, p. C ss. (Epistolary and Rhetorical Structure). Kritisch differenziert auch St.E. Porter (Ed.), Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period 330 B.C. – A.D. 400, Leiden-New York-Köln 1997, 533–586. Neue Lit.: R.D. Anderson, Ancient Rhetorical Theory and Paul, CBET 18, Leuven 1999; J.S. Vos, Die Kunst der Argumentation bei Paulus, WUNT 149, Tübingen 2002; F. Tolmie, Persuading the Galatians, WUNT II/190, Tübingen 2004. Vgl. dazu jetzt allg. M.M. Mitchell, Paulus in Amerika, ZNT 7, 2004, 10–21, bes. 13 (und Lit.). 17

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ner Teil der Rede, der narratio21 genannt wird. Die narratio wird bei Lausberg als „Mitteilung des (in der argumentatio zu beweisenden) Sachverhalts an den Richter (Quint. 4,2,1 ut, praeparato per haec quae supra dicta sunt indice, res de qua pronuntiaturus est, indicetur)“ bezeichnet. Die narratio ist dementsprechend die „parteiisch-vereindringlichende Detaillierung des nüchtern-knapp in der propositio Ausdrückbaren“.22 Die drei genera der narratio sind: „die parteiische Tatverlaufschilderung vor Gericht“, „die Erzählung als Exkurs“ und „die literarische Erzählung, deren Behandlung eigentlich in die ars poetica gehört“ und bei der Vorgangserzählung (fabula, historia und argumentum) und Personenerzählung unterschieden werden.23 Die Erzählung muss nicht narratio continua sein, sondern kann auch als narratio partilis auftreten, in die argumenta oder Exkurse eingeschaltet sind. Es ist deutlich, dass die Formen der rhetorischen narratio nicht wie eine literarische Erzählung die Funktion der Unterhaltung haben, sondern im Dienst des Beweises eines Sachverhaltes stehen. Auf diesen Sachverhalt einer argumentativ gerahmten und verwobenen narratio weist von ganz anderer Seite die gegenwärtige Diskurskritik hin. Peter V. Zima akzentuiert die Bedeutung der Semiotik von A.J. Greimas für das Verhältnis zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Erzähltexten folgendermaßen: „Einer der wesentlichen Verdienste der Greimasschen Semiotik ist sicherlich die Erkenntnis, daß auch nichtfiktionale (politische, juristische oder wissenschaftliche) Diskurse »Erzähltexte« sind und eine aktantielle Struktur aufweisen, deren dramatischer und polemischer Charakter soziale Konflikte ausdrückt“.24 Statt des sozialen Erklärungsrahmens ist bei Paulus ein religiöser Bedeutungsrahmen vorausgesetzt. Ein letzter Faktor muss vorab angesprochen werden: die »Vergangenheit« in ihrer Spannweite von historischer bis zu mythischer und imaginierter Zeit. Ich habe die Gruppe der auto-diegetischen Texte bei Paulus, mit denen ich mich hier thematisch beschäftige, auf die Ich-Erzählungen im Zeitmodus der Vergangenheit begrenzt. Seine Ich-Berichte im Modus der Gegenwart oder Zukunft, wie sie sich z.B. in Röm 15,23–29 oder 1 Kor 16,3–9 finden, behandle ich hier nicht, weil sie sich nicht auf Ereignisse beziehen, die zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Texte schon die Person des Paulus geprägt hatten. Dies trifft nur für Begeben21 Vgl. Cicero, De inventione 1.19.27: „Narratio est rerum gestarum aut ut gestarum expositio“. De inv. 1.20.28: „Nunc de narratione ea, quae causae continet expositionem, dicendum videtur“, M. Tulli Ciceronis Scripta quae manserunt omnia. Fasc. 2. Rhetorici Libri Duo qui vocantur de inventione, (ed. E. Strobel) Stuttgart 1965, 24b und 25b . 22 H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, Stuttgart 19903 , 163f. 23 A.a.O. 165f. 24 P.V. Zima, Ideologie und Theorie. Eine Diskurskritik, Tübingen 1989, 244, bezogen auf A.J. Greimas, Sémiotique et Sciences sociales, Paris 1976, 96. – Den Hinweis auf Zima verdanke ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Stefan Scholz.

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heiten zu, über die er im Modus der Vergangenheit berichtet, d.h. die schon ihre Wirkung an seiner Person entfalten konnten. Wir befinden uns damit im Problembereich von Erzählen und Zeit, einem Thema, das seit zwei Generationen zu den wesentlichen Fragen der Literaturtheorie gehört.25 Für meine Fragestellung ist aus diesem Bereich nur der genannte Aspekt von Bedeutung: die sog. Vergangenheit als jener unermessliche Zeitraum, dessen Ereignisse nur durch gegenwärtiges „Erinnern, Wahrnehmen / Deuten und Entwerfen“26 auszusagen sind, da er selbst – wie alle drei Zeitformen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – keinen ontologischen Status hat. Für den Zeitmodus der Vergangenheit ist daher die sprachliche Erzählung die einzige Expressions- und Darstellungsform. Die Ereignisse der Vergangenheit haben also in der jeweiligen Gegenwart ausschließlich sprachlich-narrativen Charakter. Über die verschiedenen Wirklichkeitsbezüge dieser Erzählungen und ihren faktischen oder fiktionalen Status ist damit noch nichts gesagt. Zugleich ergibt sich daraus erzähltheoretisch, dass eine vorab getroffene Unterscheidung zwischen autobiographischen, weil auf die realen Lebensumstände des Paulus bezogenen, und mythischen, weil auf das adamitische bzw. generische Ich bezogenen, Texten, wie wir sie auch bei Paulus finden, von sekundärer Bedeutung ist. Das hat für jene Texte Konsequenzen, in denen Paulus die Auto-Diegese in einem vagen vorzeitlichen π+τε ansiedelt und damit ein mythisches Erzählkonzept mit der Auto-Diegese verbindet (Röm 7,7–13) oder aber in einer distanzierenden und verfremdenden Spielart der Autodiegese in der 3. Person27 von seinen religiösen Erlebnissen spricht (2 Kor 12,1–10).

II. Die Texte Die ältesten Ich-Erzählungstexte im Tempus der Vergangenheit finden wir im 1. Thessalonicherbrief: 2,1–12.17f; 3,1–5. In 1 Thess 2,1–12 blickt Paulus auf die nahe Vergangenheit zurück, auf seinen Gründungsaufenthalt in Thessaloniki. Paulus selbst befindet sich während

25 Seit E. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, Zürich 1939, später H. Weinrich, Tempus, Stuttgart 1964. Vgl. Art. Zeit, in: G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 20018 , 916f; Art. Tempus, RDLW 3, 2003, 58 (D. Stocker); Art. Zeit, MLLK, Stuttgart 20012 , 687–689 (B. Dücker). 26 Vgl. Art. Zeit, MLLK, Stuttgart 20012 , 687–689 (B. Dücker), 688. 27 Zum Verhältnis der Erzähltypen zu den grammatischen Formen vgl. RDLW 1, 503 (zwischen Personalpronomina und dem Modus der erzählten Welt besteht „keine eindeutige Zuordnung“).

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der Abfassungszeit des Briefes in einer nicht genannten Stadt – nach der exegetischen Mehrheitsmeinung in Korinth. Sein Schreiben entstand wohl im Jahr 50 n. Chr.28 In 2,1 nennt Paulus das Thema des Abschnitts: sein Auftreten in Thessaloniki in der Gründungssituation der Gemeinde (εBσοδος). Zunächst ist auffallend, dass die ganze Passage das kollektive Subjekt »Wir« hat. Spricht Paulus hier überhaupt von sich selbst? Das Phänomen des »Wir« in den Paulusbriefen hat EveMarie Becker neu untersucht. Sie hat deutlich gemacht, dass das »Wir« in den Briefen zwei Aspekte hat: „Zum einen dient das biographische »Wir« dazu, dass der Absender von gemeinschaftlichen Erlebnissen (im Mitarbeiter- oder Absenderkreis) berichtet. Zum anderen stellt das paritätische »Wir« sicher, dass dem »Ihr« der Adressatenschaft, das Paulus öfter im Brief direkt anspricht, ein »Wir«, d.h. eine Gemeinschaft von Absendern gegenübersteht“.29 Gerade unser Text macht nun deutlich, dass Paulus hier an wichtigen Punkten ausschließlich von sich selbst spricht. In V. 7 bezieht sich der Aposteltitel auf ihn. In V. 9 beschreibt er seine eigene Lebensform (vgl. 1 Kor 9,1–18). Zugleich aber stellt das »Wir«-Subjekt diese autobiographischen Aussagen in den größeren Zusammenhang seiner Mitarbeiter. Was erzählt Paulus in dieser Form von sich selbst? Nur wenige Erzählzüge im Sinne einer Ereignisfolge lassen sich identifizieren: Er hatte in Philippi gelitten und war misshandelt worden und begann trotzdem mit seiner Evangeliumsverkündigung in Thessaloniki. Diese fand „unter viel Kampf“ statt (V. 2). Worauf sich der Kampf bezieht, bleibt ungesagt. Paulus wirkte in freundlich-milder Weise unter den Thessalonichern und befreundete sich persönlich mit ihnen. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt selbst und predigte in den Abend- oder Nachtstunden. In diese narrativ kaum strukturierte Auto-Diegese sind zahlreiche (VV. 3–7a.10) apologetische Sätze eingefügt, die den Erzählgang verunklären und den Charakter der Passage als Erzählung fast unkenntlich machen. Paulus schreibt hier offensichtlich nicht mit autobiographischem erzählerischem Interesse, sondern er rekapituliert seine Wirksamkeit als Apostel, indem er sie zugleich vor den Thessalonichern rechtfertigt. Er schreibt apologetisch. Dazu greift er in argumentativer und pragmatischer Abzweckung auf einzelne Begebenheiten zurück, die autobiographischen Charakter haben, ohne dass sich diese zu einer deutlichen autobiographischen 28 Zur Diskussion vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 20055 , 62f; ders., Paulus. Leben und Denken, Berlin-New York 2003, 177ff.; E. Reinmuth, Der erste Brief an die Thessalonicher, in: N. Walter/E. Reinmuth/P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen 1998, 105–158, 105–108. 29 E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen, 154. Vgl. auch Reinmuth, Brief, 126: „Wir gehen davon aus, daß das »wir« des Briefes regelmäßig dem Autor Paulus gilt und zugleich die beiden Mitabsender in die Botschaft des Schreibens einbezieht“.

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Erzählung zusammenschließen. Es ist auch deutlich, dass die beschriebene Ereignisfolge so nahe zurückliegt, dass sie noch nicht richtig zu erzählbarer Vergangenheit geworden ist. Insgesamt ist dieser Ich-Erzähltext im Tempus der Vergangenheit weder primär narrativ noch autobiographisch. Er enthält aber derartige Elemente. Wir stoßen also schon hier auf das Phänomen, dass Paulus – in unterschiedlichster Weise30 – seine Person und seine Biographie im Rahmen seiner Brieftheologie einsetzt, d.h. dass er narratio argumentativ im Sinne der Rhetorik einsetzt. 1 Thess 2,17f ist ein weiterer Splitter dieser Ich-Erzählung. Wir erfahren, dass Paulus Thessaloniki verlassen hat, mit der Gemeinde innerlich sehr verbunden war und sie erneut besuchen wollte. Der „Satan“ aber „hinderte“ ihn. Das Motiv des Gehindert-Werdens begegnet auch im Römerbrief (1,13; 15,22). Im 1. Thessalonicherbrief ist es mythisch aufgeladen.31 1 Thess 3,1–6 stellt einen letzten Splitter jener fraktierten Ich-Erzählung des Paulus dar, in der er sein Ergehen seit seinem Gründungsaufenthalt in Thessaloniki rekapituliert. Paulus war in Athen, verlangte nach Nachrichten aus Thessaloniki und sandte Timotheus nach Thessaloniki. Timotheus kehrte mit guten Nachrichten zu Paulus zurück, so dass Paulus ν ν (V. 8), d.h. zum gegenwärtigen Zeitpunkt, getröstet ist und seinen Brief aus dieser Situation heraus schreibt. Im 1. Korintherbrief finden wir folgende einschlägige Texte: 2,1–5; 3,1f; 9,19– 23; 13,11. Auch in 2,1–5 handelt es sich thematisch um den Gründungsaufenthalt des Paulus – diesmal in Korinth. Paulus selbst befindet sich während der Abfassung des Briefes in Ephesus. Der Brief entstand – nach der exegetischen Mehrheitsmeinung – im Jahre 54 oder 55.32 Paulus blickt auf seine Mission in Korinth zurück, diesmal im Ich-Stil. Erzählzüge im Sinne einer Ereignisfolge sind: Er predigte das Kreuzeskerygma, und sein Zustand und sein Auftreten waren durch Schwäche gekennzeichnet – ob körperlicher oder seelischer Art, bleibt offen. Auch hier tritt die Erzählung hinter der argumentativ-exemplarischen Pragmatik zurück. Der kurze Rückblick auf seine Missionspredigt dient nicht der autobiographischen Selbstversicherung mittels Erzählung, sondern der argumentativ eingesetzten narratio bezüglich des λ+γος το σταυρο mit 1,18. 3,1f knüpft noch einmal an das Thema von 2,1–5 an. Paulus spricht metaphorisch über den Modus seiner Erstverkündigung bei den Korinthern.

Theologisch wichtig ist die μιμητ$ς-μιμητα-Vorstellung. Zum Satan vgl. auch unten bei 2 Kor 12,7. Interessant ist, dass die Apg das Motiv der Verhinderung an den Geist bindet (Apg 16,6). 32 Vgl. Schnelle, Einleitung, 75 und O. Wischmeyer, Der 1. Korintherbrief, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, UTB, Tübingen-Basel 2006 (im Druck). 30 31

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Anders ist die Thematik in 9,19–23. Paulus erzählt im Ich-Stil im Tempus der Vergangenheit33 von seinem religiösen Verhalten in den unterschiedlichen religiösen Gruppierungen, mit denen er es bei seiner Mission zu tun hatte. V. 23 schließt dann im Präsens. Auffallend ist jede Vermeidung autobiographisch fassbarer Folgen von Ereignissen oder Situationen. Obgleich Paulus einen kurzen, stilistisch eindrucksvollen, thematisch bedeutenden autobiographischen Text schreibt, erzählt er nicht von sich, sondern stellt seine Position trotz der Verbalsatzfolge (γεν+μην – γ!γονα) in religiöser Begrifflichkeit dar. Im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes findet sich ein Satz, in dem Paulus, der sich in den Versen 1–3 als ideales gegenwärtiges religiös-ethisches Ich entwirft, in einem Bild von einem „generisch und nicht autobiographisch“ gemeinten Ich in der Vergangenheitsform spricht.34 In V. 11 werden zwei zeitlich aufeinanderfolgende Zustände: Kindheit und Erwachsenenalter, kontrastiv nicht eigentlich erzählt, sondern nur genannt. Der 2. Korintherbrief ist der Paulusbrief, der am meisten Einblicke in die Person des Paulus gibt. Einzelsätze, Satzverbindungen und Textpassagen, in denen Paulus von seiner Person erzählt, finden sich in 1,8–9.15f; 2,1.12f; 7,5–7.13b; 8,6.18.22; 9,3–5; 11,7–9.23–27.32f; 12,1–10. Der letztgenannte Text ist der wichtigste Ich-Erzählungstext im 2. Korintherbrief. 2 Kor 1,8–9 bezieht Paulus sich auf seine Situation während seines Schreibens. Ich gehe mit Eve-Marie Becker von einer Entstehung der Einzelbriefe, die im 2. Korintherbrief zusammengefasst sind, in den Jahren 54/55 aus.35 Die Briefe wurden in Makedonien geschrieben. Paulus berichtet den Korinthern von der lebensgefährlichen Situation, in die er bei seiner Wirksamkeit in Ephesus geriet (Apg 19f ). Wieder benutzt er das »Wir«. Und wieder erzählt er nicht im Sinne der Entfaltung von Situations- und Ereignisfolgen, sondern er benennt lediglich die ausgestandene Gefahr mit dem andeutend-deutenden Substantiv θλ2ψις und beschreibt in drei Wendungen seine Verzweiflung und Todesangst.

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Er benutzt Aorist und Perfekt. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 11,17–14,40), EKK VII/3, Zürich u.a. 1999, 308. Vgl. auch O. Wischmeyer, Der höchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes, StNT 13, Gütersloh 1981, 129: Das Ich ist typisch. 35 E.-M. Becker, Der 2. Korintherbrief, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, UTB, Tübingen-Basel 2006 (im Druck); vgl. dies., Letter Hermeneutics in 2 Corinthians. Studies in Literarkritik and Communication Theory, JSNT.S 297, London-New York 2004, 66f. – Vgl. auch die allgemeine Einführung bei Schnelle, Einleitung, 94f. Die Abfassung in Makedonien ist communis opinio. Schnelle und Thrall (s.u. Anm. 36), die den 2 Kor gar nicht oder nur in 1–9 und 10–13 teilen, gehen von einer Entstehung im Jahr 55 bzw. 56 n. Chr. aus. Vgl. auch Schnelle, Paulus, 250–253. 34

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Da sich Paulus hier anders als im 1. Thessalonicherbrief und im 1. Korintherbrief nicht auf Ereignisse bezieht, die den Lesern bekannt waren, stellt sich die Frage, ob und wie die Korinther diese erzählenden Hinweise überhaupt verstehen konnten. Ich nehme an, dass die Briefüberbringer der Gemeinde von den Ereignissen in Ephesus berichteten und dass Paulus eben dies voraussetzte. Die Briefpassagen selbst dienen nicht dem Bekanntmachen der Gemeinde mit den Erlebnissen des Paulus, sondern der Argumentation. 1,15f berichtet Paulus über seine ursprünglichen Reisepläne, deren Aufgabe er in 1,23f–2,1ff begründet: Hier erzählt er gar nicht von Ereignissen oder Situationen, sondern ausschließlich von seinen früheren Reiseplänen und inneren Überlegungen. In 2,12f stoßen wir dann wieder auf eine Erzählspur: Paulus kam nach Troas, predigte dort erfolgreich, fand aber Titus nicht vor und kehrte nach Makedonien zurück. Hier haben wir ein kleines Fragment eines Paulus-Itinerars vor uns, dessen Fortsetzung in 7,5–7.13b vorliegt. Paulus reiste nach Makedonien und traf dort Titus, der ihm gute Nachrichten aus Korinth brachte. Beide freuten sich an diesen Nachrichten. In den beiden Kollektenkapiteln stoßen wir auf Erzählsplitter: 8,6.18.22 berichtet Paulus, er habe Titus und einen weiteren Bruder mit dem Einsammeln der Kollekte in Korinth beauftragt. 9,3–5 kommt Paulus noch ebenso kurz wie undeutlich auf sein zurückliegendes Verhalten bei der Kollekteneinsammlung zurück. Er selbst erscheint in diesen Sätzen als der Leiter und Organisator der Einsammlung. Neben diesen fragmentarischen Sätzen finden sich in Brief E (2 Kor 10–13) zwei größere Texte, in denen Paulus Ich-Erzählungen im Tempus der Vergangenheit schreibt. 11,7–9 teilt Paulus im Rahmen einer heftigen apologetischen Argumentation einige auto-diegetische Erzählsplitter mit: Er hat in Korinth unentgeltlich gepredigt und sich von fremden Gemeinden unterstützen lassen. Besonders hat er sich aus Makedonien finanziell helfen lassen. Im Zusammenhang der sog. Narrenrede 11,16–12,13 teilt er in 11,23–27.32f wesentliche Ereignisse seines Lebens als Missionar mit, seine Mühen, Gefangenschaften, Todesgefahren, einen Katalog von Strafen und Unglücksfällen auf seinen Reisen und bei der Missionsarbeit. Gerade diese Ereignisse, die sich besonders zur Erzählung eignen und zum Teil in den narrativen Episoden der Apostelgeschichte wiederbegegnen, geraten Paulus unter der Hand zur numerierten Aufzählung, eben zum substantivischen Katalog ab V. 26b. Das gilt schon für die Verbalsätze von V. 23b bis 26a. Lediglich in 11,32f können die Korinther, die Erzählungen missionarischer Helden- und Leidenstaten erwarten, eine Erzählepisode lesen – auch diese fällt ganz kurz aus. Die Rettung über die Mauer hat etwas Spektakulär-Extravagantes.

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Dies mag der Grund dafür sein, dass Paulus an diese Episode die Entrückungserzählung anschließt.36 12,1–10 37 gibt einen Rückblick, der autobiographisch datiert ist: ungefähr auf das Jahr 40 n. Chr. Neben Gal 1,13–2,14 ist dies die einzige genaue Zeitangabe, die Paulus über sein Leben macht. Mehr Autobiographisch-Erzählendes gibt der kurze Text aber kaum her. Paulus erzählt im distanziert-verschlüsselten Modus der 3. Person von seiner Entrückung in die himmlische Welt (VV. 1–4) und antithetisch dazu von seiner Krankheit und seinem nicht erhörten Heilungsgebet.38 Dabei berichtet er, dass der erhöhte Kyrios zu ihm gesprochen habe, und zitiert dies Logion (V. 9). Es ist schon immer besonders beachtet worden, wie kurz und verschwiegen dieser Text ist.39 Die Korinther, die Erzählungen von pneumatischen Phänomenen und Erfahrungen ihres Apostels anmahnten und erwarteten, waren sicher nicht durch diese Erzählung, die mehr verschweigt als erzählt, befriedigt. Zugespitzt formuliert: Die zeitliche Notiz von 12,2 hält nicht, was sie verspricht. Gerade hier, wo zwei Erzählmöglichkeiten bzw. -notwendigkeiten bestanden, nämlich eine faktuale autobiographische Erzählung der Umstände und Eigenart seiner Entrückung im Jahre 40 n. Chr. und eine apokalyptische Erzählung der Himmelswelten, in die er entführt wurde40 , verhält Paulus sich fast anti-erzählend. Die autobiographisch interessanteste Passage findet sich im Galaterbrief. Gal 1,12–2,14 stellt einen durchgehend autobiographischen Text dar, der seiner früheren ναστροφ$ und den Ereignissen bei und nach seiner Berufung zum Apostel gewidmet ist. Der Erzähltext ist zeitlich und topographisch gegliedert, enthält die zweite chronologische Angabe der Paulusbriefe und stellt bestimmte wichtige Episoden aus dem Leben des Missionars Paulus dar. Soweit der erste 36 Zu den exegetischen Erklärungsversuchen des Ortes dieser Episode in der Narrenrede vgl. M.E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians II, ICC, Edinburgh 2000, 763–771. M. Thrall selbst bevorzugt die Erklärungsmöglichkeit (c), die die Episode als Beispiel von Schwäche interpretiert (765f ). 37 Vgl. O. Wischmeyer, 2 Korinther 12,1–10. Ein autobiographisch-theologischer Text des Paulus, in: O. Wischmeyer/E.-M. Becker (Hg.), Was ist ein Text?, NET 1, Tübingen-Basel 2001, 29– 42 – jetzt auch in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, herausgegeben von E.-M. Becker, WUNT 173, Tübingen 2004, 277–288. 38 Vgl. O. Wischmeyer, 2 Korinther 12,7–8: Ein Gebet des Paulus, in: Deuterocanonical and Cognate Literature Yearbook 2004. Prayer from Tobit to Qumran. Inaugural Conference of the ISDCL at Salzburg, Austria, 5–9 July 2003, ed. R. Egger-Wenzel/J. Corley, Berlin-New York 2004, 467–479. 39 O. Wischmeyer, 2 Korinther 12,1–10, 36. 40 Vgl. H.-C. Meyer, Mystik bei Paulus. Zur Phänomenologie religiöser Erfahrung im Neuen Testament, TANZ 26, Tübingen-Basel 1998; B. Heininger, Paulus als Visionär. Eine religionsgeschichtliche Studie, HBSt 9, Freiburg-Basel-Wien 1996.

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Eindruck von diesem Text, der der Schlüsseltext für die Rekonstruktion der paulinischen vita ist und dessen historisch-biographische Details hier nicht diskutiert werden können. Nun ist seit dem Kommentar von Hans Dieter Betz41 deutlich, dass es sich mindestens in Gal 1,12–2,14 um eine Apologie handelt – und damit um einen Text aus dem Genus der Gerichtsrede. Paulus verteidigt sein Evangelium als „nicht von menschlicher Art“ (1,12 vgl. 1,1). Er hat es vielmehr „durch eine Offenbarung Jesu Christi empfangen“ (1,13). Um diese These zu verteidigen, schreibt er die narratio 1,12–2,14.42 Die narratio bzw. δι$γησις ist „die Darstellung des Vorgangs“, auf den sich der Redner – hier Paulus – bezieht.43 Betz weist darauf hin, dass es sich hier mit Cicero um „jene Form von Erzählung, die die Darstellung eines Rechtsfalles enthält“, handelt.44 Das erklärt die starken apologetischen Argumentationszüge innerhalb der narratio: 1,16.17.19.20; 2,6.8. Das Interesse des Textes liegt in der mehrfach variierten Versicherung, Paulus habe nach seiner Offenbarung (1,16) die Inhalte seiner Evangeliumsverkündigung nicht „von Menschen“, d.h. von den Jerusalemer Aposteln empfangen. Dies Motiv weitet er nun aus: Auch bei seinem späteren Jerusalembesuch habe er überhaupt nur Petrus und Jakobus zwei Wochen lang besucht. Auch bei dem Apostelkonvent sei er seinem Evangeliumsauftrag ganz und gar treu geblieben und habe von den „Säulen“ keine Änderungen seiner Verkündigung hinnehmen müssen. Die Freiheit des Evangeliums für die Heidenchristen habe er schließlich auch gegenüber Petrus und Barnabas in Antiochia verteidigt.45 4,14f erinnert Paulus die Galater – ähnlich wie im 1. Thessalonicher- und 1. Korintherbrief – an seine Erstmission, bei der er unter einer – unter Umständen entstellenden – Krankheit litt.46 Hier begegnen wir wieder der verhüllenden Sprache, die wir aus 2 Kor 12,7 kennen. Die Problematik Stark-Schwach im Zusammenhang der Mission ist dieselbe. Aufschluss über seine Krankheit gibt Paulus auch hier nicht. Im Römerbrief finden sich zwei erzählende Ich-Passagen im Tempus der Vorzeitigkeit: 7,7–13 und 15,17–22. 41 H.D. Betz, Der Galaterbrief, Hermeneia, München 1988 (engl. 1979), 54ff. Die These muss hier nicht weiter diskutiert werden. Vgl. dazu Anm. 20. 42 Vgl. Betz, Galaterbrief, 58ff. zur Gliederung. 43 H.D. Betz, Galaterbrief, 122. 44 Ebd. 45 Soweit der Gedankengang in größter Kürze. Für alle Details verweise ich auf die Kommentare, vor allem auf J.D.G. Dunn, The Epistle to the Galatians, Black’s New Testament Commentaries, London 1993. 46 Vgl. dazu die ausgezeichneten Ausführungen bei Betz, Galaterbrief, 387ff. Betz weist auf die dämonologische Sprache hin und zieht zurecht die Parallele zu 2 Kor 12.

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Der Text 7,7–1347 gehört zu den theologischen Spitzentexten des Paulus über das Gesetz. Paulus verteidigt das Gesetz gegenüber dem Verdacht, den seine eigene Theologie befördert haben wird – das Gesetz sei Sünde. Mit einem dreigliedrigen Argument stellt sich Paulus diesem Fehlschluss entgegen: (1.) Das Gesetz entlarvt die Begierden des Menschen, indem es sie warnend-verbietend benennt. Ziel ist, dem Menschen das Leben in der Abwehr dieser Begierden zu eröffnen. (2.) Die Sünde nimmt dies zum Anlass, alle Begierden zu wecken und so den Menschen zum Übertreten der Gebote, die das Begehren bestimmter Größen verbieten, zu reizen. (3.) Der Mensch übertritt die Gebote und ist damit des Todes schuldig. So kommt es zu der scheinbaren Paradoxie: Das Gesetz, das Leben will, bewirkt Tod. Dass diese Argumentation die Adamsgeschichte voraussetzt, ist deutlich. Denn das Argument, der Mensch habe vor dem Gebot bzw. Verbot nicht begehrt und daher auch nicht gesündigt, ist nur in diesem Zusammenhang plausibel. Anders als in Röm 5 nennt Paulus hier Adam nicht. Vielmehr trägt er seine Argumentation zum Verhältnis von Gesetz – Begierde – Sünde – Tod in der narrativen Form einer äußerst „kurzen mythisch formulierten adamitischen Ideal-Autobiographie“ vor.48 Dieser Sachverhalt ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Erstens benutzt Paulus hier den mythischen Erzählgestus des „Einst“, zweitens verbindet er den Blick in die adamitische Zeit mit seiner Person. Die Ich-Erzählung im Tempus der Vergangenheit bündelt mehrere Faktoren. Lohse weist auf die konkretisierende und veranschaulichende – früher hätte man gesagt: existentielle – Funktion dieser Ich-Erzählung hin. Damit hängt ihre generisch-grundsätzliche Bedeutung zusammen.49 Eine dritte Komponente ist nun aber trotz des generischen oder idealen Ich eben das Faktum der autobiographisch-erzählenden literarischen Gestaltung. Denn Paulus spricht hier durchaus in einer sehr spezifischen Weise über sich selbst: Adamitischer Mensch ist auch er! Sein Geschick hat sich bereits in der adamitischen Zeit vollzogen, und er versteht seine Identität als jüdischer Mensch50 als die des adamitischen Sünders, dessen Tod schon vorweggenommen ist. An diesem Punkt fallen das generische oder ideale und das individuelle, autobiographische Ich zusammen. 47 Vgl. allg. U. Wilckens, Der Brief an die Römer. 2. Teilband. Röm 6–11, EKK VI/2, Zürich u.a. 1980, 72–83; J.D.G. Dunn, Romans 1–8, World Biblical Commentary 38A, Dallas 1988, 375– 403; J.A. Fitzmyer, Romans, The Anchor Bible 33, New York etc. 1992, 462–472; E. Lohse, Der Brief an die Römer, KEK 4, Göttingen 2003, 211–218; O. Wischmeyer, Menschsein, 90ff, in: Ch. Frevel/O. Wischmeyer, Menschsein. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, NEB Themen 11, Würzburg 2003. 48 O. Wischmeyer, Menschsein, 91. 49 Lohse in seinem sehr klaren und ausgewogenen Exkurs: Das γC in Röm 7, Brief an die Römer, 213–216, 215. Lohse verweist auf 1 Kor 13,1–3 (s.o.). 50 Kap. 7 passt nur auf Juden. Dass auch die Nichtjuden demselben Geschick unterliegen, hat Paulus in Kap. 1–3 nachgewiesen.

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Hier liegt auch der – berechtigte – Grund des Auslegungsstreits um das »Ich« in Röm 7 – eines Streites, der zu den klassischen exegetischen Debatten zählt. Denn die adamitische Ideal-Biographie ist eben zugleich die Autobiographie des Menschen Paulus. In dieser Hinsicht gibt Paulus gerade in den Sätzen von Röm 7,7ff einen der wichtigsten Beiträge zum Selbstverständnis seiner Person, die wir von ihm haben. Röm 15,17–22 ist einer jener Texte, in denen Paulus in apologetischem Kontext auf seine missionarische Tätigkeit zurückblickt. Der Abriss seiner Mission „von Jerusalem bis Illyrien“ in V. 19 ist erzählend im Modus der Vergangenheit geschrieben, hat aber nicht autobiographisch-geographischen, sondern idealen Charakter, denn weder in Jerusalem noch in Illyrien hat Paulus missioniert. In Philemon 10 fällt ein Lichtstrahl auf eine ganz begrenzte Episode im Leben des Paulus, die für den kurzen Philemonbrief aber von Wichtigkeit ist: Paulus, der sich bei der Abfassung des Briefes in Gefangenschaft – vielleicht in Ephesus, eher aber in Caesarea oder Rom51 – befindet, hat dort den Sklaven Onesimus zum Christentum bekehrt. Diesen autobiographischen Sachverhalt erzählt Paulus zwar, aber in einer Doppelmetapher verschlüsselt: „Ich bitte dich für mein Kind, das ich in den Fesseln gezeugt habe, Onesimus“. In Phil 3,4–16 gewährt Paulus der Gemeinde in Philippi Einblicke in seine Existenz. Der Text ist apologetisch gegen konkurrierende judenchristliche oder jüdische Missionare gerichtet.52 Zunächst gestaltet Paulus in VV. 5 und 6 seine polemische Selbstdarstellung in der Form eines jüdisch ausgelegten Tugendkatalogs. Der Katalog ist substantivisch formuliert. In V. 7 bricht er mit diesem Schema und wechselt in das autobiographische Ich im Modus der Vergangenheit. Der kurze, inhaltlich wesentliche Erzählsatz lautet: „Aber was mir Gewinn war, das eben habe ich Christi wegen für Schaden erachtet“. Diesen Gedanken führt Paulus dann wieder im Präsens aus. Die Passage endet mit einem futurischen Ausblick auf die Auferstehung in V. 11. Phil 4,15f finden wir einen weiteren Rückblick des Paulus auf seinen Missionsanfang in Philippi und seine enge Verbindung mit der Gemeinde. 51 In Ephesus in den Jahren 53–55 n. Chr. (so jetzt wieder P. Lampe in: Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon. Übersetzt und erklärt von N. Walter, E. Reinmuth und P. Lampe, NTD 8/2, Göttingen 1998, 205). Weitere Exegeten, die für Ephesus plädieren: vgl. Schnelle, Einleitung, 167 Anm. 461. Rom: vgl. Schnelle ebd. Caesarea: Dibelius, Lohmeyer, Kümmel, Thornton (vgl. Schnelle ebd.). Die Frage nach der Lokalisierung und der damit verbundenen Datierung kann hier nicht erörtert werden. Allerdings sollte der Altershinweis in Phlm 9 ernstgenommen werden. 52 Vgl. dazu N. Walter, Die Gegner des Evangeliums nach Phil 3, a.a.O. 88ff. – Zu den schwierigen und kontroversen Einleitungsfragen vgl. Schnelle, Einleitung, 153ff. Für Phil gelten analoge Überlegungen wie für Phlm. Die Datierung und Lokalisierung nach Rom erscheint mir am plausibelsten.

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III. Ergebnisse und theologische Würdigung Wenn wir nun zurückblicken, so wird deutlich, dass Paulus auto-diegetische Sätze und Kurztexte geschrieben hat. Wir finden allerdings keine längeren einheitlichen auto-diegetisch-autobiographischen Texte. Vor allem finden wir keine narrativen Erzählzüge in nicht-argumentativem Zusammenhang. Die beiden einzigen umfangreicheren und in ihrer Kontextfunktion selbständigen derartigen Texte, nämlich 2 Kor 12,1–10 und Gal 1,12–2,14, machen diesen Umstand deutlich. Denn gerade diese Texte sind von apologetisch-polemisch argumentierenden Sätzen durchzogen. Mehr noch: Ihre Intention ist nichts weniger als autobiographisch, d.h. auf die persönliche Biographie des Paulus und damit auf seine Vergangenheit gerichtet. Vielmehr sind sie stets für die Gegenwart bestimmt. Ob Paulus von seiner Berufung, seiner Entrückung, dem Apostelkonvent, seinen Erstmissionen oder seiner Kollektenplanung erzählt – niemals sind diese Begebenheiten selbst und ihre Bedeutung für sein eigenes Leben in seinem Blick. Im Gegenteil: Er spart sorgfältig alles aus, was von spezifisch autobiographischem Interesse sein und die zurückliegenden Stationen und Epochen seines Lebens narrativ-episodisch beleuchten und den Adressaten näher bringen könnte. Einblicke in sein reiches und ereignisreiches Missionsleben gibt es höchstens in knappen Katalogreihen, die auf jedes Erzählelement verzichten, niemals in ausführlichen Erzählungen. Dasselbe gilt für seine Geschichte mit Gott und mit dem Kyrios Ιησο ς. Er gestattet weder den Korinthern einen Blick in den dritten Himmel oder ins Paradies noch den Galatern einen Einblick in sein Berufungserlebnis.53 Nicht einmal den Ort des Berufungserlebnisses nennt er. Dasselbe gilt für wesentliche autobiographische Fakten: Eltern, Geburtsort, Erziehung, Beruf, sozialen Status. Viele dieser Lücken füllt die Apostelgeschichte. Wir können die lukanische Apostelgeschichte geradezu als Gegen- bzw. als Ergänzungsschrift zu den Paulusbriefen betrachten. Hier wird im engeren Sinne erzählt. Der Verfasser erzählt von der Berufung des Paulus. Durch ihn kennen wir die biographischen Angaben zu Geburtsort, Erziehung, Beruf und sozial-juridischem Status. Er erzählt in dem bekannten dramatischen Episodenstil von Erstmissionsaufenthalten, Reiseerlebnissen und Gefahren aller Art. Er erzählt ausführlich vom Apostelkonvent. Ich weise zum Verhältnis von Paulusbriefen und Apostelgeschichte hier nur auf einen Umstand hin, nämlich auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen kurz erzählerisch grundiertem Bericht bzw. kurzer Erwähnung oder Allusion ei-

53 Eben dies ist der Grund, weshalb wir nicht rekonstruieren können, wie sein Missionsauftrag im Einzelnen aussah und ob von Anfang an die gesetzesfreie Heidenmission dazugehörte.

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ner Begebenheit einerseits und der intentional narrativen Gestaltung derselben Begebenheit andererseits.54 Ich möchte diese Ergebnisse in mehrfacher Hinsicht kommentieren. Zunächst im Zusammenhang der Erzählforschung: Es ist sehr deutlich geworden, dass Paulus auch dort, wo er auto-diegetische Erzählpassagen schreibt, sowohl von der allgemeinen Intention als auch von der sprachlichen Gestaltung her der berichtenden Rede, besonders der Argumentation im engeren Sinne verpflichtet ist. Seine narratio ist stets und grundsätzlich diejenige der Gerichtsrede55 , nie der literarischen Erzählung. Sein Interesse gilt stets der Gegenwart und seinen Gemeinden, nicht der Vergangenheit und seiner eigenen Person. Seine erzählenden Texte müssen daher im Rahmen rhetorischer Analyse interpretiert werden. Zweitens im Zusammenhang der Autobiographie und damit auch bis zu einem gewissen Grade seiner Person: Paulus erzählt weder von sich, noch entwirft er eine Autobiographie als literarische Größe. Er argumentiert lediglich mit seiner Person. Wenn er seine Person entwirft, dann denkt und schreibt er im Fadenkreuz religiös-mythischer Anthropologie von adamitischem und christusförmigem Menschen. Drittens im Zusammenhang seiner Mission: Paulus enthält – mindestens in seinen Briefen – den Gemeinden eben das vor, was sie wollen und was andere konkurrierende Missionare ihnen reichlich bieten, exempla aus seinem ersten bzw. alten und seinem gegenwärtigen bzw. neuen Leben. Die Apostelgeschichte schließt diese Lücken und entwirft ein missionswirksames erzählendes Apostelbild. Vielleicht sicherte »Lukas« damit dem Paulusbild in der entstehenden Kirche den bleibenden Erfolg. Diese erzählende Aposteltheologie war allerdings gegen die eigenen Intentionen des Paulus gerichtet. Sie war vielmehr der Vergangenheit in sichernder Erzählung und Erinnerung verpflichtet. Wir beobachten hier eine strukturelle Parallele zum Umgang des Verfassers des Markusevangeliums mit den Jesusüberlieferungen. »Markus« entwirft eine Erzählung der ρχ το εDαγγελου Ιησο Χριστο und stellt damit die Weichen für eine Hineinnahme der Geschichten und Worte Jesu in die biographische Historiographie56 , wie sie dann Lukas in seinem Evangelium ausarbeitet.

54 Vgl. Weinrich, Tempus, 44ff. Gegensatz zwischen erzählender und berichtender Rede. Besonders interessant ist Weinrichs Hinweis darauf, dass die besprochene Welt einen engagierten, die erzählte Welt einen entspannten Sprecher hat. Die Rede des besprochenen Sprechers „ist ein Stück Handlung . . . Daher ist nicht-erzählende Rede gefährlich“ (50). 55 Daher ist die »rhetorische Wende« in der Paulusexegese, die H.D. Betz eingeleitet hat, von grundsätzlicher texterschließender Bedeutung. 56 Vgl. dazu E.-M. Becker, Das Markusevangelium im Rahmen antiker Historiographie. Ein Beitrag zur Erforschung von Quellen, Redaktion und Gattung des frühesten Evangeliums (Habilitationsschrift Erlangen 2004, erscheint in Tübingen 2006 [WUNT]).

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Hier bietet sich – anknüpfend an Weinrich – eine Anschlussüberlegung an: Machte »Markus« die Jesusüberlieferung ungefährlich, indem er sie in eine Erzählung von der ρχ το εDαγγελου brachte – und verharmloste »Lukas« Paulus, indem er von ihm erzählte? Ist Erzählung Verharmlosung, wenn sie nicht im Zusammenhang rhetorischer narratio, sondern epischer Erzählung begegnet? Und waren analog die Erzählungen von Jesus und von Paulus am Ende gerade nicht das, was sie doch sein wollen: Hinführungen zu ihrer Person? Paulus jedenfalls hat dem Druck der Gemeinden, von sich selbst zu erzählen, in seinen Briefen nicht nachgegeben, weil er seine Person nicht über seine Biographie definierte und explizierte.

Autobiographische Fiktionalität bei Paulus Lukas Bormann 1. Das Problem An Autobiographien richten sich hohe Erwartungen: Wahrheit, Bedeutsamkeit, Entwicklung. Die Autobiographieforschung hebt dieses Anforderungsprofil noch zusätzlich an,1 indem sie der Autobiographie eine „eigentliche“ Autobiographie gegenüberstellt.2 Ihr „Interessenmittelpunkt ist das Ich, nicht die Außenwelt“, sie sei „Formung der Vergangenheit“ und konstruiere eine „kohärente Geschichte“ von einem „besonderen Standpunkt“ aus.3 Sie leiste eine „subtile Durchdringung der Vergangenheit durch die Gegenwart“,4 wähle aber auch rigoros aus, sie sei „nicht einfach Rekonstruktion der Vergangenheit (. . . ), sondern Interpretation“.5 Die literaturwissenschaftliche Diskussion der Autobiographie konzentriert sich vor diesem Hintergrund auf die Fragen nach der Individualität, der IchIdentität und der Subjektivität des autobiographischen Schreibens. Sie beklagt 1 E. Kormann, Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert, Köln 2004 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 13); M. Stanislawski, Autobiographical Jews. Essays in Jewish Self-Fashioning, Washington 2004; L. Truchlar, Identität, polymorph. Zur zeitgenössischen Autobiographik und Bewusstseinskultur, Wien 2002; M. Holdenried, Autobiographie, Stuttgart 2000; R. Klüger, Dichter und Historiker. Fakten und Fiktionen, Wien 2000 (Wiener Vorlesungen im Rathaus 73); S. Kulenkampff, Schreiben nach Damaskus. Darstellung und Funktion von Ad-hoc-Offenbarungen in autobiographischer Prosa von Aurelius Augustinus, August Hermann Francke, Jean Paul und Robert Musil, Krakow 1999; R. Smith, Derrida and Autobiography, Cambridge 1995 (Literature, culture, theory 16); E. de Mijolla, Autobiographical quests. Augustine, Montaigne, Rousseau, and Wordsworth, Charlottesville 1994; B. Neumann, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt 1970 (Athenäum-Paperbacks Germanistik 3); R. Pascal, Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart 1965 (Sprache und Literatur 19); G. Misch, Geschichte der Autobiographie 1. Das Altertum, Frankfurt 3. Aufl. 1949f. 2 Pascal, Autobiographie [Anm. 1], S. 21; vgl. Holdenried, Autobiographie [Anm. 1], S. 20f. 3 Pascal, Autobiographie [Anm. 1], S. 21. 4 Pascal, Autobiographie [Anm. 1], S. 26. 5 Pascal, Autobiographie [Anm. 1], S. 28.

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die mangelnde Autonomie der Autobiographen, die weder ihre Welt noch sich selbst zu transzendieren vermögen, ohne in heterologe, heteronome, teleologische oder andere dem Ich fremde Gesetzmäßigkeiten zu verfallen.6 Wenn der Eindruck entsteht, dass das autobiographische Ich einer normierenden Ordnung bedürfe, die außerhalb seiner selbst begründet sei, werden Einwände vorgebracht. Die Kraft der Darstellung benötige zwar einen Standpunkt, dieser sei aber im autonomen Diskurs des autobiographischen Ichs zu wählen. Auch die Ausrichtung der Autobiographie auf ein Ziel, etwa auf eine moralische Vorbildlichkeit, wird als „teleologische“ Indienstnahme und Funktionalisierung abgelehnt.7 Den „außerliterarischen, dogmatisierenden und monologisierenden Diskursen“, die sich in vielen Autobiographien fänden, wird das Vorbild eines Robert Musil entgegengehalten.8 Dort finde sich ein „sinnbildendes Erzählen“, das geprägt sei vom „Streben zu Unabhängigkeit auch von sich selbst und dem eigenen Diskurs“.9 Das autobiographische Schreiben wird an der literarischen Gestaltung gemessen, in dem allein wahre Autonomie im Sinne von Unabhängigkeit erreicht wird: „Eine solche Unabhängigkeit schließt freilich den Besitz einer jeglichen Offenbarung aus, jedoch nicht das transitive Glück des augenblicklichen, undarstellbaren und zutiefst intimen Erlebens.“10 Autobiographisches Schreiben hat sich der Erwartung zu stellen, dass es der Heteronomie des eigenen Erlebens die Autonomie des Ichs abzugewinnen vermag. Das gefährdete Ich ringt in der Autobiographie um seine Autonomie, indem es seine Erfahrung nicht einfach unverstellt aus einer Ich-Perspektive thematisiert, sondern sich gleichzeitig von den eigenen Auswahlprinzipien und von der eigenen Erinnerung distanziert, und erst wirkliche Autonomie erreicht, indem es die eigene Ich-Perspektive in Frage stellt. Kormann nennt dieses Interpretationsmuster die „Autonomie-Heteronomie-Spannung“ und sieht in ihr eine der Aporien der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung.11 Den vorläufigen Höhepunkt des Kampfes des autobiographischen Ichs gegen alle Gesetzmäßigkeiten, die das autonome Ich durchdringen, stellt wohl die merkwürdige Wette zwischen einem Biographen und einem Autobiographen dar,

6 Kormann, Ich [Anm. 1], S. 7 u. 300–303; Holdenried, Autobiographie [Anm. 1], S. 90; Kulenkampff, Schreiben [Anm. 1], S. 300. 7 Holdenried, Autobiographie [Anm. 1], S. 21. 8 Kulenkampff, Schreiben [Anm. 1], S. 308. 9 Kulenkampff, Schreiben [Anm. 1], S. 308. 10 Kulenkampff, Schreiben [Anm. 1], S. 308. 11 Kormann, Ich [Anm. 1], S. 310.

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die zwischen Geoffrey Bennington und Jacques Derrida abgeschlossen wurde.12 Auf der einen Seite steht der Biograph, der auf die Totalität des Subjekts zugreifen will. Er setzt sich das Ziel, „alles“ zu sagen, und zwar so, dass auch das zukünftige Denken und Sprechen seines Objekts mit einbegriffen sein wird. Auf der anderen Seite steht der Autobiograph, der sich gegen diese Zumutung wehrt, indem er ankündigt, dennoch etwas Überraschendes, das keiner ahnt und das über die Biographie hinausgeht, zur Sprache zu bringen. Bis in den Druck wird die Idee verfolgt, Biographie und Autobiographie, Derridabase und Circonfession teilen sich die Seite. Und so entsteht ein Text, der Totalität der Biographie und Subversivität der Autobiographie einander gegenüberstellt.13 Wer nicht bereit ist, bis zu diesem Gedanken zu folgen, wird auch verfehlen, was sich im paulinischen Ich meldet: Die radikale Konstruktivität, die durch die Idee des authentischen Ichs möglich wird und die in die Kommunikation über Wahrheit eingeht. Das erzählende Ich wird zur subversiven Stimme gegen das totalitäre Beschreiben. In einem solchen Kontext ist das autobiographische Schreiben des Paulus nur selten reflektiert worden. Misch würdigt in seiner monumentalen Geschichte der Autobiographie die Bedeutung des Paulus für die Entwicklung der Subjektivität: „In der Dialektik seiner Antithesen brachte Paulus in dunkler Schwere eine Art des inneren Geschehens zur Geltung . . . “.14 Biser hat für diesen Aspekt der paulinischen Texte ein Gespür, das in den meisten Paulusbüchern fehlt. Er charakterisiert das Ich in den Paulusbriefen mit den Worten: „Keiner sagte vor ihm auf eine derart emphatische Weise »ich« wie er.“15 Biser widersteht aber der Versuchung nicht, dieses emphatische Ich gleich wieder zu domestizieren, indem er es den Kriterien autobiographischen Schreibens der Moderne aussetzt: innere Biographie,16 die Verbindung zum Leser als Vertrautem,17 Subjektivität18 und schließlich die in der Autobiographieforschung scheinbar unausrottbare Ursprungsfaszination, die in der teleologischen Ordnung der Entfaltung der Sub12 Jacques Derrida. Ein Portrait von G. Bennington u. J. Derrida, Frankfurt 1994, S. 7; franz. Orig.: Jacques Derrida par G. Bennington et J. Derrida, 1991. Vgl. Smith, Derrida [Anm. 1], S. 40– 48. 13 L. Bormann, Augustinus. Bekenntnisse, in: Weltliteratur, hg. R. Stauf u. C.-F. Berghahn, Bielefeld 2004 (Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 7), S. 25–41, hier S. 40. 14 G. Misch, Geschichte der Autobiographie 1. Das Altertum, Frankfurt 3. Aufl. 1950, S. 540– 544, hier S. 540. 15 E. Biser, Paulus. Zeuge, Mystiker, Vordenker, München 1992, S. 168. 16 Biser, Paulus [Anm. 15], S. 37. 17 Biser, Paulus [Anm. 15], S. 36f; vgl. Pascal, Autobiographie [Anm. 1], S.11. 18 Biser, Paulus [Anm. 15], S. 85.

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jektivität gerne nach dem „Anfang“ oder der „ersten“ Erscheinung sucht.19 In die Liste der möglichen Anfänge schiebt Biser nun zwischen Isokrates, Platon, Augustinus, Petrarca u.a. den Apostel ein: „Mit ihm beginnt, lange vor Descartes und Augustin, den Harnack »den ersten modernen Menschen« nannte, das Zeitalter der Subjektivität.“20 Wer das Ich des Apostels Paulus wieder zurückführt in den neuzeitlichen Diskurs um Subjektivität, Individualität und Autonomie, begibt sich in die aporetische „Autonomie-Heteronomie-Spannung“21 und setzt sich Kriterien aus, die das paulinische Ich wieder bescheiden verstummen lassen. Die „autobiographischen Passagen“ des Paulus müssen anders gelesen werden.22 Es kann nicht darum gehen, auch ihnen noch einen festen Platz in der Geschichte der Autobiographie zuzuweisen, sie gleichsam wie Insekten zu klassifizieren und in den entsprechenden Setzkästen zu fixieren. An die autobiographischen Fragmente des Paulus ist vielmehr die Frage zu stellen, wie in ihnen das Ringen zwischen rhetorischer Funktionalisierung der eigenen Biographie und subversiver Authentizität des Ich zur Sprache gebracht wird.

2. Autobiographisch relevante Texte und autobiographische Fragmente Die einleitenden Überlegungen zur Problemstellung haben deutlich gemacht, dass es um das Ich im Sinne des in den paulinischen Briefen konstruierten Ichs geht. Dieses Ich hat in den Texten auch eine grammatische Seite. Als 1. Pers. Sg. verschiedener Verben und Pronomen begegnet es in den Briefen, die von Paulus hinterlassen sind. Ich unterscheide zunächst die sprachlichen Kontexte, in denen Paulus erzählend, von den sprachlichen Kontexten, in denen Paulus begrifflich mit dem Ich umgeht.23 Als erzählend gelten die sprachlichen Zusammenhänge, in denen Raum und Zeit in einer identifizierbaren Weise thematisiert werden, und zwar so, dass „man aus Wörtern eine Welt macht“ („to make a world of words“), so Gass.24 Es 19

Kormann, Ich [Anm. 1], S. 1. Biser, Paulus [Anm. 15], S. 85. 21 Kormann, Ich [Anm. 1], S. 310. 22 E.-M. Becker, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, Tübingen u. Basel 2002 (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 4), S. 232–236. 23 Zu dieser Unterscheidung: I.U. Dalferth, Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, S. 242; ders., Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie, Freiburg i. Br. u.a.O. 1993 (QD 142), S. 310. 24 W.H. Gass, Wie man aus Wörtern eine Welt macht. Essays, hg. H. Ziegler, Salzburg u. Wien 1995, S. 91. 20

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entsteht eine erzählte Welt, die durch den Leser mit Hilfe assoziativer, metonymer und kontiger Sinnoperationen erfasst werden kann.25 Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat sich zwischen bestimmten Personen an näher charakterisierten Orten, die als „soziale Handlungsräume“ fungieren,26 eine Handlungsfolge ereignet, in der das Ich des Paulus beteiligt ist. In den paulinischen Briefen begegnen zahlreiche Passagen, in denen in dieser Weise erzählt wird. Nicht alle diese Passagen sind autobiographisch. Die Abgrenzung ist aufgrund des Übergangs vom Ich des Briefschreibers zum Ich des Erzählers und der Erzählfigur nicht immer eindeutig zu markieren.27 Es kommt noch dazu, dass Paulus sich an vielen Stellen durch die 1. Pers. Plural mit seinen Mitarbeitern, bisweilen auch mit den Adressaten verbindet. In den erzählenden Passagen lassen sich autobiographisch relevante Textpassagen identifizieren, die ich im Folgenden in fünf Gruppen nach der zunehmenden Intensität autobiographischen Schreibens einteile. Schließlich kann zwischen autobiographisch relevanten Texten (a–d) und autobiographischen Fragmenten unterschieden werden (e). a) Paulus berichtet bisweilen rückblickend über das Ergehen seiner Mitarbeiter oder anderer Gemeinden als der adressierten, ohne dass er selbst zur Erzählfigur dieser Rückblicke wird (2. Kor 7,6f.13–15; 8,5f.16; Phil 2,26f.30). b) Einige Passagen berichten gemeinsame Erlebnisse des Paulus und seiner Mitarbeiter. Sie sind in der 1. Pers. Pl. formuliert und geben auch zu erkennen, dass es sich hier um einen echten Plural handelt (1. Thess 2,1f; 2,17f ). c) Oft erinnert Paulus in erzählenden Rückblicken an Erfahrungen, die er mit den Adressaten der Briefe teilt (2. Kor 7,7–15; Phil 4,15–18; 1. Thess 1,6–8; 3,1–6; Phlm 10). d) Eine Besonderheit stellen die Texte dar, in denen Paulus geographisch und personal unkonkret seine apostolische Existenz beschreibt, indem er einen beständigen und durchaus spannungsvollen Zustand schildert (1. Kor 4,9–13; 2. Kor 4,8–10; 2. Kor 6,4–10; 2. Kor 12,10). Diese Texte sind keine wirklichen Erzähltexte. Ihr Haupttempus ist das Präsens. Sie charakterisieren einen andauernden Zustand, der die Gegenwart bestimmt. Sie sind zwar autobiographisch relevant, unterliegen aber anderen Formprinzipien, als sie für Erzähltexte gelten. Sie integrieren Texte, die seit Bultmanns Promotion Peristasenkataloge ge-

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R. Waltereit, Metonymie und Grammatik, Tübingen 1998, S. 16. L. Bertels u. U. Herlyn (Hg.), Lebenslauf und Raumerfahrung, Opladen 1990 (Biographie und Gesellschaft 9), S. 9–13. 27 Becker, Schreiben [Anm. 22], S. 234. 26

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nannt werden.28 Ebner bezeichnet diese Texte als „allgemeine Peristasenkataloge“ im Gegensatz zu den „persönlichen Peristasenkatalogen“, die hohe biographische Anteile enthalten (z.B. 2. Kor 11,23–29).29 e) Die höchste Intensität des autobiographischen Schreibens findet sich in den erzählenden Texten, in denen das Ich des Paulus im Mittelpunkt steht (Röm 1,13; Röm 15,18–22; 1. Kor 1,14–16; 1. Kor 2,1–5; 1. Kor 9,19–22; 1. Kor 15,30–32; 2. Kor 1,8–10; 2. Kor 1,23; 2,1.3f; 2. Kor 2,12f u. 7,5–7; 2. Kor 11,21b–29; 2. Kor 11,32f; 2. Kor 12,2–9b; Gal 1,11–2,14; Phil 1,12–18; Phil 3,5f.). Auch Biser spricht von Fragmenten einer Autobiographie und zieht dazu Texte heran, die er autobiographisch auswertet, ohne dass sie die Form autobiographischer Notizen haben, z.B. 1. Kor 13.30 Ich konzentriere mich hingegen auf Texte, die in der 1.-Person-Perspektive formuliert sind und nenne sie in Abgrenzung von den autobiographisch relevanten Texten (a–d) autobiographische Fragmente. Hier greift die Bezeichnung autobiographisch, weil Paulus als Erzähler sich selbst als Erzählfigur vergangener Ereignisse thematisiert. Damit steht ihm die Gestaltungsfreiheit des autobiographischen Schreibens zur Verfügung. Narratologisch wird man die Abgrenzung dieser Texte näher bestimmen müssen. Die autobiographischen Fragmente beginnen dort, wo das Ich des Briefschreibers in das Ich des Erzählers umschlägt. Der Autor des Briefes wird zum Autor einer Erzählung, in der das Ich eine andere Funktion für Leser/in wie Autor einnimmt. Das Ich des Briefschreibers spaltet sich gleichsam auf, in das Ich des Erzählers und das Ich der Handlungsfigur. Die Narratologie versucht diesen Vorgang, das Auseinandertreten des Ichs des Erzählers und des Ichs der Erzählfigur, begrifflich präzise zu fassen und spricht z.B. vom erzählenden Ich und dem erzählten Ich.31 Mit Genette, der für seine teilweise hypertrophe Begriffsbildung bekannt ist, ließe sich das terminologisch weiter verfeinern.32 Ich habe allerdings Vorbehalte gegen eine allzu präzise begriffliche Funktionsbestimmung sprachlicher Formen. Oftmals setzt die Begrifflichkeit eine Eigendynamik frei, nach der nicht mehr die sprachlichen Beobachtungen, sondern begriffliche Konstellationen leitend sind. Auf die begriffliche 28

R. Bultmann, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, Göttingen 1984 (FRLANT 13), S. 19; M. Schiefer Ferrari, Die Sprache des Leides in den paulinischen Peristasenkatalogen, Stuttgart 1991 (Stuttgarter Biblische Beiträge 23), S. 2f; M. Ebner, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus, Würzburg 1991 (fzb 66), S. 389–391. 29 Ebner (Leidenslisten [Anm. 28], S. 390f ) grenzt die Texte aus formgeschichtlichen Gründen enger ein: 1. Kor 4,11f; 2. Kor 4,8f; 6,4f; 12,10a. Für den vorliegenden Zusammenhang ist aber die autobiographische Frage leitend, so dass die Textzusammenhänge großzügiger zu bestimmen sind. 30 Biser, Paulus [Anm. 15], S. 168–178. 31 G. Genette, Die Erzählung, München 2. Aufl. 1998, S. 181. 32 Genette, Erzählung [Anm. 31], S. 269–278.

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Identifikation folgt bisweilen unreflektiert die Übertragung der mit dem Begriff verbundenen Konnotationen und Funktionsbestimmungen. Die im Begriff gefasste Anschauung verliert dabei schnell ihr eigenes, besonderes Gepräge. So kann man den Vorgang auch in den Worten von Gass beschreiben, ohne den Anspruch auf die Ausbildung einer fixierten Terminologie zu erheben. Gass beschreibt den Reflexionsprozess autobiographischen Schreibens vor dessen Versprachlichung: „How does autobiography begin? With memory. And the consequent division of the self into the-one-who-was and the-one-who-is.“33 Das Auseinandertreten des „self“ in die beiden Ichs, das Ich des Erzählers (the-onewho-is) und das Ich der Erzählfigur (the-one-who-was), eröffnet die Spielräume autobiographischer Sinnbildung, die in einfachen Identifikationsfiguren nicht gegeben sind. Ein für den beschriebenen Vorgang typischer Übergang findet sich zwischen Gal 1,10 und 1,15. In 1,10 spricht das Ich des Briefeschreibers und markiert die Gleichzeitigkeit der Kommunikationsebene durch das Adverb