Biographie, Ritual und Medien: Zu den diskursiven Konstruktionen gegenwärtiger Religiosität [1. Aufl.] 9783839419403

Engel, Reiki, Jesus und das Vaterunser - wie passt das zusammen? Für viele religiöse Menschen ist es heute selbstverstän

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German Pages 414 Year 2014

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Inhalt
Vorbemerkung
1. ZU BEGINN
1.1 Problemstellung, Begrifflichkeiten und Ziele
1.2 Forschungsgeschichtlicher Überblick
2. THEORETISCHE PERSPEKTIVEN
2.1 Zwei theoretische Zugänge in der Religionswissenschaft
2.1.1 Diskurskonzepte in der Religionswissenschaft
2.1.2 Hermeneutisch-subjektorientierte Religionsforschung
2.2 Diskurs: Konzepte und Perspektiven
2.2.1 Foucault und die diskursive Praxis
2.2.2 Neuere Diskursansätze
2.2.3 Gegenwärtige Religiosität im Diskurs
2.3 Hermeneutisch-subjektorientierte Forschung
2.3.1 Die soziale Konstruktion der Lebenswelt
2.3.2 Subjekt- und Identitätskonstruktionen
2.3.3 Konstruktion von gegenwärtiger Religiosität
2.4 Diskurs, Narration und Biographie – Entwurf einer Synthese
2.4.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse
2.4.2 Narration und Diskurs
2.4.3 Diskurs, Narration und Biographie: Möglichkeiten für die Erforschung gegenwärtiger Religiosität
3. METHODISCHER ZUGANG
3.1 Forschungsdesign
3.1.1 Zugang zum Untersuchungsfeld und Auswahl der Akteure
3.1.2 Interviewdesign und Auswertung
3.1.3 Internetmaterial
3.2 Darstellung der Analyse und weiteres Vorgehen
4. ZUR NARRATIV-DISKURSIVEN KONSTRUKTION VON GEGENWÄRTIGER RELIGIOSITÄT
4.1 Religiosität im Lebenslauf
4.1.1 Ein besonderes Kind
4.1.2 Religiöse Schlüsselerlebnisse
4.1.3 Lernend und lehrend
4.1.4 »Mein Weg«
4.2 Zur Konstruktion zentraler religiöser Konzepte
4.2.1 »Alles ist eins«
4.2.2 Reinkarnation
4.2.3 Zur Rolle nichtmenschlicher Handlungsmächte
4.3 Positionierungen und Grenzkonstruktionen
4.3.1 Kirche versus »das wahre Christentum«
4.3.2 Religion – Spiritualität – Esoterik
4.4 Konstruktionsprozesse religiöser Identität
5. RITUELLE PRAXIS – EXEMPLARISCHE BETRACHTUNGEN
5.1 Rituale im Diskurs gegenwärtiger Religiosität
5.1.1 Die Vielfalt ritueller : Ein Überblick
5.1.2 Was sind Rituale? Akteursvorstellungen
5.1.3 Ritualtheoretische Perspektiven
5.2 Gebete (Anrufungen)
5.2.1 Gebetstexte im Internet
5.2.2 Gebete in der Praxis
5.3 Rituale der Energie- und Heilarbeit
5.3.1 Einweihungen vor Ort, Fern- und Depoteinweihungen
5.3.2 Reiki und weitere Heilsysteme
5.3.3 Heil- und Einweihungserzählungen
5.4 Rituelle Kompositionsmuster
6. GEGENWÄRTIGE RELIGIOSITÄT UND MODERNE MEDIEN
6.1 Von Bestsellern und eigenen Büchern
6.1.1 Die Vielfalt der Quellen
6.1.2 Rezeptionsprozesse in narrativer Gestaltung
6.1.3 Bücher und rituelle Praxis
6.1.4 Die »richtige« Zeit für Bücher
6.1.5 Das eigene Buch
6.2 Von TV-Serien und Filmen
6.3 Mediale Präsentationen im Internet
6.3.1 »Mein Weg ins Netz«
6.3.2 Die eigene Webpräsenz
6.3.3 Soziale Interaktions- und Aushandlungsprozesse online
6.4 Religiöse Akteure und mediale Märkte
7. GEGENWÄRTIGE RELIGIOSITÄT IM DISKURS: EIN FAZIT
7.1 Biographie: Religiöse Identitätskonstruktionen
7.2 Rituale: Kompositionsprozesse religiöser Praxis
7.3 Medien und Markt: Rezeption, Kommunikation und Positionierung
7.4 Diskurs und Subjekt: Perspektiven auf gegenwärtige Religiosität
Quellenverzeichnis
Anhang
Danksagung
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Biographie, Ritual und Medien: Zu den diskursiven Konstruktionen gegenwärtiger Religiosität [1. Aufl.]
 9783839419403

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Nadja Miczek Biographie, Ritual und Medien

Religion und Medien | Band 2

Editorial Die Gegenwart der Religionen wird heute in starkem Maße durch die Formen ihrer medialen Repräsentationen geprägt. Aber auch Religionsgeschichte war immer schon Mediengeschichte. Medien sind zentral für die Vermittlung religiöser Ideen und ritueller Praktiken. Zudem sind Religionen in modernen Gesellschaften auch Gegenstand der dokumentarischen Berichterstattung und der Unterhaltung. Die Reihe Religion und Medien soll ein Forum für die kulturwissenschaftliche Erforschung der religionsspezifischen Nutzung von Medien und für die medienspezifische Analyse der Darstellung religiöser Sujets bieten. Ebenso sind theoretische und methodologische Abhandlungen willkommen, die zum Verständnis rezenter und historischer Medienphänomene im Feld der Religionen beitragen und die Vielschichtigkeit des Medienbegriffes diskutieren. Der offene Begriff der »Medien« bezieht sich in diesem Zusammenhang sowohl auf die klassischen Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften), auf die populäre Publizistik, Belletristik und Literatur, auf technische Bildmedien (Fotografie), auf Kommunikationsmedien wie dem Telefon und seinen Weiterentwicklungen, als auch auf neue Medien wie Radio, Film, Fernsehen und schließlich Internet und computergestützte Medienanwendungen. Die außerordentliche Dynamik des Feldes – man denke an die bereits einsetzende Konvergenz traditioneller Textmedien und audiovisueller Medien im Internet – spricht im Sinne einer »Archäologie der medialen Kommunikation« für die Berücksichtigung einer medienhistorischen Perspektive. Die Reihe wird herausgegeben von Oliver Krüger in Verbindung mit Gregor Ahn, Peter Bräunlein, Christiane Brosius, Anne Koch, Jürgen Mohn, Hubert Mohr, Michael Schetsche und Joachim Trebbe.

Nadja Miczek ist Oberassistentin am religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern. Sie befasst sie u.a. mit der Erforschung gegenwärtiger Religiosität.

Nadja Miczek

Biographie, Ritual und Medien Zu den diskursiven Konstruktionen gegenwärtiger Religiosität

Die Drucklegung dieses Buches wurde durch die großzügige Föderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des SFB 619 »Ritualdynamik« an der Universität Heidelberg ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Bild Tastatur: Gerd Altmann/pixelio.de; Bild Rel. Symbole: valeriya_gold; Bildkomposition: Nadja Miczek Lektorat & Satz: Nadja Miczek Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1940-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorbemerkung | 9

1. ZU BEGINN | 11 1.1 Problemstellung, Begrifflichkeiten und Ziele | 13 1.2 Forschungsgeschichtlicher Überblick | 22

2. THEORETISCHE PERSPEKTIVEN | 45 2.1 Zwei theoretische Zugänge in der Religionswissenschaft | 47 2.1.1 Diskurskonzepte in der Religionswissenschaft | 47 2.1.2 Hermeneutisch-subjektorientierte Religionsforschung | 50 2.2 Diskurs: Konzepte und Perspektiven | 54 2.2.1 Foucault und die diskursive Praxis | 54 2.2.2 Neuere Diskursansätze | 59 2.2.3 Gegenwärtige Religiosität im Diskurs | 63 2.3 Hermeneutisch-subjektorientierte Forschung | 65 2.3.1 Die soziale Konstruktion der Lebenswelt | 66 2.3.2 Subjekt- und Identitätskonstruktionen | 70 2.3.3 Konstruktion von gegenwärtiger Religiosität | 74 2.4 Diskurs, Narration und Biographie – Entwurf einer Synthese | 76 2.4.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse | 76 2.4.2 Narration und Diskurs | 80

2.4.3 Diskurs, Narration und Biographie: Möglichkeiten für die Erforschung gegenwärtiger Religiosität | 91

3. METHODISCHER Z UGANG | 95 3.1 Forschungsdesign | 95

3.1.1 Zugang zum Untersuchungsfeld und Auswahl der Akteure | 96 3.1.2 Interviewdesign und Auswertung | 103 3.1.3 Internetmaterial | 106

3.2 Darstellung der Analyse und weiteres Vorgehen | 109

4. ZUR NARRATIV- DISKURSIVEN KONSTRUKTION VON GEGENWÄRTIGER R ELIGIOSITÄT | 111 4.1 Religiosität im Lebenslauf | 112 4.1.1 Ein besonderes Kind | 113 4.1.2 Religiöse Schlüsselerlebnisse | 122 4.1.3 Lernend und lehrend | 129 4.1.4 »Mein Weg« | 136 4.2 Zur Konstruktion zentraler religiöser Konzepte | 144 4.2.1 »Alles ist eins« | 144 4.2.2 Reinkarnation | 156 4.2.3 Zur Rolle nichtmenschlicher Handlungsmächte | 160 4.3 Positionierungen und Grenzkonstruktionen | 171 4.3.1 Kirche versus »das wahre Christentum« | 171 4.3.2 Religion – Spiritualität – Esoterik | 180 4.4 Konstruktionsprozesse religiöser Identität | 187

5. RITUELLE PRAXIS – EXEMPLARISCHE BETRACHTUNGEN | 191 5.1 Rituale im Diskurs gegenwärtiger Religiosität | 194 5.1.1 Die Vielfalt ritueller Praxis: Ein Überblick | 195 5.1.2 Was sind Rituale? Akteursvorstellungen | 202 5.1.3 Ritualtheoretische Perspektiven | 209 5.2 Gebete (Anrufungen) | 216

5.2.1 Gebetstexte im Internet | 217 5.2.2 Gebete in der Praxis | 233

5.3 Rituale der Energie- und Heilarbeit | 249

5.3.1 Einweihungen vor Ort, Fern- und Depoteinweihungen | 250 5.3.2 Reiki und weitere Heilsysteme | 255 5.3.3 Heil- und Einweihungserzählungen | 266 5.4 Rituelle Kompositionsmuster | 285

6. GEGENWÄRTIGE RELIGIOSITÄT UND MODERNE M EDIEN | 293 6.1 Von Bestsellern und eigenen Büchern | 297 6.1.1 Die Vielfalt der Quellen | 298 6.1.2 Rezeptionsprozesse in narrativer Gestaltung | 303 6.1.3 Bücher und rituelle Praxis | 310 6.1.4 Die »richtige« Zeit für Bücher | 312 6.1.5 Das eigene Buch | 314 6.2 Von TV-Serien und Filmen | 316 6.3 Mediale Präsentationen im Internet | 320 6.3.1 »Mein Weg ins Netz« | 321 6.3.2 Die eigene Webpräsenz | 325

6.3.3 Soziale Interaktions- und Aushandlungsprozesse online | 347 6.4 Religiöse Akteure und mediale Märkte | 351

7. GEGENWÄRTIGE RELIGIOSITÄT IM DISKURS : EIN FAZIT | 359 7.1 Biographie: Religiöse Identitätskonstruktionen | 359 7.2 Rituale: Kompositionsprozesse religiöser Praxis | 366 7.3 Medien und Markt: Rezeption, Kommunikation und Positionierung | 371 7.4 Diskurs und Subjekt: Perspektiven auf gegenwärtige Religiosität | 378 Quellenverzeichnis | 385 Anhang | 407 Danksagung | 411

Vorbemerkung

Wer sich heute in den Medien oder auch im persönlichen Umfeld etwas nach »alternativer« gegenwärtiger Religiosität umsieht, dem wird schnell bewusst, dass sich hier ein vielfältiges, komplexes und interessantes Forschungsfeld eröffnet. Verschiedene Formen gegenwärtiger Religiosität waren auch der Ausgangspunkt für ein umfassendes Forschungsprojekt, das im Rahmen des DFGSonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik« von 2002-2009 an der Universität Heidelberg durchgeführt wurde. Mehrere Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler arbeiteten unter der Leitung von Prof. Gregor Ahn in einem Teilprojekt dieses SFBs, in dem drei Elemente von zentralem Interesse waren: gegenwärtige Religiosität, Ritualdynamik und die Rolle moderner Medien, hier insbesondere das Internet. Dies bildete auch den Rahmen für mein Dissertationsprojekt, auf dem die vorliegende Publikation beruht. In den Jahren zwischen 2005 und 2009 entstand so eine qualitative Studie, die den ursprünglichen Titel »Identitäten – Rituale – Medien. Eine qualitative Studie zu Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität« trug. Seit dem Abschluss der Dissertation und dieser Veröffentlichung liegt nun bereits eine größere Zeitspanne, ein Umstand, der sich in mehrfacher Hinsicht in der vorliegenden Publikation widerspiegelt. So wurde der ursprüngliche Text der Dissertation an einigen Stellen verändert, ergänzt, gekürzt oder neu geordnet. Dies hat zum einen pragmatische Gründe: Der ehemals ca. 550 Seiten umfassende Text der Dissertation sollte auf ein für den Leser gut zu bewältigendes Maß reduziert werden. Der andere, primär entscheidende Grund ist jedoch ein Umstand, der generell das akademische Arbeiten betrifft. Dies zeigt sich in der Praxis als eine stetige Erweiterung und Entwicklung der eigenen Kenntnisse. Ständig stößt man auf neue theoretische und methodische Ansätze, wird Teil neuer Fachdiskussionen und entdeckt neue Themenfelder, die immer auch neue analytische Fragestellungen mit sich bringen. Seit dem Abschluss des Dissertationsverfahrens bin auch ich mit viel Neuem in Berührung gekommen, was mich zur

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kritischen Reflexion von dem Bisherigen veranlasste. Auch wollte ich das Feedback aufnehmen, das ich von den Gutachtern und weiteren Lesern zu meiner Dissertation erhalten hatte. Im Zuge der Veröffentlichung stand daher für mich fest, dass ich einige Stellen überarbeiten und teilweise schärfen wollte. Dies betrifft insbesondere das Theoriekapitel, das nun einen doch beachtlichen Umfang einnimmt, den mir der eher am empirischen Material interessierte Leser verzeihen möge. Die Zeitspanne zwischen der Abfassung des Dissertations- und des Publikationstextes macht sich zudem in dem Umstand bemerkbar, dass viele der im Rahmen der Studie zitierten Webseiten inzwischen nicht mehr online sind. Es wird daher an den entsprechenden Stellen darauf verwiesen, dass auf Anfrage eine archivierte Version der jeweiligen Webpräsenz eingesehen werden kann, insofern diese nicht über das Internet-Archiv (www.achive.org) zugänglich ist. Einen letzten Punkt gilt es außerdem zu erwähnen. Ich habe mich bemüht, im Überarbeitungsprozess die seit 2009 neu erschienenen und für die Studie relevanten Publikationen wahrzunehmen. Doch im Zuge des unermüdlichen Ratterns der akademischen Publikationsmaschinen kann ich nicht sicher sein, alles Relevante erfasst zu haben. Die betroffenen Autorinnen und Autoren mögen es mir nachsehen, falls ausgerechnet ihre Studie keinen Eingang in das vorliegende Buch gefunden hat.

Zu Beginn

Lassen Sie uns mit einem kurzen, zwar fiktiven, wie sich jedoch zeigen wird, heute vielfach typischen Beispiel einer religiösen Biographie beginnen. Luise, heute Ende 50, Mutter von zwei erwachsenen Kindern, ist in Deutschlands Südwesten in einem mittelgroßen Dorf aufgewachsen. Hier wurde sie getauft und im evangelisch-lutherischen Glauben erzogen, gleichwohl Religion im Alltag der Familie kaum eine bedeutende Rolle spielte. Sie wurde konfirmiert, heiratete später kirchlich und ließ auch ihre beiden Kinder taufen. Bis heute ist sie Mitglied der Kirche, deren liturgische Angebote sie zumindest ab und zu noch nutzt. Sie besucht nicht nur zu Weihnachten den Gottesdienst, sondern nimmt auch an den in regelmäßigen Abständen angebotenen, meditativen Musikabenden teil. Vor einigen Jahren fing sie an, sich verstärkt auch für andere religiöse Themen zu interessieren. Die großen Weltreligionen faszinierten sie, daher suchte sie nach deren »heiligen« Schriften und anderen Publikationen, die ihr einen ersten Einblick in die jeweilige Tradition gaben. Sie stieß mit ihren Fragen auf eine Vielfalt von Informationen, die wiederum neue Fragen aufwarfen. Antworten auf diese fand sie dann vor allem in Publikationen, die in der Buchhandlung unter der Rubrik »Esoterik/Spiritualität«, »Neues Denken« oder »Psi & Phänomene« sortiert sind. Hier lernte sie etwas über die »Heilkraft der Engel«, »indianische Spiritualität« und versuchte sich an verschiedenen Meditations- und Heiltechniken. Das alles steht für sie jedoch keineswegs im Gegensatz zu ihren »christlichen Wurzeln« – im Gegenteil. Auf der Grundlage dieser neuen Erkenntnisse und Erfahrungen entdeckte sie das Christentum für sich neu, zwar nicht so, wie von Seiten der Kirche gepredigt, doch in ihrer Perspektive lassen sich die unterschiedlichen Konzepte und praktischen Ansätze durchaus miteinander in Einklang bringen. Befragte man sie in einem Gespräch dazu, wie sie ihre Religiosität bezeichnet, würden zur Charakterisierung und Zuordnung vermutlich vier Begriffe hervortreten: religiös, spirituell, esoterisch und christlich. Eine Festle-

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gung auf nur einen dieser Begriffe wäre für sie vermutlich eher schwierig, da sie zu jedem dieser Termini wahrscheinlich einige kritische Anmerkungen äußern würde. In jüngster Zeit hat Luise von einer Heilmethode namens Reiki erfahren und sich nun entschlossen, diese in einem Kurs zu erlernen. Ob sie damit jedoch außerhalb eines privaten Rahmens bald schon selbst als Anbieterin auftritt, steht für sie noch nicht fest. Einen Austausch über ihre Erfahrungen hat sie jedoch neben dem persönlichen Umfeld und den Personen, die sie in Kursen kennen lernt, auch über das Internet gefunden. In verschiedenen Foren und Chats unterhält sie sich mit Gleichgesinnten und vor kurzem entschloss sie sich sogar, ihren »persönlichen Weg« auf einer Homepage mitzuteilen. Hier schreibt sie über ihre Affinität zu Engeln, spirituellem Heilen, christlicher und islamischer Mystik und ihre Erfahrungen aus der Reinkarnationstherapie, die sie vor kurzem absolviert hat. Luise sieht sich selbst heute auf einem Entwicklungsweg, auf dem es von enormer Bedeutung ist, an sich selbst zu arbeiten und sich spirituell weiterzuentwickeln. Die hier lediglich schlaglichtartig beleuchtete religiöse »Karriere« von Luise kann derzeit stellvertretend für ähnliche biographische Verläufe gesehen werden, die für religionswissenschaftliches Arbeiten äußerst interessant sind, die Forscher jedoch auch vor eine Vielzahl von Problemen stellen. Interessant sind diese Verläufe insbesondere, da sie einen Einblick geben, wie auf Subjektebene Religiosität konstruiert und biographisch realisiert wird. Akteure wie Luise »jonglieren« gleichsam mit verschiedensten religiösen und rituellen Elementen, wobei deren traditionelle religionsgeschichtliche Verortung eher sekundär erscheint. Sie leben und praktizieren das, was in Forscherkreisen bereits als »Patchworkreligion«1 bezeichnet wurde. Des Weiteren kann die Beschreibung derartiger religiöser Lebensläufe auch herangezogen werden, wenn es um die Frage nach den Einbindungen der Akteure in übergeordnete gesellschaftliche, soziale und kulturelle Kontexte geht. Ausgehend von der Annahme, dass Religionen stetig dynamisch ausgehandelt werden, können anhand der Schilderungen der Akteure erste Schlüsse gezogen werden, welche Handlungs- und Sprachmächtigkeiten von Akteuren und Akteursgruppen vorliegen, die damit eine (temporäre) Konstituierung und Charakterisierung religiöser Diskurse vornehmen. Damit einhergehend ergibt sich zugleich jedoch auch folgende Problematik: Wie lassen sich religiöse Akteure fassen und beschreiben, die sich jeglicher eindeutigen Zuordnung zu einer bestimmten, häufig noch als abgrenzbar konzeptio-

1

Vgl. z. B. Engelbrecht 2006, 245; zu Patchwork bei Ritualen siehe Radde-Antweiler 2008a.

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| 13

nalisierten religiösen Tradition entziehen? Wie lässt sich der religiöse Bereich – falls man von diesem überhaupt im Singular sprechen kann – beschreiben, in dem sie sich bewegen? Und als weitere entscheidende Frage: Wie sehen die Konstruktionsprozesse eines solchen religiösen Lebenslaufs im Detail aus? Wie bauen diese Subjekte eine für sie kohärente religiöse Identität auf bzw. passen diese an aktuelle Gegebenheiten an? Wie sind diese Konstruktionsprozesse verknüpft mit Aushandlungen auf gesellschaftlichen Ebenen? Welchen Einfluss nehmen soziale, kulturelle und insbesondere mediale Faktoren auf die Religiositätsentwürfe von Akteuren? Diesen und weiteren Fragen möchte diese Arbeit nachgehen. Eine endgültige Beantwortung kann dabei nicht angestrebt werden, da – geht man von einer steten Dynamik des Forschungsfeldes aus – nur Tendenzen, temporäre dominante Zusammenhänge und Verflechtungen verschiedener Diskurse ausschnittweise dargestellt und analysiert werden können. Der Beitrag versteht sich daher als einer unter vielen weiteren wissenschaftlichen »Puzzelteilchen« zur Analyse gegenwärtiger Religiosität.2

1.1 P ROBLEMSTELLUNG , B EGRIFFLICHKEITEN

UND

Z IELE

Ausgangspunkt dieser Studie war die Beobachtung, dass Personen wie Luise keineswegs mehr die Ausnahme in der gegenwärtigen religiösen Landschaft darstellen.3 Im Gegenteil – bereits über eine einfache Suche im Internet lassen sich hunderte ähnliche Darstellungen individual-biographischer Verläufe finden: Auch hier liegt ein überwiegend christlicher Sozialisationshintergrund vor, auf dessen Basis die aktuelle Religiosität und Praxis sehr dynamisch durch die Hinzunahme verschiedenster religiöser und ritueller Elemente geformt wird. Dieser, nur schwer fass- und beschreibbare religionsgeschichtliche Bereich stellt das Untersuchungsfeld dieser Studie dar und wird im Folgenden vereinfachend mit »gegenwärtiger Religiosität« bezeichnet. In diskursiver Perspektive gesprochen könnte von esoterischen bzw. spirituellen Diskursen die Rede sein, die sich mit

2

Ein erster Überblick zu aktueller Forschung zu gegenwärtiger Religiosität in oben verstandenem Sinne findet sich im Kapitel 1.2.

3

Die folgenden Aussagen beziehen sich zunächst auf den deutschsprachigen Raum. In internationaler Perspektive ist auffällig, dass Studien zu diesem Thema oft immer noch sehr deutlich zwischen Kirchenmitgliedschaft und »alternativer« Religiosität differenzieren und somit die Überlappung dieser Bereiche auf der Ebene der Akteure nicht oder nur bedingt wahrnehmen. So z. B. Heelas & Woodhead 2005.

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christlichen überlappen, in denen dabei aber auch andere religiöse Elemente wie aus »dem« Buddhismus, Hinduismus oder weiteren religiösen Traditionen verhandelt werden. In diesem Sinne ist das hier betrachtete Untersuchungsfeld lediglich als ein Segment unter weiteren denkbaren Segmenten gegenwärtiger Religiosität anzusehen. Voraussetzung für die verschiedensten Ausformungen gegenwärtiger Religiosität ist generell jedoch ein gesellschaftspolitisches Umfeld, in dem die Vermischung verschiedener religiöser Diskurse in öffentlichen wie privaten Bereichen möglich ist, ohne z. B. rechtliche Sanktionen nach sich zu ziehen. Die Akteure können hier im Allgemeinen einen aktiv wählenden Part in den Ausformungen ihrer Religiosität einnehmen und auch vertreten. Dies ist heute mit Sicherheit für weite Teile Europas und Nordamerikas der Fall, weshalb sich die folgenden Ausführungen zunächst grob auf »den Westen« beschränken. Insgesamt fehlt für die Bezeichnung dieses religionsgeschichtlichen Bereichs jedoch eine griffige Terminologie. Daher wird im Folgenden die übergeordnete Kategorie »gegenwärtige Religiosität« verwendet. An welchen Punkten können Formungs- und Veränderungsprozesse dieser so verstandenen gegenwärtigen Religiosität nun wissenschaftlich erfasst werden? Mögliche Ansatzpunkte gibt es hier sicherlich viele: Religiöse Expertenfiguren4, mediale Diskurse, verschiedene Handlungsebenen sind Beispiele für solche Untersuchungsfoki. Im Folgenden möchte ich mich jedoch zwei Bereichen zuwenden, die für die Analyse gegenwärtiger Religiosität ebenfalls gewinnbringend erscheinen: narrativ-biographische Konstruktionen und Rituale. Wie das eingangs präsentierte Beispiel von Luise bereits andeutete, wird die Komplexität gegenwärtiger Religiosität gerade auch in biographischen Verläufen beteiligter Akteure deutlich sichtbar. Hier erhalten Forschende sowohl Einblicke in die diachronen Entwicklungsprozesse individueller Religiosität als auch in die Auswahlmechanismen für die verwendeten religiösen und rituellen Elemente. Nach einem ersten Überblick lässt sich vermuten, dass die »Synchronisationsprozesse«, auf deren Basis die Akteure ihre religiöse Identität entwickeln, auch in ritueller Hinsicht vielfältig umgesetzt werden. Dabei erscheint die Konstruktion von Grenzen zwischen verschiedenen religiösen Traditionen ebenfalls situativ bedingt und stetig neu verhandelbar. Diese beiden Ansatzpunkte bilden daher die Basis für die folgende Untersuchung, wohl wissend dass hiermit – wie bei anderen Untersuchungsschwerpunkten auch der Fall – nur eine mögliche Perspektive auf das Feld eröffnet werden kann.

4

In seiner Studie zu »gegenwärtiger Esoterik« stützt z. B. Olav Hammer seine Untersuchung zum größten Teil auf Aussagen bekannter Buchautoren des Diskurses, die hier gleichsam als religiöse Expertenfiguren rezipiert werden. Vgl. Hammer 2001.

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Sowohl für die Betrachtung biographischer Verläufe wie auch für die Untersuchung von Ritualen ist ein weiterer Punkt wichtig. Multimediale Vermittlungsund Rezeptionsprozesse spielen sowohl auf Subjekt- wie auch auf Gesellschaftsebene eine immer bedeutsamere Rolle. Eine stetig wachsende »Mediatisierung«5 aktueller Lebenswelten und all ihrer Teilbereiche ist heute omnipräsent. Ein Katalysator dieser Entwicklung ist mit Sicherheit das Internet, das mit seiner Popularisierung seit dem Beginn der 1990er Jahre wohl wie kein anderes Medium zuvor die Welt verändert hat. Die rapide Ausbreitung dieses Mediums zeigte in den letzten Jahren wachsende Einflüsse auf eine Vielzahl von sozio-kulturellen Feldern. Kommunikations- und Informationsstrukturen haben sich gravierend verändert, der Online-Handel ist ein nicht mehr wegzudenkender Faktor im weltweiten wirtschaftlichen Geschehen und neue Vergemeinschaftungsprozesse beeinflussen soziale Felder.6 Als Massenmedium entwickelte es sich seit seiner Entstehung immer mehr zu einem Medium, das erstmals in der Geschichte potenziell jedem7 als Autor bzw. Produzent den Zugang gestattet und äußert niedrige Eintrittsbarrieren für Rezipienten besitzt. Es dient darüber hinaus heute auch als multimediale Vernetzungsplattform, in die ältere massenmediale Formate (z. B. Zeitung, TV) integriert werden. Neue mobile Endgeräte lassen in nächster Zeit spannende Entwicklungen erwarten. Diese gesamte Bandbreite der medialen Angebote – Bücher, TV, Internet etc. – steht auch den Akteuren gegenwärtiger Religiosität zur Verfügung und wird von diesen rege genutzt. Sie tauschen Informationen aus, rezipieren und reflektieren Inhalte bzw. stellen diese selbst online und kommunizieren mit anderen Akteuren. Insgesamt ergibt sich somit ein komplexes mediales Geflecht, in das die Akteure eingebunden sind. Die religionswissenschaftliche Forschung hat inzwischen mit vielen Studien und Analysen auf diese mediale Einbindung religiöser Akteure reagiert. Erste Arbeiten erkannten rasch, dass es sich bei religiösen Angeboten und Akteuren im Internet nicht nur um einen Spiegel der Offline-Situation handelt, sondern dass die medialen Strukturen selbst die Aushandlungen über religiöse Themen entscheidend mitbestimmen.8 Heute geht der Trend dahin, verstärkt die Komple-

5

Vgl. Krotz 2008b, 53; Hepp & Krönert 2009.

6

Vgl. Imhof & Blum & Bonfadelli & Jarren 2004.

7

Voraussetzung dafür ist freilich der Zugang zu den entsprechenden technischen Ressourcen und das nötige Fachwissen. Es besteht klar eine »digitale Kluft« zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Siehe dazu weiterführend Zillien 2009.

8

Siehe exemplarisch die Fallstudie von Gernot Meier zu Ufo-Bewegungen im Internet. Meier 2005.

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xität des medialen Geflechts, in das religiöse Akteure eingebunden sind, in wissenschaftlichen Untersuchungen zu fokussieren. Im Zentrum der Studie stehen somit die Formierungs- und Konstruktionsprozesse gegenwärtiger Religiosität, wobei im Rahmen dieser Prozesse insbesondere narrativ-biographische Entwürfe sowie die rituelle Praxis näher betrachtet werden. Massenmediale Aushandlungen werden soweit wie möglich mit berücksichtigt. Untersuchungsleitende Fragen sind: Wie gelingt es Akteuren, aus den unterschiedlichen, von ihnen rezipierten religiösen und rituellen Elementen, einen für sich kohärenten Identitätsentwurf zu schaffen? Warum wählen sie bestimmte religiöse Elemente für sich aus und verwerfen gleichzeitig andere? Ist diese Auswahl völlig beliebig oder kann man von übergeordneten Steuerungsmechanismen ausgehen, die hier eingreifen? Welche Rolle spielen bei diesen Prozessen moderne Medien? Kurz gesagt: Warum gestalten Akteure gegenwärtig ihre Religiosität genau so und nicht anders? Mit diesen Fragen wird deutlich, welche Ebenen die Studie ansprechen möchte und welche explizit nicht. Es handelt sich um eine Detailstudie, die nach Feinstrukturen auf der Ebene einzelner Akteure fragt. Mit der daran anschließenden Frage nach übergeordneten Steuerungsmechanismen versucht die Untersuchung jedoch auch an Meso- und Makroebenen anzuknüpfen, wenn sicherlich auch in einem begrenzten Maße. Religionsgeschichtliche Entwicklungen des gesamten Untersuchungssegments, ein Inventar aller verwendeten religiösen und rituellen Elemente und eine weiterführende gesellschaftspolitische Kontextualisierung sind Ebenen, die hier explizit nicht angesprochen werden können. Wie der forschungsgeschichtliche Überblick jedoch zeigen wird, ist über die genauen Gestaltungsprozesse gegenwärtiger Religiosität bislang nur wenig geforscht worden. Eine Detailstudie, wie sie hier durchgeführt wird, besitzt daher hohe Relevanz. Nachdem der Untersuchungsrahmen grob abgesteckt wurde, gilt es nun, die untersuchten Akteure näher zu charakterisieren bzw. deren Auswahl zu begründen. Eine Fokussierung auf biographische Verläufe legt eine Hinwendung zu einzelnen religiösen Subjekten nahe und damit einen generell qualitativ orientierten Ansatz. Wie im anschließenden Forschungsüberblick deutlich wird, ist dies eine Perspektive, die in der Erforschung gegenwärtiger Religiosität zwar durchaus vorhanden, aber noch unterrepräsentiert ist. Dies gilt insbesondere für Akteure, die gerade nicht zu den bekanntesten medialen Figuren wie beispielsweise populäre Bestsellerautoren zählen. In der Erforschung gegenwärtiger Religiosität zeichnet sich gerade in den frühen grundlegenden Studien wie von Wouter Hanegraaff oder Olav Hammer die Tendenz ab, dass hier das Feld anhand ausgewählter Autoren beschrieben wird, die als populär und erfolgreich gelten.

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Da angenommen wird, dass ihnen gleichzeitig ein hohes Rezeptionspotential zukommt, werden sie stellvertretend für alle Akteure gesehen – ein Phänomen, das aus vielen religionsgeschichtlichen Untersuchungen bestens bekannt ist. Dieser selbstverständlichen Annahme möchte die Studie entgegenwirken, indem der Fokus eben auf Akteure gelegt wird, die nicht dieses Alleinstellungsmerkmal aufweisen. Zwar finden sich auch unter den hier ausgewählten Akteuren Buchautoren, wie anhand ihrer Verkaufsränge9 jedoch deutlich wird, sind sie lange nicht so erfolgreich wie Bestsellerautoren. Mit dieser ersten Abgrenzung der untersuchten Akteursgruppe beginnen nun aber auch die Schwierigkeiten, will man die Akteure im Kontext des diskursiven Feldes verorten und kategorisieren. Es liegen bislang keine ausführlichen quantitativen Detailstudien dazu vor, wie das Feld auf Ebene der Akteure strukturiert ist. Es ist nicht geklärt, wer genau wie bzw. über welche medialen Kanäle partizipiert oder wie hoch die Zahl der »medial-unsichtbaren« und nur passiven Rezipierenden ist. Damit lässt sich nicht ausmachen, ob die hier ausgewählten Akteure zahlenmäßig zu einem Mittelfeld gehören oder eher eine Randgruppe darstellen. In qualitativer Hinsicht kann im Rückgriff auf bereits vorhandene Studien zu dem diskursiven Feld eine solche Aussage jedoch unter Vorbehalt sehr wohl getroffen werden. Doch zunächst folgt eine kurze Beschreibung der Akteure, der sich die Studie im Folgenden zuwendet. Alle hier untersuchten Akteure besitzen eine eigene Homepage, über die sie ihre religiösen Ansichten, aber auch ihr Praxisangebot (sofern vorhanden) im öffentlichen Raum kommunizieren. Damit sind sie Teil einer umfassenden Akteursgruppe innerhalb des Diskurses gegenwärtiger Religiosität, die sich aktiv im Internet – sei es über eine eigene Webpräsenz oder über Beiträge in Foren oder Blogs – präsentiert, wie ein erster Überblick über das mediale Feld zeigt.10 Des Weiteren partizipieren die hier untersuchten Akteure über verschiedene Angebote aktiv am diskursiven Geschehen: Bis auf eine Teilnehmerin bieten alle Akteure eigene Seminare, Kurse oder Workshops an, in denen es vor allem um die Vermittlung bestimmter Heilmethoden oder auch um die »spirituelle Kommunikation« mit meta-empirischen11 Wesenheiten geht. Die Teilnehmerin ohne aktives Seminarangebot hat ein eigenes Buch veröffentlicht, über das sie ihr Wissen vermittelt. Wie das Ranking eines bekannten Online-Buchversandes zeigt, ist das

9

Diese können z. B. bei dem Online-Buchhandel Amazon eingesehen werden.

10 Von den 26.644 registrierende Benutzern des »esoterik-forum.de« haben beispielsweise 1320 eine eigene Webpräsenz. Auch über das andere große Forum »esoterik.at« lässt sich eine Vielzahl von persönlichen Homepages ausmachen. 11 Zum Begriff siehe auch Platvoet 1999, 253.

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Buch mit Bestsellerrang 108.259 jedoch weit davon entfernt, zu den populärsten Büchern des Diskurses zu gehören. Mit diesen Angeboten und der öffentlichen Präsenz lassen sich die Akteure als »religiöse Entrepreneure« der »neuen Mittelschichten«12 beschreiben, die zu den wichtigsten Diskursteilnehmern gegenwärtiger Religiosität zu zählen sind.13 Ausgewählte, vorerst so gefasste Mittelfeldakteure stehen also im Folgenden im Zentrum der Studie. Für eine differenzierte Erläuterung in Bezug auf die Auswahl der konkreten Studienteilnehmer sei auf das später folgende Methodenkapitel verwiesen. Vor dem Hintergrund eines entsprechenden theoretischen Rahmens wird jedoch auch der Versuch unternommen, die Subjektaussagen rückzubinden an ein Modell, das von einer diskursiven Konstruktion von Religiosität ausgeht. Dazu ist es notwendig, in einem der folgenden Kapitel näher auf Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten einzugehen, die sich bei dem Versuch ergeben, eine subjektzentrierte mit einer diskursiv-orientierten Perspektive zu verbinden. Inwiefern können Aussagen einzelner Akteure darüber Aufschluss geben, welche Prozesse und Formationsregeln die diskursiven Dynamiken gegenwärtiger Religiositätsbildungen bestimmen? Und wie groß ist die Aussagenreichweite eines im Rahmen der Studie notwendigerweise beschränkten Materialkorpus, dessen Hauptgewicht auf qualitativen Interviewdaten liegt? Diese Fragen stehen im Zentrum des Theorieteils der Arbeit. Zunächst gilt es, an dieser Stelle jedoch noch einige, teilweise bereits benutzte Begrifflichkeiten zu thematisieren, die im Laufe der Studie Verwendung finden. Einführend war von »Religionen« bzw. »Religiosität« die Rede. Eine monothetische Bestimmung14 der beiden Termini soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. Denn im Anschluss an aktuelle Diskussionen um den Gegenstand der Religionswissenschaft15 schließe ich mich denjenigen Forschungspositionen an,

12 Hero 2010, 134f. 13 Zwar notiert auch Hero in seiner Beschreibung der Soziogenese der neuen Heilanbieter, dass dieser Bereich bislang nur vereinzelt im Fokus von wissenschaftlichen Untersuchungen stand. Er stützt seine Beschreibung jedoch u. a. auf den Endbericht der Deutschen Enquete-Kommission »Sog. Sekten und Psychogruppen« und auf erste Detailstudien zu deutschen Städten (vgl. Welz 1990). Letztere wurden jedoch Mitte/Ende der 1980er Jahre durchgeführt und spiegeln nicht die aktuelle Situation wider. Vgl. Hero 2010, 134f. 14 Zur Differenzierung von mono- und polythetischen Definitionen am Beispiel des Ritualbegriffs siehe Snoek 2006. 15 Vgl. z. B. Löhr 2000; Krech 2006.

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die davon ausgehen, dass der Begriff »Religion«16 immer nur in Bezug auf die jeweiligen diskursiven geschichtlichen und kulturellen Kontexte und in Abhängigkeit zu den Aussagen der Akteure, die mit dem Begriff operieren, bestimmt werden kann.17 Allerdings muss auf dieser Basis die Differenzierung zwischen »Religionen« und »Religiosität« erläutert werden. Im wissenschaftlichen Sprachduktus haben sich für beide Begriffe bestimmte Verwendungen eingebürgert, die jeweils unterschiedliche Aspekte betonen. Während unter »Religion« bzw. »Religionen« oft historisch gewachsene Gebilde verstanden werden, die eine gewisse Organisationsstruktur und mehr oder weniger abgrenzbare Mitgliederbereiche aufweisen, wird mit dem Terminus »Religiosität« verstärkt auf Glaubens- und Handlungsaspekte auf Ebene der Subjekte verwiesen. Die Differenzierung verläuft also nicht entlang inhaltlicher Kriterien, sondern sie orientiert sich eher an einer Unterscheidung zwischen kollektiv-gesellschaftlichen und subjektorientierten Positionen. Im Hinblick auf die Fokussierung zunächst auf die Subjektebene mit einer angestrebten Verknüpfung zu weiterreichenden diskursiven Aushandlungsprozessen scheint es durchaus hilfreich, sich dieser sprachlichen Differenzierung zu bedienen. Es muss jedoch betont werden, dass beide Ebenen als ein Teil desselben Phänomenbereichs angesehen werden und die hier getroffene Unterscheidung primär heuristischer Natur ist. Zwei weitere Begriffe, die einleitend ebenfalls bereits prominent verwendet wurden, sind »Subjekt« und »Akteur«. Beide werden derzeit vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften angewandt und weisen hier – je nach Autor und theoretischer Ausrichtung – ein reiches Bedeutungsspektrum auf.18 Dem Verwendungszusammenhang beider Termini ist gemeinsam, dass hier auf die Einbettung Einzelner in soziale und kulturelle Kontexte verwiesen wird. So schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz: Wenn die kulturwissenschaftliche – die soziologische, historische, literaturwissenschaftliche, kulturanthropologische – Subjektanalyse nach ›dem Subjekt‹ fragt, dann fragt sie nach der spezifischen kulturellen Form, welche die Einzelnen in einem bestimmten historischen und sozialen Kontext annehmen, um zu einem vollwertigen, kompetenten, vorbildlichen Wesen zu werden, nach dem Prozess der ›Subjektivierung‹ oder ›Subjektivation‹, in

16 Vgl. Ahn 1997c. 17 Vgl. z. B. Kippenberg & Stuckrad 2003, 14; Koch 2007, 44. 18 Eine Übersicht über gegenwärtige Theorien zum Thema »Subjekt« bietet beispielsweise Reckwitz 2006a.

20 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN dem das Subjekt unter spezifischen sozial-kulturellen Bedingungen zu einem solchen ›gemacht‹ wird.19

Es wird deutlich, dass nach dieser Auffassung Subjekte nicht als etwas Statisches aufgefasst werden können, sondern dass sie sich im Prozess der »permanenten kulturellen Produktion«20 befinden und somit als dynamische Konstrukte zu betrachten sind. Derart gestaltete und sich verändernde Subjektformen bilden dabei gleichsam die Vorlagen für das Handeln und Verhalten Einzelner. Auch der Akteursbegriff betont die soziale Einbindung. Als gängiges Werkzeug soziologischen Handelns weist er die Menschen als sozial Handelnde aus. Insgesamt gehen jedoch die Einzelkonzeptionen, wie genau dieses Handeln von den Akteuren umgesetzt wird, in den verschiedenen Ansätzen stark auseinander, abhängig davon, welche Elemente als handlungsleitend für die Akteure erachtet werden. In soziologischen Diskussionen vorherrschend sind hier vor allem der Idealtypus des homo sociologicus, der sich primär an sozialen Normen orientiert und der homo oeconomicus, der durch sein Handeln den eigenen erwarteten Nutzen maximieren möchte. Weitere Akteursmodelle heben dagegen den Einfluss von Emotionen oder die Identitätsbildungsprozesse hervor.21 Gerade die Betonung sozialer Komponenten als determinierend für das Handeln von Akteuren führt jedoch, wie beispielsweise häufig kritisch zu Pierre Bourdieu bemerkt, zu einer stark strukturalistisch-geprägten Überbetonung dieser Einflusskomponenten. Bei Pierre Bourdieu ist die Handlung der Akteure in erster Linie durch den Habitus geprägt. Dieser ist in den Handelnden gleichsam als inkorporiertes Handlungs-, Gedanken- und Wahrnehmungsschema präsent, das Praxisformen und Praktiken hervorbringt.22 Akteure werden in ihrem Handeln weitestgehend als durch den Habitus bestimmt gedacht, lediglich »geregelte Improvisationen«23 gesteht der Autor ihnen als Eigenanteil zu. Die Soziologin Véronique Mottier merkt dazu kritisch an: Aus der Sicht Bourdieus erscheint das Subjekt als ein Generierungsprodukt des Habitus und der diesem entsprechenden Wahrnehmungen, Klassifikationen und Dispositionen. Die Überbetonung der einschränkenden Wirkung des Habitus führt dazu, daß Bourdieu kein

19 Reckwitz 2008, 9f. 20 Ebd., 10. 21 Vgl. Schimank 2007, 19-22. 22 Vgl. Bourdieu 1976, 169f. 23 Ebd., 170.

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ausgearbeitetes Instrumentarium zur Analyse praktischer Aktivitäten der Selbstmodellie24

rung und des Widerstandes gegenüber Machtstrukturen an die Hand gibt.

Mottier spricht hier eine Problematik an, die auch für den weiteren Verlauf dieser Arbeit zentral sein wird. Wenn gesellschaftliche, soziale und kulturelle Faktoren – wie in einigen bekannten Theorien angenommen – strukturell die Ausbildung von Akteurs- bzw. Subjektformen bestimmen, gibt es kaum noch Raum für Handlungs- und Entscheidungsmomente des Einzelnen, die sich nicht diesen Faktoren beugen. Gerade im Hinblick auf die Zusammenführung von theoretischen Ansätzen, die von einer gewissen Handlungs- und Entscheidungsmacht der Subjekte ausgehen, mit Ansätzen, die den Fokus auf gesamtgesellschaftliche diskursive Aushandlungsprozesse richten, welche als subjektleitend angesehen werden, kommt es immer wieder zu kritischen Diskussionen. Da dies als zentrales Thema im theoretischen Teil dieser Arbeit aufgegriffen wird, sei für ausführliche Darstellungen dazu auf das entsprechende Kapitel verwiesen. An dieser Stelle und vor dem Hintergrund der gerade gezeigten Begriffskontexte bleibt im Hinblick auf deren Verwendung im Rahmen dieser Studie zunächst festzuhalten, dass »Subjekt« und »Akteur« synonym verwendet werden, da beide die Anwesenheit des Sozialen, Kulturellen und Gesellschaftlichen beim Handeln Einzelner signalisieren. Dies steht im Vorteil gegenüber dem Begriff »Individuum«, dessen Gebrauch im Rahmen der Untersuchung ebenfalls denkbar wäre. Diskussionen um »das Individuum« sind jedoch oftmals fast wie selbstverständlich und ohne ausreichende Reflexion mit Fragen nach Identität, Individualität bzw. Individualisierung verbunden. Insbesondere (sozial-)psychologisch-orientierte Disziplinen schließen sich diesen Diskussionen an.25 Der Terminus wird daher zugunsten der Begriffe »Akteur« und »Subjekt« zurückgestellt. Den Ausgangspunkt nimmt diese Studie also bei Akteuren wie sie in der Person der fiktiven Luise zu Beginn vorgestellt wurden. Mit dem Begriff der »gegenwärtigen Religiosität« wird der Untersuchungsbereich bezeichnet, wobei der Fokus besonders auf die mögliche Verbindung christlicher Vorstellungskomplexe, in die die ausgewählten Akteure sozialisiert wurden, mit sogenannten »esoterischen« oder »spirituellen« Elementen gelegt wird. Dieser Fokus wurde einerseits aus forschungspragmatischen Gründen gewählt, da im Angesicht der Vielfalt der im Untersuchungsfeld verhandelten religionsgeschichtlichen Elemente die Konzentration auf eine bestimmte Auswahl als hilfreich erschien. Anderer-

24 Mottier 1999, 146. 25 Vgl. Sonntag 1999, Abels 2006. Ein Überblick zu gegenwärtigen Positionen findet sich bei Beck 1994.

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seits handelt es sich bei dem ausgewählten Verbindungsschwerpunkt um einen Bereich, der religionswissenschaftlich noch nicht ausreichend erfasst wurde. Der Forschungskontext beschränkt sich dabei auf den deutschsprachigen Raum, in dem anhand verschiedener Materialien zunächst auf Subjektebene der Frage nach verschiedenen Konstruktionsprozessen gegenwärtiger Religiosität nachgegangen wird. Konkret wird gefragt, auf welche Aushandlungs-, Narrations- und Praxismuster die Akteure in den Prozessen zurückgreifen, um eine aus emischer Sicht kohärente und zumindest ›temporär stabile‹ Religiosität zu entwerfen, die insbesondere auch in einer medial geprägten Umwelt kommuniziert werden kann. Anhand des Materialkorpus, bestehend aus Interviewdaten und Internetquellen, werden diese Fragen am Beispiel ausgewählter Akteure vertieft. Theoretisch leitend dafür sind Ansätze aus dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Bereich. Ihre Übernahme für religionswissenschaftliches Arbeiten in Bezug auf die Erforschung gegenwärtiger Religiosität wird zum Teil kritisch zu reflektieren sein. Im Mittelpunkt stehen hier Bemühungen, diskursiv-orientierte mit subjektorientierten Ansätzen zu verbinden. Ziel der Studie ist es, einen Beitrag zur bereits seit einiger Zeit anhaltenden religionswissenschaftlichen Diskussion um Ausformungen gegenwärtiger Religiosität zu leisten. Dies geschieht sowohl durch die Anwendung ausgewählter kulturwissenschaftlicher Theorieansätze wie auch durch eine Fokussierung auf »Mittelfeldakteure«. Beide Ansatzpunkte sollen neue, bisherige Studien ergänzende Perspektiven eröffnen. Von religionswissenschaftlicher Seite liegen seit geraumer Zeit Arbeiten vor, die sich mit der Erforschung gegenwärtiger Religiosität in ihren vielfältigen Formen beschäftigen. Viele dieser Studien konstatieren anhand der empirischen Befunde, dass es in neuerer Zeit – die genauen Zeitspannen variieren dabei – zu einem Formenwandel von Religionen bedingt durch sich verändernde historische, soziale und kulturelle Umstände kommt. Vielfach merken die Autoren an, dass sich das Spektrum religiöser Möglichkeiten, die zur Wahl stehen, in der Moderne schlagartig erweitert hat. Zur Kontextualisierung im Hinblick auf die weitere theoretische und empirische Arbeit wird im Folgenden ein kurzer forschungsgeschichtlicher Rahmen dargestellt, der einige Linien wissenschaftlicher Diskussionen zu diesem Thema zumindest in Ansätzen wiedergeben möchte.

1.2 F ORSCHUNGSGESCHICHTLICHER Ü BERBLICK Als zeitdiagnostische Werkzeuge zur Beschreibung gegenwärtiger religiöser Konstellationen wurden im Laufe der letzten Jahrzehnte einige inzwischen be-

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kannte und bereits vielfach rezipierte bzw. auch kritisierte Modelle entwickelt.26 Als mit einer zunehmenden Pluralisierung und Vernetzung der Gesellschaften, dem rapiden Wandel der Sozialstrukturen und der raschen Weiterentwicklung der Technik und der Medien eine Abnahme der bis dahin in institutioneller Mitgliedschaft gemessenen Religion konstatiert wurde, kam bald die Rede von einer nicht aufhaltbaren Säkularisierung27 auf, von der die letzten Überbleibsel von Religion nun vollends verdrängt würden. Eine nahezu gänzlich entzauberte Gesellschaft böte nun immer weniger Platz für die oftmals als erstarrt und im Lichte der fortschrittlichen und technisierten Gegenwart überholt wirkenden Strukturen institutioneller Religionen. In den Ausarbeitungen der einzelnen Autoren wird jedoch deutlich, dass dieses etwas plakativ formulierte Verständnis von Säkularisierung zu kurz greift. Als Kernstück der Säkularisierungsthese beschreibt Detlef Pollack, dass »[d]ie Prozesse der Modernisierung … letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen [haben] und deren Akzeptanz [verhindern].«28 Ob nun jedoch eher der religiöse Pluralismus, der in modernen Gesellschaften anzutreffen ist, den Prozess der sozialen Bedeutungsabnahme beschleunigt29 oder eine immer deutlicher hervortretende funktionale Differenzierung dafür verantwortlich ist30, wird immer noch diskutiert. Pollack betont, dass »es sich beim Säkularisierungsbegriff um eine äußerst vieldeutige Interpretationskategorie [handelt], die in unterschiedliche Diskussionszusammenhänge auf multivalente Weise verflochten ist.«31 Unabhängig von den konkreten Ausformulierungen der These und ihrer empirischen Überprüfbarkeit kann jedoch festgehalten werden, dass die Autoren mit ihren theoretischen Reflexionen auf eine Situation reagieren, die sich – so scheint es, folgt man der Theorie – in der Moderne gravierend verändert hat. Im Fokus der Diskussion stehen bei den meisten Autoren dabei weniger die Subjektebenen, sondern vielmehr die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und insbesondere die Auswirkungen der Säkularisierung auf religiöse Institutionen. Als eine Reaktion auf die Säkularisierungsthese wurde jedoch bald ein Modell vorgestellt, dass eine Differenzierung von öffentlich-institutionellen und

26 So schlug Hubert Knoblauch jüngst z. B. das Konzept der »Populären Religion« vor. Vgl. Knoblauch 2009. 27 Vgl. Pollack 2009, 21-35. 28 Pollack 2009, 20. 29 Bruce 2002. Vgl. auch Pollack 2009, 23. 30 So z. B. Niklas Luhmann. Vgl. dazu auch Pollack 2009, 24f. 31 Pollack 2009, 21.

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privaten religiösen Räumen fordert und den Fokus auf die sogenannte »unsichtbare Religion« legt. Dieses einflussreiche und bis heute vielfach rezipierte Modell32 stammt von Thomas Luckmann, der neben den bahnbrechenden Arbeiten für die Wissenssoziologie (zusammen mit Peter L. Berger) auch im Bereich der Religionssoziologie tätig war. Auf dem Hintergrund der in den späten 1960er Jahren einsetzenden, im Laufe der 1970er und 80er Jahren schließlich zunehmenden öffentlichen Wahrnehmung von sogenannten »Neuen Religiösen Bewegungen« und der Ausdifferenzierung und Popularisierung des »New Age« stellt Luckmann heraus, dass Religion keineswegs verschwinde, sondern vielmehr eine Abwanderung in den privaten Bereich zu beobachten sei. Mit dem Begriff der »Privatisierung« beschreibt Luckmann ein Konzept, das in der jüngeren vorwiegend europäischen Religionssoziologie zu einem der einflussreichsten Diskussionsrahmen wurde.33 In einem Nachtrag zu seinem erstmals 1967 erschienenen Buch »The invisible religion« hält Luckmann fest: Die Privatisierung der Religion ist das Kernstück der umfassenden Privatisierung des Lebens in modernen Gesellschaften. Privatisierung des Lebens ist eine der Folgen – man könnte fast sagen: eine ›logische‹ Folge – des hohen Grades der funktionalen Differenzierung der Sozialstruktur.34

In funktional ausdifferenzierten Gesellschaften wie der heutigen gibt es – Luckmann zufolge – kein »allgemeines, selbstverständlich verbindliches, gesellschaftlich konstruiertes Modell einer außeralltäglichen Wirklichkeit mehr.«35 Auch die Deutungshoheit der christlichen Kirche in Bezug auf den Umgang mit den sogenannten »großen Transzendenzen« bestehe gegenwärtig nicht mehr. Aufgrund institutioneller Spezialisierung, die nach Luckmann in der heutigen Zeit ihren Höhepunkt erreicht hat, ergebe es sich, »daß das ›offizielle‹ Modell [von Religion, gemeint ist vor allem kirchliche Religion, N.M.] und das individuelle System [bei Luckmann auch individuelle Religiosität, N.M.] nicht zur Deckung kommen.«36 Religion werde so zur »Privatsache«37 und bestehe daher

32 Pickel merkt dazu an, dass diese intensive Rezeption sich besonders auf europäische Wissenschaftskreise beschränkt. In den USA beispielsweise werde Luckmanns Ansatz kaum wahrgenommen. Vgl. Pickel 2011, 192-193. 33 Zu unterschiedlichen Rezeptionen siehe Knoblauch 1991, 19-21. 34 Luckmann 1991, 179. 35 Ebd. 36 Luckmann 1991, 127f. 37 Ebd., 127.

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im Unsichtbaren weiter. Da Religion eine anthropologische Grundkonstante sei, erscheint ihm ein gänzliches Verschwinden von Religion ohnehin unmöglich. Der Autor hält dazu fest: Jedenfalls lässt sich Privatisierung als die vorherrschende moderne Sozialform der Religion eher durch etwas charakterisieren, was sie nicht ist, als durch das, was sie ist: Sie zeichnet sich durch das Fehlen allgemein glaubwürdiger und verbindlicher gesellschaftlicher Modelle für dauerhafte, allgemein menschliche Erfahrungen der Transzendenz aus.38

Luckmann betont, dass religiöse Institutionen nicht mehr »als Gradmesser zur Einschätzung der Religion in der modernen Gesellschaft«39 dienen können. Wolle die Wissenschaft Entwicklungen von Religiosität in der Gegenwart beschreiben, müsse sie sich der sogenannten »unsichtbaren Religion« zuwenden, die bis dahin in Statistiken und anderen empirischen Erhebungen kaum ins Blickfeld gerückt sei. Auf einer Art Markt stehe den Akteuren ein breites Sortiment an religiösen Themen zur Verfügung, mit denen sie unabhängig von institutionellen Vorgaben »offizieller« Religion hantieren können: Gehen wir aus von dem Warenangebot an religiösen Repräsentationen, die dem potentiellen Konsumenten zur Verfügung stehen, und vom Fehlen eines offiziellen Modells, dann ist es prinzipiell möglich, daß der ›autonome‹ einzelne nicht nur bestimmte Themen auswählt, sondern sich sozusagen ›eigenhändig‹ ein klar umschriebenes privates System von ›letzten‹ Bedeutungen zusammenbaut.40

Trotz kritischer Bemerkungen zu Luckmanns Individualisierungsfokus41, zu dem seinem Ansatz zugrunde liegenden Religionsbegriff42 und der Dichotomie zwischen individueller Religiosität außerhalb religiöser Institutionen und modellhafter Religion, verkörpert in religiösen Institutionen, kann festgehalten werden, dass Luckmanns Hinwendung zum Subjekt als ernstzunehmendem Faktor in der Untersuchung von Religiosität sicherlich einen der nachhaltigsten Aspekte seines theoretischen Ansatzes darstellt. Geschuldet ist dies auch seiner und Bergers Arbeit zur neueren Wissenssoziologie, mit der sie nicht nur nachhaltig soziologische Diskussionen beeinflussten, sondern auch den Grundstein für neuere her-

38 Luckmann 1991, 182 [Herv. i.O.]. 39 Ebd., 132. 40 Ebd., 148 [Herv.i.O.]. 41 Vgl. Pollack 1996. 42 Vgl. Pickel 2011, 188f.

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meneutische Konzeptionalisierungen legten, die deutlich subjektzentriert sind. Luckmann kritisiert zwar die bis dahin überwiegend fehlende empirische Erfassung der »›subjektiven‹ Dimension der Religiosität«43 vor allem im Hinblick auf den Mangel an geeigneten Untersuchungstechniken, er selbst führt jedoch keine eigenen empirischen Belege an und beruft sich auch nur selten auf bereits vorhandene Studien. Ebenfalls als Reaktion auf die Säkularisierungsthese lassen sich die Ansätze weiterer Autoren lesen, die die Situation von Religionen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in eine andere Richtung interpretierten. So sahen u. a. Rodney Stark und William S. Bainbridge im Gegensatz zu vielen Vertretern der Säkularisierungsthese Religion keineswegs als eine von stetigem Rückgang betroffene Art. Sie betonten vielmehr, dass der Bereich der Religionen, wie viele andere gesellschaftliche Bereiche auch, den Regeln des Marktes unterworfen sei.44 Ganz im Sinne rationaler Handlungsfindung auf dem Markt der Religionen würden religiöse Akteure aus dem immer breiter werdenden Angebot auswählen, ein Vorgang, der wiederum die Anbieter dazu veranlasse, ihre religiösen Angebote möglichst attraktiv zu gestalten und stetig auszubauen. Diese Konkurrenzsituation auf einem, durch die Bedingungen der Moderne pluralen und komplexgewachsenen Markt, löse daher nicht wie von Vertretern der Säkularisierungsthese prophezeit, einen Rückgang von Religion aus, sondern fördere lediglich eine Veränderung: »Where many writers see an unstoppable secularizing trend moving toward the extinction of religion, our deductions from general principles of human needs and exchanges forces us to see a complex struggle in which religion changes but does not die.«45 Die Lücken, die die Kirchen auf dem Markt hinterlassen – sie sind nicht mehr in der Lage, die Bedürfnisse der Bürger zu erfüllen – werden laut den Autoren durch neue »Sekten« und »Kulte« gefüllt.46 Der Faktor der Konkurrenz sei daher die treibende Kraft der Pluralisierung.47 Es komme gleichsam zu einer steten Ausdifferenzierung von Religion in der Gegenwart.

43 Luckmann 1991, 59. 44 Vgl. Stark & Bainbrigde 1987. 45 Stark & Bainbrigde 1987, 318. 46 Ebd. Es ist anzumerken, dass die Autoren die heute vielfach kritisierten Begriffe »sects« and »cults« als termini technici verwenden, ohne pejorative Konnotation. 47 Vgl. dazu auch Pollack 1996, 61. Pollack nennt als weitere Autoren, die ebenfalls von einem marktorientierten Modell zur Beschreibung moderner Religion ausgehen, Roger Finke, Laurence Iannaccone und Stephen Werner.

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Sowohl die Säkularisierungs- und Individualisierungsthese wie auch die Pluralisierungs- und Marktansätze wurden insbesondere ab den 1970er/80er Jahren mit ersten empirischen Untersuchungen unterlegt, deren Ergebnisse mal mehr für die eine, mal mehr für die andere These sprachen. Insgesamt wurde und wird gerade für den europäischen Raum ein massiver Schwund von Mitgliedern traditioneller religiöser Organisationen – namentlich der traditionellen christlichen Kirchen – festgestellt, der sowohl aus Mitgliedsstatistiken als auch aus Faktoren wie Gottesdienstbesuch oder Glaube an christliche Dogmen herausgelesen wird.48 Methodische Werkzeuge, die eine differenzierte Erhebung der Akteursperspektive erlauben, waren lange Zeit kaum zu finden, lag der Fokus doch primär auf der Erklärung von Veränderungen im institutionellen Bereich. Im Gegensatz zu diesen eher abstrakt orientierten Theoretisierungsbemühungen findet sich jedoch in den letzten Jahrzehnten auch eine steigende Zahl an Studien, die eine klare empirische Ausrichtung haben. Im Vordergrund stehen vielfach quantitative Studien, die von theologischer, soziologischer und in jüngster Zeit auch von religionswissenschaftlicher Seite u. a. in Deutschland und der Schweiz durchgeführt wurden.49 Nachdem Luckmann kurzfristig eine gewisse Systematisierung in die Ausprägung gegenwärtiger Religiosität gebracht hatte – unsichtbare Religion im privaten und institutionelle Religion im öffentlichen Bereich – stieß man im empirischen Material auf eine zunehmende Uneindeutigkeit religiöser Zuordnungen und Identitätsentwürfe. Dies wurde nicht nur für das bereits als diffus und komplex beschriebene Feld der »unsichtbaren Religion« deutlich, sondern auch bei religiösen Akteuren, die sich innerhalb institutioneller Strukturen befanden.50 So beschreibt Klaus-Peter Jörns in seiner Studie »Die neuen Gesichter Gottes« aus dem Jahr 1997, dass sich sogar bei den »Gottgläubigen«51 keine einheitliche, an christlich-dogmatischen Richtlinien orientierte Religiosität konstatieren lasse, wie sie dieser Akteursgruppe von Seiten der Forschung lange zugeschrieben worden war. Signifikant ist nach Jörns, dass z. B. rund 11 Prozent dieser Gruppe an die Wiedergeburt der Seele glauben, eine religiöse Vorstellung, die mit wachsender Selbstverständlichkeit von ganz unterschiedlichen Akteuren

48 Die amerikanische Religionssoziologin Grace Davie stellte 2002 die These auf, dass es sich bei dem Befund in Europa global gesehen nicht um den Normal-, sondern einen Sonderfall handelt. Vgl. Davie 2002. 49 Eine aktuelle Studie zur Situation in der Schweiz präsentieren Stolz et al. 2011. 50 Vgl. zu folgenden Ausführungen Miczek 2008. 51 Diese Akteursgruppe ist nach Jörns definiert durch einen Glauben an einen persönlichen Gott im Sinne kirchlicher Vorstellungen.

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adaptiert oder zumindest nicht explizit verneint werde.52 Diese »Entdogmatisierung«53 wirft für den Theologen Jörns die Frage auf, »wie die Kirchen mit der Diskrepanz zwischen dem, was sie lehren, und dem, was selbst die Glaubenslehrer und -lehrerinnen in Kirche und Gemeinde wirklich glauben, künftig umgehen wollen.«54 Auch andere empirische Studien bestätigen ein zunehmend komplexes Bild religiöser Vorstellungen.55 Unterstützt wird dieser Eindruck der wachsenden Vielschichtigkeit von Religiositätsentwürfen auch durch eine quantitative diachron-angelegte Untersuchung aus der Schweiz aus den Jahren 1989 und 1999, die von Roland Campiche u.a. vorgestellt wurde. Sie konstatieren für die Schweiz einen »Glauben ohne Beteiligung« und sehen insgesamt die Individualisierungsthese gestützt.56 Die Autoren fassen den schweizerischen Trend bzgl. der Konstruktion von Religiosität wie folgt zusammen: Entweder baut man Elemente aus verschiedenen religiösen Traditionen in das individuelle Orientierungssystem ein oder man setzt auf ein Set von Glaubensaussagen, das man als den Grunderfahrungen des Lebens wie Tod, Leiden oder Zukunftsangst angemessen erachtet. Diese Aussagen müssen nicht Teil eines in sich stimmigen Glaubenssystems, etwa eines Glaubensbekenntnisses, sein. Hier erweist sich die religiöse Orientierung als eine Ressource, der man sich bedient, weil sie nützlich und folglich pertinent ist. Nebensächlich ist dann die Frage, wer sie generiert oder vereinbart. Vorrangig ist, dass sie funktioniert.57

Obwohl eine einseitig funktionalistische Interpretation der Daten zu kurz gegriffen wäre und auch hier eine klare Trennung von »unsichtbarer Religion« und in-

52 Jörns 1997, 181. 53 Ebd., 207. 54 Ebd., 206. Gerade in aktuellen theologischen Diskussionen steigt die Wahrnehmung für unterschiedliche Akteursperspektiven und damit auch für die Diskrepanzen, die im Hinblick auf Experten- und Laiendiskurse bestehen. 55 Für einen Überblick über die wichtigsten deutschen Studien bis 2005 siehe Bochinger, Gebhardt & Engelbrecht 2005, 137-143. 56 Campiche 2004, 90. 57 Ebd., 90f.

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stitutioneller Religiosität nicht nachweisbar ist58 (womit eine Stärkung der Individualisierungsthese nach Luckmann nur bedingt konstatiert werden kann), spiegelt sich auch in diesem Befund eine ausgeprägte Komplexität von aktuellen Religiositätskonstruktionen wider. Weitere aktuelle quantitative und qualitative Studien belegen die Vielfalt religiöser Identitätsentwürfe und Aushandlungsprozesse gegenwärtiger Religiositätsbildungen.59 An dieser Stelle werden exemplarisch für die Situation speziell in Deutschland zwei neuere quantitative Studien angeführt. Neben dem Einblick in die Vielfalt religiöser Konstruktionsleistungen lenken diese Studien implizit den Blick zugleich auf die Grenzen eines monomethodischen Forschungszugangs. In einer Studie über die »Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen«60 wurden verschiedene religiöse Bereiche dieses Bundeslandes genauer untersucht. Ein Augenmerk lag u. a. auf Individualisierungs- bzw. Patchworktendenzen bei z. B. Mitgliedern der evangelischen Landeskirche. Als Ergebnis wird u. a. konstatiert: Jedenfalls praktizieren 36 Prozent der hochintegrierten und stark christlich-religiösen Kirchenmitglieder in Nordrhein-Westfalen offenbar eine ›Patchwork-Religiosität‹, in der christliche Elemente mit neureligiösen Vorstellungen und Praktiken kombiniert werden.61

Zwar ist es im Licht der Forschungsgeschichte zur quantitativen Erfassung religiöser Tatbestände ein Fortschritt, dass nun zumindest nach Überlappungen oder Durchdringungen unterschiedlicher religiöser Bereiche gefragt wird, wie genau sich diese »Patchworkprozesse« jedoch gestalten, kann von den Autoren der Studie nur andeutungsweise erfasst werden. Auch in der zweiten Studie wird die weit reichende Komplexität religiöser Identitätsentwürfe nur aufgezeigt, indem z. B. die Problematisierung verschiedener emischer Begrifflichkeiten in das Untersuchungsdesign miteinbezogen wurde. Im Religionsmonitor 2008, einer weltweiten Studie der Bertelsmann Stif-

58 Dies lässt sich, leider nur andeutungsweise, aus den Ausführungen zu sog. »Parareligiösen Praktiken« entnehmen, bei denen die Zustimmung oder Ablehnung gegenüber solchen Praktiken in Relation zu der Häufigkeit des Kirchgangs gesetzt wird bzw. zu einer Skala über Gottesglauben. Vgl. dazu Campiche 2004, 104ff. 59 Die Ergebnisse einer internationalen Studie zum »spiritual turn« stellten Houtman & Aupers 2007 vor. 60 Hero, Krech & Zander 2008. 61 Krech 2008, 81.

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tung, wurden u. a. auch Erhebungen für Deutschland, Österreich und die Schweiz durchgeführt. Nachdem in diesen drei Ländern die konfessionell eingeteilten Akteure nach dem Grad der Religiosität untersucht wurden, setzen die Autoren diese Ergebnisse in Verbindung zu der Frage, als wie »spirituell«62 sich die befragten Personen selbst bezeichnen würden. Die Ergebnisse lesen sich wie folgt: Als zumindest ziemlich ›spirituell‹ bezeichnen sich in Österreich 15%, in der Schweiz 22%, in Westdeutschland 12% sowie in Ostdeutschland 4%. In Personen umgerechnet sind das nicht wenige: Sie machen die Hälfte der konsequenten Kirchenmitglieder oder auch der Atheisierenden aus. Solche ›Spirituellen‹ finden sich vornehmlich unter den sehr religiösen Menschen (53%). Aber selbst unter den gar nicht Religiösen sind 8% ziemlich spirituell.63

Die empirische Differenzierung zwischen zwei Bezeichnungskategorien zeigt hier, wie sehr sich dadurch das sich abzeichnende Bild verändert. Wie u. a diese Arbeit verdeutlichen wird, assoziieren viele Menschen den Begriff »religiös« mit den christlichen Kirchen, die als Institution, aber auch als Ort praktizierter Religiosität von ihnen oftmals vehement abgelehnt werden. Sie wenden sich daher alternativen Begriffen wie »Spiritualität«‹ zu. Durch eine Differenzierung der Bezeichnungskategorien in empirischen Studien können auch die Akteure erfasst werden, die in Studien ohne Differenzierung sonst wahrscheinlich zum Bereich der »Nicht-Religiösen« gezählt worden wären. Die quantitativen Untersuchungen wurden in jüngerer Zeit verstärkt ergänzt durch eine steigende Anzahl qualitativer Studien, die sich den Konstruktionsmechanismen gegenwärtiger Religiosität in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zuwenden.64 Von religionswissenschaftlicher Seite wird eine Untersuchung von Christoph Bochinger, Martin Engelbrecht und Winfried Gebhardt inzwischen vielfach rezipiert. Im Rahmen einer Befragung von Kirchenmitgliedern in Franken wurde von den Autoren der Idealtypus des »Spirituellen Wanderers« herausarbeitetet.65 Dieser scheint in vielfacher Hinsicht die gegenwärtige Situa-

62 Leider wird in dem betreffenden Kapitel von Paul Zulehner nicht expliziert, was im Rahmen der Studie genau unter »spirituell« verstanden wurde. 63 Zulehner 2008, 153. 64 Siehe beispielsweise Sommer 1998, Kaupp 2005, Flöter 2006, Mink 2009. Es ist anzumerken, dass es sich hierbei um theologische Autoren handelt. Doch gerade auf dem Gebiet der qualitativen Religionsforschung zeigen sich diese als Vorreiter. 65 Vgl. Bochinger, Gebhardt & Engelbrecht 2005.

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tion vieler religiöser Akteure zu verdeutlichen. Der Wanderer ist flexibel in der Auswahl seiner religiösen Elemente, verortet sich zeitgleich in den unterschiedlichsten religiösen Traditionen und geht seinen »Weg« unter Rückgriff auf die vielfältigen religiösen Angebote. Insgesamt halten die Autoren drei Grundmerkmale des Wanderers fest. Das erste Merkmal ist eine festzustellende Offenheit gegenüber verschiedenen religiösen Traditionen. Laut der Studie geht der Wanderer davon aus, dass diese Traditionen miteinander kompatibel sind, nicht zuletzt auch deshalb, da er seinen individuellen »Weg«, auf dem er auswählt und ausprobiert, »immer in Beziehung setzt zu einer – wenn auch meist diffusen – Vorstellung einer ›höheren Allgemeinheit‹ ….«66 Aus emischer Perspektive werde der eigene »Weg« dabei nicht als ein »subjektiver Konstruktionsvorgang« wahrgenommen, sondern vielmehr als »Prozess des ›individuellen Reifens‹«67, der jedoch von den Akteuren als ein unabgeschlossener dargestellt wird. Das zweite Grundmerkmal des Wanderers ist sein Anspruch auf die Deutungshoheit über den eigenen religiösen Weg, der meist durch die Angabe persönlicher Erfahrung authentifiziert wird. Als drittes Grundmerkmal stellen die Autoren der Studie heraus, dass der Wanderer sich weitgehend von kirchen-christlichen Gottesbildern gelöst habe und Gott nun vielmehr als »Energie« oder Schwingung denke.68 Insgesamt geht aus der Studie deutlich hervor, dass religiöse Akteure, auf Basis bestimmter narrativer und rhetorischer Muster ihre Religiosität sehr dynamisch konstruieren und dabei wenig Rücksicht nehmen auf institutionell vorgegebene Glaubensgrenzen. Es wird klar, dass es vor allem Elemente aus dem Bereich der »Esoterik«, aber auch Elemente aus den Bereichen »Lebenshilfe« und Psychologie sind, auf welche religiöse Akteure in den Konstruktionsprozessen zurückgreifen. Mit dem Fokus auf subjektiven Perspektiven religiöser Akteure kann die Studie bestimmte Konstruktionsmuster gegenwärtiger Religiosität herausarbeiten und weist gleichzeitig auf eine tiefe Durchdringung bzw. Überlappung religiöser Diskurse auf Subjektebene hin. Dies verdeutlicht die bereits angesprochene Beschreibungs- und Abgrenzungsproblematik um Diskurse gegenwärtiger Religiosität, legt doch die Empirie nahe, dass Grenzziehungen weder eindeutig noch dauerhaft vorgenommen werden können. Sowohl begrifflich als auch theoretisch-konzeptionell liegen daher inzwischen Versuche vor, sich dieser Problematik anzunähern.

66 Gebhardt 2006, 233 [Herv.i.O.]. Vgl. auch Bochinger, Gebhardt & Engelbrecht 2005. 67 Gebhardt 2006, 233. 68 Vgl. Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt 2005, 145f.

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Im Anschluss an Luckmanns Überlegungen zur Individualisierung bzw. Privatisierung von Religionen und auf dem Hintergrund empirisch nachvollziehbarer Entwicklungen befasste sich in den letzten Jahren vor allem der Religionssoziologe Hubert Knoblauch mit einer theoretischen Verortung der gegenwärtigen Situation. In diesem Zusammenhang hat Knoblauch u. a. den Begriff der »populären Religion«69 geprägt. Im Anschluss an Luckmann verortet auch er sich vor dem Hintergrund der Individualisierungstheorie, schlägt jedoch vor, den Begriff der »Subjektivierung« in den Vordergrund zu stellen. Darunter fasst er »die zunehmende Verlagerung der religiösen Themen in das Subjekt und damit die zunehmende Relevanz des Selbst und seiner subjektiven Erfahrungen.«70 Religiöse Themen werden dabei nach Knoblauch im Rahmen identitätsbildender Prozesse in der »kommunikativen Konstruktion und Vermittlung« zwischen Subjekt und »Wissens- und Kommunikationsexperten«71 ausgehandelt. Sie verlagern sich in ausdifferenzierten Gesellschaften jedoch insgesamt immer mehr in den privaten Bereich. Gegenwärtige religiöse Bereiche, die verstärkt von Markt- und Medienstrukturen geprägt seien, förderten daher auf Seiten der Akteure die Ausbildung einer sogenannten »Proteischen Religiosität«, bei der verschiedene Sinnsysteme aufeinander treffen können, ohne dass dabei »unbedingt eine stimmige individuelle Weltsicht«72 konstruiert werden müsse. Dazu Knoblauch weiter: Je nach subjektiv relevanten Umständen können etwa katholische Kirchgängerinnen auch an die Reinkarnation oder an kosmische Energien glauben, zur Beichte gehen oder nach östlichem Vorbild meditieren, Yoga betreiben oder ganz pragmatisch und positivistisch alle nichtalltägliche Transzendenz bestreiten.73

Diese entgrenzte Religion wird nach Knoblauch wesentlich durch eine zunehmend entgrenzte Kommunikation getragen und vermittelt und ist damit gleichzeitig verknüpft mit gegenwärtigen Marktstrukturen.74 Mit dem Begriff der »Spiritualität« kann der Autor diese Vorgänge subjektbezogen fassen. Er hält fest, dass der Begriff auf Ebene der Akteure »in den verschiedenen Sprachen, Kultu-

69 Knoblauch 2009. 70 Knoblauch 1997, 180. 71 Knoblauch 2000, 202. 72 Ebd., 214. Hierzu ist kritisch anzumerken, dass aus Perspektive der Akteure meist durchaus eine stimmige Weltsicht vorliegt. 73 Knoblauch 2000, 214. 74 Vgl. ebd., 268.

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ren und Bewegungen auf unterschiedliche Weise benutzt«75 wird und er daher für wissenschaftliches Arbeiten nicht allein anhand dieser Aushandlungen bestimmt werden könne. Die Merkmale zur näheren Bestimmung des Begriffs leitet er aus dem »Vergleich des New Age mit den christlichen erfahrungsorientierten Bewegungen«76 ab. Im Rekurs auf diesen Vergleich konstatiert Knoblauch charakteristische Merkmale: Dazu gehört der tendenziell antiinstitutionelle (antikirchliche) Charakter sowohl der christlichen wie auch der esoterischen Bewegungen, ihre Art des Anti-Dogmatismus, die Ganzheitlichkeit, die Popularisierung und der entschiedene Subjektivismus, der sich durch eine ausgeprägte Erfahrungsbetontheit auszeichnet.77

Er beschreibt »Spiritualität« als »Bewegung«, die nicht beschränkt bleibt auf spezifisch religiöse Bereiche, sondern die »zum Teil der Kultur geworden«78 ist. Sie dehnt sich über die Medien und Märkte aus und nimmt »deswegen entschieden populäre Züge«79 an. Subjektiv-spirituelle Erfahrungen sind nach Knoblauch dabei nicht auf Individualität ausgelegt, sondern im Vordergrund steht die Authentizität der Erfahrung, die durch gesellschaftliche oft mediale Kommunikation aufeinander abgestimmt wird.80 Mit seinem Modell der »populären Religion« weist Knoblauch u. a. auf einen Zusammenhang hin, der für diese Studie von entscheidender Bedeutung ist. Die Einbindung religiöser Subjekte in mediale Märkte dürfte eines der wichtigsten Kriterien bei den Ausformungs- und Konstruktionsprozessen gegenwärtiger Religiosität sein. Diese Einbindung deutet auf eine enge Verknüpfung von Subjektund Gesellschaftsebenen hin, die nach Knoblauch primär durch Kommunikation über neue Medienformate – im Zentrum sind hier interaktive bzw. digitale Medien – geschaffen wird. Im Anschluss an Knoblauch stehen daher auch in dieser Studie Medien als wichtiger Aushandlungsraum gegenwärtiger Religiosität im Blickpunkt. Der Einführung des Begriffs »populäre Religion« bzw. der Heraus-

75 Knoblauch 2009, 123. 76 Ebd., 124. Zu diesen christlichen Bewegungen zählt Knoblauch Evangelikale, Neupfingstler und Charismatiker. Vgl. ebd. 87ff. 77 Ebd., 124. 78 Ebd., 126. 79 Ebd. 80 Ebd., 271.

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stellung des Begriffs der Spiritualität folgt die vorliegende Untersuchung hingegen nicht. Mit der Einführung des ersten Begriffs, der die Anpassung von Religion an eine konstatierte Populärkultur beschreiben möchte 81, ist noch nicht klar, was gegenüber dem Religionsbegriff selbst gewonnen ist, außer einer Betonung gegenwärtiger Entgrenzungen und dem Hinweis auf eine Durchdringung verschiedenster gesellschaftlicher und religiöser Bereiche. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff Spiritualität. Dieser Begriff ist primär als eines unter weiteren diskursiven Elementen um die Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität zu sehen. Am Formungs- und Positionierungsprozess dieser Vokabel und ihrer jeweiligen inhaltlichen Zuschreibungen wirken derzeit religiöse ebenso wie wissenschaftliche Akteure mit. Als etische Beschreibungskategorie ist daher momentan noch kein Vorteil gegenüber dem Religionsbegriff gegeben. Im Hinblick auf die Entgrenzung religiöser Bereiche und das Auswahl- und Kombinationsverhalten religiöser Akteure wird in den Studien von Knoblauch aber auch von Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt Folgendes deutlich: Insbesondere Elemente, die religionsgeschichtlich dem sogenannten »New Age« oder für den deutschsprachigen Raum der »Esoterik« zugerechnet werden, stehen hoch im Kurs. Bemerkenswert in den aktuellen Bemühungen zur Beschreibung und Fassung von Konstellationen gegenwärtiger Religiosität scheint mir, dass in der Forschung zwar vielfach konstatiert wird, dass beispielsweise der Glaube an Reinkarnation, an Gott als Energie oder an das Leben als fortschreitenden »spirituellen« Entwicklungsprozess mittlerweile gängige Elemente in Religiositätskonstruktionen sind, forschungs- und religionsgeschichtlich der Bereich der Esoterik bzw. des New Age jedoch weiterhin meist als separates Feld beschrieben wird. In einem Exkurs wird im Folgenden kurz dargestellt, wie mögliche Entwürfe zur Konzeptionalisierung von »Esoterik« bzw. »New Age« aussehen. Exkurs: Esoterik und New Age In der Religionswissenschaft gibt es inzwischen eine breite Palette an theoretischen Ansätzen und empirischen Studien zu dem Bereich, der im englischspra-

81 Knoblauch 2009, 198.

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chigen Raum primär mit »New Age«82, im deutschsprachigen Raum eher mit »Esoterik« betitelt wird.83 Mit Sicherheit eine der wichtigsten Arbeiten publizierte 1996 der niederländische Religionswissenschaftler Wouter Hanegraaff. Dieser zeichnet verschiedene Episoden einer Geschichte der »westlichen Esoterik« nach, wobei für ihn die Aufklärung eine deutliche Zäsur darstellt. In seiner Monographie »New Age religion and Western culture«84 liegt der Schwerpunkt auf der Beschreibung des sogenannten »New Age Movement«, das er als gegenwärtige Ausformung von westlicher Esoterik betrachtet. Hierunter fasst er bestimmte religiöse Bewegungen vor allem der 1950er bis 1990er Jahre, denen als eine Art Basiskonstante in erster Linie die Verwendung holistischer Konzepte zugrunde liegt. Unter dem Begriff »westliche Esoterik« fasst der Autor Folgendes: … Western Esotericism refers to a cluster of specific currents (the revivial of hermicism and the so-called ›occult philosophy‹ in the early modern period as well as its later developments; alchemy, Paracelsianism and Rosicrucianism; Christian kabbalah and its later developments, theosophical and illuminist currents; and various occultist and related developments during the nineteenth and twentieth centuries, up to and including popular contemporary currents such as the New Age movement).85

82 In englischsprachigen Publikationen findet sich auch des Öfteren der Zusatz »movement«, der zumindest in einigen Kontexten eine gewisse Einheitlichkeit oder Organisation des Phänomenbereichs suggeriert. Vgl. Melton 2007, 78f. Zum Begriff »New Age« ist in jüngerer Zeit auch zu beobachten, dass er zugunsten anderer Begriffe aufgegeben wird. Während z. B. Steven Sutcliffe in seinen älteren Publikationen noch den Begriff »New Age« verwendet (z. B. Sutcliffe 1997), rückt er in jüngerer Zeit mehr und mehr davon ab. In seinem im Jahr 2000 erschienenen Band »Beyond New Age« bemerkt er in der Einleitung, dass »New Age« immer mehr als »particular codeword in a larger field of modern religious experimentation« zu sehen ist und die Herausgeber des Bandes sich daher für den umfassenderen Begriff »alternative spirituality« entschieden hätten. Sutcliffe 2000, 1. 83 Vgl. Hammer 2001, 16-22. Ein Überblick über ältere Ansätze aus dem soziologischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Bereich ist bereits bei Bochinger 1994 zu finden. 84 Hanegraaff 1998. 85 Hanegraaff 2007, 43.

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Hanegraaff entwirft damit ein eigenständiges religionsgeschichtliches Segment, an dessen aktuellem Ende das »New Age Movement« steht86 und dessen Beginn er ab der Mitte des letzten Jahrhunderts verortet. Er teilt dieses »Movement« in verschiedene Perioden87 ein: die 1950er bis 60er Jahre bilden das sogenannte »Proto-New Age Movement«, das vor allem geprägt ist durch UfoGruppierungen. Die 1960er Jahre bilden bis Beginn der 1970er Jahre das sogenannte »New Age in a restriced sense«, in dem ein noch relativ enger Kreis von Gruppierungen ein neues spirituelles Zeitalter auf Erden verwirklichen wollte. Ab den 1970er Jahre folgt das sogenannte »New Age in a General sense«, in dem nun Ideen des vergangenen Jahrzehnts transformiert und verstärkt an eine breiter werdende Masse innerhalb westlicher Gesellschaften kommuniziert wurden. Diese Entwicklung hält nach Hanegraaff bis heute an, auch wenn statt »New Age« heute von Seiten der Akteure andere »Labels« (Body-Mind-Spirit, Spirituality) benutzt würden. Hanegraaff scheint hier selbst noch unentschlossen, wie er gegenwärtige Entwicklungen in westlichen Ländern benennen soll. Inhaltlich identifiziert er im »New Age Movement« verschiedene wichtige Elemente wie Channeling, Neopaganismus oder Heilungskonzepte. Diese beziehen sich trotz ihrer Diversität alle auf die Idee einer sogenannten »holistic gnosis«88. Damit stünden sie im Gegenkurs zu einer allgemein vorherrschenden kulturkritischen Haltung, die sich insbesondere in Form von rationalistischem und dualistischem Denken zeige. Überblickend wird deutlich, dass Hanegraaff »New Age« als etischen Begriff vorschlägt, verstanden als ein religionsgeschichtliches Element von westlicher Esoterik, dessen Reichweite sich durchaus auf gegenwärtige Kontexte erstreckt. Er arbeitet zentrale inhaltliche Elemente von New Age heraus, die für ihn eine Zuordnung ermöglichen. Basis für die Erarbeitung dieser Elemente sind bei ihm jedoch ausschließlich »Bestseller« des New Age. Dies hat zur Folge, dass sein Bild von New Age lediglich ein Segment des Bereichs veranschaulicht, nämlich das diskursiv-wortführender Akteure. Insgesamt stellt Hanegraaff die westliche Esoterik als ein Element europäischer Religionsgeschichte dar, deren dominante Akteure durch vielfache Rezeptionslinien miteinander verknüpft sind. Für den geschichtlich jüngsten Teil dieser Historie entwirft er mit dem Begriff des »New Age Movement« ein selbstständiges neues Segment, das er anhand des untersuchten Materials als empirisch begründet erachtet. Wie Michael Bergunder zu Recht kritisiert, findet sich bei Hanegraaff jedoch auch der Gedanke,

86 Zur Kritik siehe Bergunder 2008. 87 Siehe zu folgendem ausführlich Hanegraaff 2007, 26-31. 88 Hanegraaff 2007, 42.

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Esoterik als »Ergebnis eines polemischen Ausschließungs-Diskurses im Westen« zu fassen, »betrieben von der etablierten Religion, Philosophie und Wissenschaft.«89 Esoterik werde so »zum Gegenpart dominanter kultureller Selbstverständigungsprozesse der westlichen Kultur- und Religionsgeschichte«90 stilisiert. Hierbei ist insbesondere die darin inhärente Dichotomie zu kritisieren, die sich »kaum sinnvoll historisch überprüfen und operationalisieren«91 lässt. Ein anderer Versuch, Esoterik religionswissenschaftlich zu fassen, wurde von Kocku von Stuckrad unterbreitet. Im Gegensatz zu Esoterikforschern, die wie beispielsweise Antoine Faivre von einer Traditionsbildung zwischen dem 15. und 17 Jahrhundert und von einer kontinuierlichen Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart ausgehen92, möchte von Stuckrad den Untersuchungsbereich zeitlich von der Antike über das Mittelalter bis in die Gegenwart erweitern. Zu Beginn bettet von Stuckrad seinen Ansatz in aktuelle, in der Forschung derzeit verbreitete Perspektiven ein. Er verweist zunächst auf die generelle Pluralität und Dynamik, die für die Europäische Religionsgeschichte konstatiert werden kann93 und in der religiöse Identitäten stetig kommunikativ ausgehandelt werden. So könnten auch einzelne religiöse Traditionen nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern nur in ihren jeweiligen diskursiven Verschränkungen. Begrifflich möchte er zwischen »Esoterik« und »dem Esoterischen« differenzieren: Deswegen ist es oft besser, von ›Esoterischem‹ zu sprechen anstatt von ›Esoterik‹, denn das Esoterische ist ein Element kultureller Prozesse, während die Rede von Esoterik suggeriert, es gebe eine zusammenhängende Lehre oder einen klar identifizierbaren Traditionsbestand. … Wenn ich in diesem Buch von ›Esoterik‹ spreche, so fasse ich das Esoterische vielmehr als ein Diskurselement der Europäischen Religionsgeschichte auf.94

Trotz der Bestrebungen von einer Reduktion der Vielfalt esoterischer Diskurse abzusehen, gibt von Stuckrad dennoch Elemente an, die »das Esoterische« auch inhaltlich zumindest grob abgrenzbar machen:

89 Bergunder 2008, 488. 90 Ebd. 91 Ebd., 489. 92 Siehe ausführlich Faivre 1994, 10ff. 93 Vgl. Gladigow 1995. 94 Stuckrad 2004, 20f.

38 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Dreh- und Angelpunkt aller esoterischen Traditionen sind Erkenntnisansprüche, die auf das »eigentliche« oder das absolute Wissen abheben, und die Modi, dieses Wissen verfügbar zu machen ….95

Inwieweit er sich mit der Festlegung eines solchen Grundcharakteristikums des Esoterischen bzgl. seines diskursorientierten Forschungsansatzes selbst widerspricht, bleibt schwer zu entscheiden, da seine Ausführungen zum Thema »Diskurs« im Rahmen des Buches rudimentär bleiben. Im Weiteren charakterisiert er diese Elemente des Esoterischen näher, indem er bestimmte Modi, Topoi und Motive des Esoterischen genauer benennt: Die Modi, in denen sich ein Diskurs absoluter Erkenntnis entfaltet, haben mit der Dialektik von Verborgenem und Offenbartem zu tun, …. Was einen Diskurs esoterisch macht, ist die Rhetorik einer verborgenen Wahrheit, die auf einem bestimmten Weg enthüllt werden kann und gegen andere Deutungen von Kosmos und Geschichte – nicht selten die der institutionalisierten Mehrheit – in Stellung gebracht wird. 96

Als ein »wiederkehrendes Element in der Geschichte der Esoterik von der Antike bis zur Gegenwart« nennt der Autor z. B. die »Konstruktion einer Kette von »Eingeweihten« oder auch die »Betonung individueller Erfahrungen« in der Beschreibung der »Suchenden« nach den »höhere(n) Wahrheiten.«97 Im Hinblick auf die terminologischen Probleme, die bei der Untersuchung des modernen Esoterischen mit dem Begriff »New Age« auftreten, verweist auch von Stuckrad auf die Diversität der emischen und etischen Perspektiven. Nach einer kurzen Betrachtung vor allem der emischen Begriffsgeschichte – eine Reflexion etischer Begriffsproblematisierungen spart von Stuckrad aus – kommt der Autor zu folgendem Schluss: Man muss wohl sagen, dass es sich bei ›New Age‹ lediglich um eine Episode der euroamerikanischen Religionsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts handelt, eine Episode, die durch Zuschreibung von außen – also vonseiten kritischer Außenstehender und durch wissenschaftliche Darstellungen – künstlich am Leben gehalten wurde. Aus diesem negativen Befund zu folgern, dass auch die Untersuchung der zugrunde liegenden Gegenstände

95 Stuckrad 2004, 21. 96 Ebd. [Herv.i.O.]. 97 Ebd., 22.

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obsolet geworden ist, wäre jedoch falsch. Große Teile der fälschlich als ›New Age‹ beschriebenen Szene lassen sich nämlich zutreffend als moderne Esoterik verstehen.98

Mit der pauschalen negativen Qualifizierung der »New Age«-Terminologie weist von Stuckrad gleichzeitig auch wissenschaftliche Bemühungen zurück, die den Begriff als eine etische Arbeitskategorie zu etablieren suchten. An diesem Entwurf zur Esoterik kritisiert Bergunder zu Recht, dass der Autor seine herausgearbeiteten Merkmale des Esoterischen »transhistorisch und transkulturell« verorte und Esoterik »damit als ein zeitlich und räumlich entgrenzter Gegenstand bestimmt«99 werde. Er sieht von Stuckrads Konzept daher »im Widerspruch zu einem kulturwissenschaftlichen Ansatz« stehend, gerade weil von Stuckrad auch die Interdependenzen zwischen emischen und etischen Gegenstandsbestimmungen nicht weiter betrachtet.100 Bergunder selbst stellt diesen beiden bekannten und von ihm kritisierten Entwürfen seinen eigenen Ansatz entgegen, den er als dezidiert kulturwissenschaftlich orientiert versteht. Er greift dabei auf aktuelle diskurstheoretische Ansätze zurück und versucht so, die Diskussion um Esoterik weg von einer inhaltlich-essentiell orientierten Bestimmung hin zu einer Betrachtung des Aushandlungsgeschehens aus einer wissenschaftlichen Metaperspektive zu bringen. Zunächst klärt er: »›Esoterik‹ wird formal als Name angesehen …, den die ›Menschen‹ (Esoteriker wie Esoterikforscher) einem bestimmten Diskurs über Religion und Wissenschaft geben.«101 Zentral ist hierbei, dass sich dieser Diskurs erst durch die stetigen Aushandlungs- und Positionierungsleistungen der beteiligten Akteure (Wissenschaftler, Esoteriker aber auch weiterer Akteursgruppen) formt, die eingebunden sind in die jeweiligen historischen und kulturellen Kontexte. Unter Verwendung des im Sinne von Ernesto Laclau gebrauchten Begriffs des »leeren Signifikanten«102 fasst Bergunder Esoterik »als diskursive(n) Knotenpunkt«103, der netzwerkartig »durch eine Diskursgemeinschaft und in verschiedenen Diskursfeldern artikuliert und reproduziert wird.«104 Zu dieser Diskursgemeinschaft gehören nach Bergunder eben nicht nur »Esoteriker«, sondern auch Journalisten (in verschiedenen Medien) oder Wissenschaftler, die in ihren jewei-

98

Stuckrad 2004, 229.

99

Bergunder 2008, 487.

100 Ebd. 101 Ebd., 481. 102 Ebd., 495. 103 Ebd., 498. 104 Ebd., 500.

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ligen historischen Kontexten und im Rahmen »strittiger Machtdiskurse« den Knotenpunkt Esoterik aushandeln. Die diskursiven Netzwerke, die im Zusammenwirken von Diskursgemeinschaft und Diskursfeldern entstehen, können dabei in synchronen wie auch diachronen Beziehungen zueinander stehen.105 In Bezug auf die Gegenstandsbestimmung hält der Autor für die synchrone Dimension fest, dass hier »das zur Esoterik gerechnet [wird], das zu demselben Zeitpunkt Anteil an ein und demselben diskursiven Netzwerk hat.«106 Die Anteile an diesem Aushandlungsgeschehen sind nach Bergunder dabei keinesfalls gleich, sondern die »Repräsentationsmacht« und »die Intensität der Beziehungen« innerhalb des Netzwerks seien höchst unterschiedlich verteilt. Soll Esoterik hingegen auch als historischer Gegenstand gefasst werden und eine diachrone Perspektive angelegt werden, so kann davon nur dann gesprochen werden, wenn sich zwischen verschiedenen synchronen Netzwerken ein »historisch nachweisbare[r] Rezeptions- und Traditionszusammenhang«107 zeigen lasse. Diese theoretischen Überlegungen muss der Autor nun für eine forschungspragmatische Umsetzung konkretisieren. Da der Untersuchungsgegenstand nach Bergunders Vorschlag erst »mit und bei der Rekonstruktion des esoterischen Netzwerkes«108 inhaltlich näher bestimmt werden kann, stellt sich konkret die Frage nach dem Einstiegspunkt in die Forschung. Diese wichtige, gleichzeitig aber auch schwierige Frage des Ansatzes beantwortet Bergunder wie folgt: Das [der Einstiegspunkt, N.M.] kann in unserem Falle nur der Bereich sein, in dem, mit Eagleton gesprochen, ›die Menschen‹ einer diskursiven Praktik den Namen ›Esoterik‹ geben, und es sollte dort eingesetzt werden, wo dies zum letzten Mal in der Geschichte der Fall war, also in der Gegenwart. Dabei geht es nicht um das nominale Auftreten des Begriffs Esoterik, sondern um Esoterik als leeren Signifikanten und insbesondere um die damit verbundenen Äquivalenzketten.109

Eine diachron-orientierte Forschung könne daher immer nur über eine historische Rekonstruktion geschehen, nicht aber – wie in vielen anderen Ansätzen – aus einer fortschreitenden Traditionskonstruktion bis in die Gegenwart. Für nachweisbare oder fehlende Rezeptionszusammenhänge synchroner Netzwerke bringt Bergunder einige schlüssige Beispiele, dennoch klärt er die Problematik

105 Bergunder 2008, 498f. 106 Ebd., 500. 107 Ebd., 501. 108 Ebd. 109 Ebd., 502.

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um den Einstiegspunkt in das Forschungsfeld nicht in vollem Umfang. Im Hinblick auf die divergierenden Ansätze von Hanegraaff und Bochinger110 konstatiert Bergunder, dass die Entscheidung über den Einstiegspunkt »nur im Rückgriff auf die konkrete Interpretation der jeweiligen historischen Quellen gefällt«111 werden könne. Doch wie kann ein Forscher unter der Annahme, dass der Untersuchungsgegenstand der Esoterik nur im Rahmen der Rekonstruktion diskursiver Netzwerke zu fassen sei, die Quellen als für das Forschungsfeld relevant identifizieren? Eine Identifikation rein über die Verwendung des Begriffs »Esoterik« ist in vielen Fällen nicht gegeben, da in den diskursiven Aushandlungen – wie bereits angeführt – auch andere Begriffe eingesetzt werden. Versteht man Esoterik als leeren Signifikanten, erhöht das die Schwierigkeit der Identifikation in der Empirie noch stärker, obwohl die Anwendung des theoretischen Konzepts im Bereich Esoterik sehr gewinnbringend ist. Abgesehen von den Schwierigkeiten einer konkreten Anwendung im Untersuchungsfeld bleibt im Hinblick auf Bergunder festzuhalten, dass er einen diskursiv-orientierten Ansatz entwirft, der prinzipiell nicht von festgeschriebenen Grenzen des esoterischen Diskurses ausgeht und der somit offen wäre für Reflexionen zur Rolle von Esoterik in Konstellationen gegenwärtiger Religiosität. Gerade im englischsprachigen Bereich liegen noch zahlreiche Arbeiten zu New Age vor, die an dieser Stelle nicht mehr ausführlich beleuchtet werden können.112 Zum Abschluss dieses Exkurses bleibt jedoch festzuhalten, dass sich, gleichgültig ob Ansätze eher einer inhaltlichen oder einer diskursiven Bestimmung des Untersuchungsfeldes folgen, die Tendenz abzeichnet, New Age bzw. Esoterik als eigenständigen religionsgeschichtlichen Bereich herauszuarbeiten, der – je nach Ansatz – über eine eigene historische Tradition verfügt. Unter dem Schlagwort »Spiritualität«, welches allerdings meist nur unzureichend in Beziehung gesetzt wird zu »New Age«, gibt es neuere, vor allem marktorientierte Studien, die verstärkt deren Verflechtung zu kulturellen und wirtschaftlichen Bereichen in den Fokus nehmen.113 Die sonst konstruierte Eigenständigkeit des Untersuchungsfeldes dürfte mitunter auch darauf zurückzuführen sein, dass die New-

110 Im Gegensatz zu Hanegraaff beschreibt Bochinger Esoterik bzw. New Age nicht als religionsgeschichtlich gewachsenes Segment, sondern versteht darunter einen »Sammelbegriff« für die komplexen und dynamischen Entwicklungen gegenwärtiger Religiosität. Vgl. Bochinger 1994, 103. 111 Bergunder 2008, 502. 112 Vgl. z. B. Lewis & Gordon 1992; Sutcliff 1997, 2000; Heelas 1999; Kemp & Lewis 2007. 113 Vgl. Carrette & King 2005; Hero 2009.

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Age bzw. Esoterikforschung erst im Laufe der letzten Jahre an Ansehen innerhalb wissenschaftlicher Kreise gewonnen hat und es daher auch dezidiert ein Anliegen der Forschenden ist, einen möglichst klar umgrenzten Untersuchungsbereich zu schaffen. Ende des Exkurses Nach diesem Exkurs lassen sich einige Punkte festhalten, die zunächst den Ausgangsrahmen für die vorliegende Arbeit bilden. Viele neuere Ansätze, die sich Formen gegenwärtiger Religiosität zuwenden, nehmen explizit oder implizit an, dass es in der Moderne zu grundlegenden Veränderungen gekommen ist. Ging man vorher fast wie selbstverständlich von durch und durch religiös geprägten Gesellschaften aus, in denen bezogen auf westliche Kontexte meist eine oder nur wenige religiöse Traditionen eine leitende Position innehatten, wurden nun Wandlungen hinsichtlich der Zugehörigkeit aber auch der Differenzierung festgestellt. Als Einfluss nehmende Faktoren gelten u. a. gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie Industrialisierung und Technisierung, Migrationsbewegungen, eine zunehmende Globalisierung und eine steigende Mediatisierung. Insbesondere religiöse Institutionen und ihre Mitglieder traten hier zunächst in den Fokus der Untersuchungen, bevor auch deren Verhältnis zu »privater« Religiosität thematisiert wurde. Die Subjektebene rückte vor allem in einigen rezenten qualitativen Untersuchungen verstärkt ins Zentrum. Hier wurden erste Anhaltspunkte herausgearbeitet, wie religiöse Akteure in ihren, oft narrativen Konstruktionen Religiosität gestalten und kommunizieren. Für die meisten dieser Diskussionen ist kennzeichnend, dass eine detaillierte Bestimmung gegenwärtiger Religiosität zugunsten von Diskussionen um das Verhältnis von Religion und Gesellschaft zurücktritt. Außer in Migrationsstudien – hier stehen z. B. Islam oder Buddhismus im Vordergrund – gehen viele Ansätze von einer durchgängigen »Christlichkeit« verbunden mit einer Kirchenmitgliedschaft der Akteure aus, die je nach Ansatz abnimmt, sich ins Private zurückzieht oder transformiert wird. Im Hinblick auf die Transformation von Religiosität sind es dann jedoch primär Elemente, die dem Bereich der Esoterik zugeschrieben werden, die als Einfluss nehmend gelten: Ayurveda, Feng Shui, Yoga, Engel, Reinkarnation betrachtet beispielsweise Knoblauch in seinen Studien zu »populärer Religion« näher. Sowohl das inhaltliche Angebot an religiösen und rituellen Elementen, die zur Auswahl stehen für die Konstruktionsprozesse gegenwärtiger Religiosität, als auch deren Quantität und Qualität sind jedoch nahezu unüberschaubar. So wird zwar festgestellt, dass religiöse Akteure sich hier bedienen, warum jedoch bestimmte Elemente ausgewählt werden, andere nicht

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und wie diese Elemente zusammengebaut werden, wird vielfach nicht näher beschrieben.114 Konstellationen gegenwärtiger Religiosität bleiben daher inhaltlich oft unterbestimmt, während sie strukturell – vor allem im Hinblick auf ihre gesellschaftliche, mediale, ökonomische oder politische Vernetzung – wesentlich detaillierter analysiert werden. Dieser Befund ist die Ausgangslage für die vorliegende Studie. Die Desiderate aus der bisherigen Forschung – eine unzureichende Verknüpfung subjektiver mit gesellschaftlichen Ebenen und eine Unterbestimmung inhaltlicher Komponenten und deren Konstruktionen – können nicht umfassend im Rahmen dieser einen Studie aufgearbeitet werden. Es soll jedoch versucht werden, anhand des zu untersuchenden Materials beide Punkte weiterführend zu reflektieren.

114 Eine Ausnahme bilden hier neuere, vor allem qualitativ orientierte Studien wie z. B. die bereits genannte von Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt (2005, 2009).

2. Theoretische Perspektiven

Die Studie möchte Synergien aus der Zusammenführung zweier theoretischer Ansätze ziehen, die beide für sich genommen derzeit äußerst populär in den Fachdiskussionen der verschiedensten kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen sind: diskurs-orientierte und hermeneutisch-subjektorientierte Ansätze. Als Vordenker der derzeit am meisten referierten Diskurstheorie gilt der französische Philosoph Michel Foucault. Auf Basis seines umfassenden Werks entstand in den letzten Jahrzehnten ein international wachsender Forscherkreis, der das von ihm ausgearbeitete Diskurskonzept aufnahm und im Zuge eigener, disziplinär geprägter Studien weiter ausarbeitete, anpasste, modifizierte und insbesondere auch methodisch umzusetzen versuchte.1 Dabei entstanden unterschiedliche Entwürfe einer überarbeiteten Diskurstheorie, die sich inzwischen selbst einen Namen gemacht haben, u. a. indem sie sich langsam von einer strikten und ausschließlichen Orientierung an Foucault lösten. Zu nennen sind hier als internationale Vertreter z. B. die Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und Chantal Mouffe oder auf nationaler Ebene der Soziologe Reiner Keller. Die Diskursforschung hat sich heute in theoretischer aber auch methodischer Hinsicht zu einem weitläufigen Feld entwickelt, dessen vollständige Vorstellung und Nachzeichnung nicht Ziel dieses Kapitels sein kann.2 Hingegen wird im Hinblick auf gegenwärtige religionswissenschaftliche Forschung gefragt, warum und besonders welche Aspekte des foucaultschen Diskurskonzepts für religionswissenschaftliches Arbeiten interessant sind und welche Versuche einer fachspezifischen Rezeption bereits vorliegen. Dabei wird das foucaultsche Diskurskonzept

1

Ein einleitender Überblick zu verschiedenen Ansätzen der Diskursforschung findet

2

Vgl. z. B. ausführlich Jaworski 2002; Wetherell, Taylor& Yates 2006; Keller, Hirse-

sich bei Keller 2011, 13-64. land, Schneider & Viehöver 2011.

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in Grundzügen vorgestellt. Im Zuge der Zusammenführung der beiden theoretischen Perspektiven gilt es insbesondere auch der Frage nach dem Zusammenhang von Diskurs und Subjekt zunächst bei Foucault, dann auch in weiterführender theoretischer und methodologischer Perspektive nachzugehen. Wie deutlich wird, ist es möglich, das Foucaultsche Diskurskonzept an einigen Stellen zu erweitern bzw. zu präzisieren. Dazu ist es allerdings notwendig, den Foucaultschen Theorieansatz ebenso zu betrachten, wie der Autor selbst ihn gesehen hat: als »Werkzeugkiste«.3 Die Modifikation eines theoretischen Ansatzes bedeutet nicht gleichzeitig ein Verbiegen oder Missverstehen des Originals. Theorien sind vielmehr als abstraktes Hilfsmittel zur Beschreibung und Analyse empirischbeobachtbarer Phänomene zu betrachten, die unter Rückfrage oder Rückkopplung an die Empirie durchaus verändert werden können bzw. sollten. Eine klare Zuordnung hermeneutisch-subjekt- bzw. akteursorientierter Forschung zu einer bestimmten Person, wie es oben bei Diskurs und Foucault der Fall war4, ist angesichts der langen und vielfältigen Forschungsgeschichte dieser Perspektive nicht zu leisten. Der sogenannte interpretative turn wird heute oft als Beginn dieser Forschungsrichtung markiert, der jedoch in den einzelnen Disziplinen personell unterschiedlich verankert ist.5 Verallgemeinernd kann man festhalten, dass im Zuge dieses turns die Rekonstruktion von Bedeutungen in den Mittelpunkt rückte, sei es subjekt- oder kulturbezogen als Untersuchung von Selbstdeutungsmustern oder der Produktion kulturspezifischer Darstellungs- und Erfahrungskonzepte. Gerade im Bereich soziologischer Forschung bildete der interpretative turn den Ausgangspunkt für weit reichende theoretische und konzeptionelle Neuentwicklungen, die als hermeneutische Ansätze ausformuliert wurden. Thomas Luckmann zusammen mit Peter Berger aber auch Georg Soeffner und Hans-Georg Gadamer gehören hier mit Sicherheit zu den prominentesten Namen im deutschsprachigen und internationalen Raum. Im Zuge der theoretischen Neuentwicklungen setzte sich ausgehend von der Soziologie und Ethnologie, später aber auch von Seiten der (Sozial-) Psychologie ein erweitertes Methodenspektrum durch, das meist unter dem Oberbegriff der »qualitativen Sozialforschung«6 geführt wird. Im Zentrum stehen hier die Rekonstruktion verschiedenster Bedeutungen und Deutungsmuster und deren Zusammenhänge, ar-

3

Foucault 1976, 45.

4

Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Foucault initial den Diskursbegriff verwendet hat. Seit der Popularisierung des Ansatzes wird er nur meist an erster Stelle in Verbindung mit dem Diskursbegriff genannt.

5

Vgl. Bachmann-Medick 2007, 60ff.

6

Für einen einführenden Überblick siehe Mruck & Mey 2005.

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tikuliert auf vielfältige Weise durch unterschiedliche Akteure in verschiedenen Medien. Und dies nicht – wie gerade in den Sozialwissenschaften lange üblich – in der Perspektive ihrer Quantität, sondern mit Fokus auf die spezifischen qualitativen Ausformulierungen der Akteure. Beide theoretischen Perspektiven sind inzwischen nicht nur im Bereich sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung äußerst prominent, sondern als kulturwissenschaftlich-orientiertes Fach setzt sich auch die Religionswissenschaft mit ihnen auseinander bzw. wendete sie in verschiedenen empirischen Szenarien bereits an. Einführend möchte ich daher im Folgenden einen kurzen Blick auf die Anwendung und die Relevanz beider Zugänge in bisherigen religionswissenschaftlichen Forschungen im deutschsprachigen Raum werfen.

2.1 Z WEI THEORETISCHE Z UGÄNGE R ELIGIONSWISSENSCHAFT

IN DER

2.1.1 Diskurskonzepte in der Religionswissenschaft Die erste theoretische Perspektive, die im Rahmen dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden soll, wurde bereits für religionswissenschaftliches Arbeiten herangezogen. Im deutschsprachigen Raum läutete Hans G. Kippenberg mit seinem Artikel »Diskursive Religionswissenschaft« (1983) eine erste Hinwendung zu dieser Forschungsperspektive ein. Unter einem Diskursmodell versteht er ein Modell, »in dem Inhalte in ihrer Rolle als Rede untersucht werden.«7 Auf Basis der Sprechakttheorie John L. Austins und unter Verweis auf die Arbeiten von Jürgen Habermas macht er an ausgewählten religionsgeschichtlichen Beispielen deutlich, dass verschiedene Sprecher in Diskussionen bestimmte Aussagen produzieren und zueinander in Bezug setzen. Dieser Prozess ist jeweils nur im spezifischen Kontext zu verstehen und kann insgesamt gravierende Auswirkungen über den religiösen Bereich hinaus haben. Kippenbergs Aufsatz ist als ein kritisches Infragestellen der bis dato üblichen Forschungsannahmen und Begriffsbildungen zu lesen, denen er das Diskursmodell entgegenstellt, welches jedoch theoretisch nahezu gänzlich unbestimmt bleibt.8 Nichtsdestotrotz gilt Kippenbergs Artikel als einer der einflussreichsten für die jüngere religionswissenschaftliche

7

Kippenberg 1983, 28.

8

Mit Austin und Habermas knüpft Kippenberg zudem an eine andere Diskussionslinie um Diskurse an wie es bei gegenwärtigen Ansätzen, die an Foucault anschließen, der Fall ist.

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Forschung im deutschsprachigen Raum, der den Begriff des Diskurses innerhalb der Disziplin popularisierte. Rund 20 Jahre später knüpft Kocku von Stuckrad an Kippenbergs Vorarbeit an, überführt den Diskursbegriff nun aber aus dem linguistischen Kontext, in dem er noch bei Kippenberg stand, in den Kontext neuerer Theorien aus den cultural studies.9 Hier führt er relativ unspezifisch u. a. Michel Foucault, Pierre Bourdieu und Jacques Lacan an und hält fest, Diskurs konzeptualisiere »representations of social positions that are negotiated among groups in a complex process of identity formation and demarcation.«10 Besonders die Machtverhältnisse, die sich in den Prozessen der Adaption und des Transfers von Bedeutungen und Positionen abzeichnen, hebt der Autor hervor.11 Die Arbeit mit dem Diskursansatz ermögliche es zudem, die eigene Position als Forscher ebenfalls als Teil des Diskurses zu sehen und damit die maßgeblichen Beeinflussungen zu reflektieren, die z. B. religionswissenschaftliche Begriffsbildungen auf religiöse Bereiche ausgeübt haben. Zwei wesentliche Aspekte hebt von Stuckrad als Mehrwert der Anwendung eines Diskursansatzes in der Religionswissenschaft hervor: Durch die mit Hilfe des Ansatzes eingenommene Meta-Perspektive könne eine »polyfokale« Analyse vorgenommen werden, in der verschiedene Sichtweisen – auch die der Forscher – berücksichtigt werden. Zudem werde durch einen diskursiven Ansatz die Aufmerksamkeit des Forschers weg von »religions as belief-systems« hin zu »systems of communication and shared action«12 gerichtet, was eine deutliche Absage an phänomenologisch-orientierte Zugänge der Religionsforschung darstellt. Seit diesen einführenden Arbeiten zur Verwendung eines Diskursansatzes im Zuge religionswissenschaftlicher Forschung hat sich im deutschsprachigen Raum13 ein breiter Rezipientenkreis gefunden, der diese theoretische Perspektive für religionswissenschaftliches Arbeiten anwendet. Allerdings sind diese Autoren darum bemüht, explizit und in die Tiefe gehend auch die theoretischen Hintergründe der verwendeten kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskursansätze zu reflektieren, was sie deutlich von Kippenberg und von Stuckrad unterscheidet.

9

Vgl. Stuckrad 2003, 266.

10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., 268. 13 Auch in der internationalen religionswissenschaftlichen Forschung finden sich inzwischen zahlreiche Arbeiten, die auf einen Diskursansatz zurückgreifen. Siehe z. B. Carette 2000.

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So beschreibt Michael Bergunder in seinem zuvor bereits angesprochenen Artikel mit Hilfe des post-foucaultschen Diskursansatzes von Laclau und Mouffe den Bereich der Esoterik als diskursives Feld, das von religiösen Akteuren und Forschern gleichermaßen ausgehandelt wird.14 Mit Hilfe des Ansatzes gelingt es ihm, die Diskussion um den Gegenstand Esoterik wegzuführen von essentialistisch orientierten Inhaltsbestimmungen hin zu einer situations-, akteurs- und kontextabhängigen Bestimmung. Diese kann den im Empirischen beobachtbaren Dynamiken der Feldgestaltungen besser gerecht werden als essentialistischorientierte Bestimmungsversuche. Der Thematik »Buddhismus im Westen«15 nähert sich Katja Rakow über eine Verknüpfung von foucaultscher Diskurstheorie mit theoretischen Elementen Pierre Bourdieus und Ludwig Wittgensteins und kann so am Beispiel von Shambhala und Chögyam Trungpas die Komplexität und Dynamik gegenwärtiger religiöser Entwicklungen aufzeigen. Sie zeigt, wie die an den Aushandlungen des Feldes beteiligten Akteure in symbolischen Kämpfen um Definitionsund Handlungshoheiten ringen und dabei stets Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen oder religiösen Feldern aufnehmen. Für die Beschreibung und Analyse gegenwärtiger Religiosität eignen sich Diskursansätze insbesondere, da mit ihrer Hilfe eine nicht-essentialistisch ausgerichtete Erfassung von Untersuchungsbereichen erfolgen kann. Diskursive Felder können als dynamische Gebilde aufgefasst werden, deren Verbindungen und Abgrenzungen nie einmalig festgelegt werden können sondern immer selbst Teil der diskursiven Aushandlungen sind. Gerade für die Beschreibung gegenwärtiger Religiosität, bei der sich die Grenzen zwischen unterschiedlichen religiösen Traditionen aus Sicht der Akteure aufzulösen beginnen bzw. eigentlich nie existiert haben, vermag ein Diskursmodell die dynamischen religiösen »Cluster«16 zu fassen und nach ihren Entstehungsbedingungen und ihren Positionsverteilungen zu fragen. Der oben erläuterte Einbezug von Akteursperspektiven ist allerdings bereits ein Aspekt, der in der »klassischen« Diskurstheorie von Foucault fehlt, gerade aber für die Analyse religiöser Untersuchungsfelder einen Mehrwert verspricht.

14 Bergunder 2008. Siehe auch Exkurs in Kapitel 1.2. 15 Rakow 2010. 16 Meier & Rupp 2008, 209.

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2.1.2 Hermeneutisch-subjektorientierte Religionsforschung In der religionswissenschaftlichen Forschung wurden schon seit der Entstehung des Faches verschiedene Akteursperspektiven betrachtet und analysiert. Im Zentrum stand dabei lange Zeit die Wiedergabe, später die Rekonstruktion von Positionen religiöser Gründer- oder Expertenfiguren. Ihre Äußerungen zu z. B. theologischen, rituellen oder sozio-politischen Themen wurden anhand unterschiedlichster, meist schriftlicher Quellen dargelegt. Die Rekonstruktion ihrer subjektiven Perspektive stand dabei aber weniger im Vordergrund. Vielmehr wurden ihre Aussagen idealtypisch als stellvertretend für eine bestimmte religiöse oder rituelle Tradition gesehen. Erst im Zuge theoretischer Neureflexionen im interpretative turn rückten mit u. a. den Arbeiten von Clifford Geertz erstmals Rekonstruktionen von Bedeutungsmustern und ihrer Zusammenhänge in bestimmten sozio-kulturellen Feldern in den Mittelpunkt. Bei Geertz bedeutete dieser Schritt jedoch noch nicht, sich subjektiven Akteursebenen zu widmen, sondern der Zugang zur Bedeutung wurde als einzig erforschbar auf öffentlicher und intersubjektiver Ebene durch Zeichen und Symbole erachtet.17 Auch der Kreis der Akteure, auf die sich die Aufmerksamkeit richtete, erweiterte sich über religiöse Expertenfiguren hinaus. Doch gerade das Interesse an der Rekonstruktion von subjektiven Deutungsmustern, ihren biographischen Verankerungen und ihrer Bedeutung für Ausformungen von religiöser Praxis ist erst in den letzten Jahrzehnten, zusammen mit dem Aufkommen der qualitativen Forschungsmethoden gestiegen. Voraussetzung dafür war die Ausarbeitung qualitativ-hermeneutischer Methodologien, die insbesondere in der phänomenologisch orientierten Soziologie (z. B. nach Berger & Luckmann18) ihren Rahmen fanden. Aber auch der Einbezug von neuerer Identitätstheorie prägte die qualitativ ausgerichtete Religionsforschung.19 Auf ihrer Grundlage geht man davon aus, dass religiöse Subjekte keinen festen und unveränderlichen Identitätskern besitzen, sondern religiöse Identität als dynamische, wandelbare und stetige (narrative) Rekonstruktionsleistung zu begreifen ist. Bevorzugtes Mittel dieser Forschungsrichtung ist das Interview, was ein solches Forschungsinteresse notwendigerweise auf gegenwärtige Szenarien beschränkt. Knoblauch bemerkt hierzu kritisch, dass es inzwischen im Bereich der Religionsforschung zu einer Vernachlässigung ethnographischer Methoden ge-

17 Vgl. Kumoll 2011, 171. 18 Vgl. Berger & Luckmann 2007. 19 Siehe z. B. Wohlrab-Sahr 1999; Meier & Rupp 2008.

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genüber Interviews kommt.20 Inzwischen liegt eine große Anzahl empirischer Studien zu Akteuren aus den unterschiedlichsten religiösen Traditionen vor, wobei die jeweiligen Themenschwerpunkte der Untersuchungen stark variieren. Bemerkenswert erscheint, dass es bei der Rekonstruktion subjektiver religiöser Perspektiven in ihren biographischen Verortungen vor allem Autoren aus der Praktischen Theologie und der Religionspädagogik waren, die hier für den Bereich der Religionsforschung innovative Arbeit geleistet haben.21 Die steigende Bedeutung qualitativer Forschungspraxis für religionswissenschaftliches Arbeiten – ich beschränke mich hier auf den deutschsprachigen Raum – ist auch an der Herausgabe der ersten methodischen Beiträge zu dem Thema zu erkennen. So zollen u. a. die Arbeiten von Martin Baumann (1998) und Hubert Knoblauch (2003) diesem Umstand Rechnung. Die Anwendung einer qualitativen Methodik – so Knoblauch – sei daher neben der bereits etablierten quantitativen Religionsforschung dringend notwendig: Denn je rascher sich die Gegenwartsreligion verändert und je vielfältiger ihre Erscheinungsformen sind, um so schwerer fällt es, sie mit Hilfe vorgefertigter standardisierter Fragen zu erfassen: Häufig wissen wir ja gar nicht vorab, was da erforscht werden soll, und so ist es denn auch in diesen Fällen unangemessen, eine standardisierte Methode anzuwenden. Gerade die besondere Sensibilität und Flexibilität der qualitativen Forschung bietet für dieses Problem eine sinnvolle Lösung.22

Was ist jedoch insgesamt an dieser Forschungsperspektive, welche die Rekonstruktion subjektiver Bedeutungsmuster in den Mittelpunkt stellt, so ansprechend, dass sie in Form eines narrativ-biographisch orientierten Zugangs für diese Arbeit gewählt wird? Die Rekonstruktion religiöser Akteursperspektiven mittels eines qualitativen Zugangs kann einige Desiderate von sowohl quantitativ-orientierter Forschung als auch von religionsgeschichtlichen Zugängen (im klassischen Sinn23) auffangen:

20 Vgl. Knoblauch 2003, 28. 21 Vgl. z. B. Kaupp 2005; Reese 2006. 22 Knoblauch 2003, 11. 23 Gemeint sind hier heute vielfach überholte Modelle von Religionsgeschichtsschreibung, in denen weder z. B. Problematiken des Ethnozentrismus noch die Komplexität religiöser Phänomene beachtet werden. Siehe zu dieser Problemlage generell auch Kippenberg 1995, Ahn 1997a.

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Dynamiken und der Prozesscharakter von Religiosität werden erfasst und analysiert. Sowohl diachron wie auch synchron ausgerichtete Studien können den Zusammenhängen zwischen gesellschaftlichen und religiösen Faktoren nachgehen, die sich als Motor für Veränderungen von Religionen identifizieren lassen. Wichtig dabei ist, dass über eine reine Feststellung, dass solche Zusammenhänge bestehen, auch Aussagen darüber getroffen werden können, wie diese im Detail aussehen. In der detaillierten Analyse subjektiver Perspektiven und religiöser Lebenswelten auf qualitativer Basis können bestimmte, dynamische Prozesse nachgewiesen werden (Mehrfachzuordnungen in der Selbstpositionierung, Kombinationen unterschiedlicher religiöser Elemente, Verhältnisbestimmungen zu religiösen Gruppen oder Institutionen). Zwar bemüht sich religionswissenschaftliche Forschung heute ohnehin stets eine zu dominante Fremdbestimmung religiöser Akteure und ihrer Praxis zu vermeiden. Eine Rekonstruktion der religiösen Lebenswelt aus Sicht der Akteure möchte externe Bedeutungszuschreibungen jedoch gezielt minimieren (gleichwohl in den Interpretationsprozessen immer eine solche Komponente hinzutritt).

Im Hinblick auf einen qualitativen Forschungszugang gelten einige Punkte jedoch auch als besonders reflexionsbedürftig: •



Es können keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden, die anhand von Zahlen die quantitativen Ausprägungen eines religiösen Phänomens erfassen. Interpretative Zugänge sind immer subjektiv und durch die Deutung der Forscher beeinflusst. Denn in Bezug auf ihren Forschungsbereich sie sind generell nicht frei von theoretischen und inhaltlichen Vorannahmen. Damit läuft der Forschungszugang bei ungenügender Reflexion Gefahr, eine »selffullfilling prophecy« zu produzieren, wenn auf das zu interpretierende Material implizit bereits vorausgesetzte Kategorien oder Muster angelegt werden.24

Gerade für die Erforschung verschiedener Konstellationen gegenwärtiger Religiosität hält dieser hermeneutisch-subjektive Zugang aber ein großes analytisches und systematisches Potential bereit. Anhand des exemplarischen Falls von Luise

24 Zu möglichen Gütekriterien qualitativer Forschung, in denen auch auf das Vorverständnis der Forschenden hingewiesen wird, siehe Steinke 2005, 324-331.

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wird rasch deutlich, welchen Mehrwert ein solcher Zugang besitzt. Interessiert man sich für eine Rekonstruktion subjektiver Bedeutungszuschreibungen, kann z. B. über eine lebensgeschichtliche Erzählung erfasst werden, wie genau Luise den Umgang mit verschiedenen religiösen Elementen im Rahmen ihres biographischen Entwurfs gestaltet. Begründungsmuster, Argumentationsstränge und Bezüge zu gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten lassen sich ebenso nachzeichnen wie Rezeptionsverläufe durch massenmediale Formate. Ein differenzierter und detaillierter Blick erlaubt es zu zeigen, wie sich die Akteurin in unterschiedlichen religiösen Diskursen verortet, was wiederum die bislang vielfach angenommene monoreligiöse Selbstverortung religiöser Akteure in Frage stellt und als christozentrisch-orientiertes Modell entlarvt. Auf subjektiver Ebene spiegeln sich daher nicht nur individuelle Konstruktionen persönlicher Religiosität wider, sondern es lassen sich – folgt man den methodologischen Ansätzen dieser Forschungsrichtung – anhand der Rekonstruktion der Lebenswelt auch Rückschlüsse auf übergeordnete gesamtgesellschaftliche oder -kulturelle Zusammenhänge ziehen. Wie anhand dieses kurzen Überblicks zu den verschiedenen Forschungstraditionen in der Religionswissenschaft gezeigt wurde, eignen sich beide Zugänge insbesondere dazu, religiöse Phänomene in ihrer umfassenden Komplexität (Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen Bereichen, verschiedenste Akteursperspektiven etc.) und ihren Dynamiken (z. B. Prozesse der Adaption, Transformation in religiöser Biographie und Praxis) zu erfassen und zu beschreiben. Wie im forschungsgeschichtlichen Kapitel zu dem hier im Mittelpunkt stehenden Untersuchungsfeld »gegenwärtige Religiosität« deutlich wurde, zeichnet sich auch dieser Bereich durch seine Komplexität und Dynamik aus. Dies äußert sich z. B. in den unklaren Abgrenzungen des Forschungsfeldes, den verschiedenen religiösen Elementen, die hier verhandelt werden oder auch im unterschiedlichen Begriffsgebrauch (religiös, spirituell, christlich, esoterisch, etc.). Um jedoch die Vorteile beider Perspektiven durch deren Verbindung für religionswissenschaftliches Arbeiten nutzen zu können, muss vorweg eine Beschreibung und Erläuterung grundlegender Konzepte vorgenommen werden. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte, aber auch problematische Stellen, an denen beide Perspektiven nicht ohne weiteres zusammengebracht werden können. Die Rolle, die das Subjekt in beiden Ansätzen einnimmt und die Art, wie es jeweils konzipiert wird, sind hier als entscheidende Punkte zu diskutieren. Aufgrund des umfangreichen Textmaterials, das zu beiden Perspektiven vorliegt, bleibt die folgende Beschreibung notwendigerweise in vielen Bereichen fragmentarisch. Für die angestrebte Zusammenführung beider Perspektiven fokussiere ich in den Erläute-

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rungen diejenigen Punkte, die in der empirischen Anwendung von Bedeutung sein werden.

2.2 D ISKURS : K ONZEPTE

UND

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2.2.1 Foucault und die diskursive Praxis Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) hat wie kein anderer zur Popularität des Diskurs-Begriffs25 beigetragen, primär wohl auch deshalb, da er in seinen Werken weit davon entfernt ist, ein eindeutiges und klar umrissenes Diskurskonzept zu liefern. Im Gegenteil, der Autor möchte zwar eine »Werkzeugkiste«26 an Konzepten und theoretisierenden Ideen bereitstellen, eine einheitliche Begriffsdefinition wird man bei ihm aber ebenso wenig finden wie eine klare methodische Umsetzung des Konzepts. Damit ist Foucaults Diskursgedanke27 jedoch gleichzeitig auch sehr anschlussfähig für die Aufnahme in eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen. Aufgrund der Komplexität und Vielschichtigkeit des Foucaultschen Werkes können im Folgenden nur ausgewählte Aspekte rudimentär dargestellt werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die theoretischen Konzeptionen des Autors im Laufe der Entstehung und Entwicklung seines Werkes durchaus veränderten. Auch auf diese Prozesse kann hier nicht weiter eingegangen werden.28 Foucaults Hauptanliegen ist es, in seinen Werken der Frage nachzugehen, wie Wissen generiert und strukturiert wird und welche Bedingungen für diese Prozesse vorliegen müssen.29 In seiner »Archäologie des Wissens« (org. 1969)

25 Einen Überblick über »Strömungen, Tendenzen, Perspektiven« der Diskursanalyse gibt Angermüller 2001, 7-22. Der Begriff wurde in etwas anderer Bedeutung von der im angelsächsischen Raum entwickelten discourse analysis geprägt, die Diskurs jedoch mehr als Gespräch bzw. Konversation auffasst. Ein zweiter Strang, in dem der Begriff bekannt wurde, ist die sog. Diskursethik im Anschluss an Jürgen Habermas, die eher sprachphilosophisch orientiert ist. Siehe dazu auch Keller, Hirseland, Schneider & Viehöver 2006, 9-13. 26 Foucault 1976, 45. 27 Der Begriff des Diskurses stammt allerdings nicht von Foucault, sondern wird sowohl als alltagssprachlicher Begriff als auch als Begriff für theoretisierende akademische Reflexionen seit langem verwendet. Siehe dazu ausführlich Keller 2008, 99f. 28 Vgl. z. B. Raffnsøe, Gudmand-Høyer & Thaning 2011, 44-52. 29 Zur Konstruktion von »Wissen« bei Foucault (und Bourdieu) siehe Kajetzke 2008.

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möchte er nachzeichnen, wie es zur Ausbildung von Disziplinen wie Medizin oder Biologie als ausdifferenzierte Einheiten kam, wo doch so unterschiedliche Begriffe oder Konzepte in verschiedenen historischen Perioden im Rahmen dieser Einheiten verwendet wurden. Der Autor macht dafür diskursive Formationsregeln verantwortlich, die sowohl die Gegenstände, als auch die Äußerungsmodalitäten, Strategien etc. formen. Zentral ist dabei, dass er in der Bestimmung von Diskursen weggeht von einer Definition über ihre Gegenstände. Es ist allein … die Herstellung von Beziehungen, die die diskursive Praxis selbst charakterisiert; und man entdeckt auf diese Weise keine Konfiguration oder Form, sondern eine Gesamtheit von Regeln, die einer Praxis immanent sind und sie in ihrer Spezifität definieren.30

Neben einer konstruktivistischen Grundsicht31 ist die Foucaultsche Perspektive auch eine deutlich anti-essentialistische bzw. anti-phänomenologische. Er möchte … diese Gegenstände ohne Beziehung zum Grund der Dinge definieren, indem man sie aber auf die Gesamtheit der Regeln bezieht, die es erlauben, sie als Gegenstände eines Diskurses zu bilden, und somit ihre Bedingungen des historischen Erscheinens konstituieren; ….32

Die regelhaften, formativen Systeme, die die Diskurse kontrollieren, sind dabei im Diskurs selbst zu finden und lassen sich wie folgt beschreiben: Unter Formationssystem muss man also ein komplexes Bündel von Beziehungen verstehen, die als Regeln funktionieren: Es schreibt das vor, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden musste, damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, damit sie diese oder jene Äußerung zum Zuge bringt, damit sie diesen oder jenen Begriff benutzt, damit sie diese oder jene Strategie organisiert.33

Der Autor möchte nicht beim Gesprochenen stehen bleiben, sondern tiefer liegende Schichten in den Blick nehmen, welche die Regeln der Diskurse bilden. Es geht um die »Regeln der Aussagenproduktion«, wobei nicht die »formale Rekonstruktion von Hervorbringungsregeln« im Mittelpunkt steht, sondern »die

30 Foucault 2003, 70f. [Herv.i.O.]. 31 Vgl. Diaz-Bone 2010, 71. 32 Ebd., 72. 33 Foucault 2003, 108.

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Analyse der Existenzbedingungen von Aussagen, der Möglichkeiten ihres Auftretens in einem Zusammenhang von Aussagen und einem Bereich.«34 Damit geht Foucaults Diskursverständnis über eine rein linguistische Ebene hinaus. Es ist die diskursive Praxis, die (mal mehr, mal weniger) im Mittelpunkt steht. Im Laufe der Fortschreibung seines Werkes rückt Foucault in Bezug auf eine diskursive Praxis immer stärker deren Verknüpfungen mit Machtprozessen35 in den Mittelpunkt. Ausschließungsmechanismen, Disziplinierungs- und Regierungstechniken sind dabei die Themen, die er anhand verschiedener Materialien expliziert. Der Autor geht der Frage nach, wie »Wahrheiten« diskursiv produziert werden und es durch in Praktiken übersetzte Machtverhältnisse zur Dominanz bestimmter Positionen über andere kommt. Es stimmt nicht, dass es in einer Gesellschaft Leute gibt, die die Macht haben, und unterhalb davon Leute, die überhaupt keine Macht haben. Die Macht ist in der Form von komplexen und beweglichen strategischen Relationen zu analysieren, in denen niemand die36

selbe Position einnimmt und immer dieselbe behält.

Die Produktionen innerhalb eines Diskurses werden bei Foucault nicht auf die Ebene der Akteure verlegt, eine individuelle Praxis gibt es ebenso wenig wie intentionale Sprecher.37 Rainer Keller bezeichnet den Foucaultschen Ansatz daher auch als »Diskurskonstruktivismus ohne Konstrukteure«.38 Die diskursiven Formationen und ihre Regeln entstehen nicht als Teil eines stetigen Austauschprozesses zwischen Subjekt und Gesellschaft, sondern sie existieren unabhängig davon. Der so begriffene Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts: Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen können. … Vorhin haben wir gezeigt, daß es sich weder um die

34 Diaz-Bone 2010, 79. 35 Hierzu Foucault: »Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt … und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen ….« Foucault 1977, 108. 36 Foucault 2005, 805f. [Herv.i.O.]. 37 Diaz-Bone 2010, 77. 38 Keller 2008, 98.

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›Wörter‹ noch um die ›Sachen‹ handelte, wenn man das System der einer diskursiven Formation eigenen Gegenstände definieren wollte. Ebenso muß man jetzt erkennen, dass es weder durch den Rückgriff auf ein transzendentales Subjekt noch durch den Rückgriff auf eine psychologische Subjektivität zu leisten ist, wenn es um die Definition des Systems seiner Äußerungen geht.39

Bedeutung wird bei Foucault nicht durch das individuelle Bewusstsein oder das einzelne Subjekt geschaffen, sondern einzig in Diskursen hergestellt.40 Den forscherischen Ausgangspunkt bei individuellen Bewusstseinslagen von Subjekten zu nehmen – wie beispielsweise bei der Existenzialphänomenologie oder der Phänomenologie nach Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty – wird von Foucault daher strikt abgelehnt. Kurz, ich versuche den wissenschaftlichen Diskurs nicht vom Standpunkt der sprechenden Individuen aus zu erforschen, noch, was sie sagen, vom Standpunkt formaler Strukturen aus, sondern vom Standpunkt der Regeln, die nur durch die Existenz solchen Diskurses ins Spiel kommen …. Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der (man könnte ihn, ganz allgemein gesagt, den phänomenlogischen Weg nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewusstsein führt.41

Für Foucault sind Subjekte keine autonom handelnden und entscheidenden universellen Entitäten, sondern durch und durch von Diskursen geregelt. Hier unterscheidet der Autor verschiedene Positionen, die dem Subjekt angeboten werden und die es übernehmen kann. Neben Sprecherpositionen, mit denen innerhalb von Diskursen reguliert wird, wer Sprachgewalt erhält, führt er Subjektpositionen an, die so etwas wie vorgeprägte Identitäts- und Handlungsmuster darstellen, die von den Akteuren übernommen werden können. Außerdem spricht Foucault von Technologien des Selbst, die er zunächst als Praktiken der Fremd-Unterwerfung des Subjekts auffasst, in seinem späteren Werk jedoch darunter auch den Modus der Selbstregulierung fasst.42 Zwar rücken mit der Untersuchung von Gouvernementalität und Herrschaft bei Foucault dann auch zunehmend soziale Akteure in den Vordergrund, sie werden bei ihm jedoch als diskursiv determi-

39 Foucault 2003a, 82. 40 Vgl. Keller 2011, 210. 41 Foucault 2003b, 15. 42 Vgl. Keller 2011, 216.

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niert gefasst und besitzen keine eigene Handlungsträgerschaft. Die methodische Herangehensweise an die Untersuchung von diskursiven Formationen kann für Foucault daher auch nicht über interpretative Ansätze, die in seinen Augen meist ein souveränes und intentional handelndes Subjekt voraussetzen, erfolgen. Seine »Archäologie« versteht sich eher als historisch-kritischer Zugang, in dem interpretative subjektive Perspektiven keine Rolle spielen. Knapp zusammengefasst kann festgehalten werden, dass Diskurse nach Foucault als Aushandlungsorte von Wissen und Macht gedacht werden können. Bei der Untersuchung der diskursiven Formationen stehen dabei nicht nur sprachliche Aussagen, sondern auch deren Umsetzung in Praktiken im Mittelpunkt: An die Stelle der reinen Konzentration auf Aussagesysteme tritt die Untersuchung der Praktiken, mittels derer Diskurse Subjekte formen, aber auch die Betrachtung von Praktiken als einer relativ eigensinnigen Wirklichkeitsebene mit eigenen Dynamiken; es geht also um das Wechselspiel von Sichtbarem (Materialitäten) und Diskursen.43

Es sind insbesondere die Ideen zur Wissens- und Machtformation und die Frage nach deren Existenzbedingungen, die Foucaults Ansatz für so viele gegenwärtige Forschungsarbeiten interessant machen. So kann auch der Bereich der »Religion« als Diskurs betrachtet werden, in dem diskursive Formationsregeln bestimmen, welche Aussagen wie und von wem getroffen werden (dürfen), wie die Abgrenzungen zu anderen Diskursen zu gestalten sind und wie diskursive Wahrheiten produziert werden. Ein klarer Vorteil des Foucaultschen Ansatzes ist es, dass er eine Meta-Perspektive aufzeigt, die einerseits weg führt von substantiellinhaltlich orientierter Forschung, die andererseits aber auch die Forschung selbst als einen diskurs-prägenden Teil reflektieren kann. Jedoch hat Foucaults Ansatz auch in vielen Punkten Kritik44 hervorgerufen, die insbesondere auch bei der Untersuchung von Religionen eine wichtige Rolle spielt. Zum einen wird angemerkt, dass der Autor zwar ein breites und spannendes theoretisches Gerüst bietet, die methodische Umsetzung seines Ansatzes jedoch in vielerlei Hinsicht noch unzureichend ist.45 Zum anderen wird immer wieder Foucaults mangelndes Interesse an den Fragen nach der Verbindung zwischen Diskurs, Subjekt und so-

43 Keller 2008, 138. 44 Ein Überblick dazu bietet Keller 2008. 45 Der methodischen Umsetzung der Diskursanalyse widmet sich der zweite Band des »Handbuchs sozialwissenschaftliche Diskursanalyse« herausgegeben von Keller, Hirseland, Schneider & Viehöver 2010.

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zialem Raum kritisiert. Foucaults Diskurskonzept benötige eine Anbindung an sozial-agierende Akteure, »die sich interpretierend auf soziale Konventionen und Institutionalisierungen diskursiver Praktiken beziehen«46 und damit die Regelhaftigkeiten diskursiver Aushandlungen von Wissens- und Machtstrukturen an sozio-kulturelle Felder rückbinden. 2.2.2 Neuere Diskursansätze Seit der Popularisierung des Diskursbegriffs werden in den verschiedenen kultur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen im Zuge von Anwendungen und weiterführenden Reflexionen ständig neue Diskursansätze entwickelt. Hierbei lassen sich vor allem zwei Anliegen beobachten: Zum einen wird versucht, einige in Foucaults Entwürfen als lückenhaft, unausgereift oder zu unreflektiert wahrgenommene Themen verstärkt zu bearbeiten und so der Diskurstheorie neue Impulse zu geben. Zum anderen wird nach geeigneten methodischen Umsetzungen des Diskursmodells für die Anwendung in verschiedenen Forschungsfeldern gefragt. Bei einigen Autoren überschneiden sich beide Anliegen. Hierzu kann auch Siegfried Jäger gezählt werden, der mit seinem Entwurf einer »kritischen Diskursanalyse« in Orientierung an den Arbeiten der Bochumer Diskursarbeitsgruppe um Jürgen Link darauf hinweist, dass es vor allem Subjekte sind, die »Diskurse mit der Wirklichkeit in Verbindung«47 bringen. Neben dem Entwurf eines eigenen »Diskursarbeitsprogramms« ist Jäger auch daran gelegen, Vorschläge für methodisch reflektierte Umsetzungen von Diskursanalysen auszuarbeiten.48 Einen umfassenden Überblick49 über aktuelle Positionen und Ansätze zu geben, ist an dieser Stelle nicht zu leisten, zu groß ist inzwischen die Vielfalt in den unterschiedlichen Fachdisziplinen. Da im vorliegenden Theoriekapitel die Verknüpfung subjekt- und diskursorientierter Perspektiven angestrebt wird, soll daher stellvertretend ein inzwischen einflussreicher Ansatz vorgestellt werden. Dieser ist dezidiert darum bemüht, das bei Foucault oftmals als unterbeleuchtet wahrgenommene Verhältnis von Subjekt- und Objektebene näher zu reflektieren, gleichzeitig aber verstärkt auf Herrschaft- und Machtansprüche einzugehen, die durch diskursive Aushandlungen wirksam werden. Dieser Ansatz stammt von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und verspricht gerade für eine spätere Verknüpfung zu den Bereichen Narration und Biographie ein großes Anschlusspo-

46 Keller 2008, 146. 47 Jäger 2006, 97. 48 Vgl. Jäger 1999. 49 Siehe dazu z. B. Allolio-Näcke 2010.

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tential. Im religionswissenschaftlichen Bereich wurde er bereits von Michael Bergunder in der Diskussion um Esoterik als Forschungsfeld aufgegriffen (vgl. Exkurs Kap. 1.2). Die beiden Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und Chantal Mouffe arbeiteten mit ihrem postmarxistischen Ansatz eine Diskurstheorie aus, die im Anschluss an Foucault, aber auch Louis Althusser und Antonio Gramsci steht, insbesondere aber die Subjekt- und Identitätstheorie von Jacques Lacan aufnimmt.50 Keller beschreibt ihren Ansatz wie folgt: Im Kern ihrer Überlegungen steht … die Frage nach der Einbindung von Subjekten in Diskurse einerseits, nach der Subjektkonstitution durch Diskurse andererseits. Dabei entwickeln sie die Diskurstheorie zu einer allgemeinen Sozialtheorie der Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten.51

Ihr theoretischer Entwurf lässt sich als unterstützende Differenzialdiagnostik für die Erfassung kultureller Hegemonien beschreiben, die in einem diskursiven Rahmen gestellt wird. Laclau und Mouffe, deren Arbeiten stark politisch orientiert sind, schließen mit dem von ihnen verwendeten Diskursbegriff an Foucault an, fassen ihn jedoch weiter. Sie heben die Differenzierung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken auf, da auch Materielles oder natürliche Ereignisse immer nur in diskursiven Rahmen Deutung erfahren könnten. Unsere Analyse verwirft die Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen und behauptet, dass zum einen sich jedes Objekt insofern als Objekt eines Diskurses konstituiert, als kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben ist und zum anderen jede Unterscheidung von gewöhnlich als linguistisch und behavioristisch bezeichneten Aspekten gesellschaftlicher Praxis entweder eine falsche Unterscheidung ist oder als eine Differenzierung innerhalb der sich in verschiedene diskursive Totalitäten strukturierenden gesellschaftlichen Sinnproduktion verortet werden sollte.52

Vor dem Hintergrund des sprachphilosophischen Ansatzes von Jacques Derrida geht es den Autoren nun darum zu fragen, wie in diesen diskursiven Geflechten Bedeutung produziert werden kann und wie dadurch letztlich Hegemonien hergestellt werden. Derrida folgend kann in ihren Augen Bedeutung niemals letzt-

50 Vgl. Keller 2011, 160. 51 Ebd., 161. 52 Laclau & Mouffe 2000, 143.

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gültig festgeschrieben werden. Signifikate können immer nur im ständigen Zusammenspiel aufeinander verweisender Signifikanten gedeutet werden. Damit entsteht Bedeutung in fortwährenden Differenzierungsprozessen, die als nicht abschließbar gedacht werden. Diskurse sind für Laclau und Mouffe daher »kontingente und temporäre Fixierung von Bedeutung«53: Jedweder Diskurs konstituiert sich als Versuch, das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Fließen der Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren. Wir werden die 54

privilegierten diskursiven Punkte dieser partiellen Fixierung Knotenpunkte nennen.

Diese Situation lässt sich mit Hilfe der folgenden Grafik von Georg Glasze55 veranschaulichen: Abbildung 1: Verhältnis von Signifikanten

53 Glasze 2007, 1. 54 Laclau & Mouffe 2000, 150 [Herv.i.O.]. 55 Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Grafik aus: Glasze 2007, 23.

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In diesen Knotenpunkten (Signifikanten) kommen die stetigen Prozesse der Differenzierung kurzzeitig zum Stillstand. So kann eine Gleichheit der sich auf den Knotenpunkt beziehenden Elemente hergestellt werden. Hierzu muss es sich bei dem Knotenpunkt allerdings um einen von jeglicher Bedeutung entleerten Punkt handeln (leerer Signifikant). In Momenten temporärer Fixierung kann so unter verschiedenen Signifikanten Äquivalenz hergestellt werden (durch den Bezug auf den leeren Signifikant) wodurch gleichzeitig eine antagonistische Grenze nach außen geschaffen wird. Die Prozesse der Bedeutungszuschreibung sind nun bei Laclau und Mouffe zentral mit der Aushandlung von Identitäten und der Ausbildung kultureller Hegemonien verbunden. Das Mittel zur Herstellung kultureller Hegemonie sehen die Autoren in zwei unterschiedlichen, jedoch miteinander verbundenen »Logiken«56, die wesentlich die Konstitution von Identitäten regulieren. Es handelt sich um die Logik der Differenz und die Logik der Äquivalenz. Jeder Diskurs ist grundsätzlich bestimmt als eine »Vielzahl miteinander verwobener Unterscheidungen«57, aus denen die Logik der Differenz resultiert. Zur Ausbildung und steigenden Dominanz der Logik der Äquivalenz kommt es hingegen dann, wenn die »Vielzahl der Unterscheidungen durch eine übergreifende, notwendig simplifizierende Identifizierung überformt«58 wird: Diese Identifizierung kann nur durch die Konstruktion eines Außens, eines radikal Anderen gelingen, im Verhältnis zu dem sich die Vielzahl einander überschneidenden Differenzen zu einer übergreifenden Identität vereinheitlichen lässt, in der sie alle einander ›äquivalent‹ erscheinen.59

Diese Formierungsmechanismen finden sich bei der Formung von Identität oder auch sozialen Gruppen, womit für beide jedoch ein Bezug auf einen essentiell vorliegend gedachten Wesenskern ausgeschlossen wird. Die Formierungsprozesse von z. B. Gruppen beziehen sich auf einen Knotenpunkt, »der die vollkommene, aber letztlich immer unmögliche Identität der Gruppe präsentiert.«60 Den Autoren ist es daran anschließend jedoch wichtig zu zeigen, dass es im Laufe dieser diskursiven Aushandlungsprozesse zur Ausbildung von Dominanzen

56 Vgl. Laclau & Mouffe 2000, 167-170. 57 Reckwitz 2006b, 344. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Glasze 2007, 24.

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kommt. Es bilden sich kulturelle Hegemonien. Dazu führt Andreas Reckwitz aus: Eine kulturelle Hegemonie zeichnet sich ab, wenn es einem Diskurs gelingt, sich zumindest vorübergehend als universal und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren. Kulturelle Hegemonien verarbeiten notwendigerweise ›partikulare‹, das heißt historischregional spezifische Differenzsysteme und Subjektpositionen, aber sie präsentieren dies über spezifische rhetorische Strategien als einen universalen Horizont, sie betreiben eine erfolgreiche Universalisierungsstrategie.61

Insgesamt zeigt sich der Ansatz von Laclau und Mouffe zwar theoretisch voraussetzungsreich und sehr komplex, er bietet jedoch mit seinem Fokus auf die Ausbildung von Identitäten in hegemonialen diskursiven Gefügen auch für die religionswissenschaftliche Forschung zahlreiche Anknüpfungspunkte. Insbesondere da Identitätskonzepte hier nicht als essentialistisch und starr gedacht werden, erscheint der Ansatz auf theoretischer und methodischer Ebene offen für eine Anbindung an subjektorientierte Forschungszugänge.62 2.2.3 Gegenwärtige Religiosität im Diskurs Orientiert man sich an den Foucaultschen Ausführungen zum Thema Diskurs und zieht auch neuere Ansätze wie den eben vorgestellten hinzu, ergeben sich interessante Perspektiven für die Beschreibung und Analyse gegenwärtiger Religiosität. Diese lässt sich als Feld begreifen, das diskursiv ausgehandelt wird, dessen Grenzen durch die Formationsregeln des Diskurses immer wieder neu bestimmt werden. Folgt man in der Explikation dieser Regeln dem Ansatz von Laclau und Mouffe formiert sich gegenwärtige Religiosität über die Logiken der Differenz, z. B. zu kirchen-christlichen Diskursen, oder aber über Logiken der Äquivalenz, in dem z. B. der Bezug auf einen leeren Signifikanten »Esoterik« temporär Differenzen unterbindet und so eine Abgrenzung nach Außen bildet. Über Ausschließungsmechanismen, Disziplinierungs- und Regierungstechniken werden auch religiöse Diskurse stetig aktualisiert. Gerade für die Untersuchung gegenwärtiger Religiosität bildet das Diskursmodell einen geeigneten Ausgangspunkt, der es erlaubt, jenseits religionsgeschichtlich gezogener Grenzen zu operieren. Die Grenzen eines Diskurses müssen nicht notwendigerweise mit den

61 Reckwitz 2006b, 343. 62 Vgl. dazu ausführlich Glasze 2007. Eine Verbindung zur Narrationsanalyse wird auch in Kapitel 2.4 aufgegriffen.

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Grenzen übereinstimmen, die z. B. aus dogmatisch-theologischer Perspektive zwischen verschiedenen religiösen Traditionen gezogen werden. Es können verschiedene religiöse und rituelle Elemente aus unterschiedlichen religiösen Traditionen verhandelt werden, und das auch, weil im Diskurs gegenwärtiger Religiosität für Machtstrukturen und Formationsregeln andere Autoritäts- und Legitimierungsbezüge gelten als im kirchlichen Diskurs. Sowohl Foucault, als auch z. B. Laclau und Mouffe richten ihre Hauptperspektive bzw. ihren Fokus auf übergeordnete gesellschaftliche, kulturelle oder politische Zusammenhänge. Für eine Betrachtung gegenwärtiger Religiosität steht in Bezug auf Diskursansätze zunächst die Frage im Raum, wie bestimmte diskursive Praktiken zustande kommen und sich innerhalb des Diskurses durchsetzen können. Dabei interessiert primär nicht, was der Einzelne tut oder sagt. Es geht vielmehr darum, wie auf kollektiver Ebene beispielsweise Engel »in Mode« kommen, Reiki-Anbieter verstärkt den Markt alternativer Heilungsangebote erobern oder fernöstliche Meditationsübungen christlich interpretiert und als neues Ritualangebot genutzt werden. Zumindest bei Foucault kommen soziale Akteure darin, falls überhaupt, als diskursiv determinierte Teile vor, die lediglich bestimmte Positionen im Diskurs besetzen können, denen ein aktiv entscheidungsbestimmender Einfluss jedoch abgesprochen wird. So entsteht der Eindruck eines subjekt-unabhängigen diskursiven Geschehens, in dem der Diskurs selbst bzw. dessen Formationsregeln die Handlungsmacht ergreift. Mit ihrer Erweiterung des Foucaultschen Diskursansatzes nehmen Laclau und Mouffe diese Überdetermination des Diskurses zwar etwas zurück und stärken die Rolle des Subjekts, sie richten ihren Blick aber auch deutlich auf übergeordnete gesellschaftliche Zusammenhänge. Für die Untersuchung von gegenwärtiger Religiosität sind jedoch gerade auch subjektive Perspektiven einzelner Akteure von Bedeutung, will man einen genaueren Einblick in die Konstruktionsmechanismen dieser Religiosität werfen. Diskursive Ereignisse bzw. ihre Formationsregeln brauchen konkrete Akteure, die sie artikulieren bzw. umsetzen und damit gleichzeitig die Dynamik eines Diskurses am Laufen halten. Bei der Untersuchung von religiösen Akteuren wie Luise, die einleitend vorgestellt wurde, kann beispielsweise die Umsetzung bestimmter als diskursiv vorgegebener Sprecher- oder Subjektpositionen im Sinne Foucaults deutlich werden. Ein Diskursmodell erscheint notwendig, da es die einzelnen Aussagen religiöser Akteure in einen übergeordneten Zusammenhang einbindet. Als theoretischer Ansatz ermöglicht es insbesondere dynamische Prozesse, die Frage von Machtverhältnissen bzw. die Ausbildung von Dominanzen und verschiedene Abgrenzungsgeschehen in den Blick zu nehmen, die bei der Beschreibung gegenwärtiger Religiosität sonst nicht ohne weiteres zu leisten wäre.

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Für die Beschreibung und Analyse gegenwärtiger Religiosität ist jedoch ein diskursiver Zugang, der die Perspektive der Akteure ausblendet, nicht ausreichend. Im Anschluss soll daher eine Forschungsrichtung vorgestellt werden, die – überspitzt formuliert – genau am anderen Ende der Diskursentwürfe ansetzt. In der hermeneutisch-subjektorientierten Forschung ist der Ausgangspunkt nicht ein übergeordneter Diskurs von Wissens- und Wahrheitsformationen, sondern das einzelne Subjekt, eingebettet in seinen jeweiligen sozialen Raum.

2.3 H ERMENEUTISCH - SUBJEKTORIENTIERTE F ORSCHUNG Bereits mehrfach wurde als Betitelung für die zweite hier vorgestellte Forschungsperspektive der Ausdruck hermeneutisch-subjektorientiert verwendet. Einleitend soll daher kurz erläutert werden, warum diese etwas umständliche Formulierung ausgewählt wurde. Fasst man den bereits erwähnten interpretative turn als zeitgeschichtlichen Abschnitt, in dem ein fast schon fundamentales Umdenken in vielen Disziplinen kultur- und geisteswissenschaftlicher Forschung stattgefunden hat, so überrascht es nicht, dass sich im Fortlauf die vielfältigsten Strömungen entwickelten. Zentrale Punkte in den Forschungen dieser Strömungen stellten eine ganze Palette von Themen und theoretischen Entwürfen dar, die je nach Ansatz, mehr oder weniger ausgeprägt bearbeitet wurden. Als hermeneutisch können die meisten dieser Strömungen bezeichnet werden, da sie – zwar auf unterschiedlicher Material- und Methodengrundlage – an einem Verstehen auf Basis interpretativer Vorgänge interessiert sind. Dabei kann sich der Fokus allerdings auf ganz verschiedene Gegenstände beziehen: Kommunikation, Gesellschaft, Kultur, Medien oder Akteure. Die interpretative Nachzeichnung von Subjektaussagen stellt dabei nur einen Teil eines insgesamt weiten Forschungszugangs dar. In methodischer Umsetzung dieses Interesses findet man häufig die Anwendung von biographischen Analysen, narrativen Rekonstruktionen bzw. allgemein die Anwendung von qualitativen Methoden. Diese sind auf eine Erfassung und das Verstehen subjektiver Perspektiven gerichtet. Durch verschiedene Interpretationsverfahren sind sie an der wissenschaftlichen Auslegung dieser Perspektiven interessiert. Sie können daher als hermeneutisch bezeichnet werden. In den konkreten Ausformulierungen der methodologischen und methodischen Detailansätze finden sich jedoch verschiedene Bezeichnungen, die mit unterschiedlichen konzeptionellen Ansätzen korrespondieren: hermeneutische Wissenssoziologie, objektive Hermeneutik, interpretative Sozialforschung, etc. Da im Folgenden ein genereller Einblick in das Verständnis dieser Forschungsperspektive über Wis-

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sens- und Verstehensprozesse insgesamt thematisiert und nicht ein spezifischer Ansatz vorgestellt wird, wähle ich die Bezeichnung hermeneutisch-subjektorientiert. 2.3.1 Die soziale Konstruktion der Lebenswelt Methodologische Reflexionen zu einem hermeneutisch-subjektorientierten Forschungszugang setzen häufig bei dem Soziologen und Philosophen Alfred Schütz (1899í1959) ein. Schütz übernahm von einem seiner Lehrer, Edmund Husserl, das Konzept der »Lebenswelt«, welches er für seinen Ansatz der verstehenden Soziologie fruchtbar zu machen suchte. Nur in dieser Lebenswelt der Menschen könne sich eine »gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren«, sie sei »die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen.«63 In seinen Werken befasste sich Schütz nicht nur mit dem Aufbau und den Strukturen dieser Lebenswelt, sondern auch mit den Verstehensprozessen, die den Menschen aber auch den wissenschaftlichen Forschern einen Zugang zu dieser Welt geben.64 Ganz im Sinn späterer qualitativer Methodologien stellte Schütz die Bedeutung der Akteursperspektive für den Prozess der Zuschreibung und Aushandlung von Sinn (bei ihm »sozialer Sinn«) heraus: Nur das Handeln des Einzelnen und dessen gemeinter Sinngehalt ist verstehbar und nur in der Deutung des individuellen Handelns gewinnt die Sozialwissenschaft Zugang zur Deutung jener sozialen Beziehungen und Gebilde, die sich in dem Handeln der einzelnen Akteure der sozialen Welt konstituieren.65

Thomas Luckmann und sein Kollege Peter Berger, beide Schüler von Alfred Schütz, führten die Ansätze ihres Lehrers in ihren Werken fort und verhalfen der phänomenologisch orientierten Soziologie und der Wissenssoziologie insbesondere durch ihre Monographie »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« (org. 1966) zum Durchbruch in den Sozial-, später auch in den Kulturwissenschaften. Ihr Hauptinteresse gilt dabei zunächst dem konstruktiven Charakter der »Alltagswelt«, die sie als »Wirklichkeit par excellence«66 bezeichnen. Diese

63 Schütz & Luckmann 2003, 29. 64 An dieser Stelle kann nicht auf die gesamte Theoriediskussion um Schütz und seine verstehende Soziologie eingegangen werden. Für eine Zusammenfassung siehe Kurt 2004, 213-234 und Krüger 2012. 65 Schütz zitiert nach Kurt 2004, 215. 66 Berger & Luckmann 2007, 29.

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Alltagswelt, die vorwiegend durch Interaktionen auf verschiedenen Ebenen geprägt ist und die strukturiert wird durch bestimmte Ordnungssysteme und Handlungsmuster, sehen die Autoren als Produkt des Menschen an: Sowohl ihre [die Gesellschaftsordnung, N.M.] Genese (Gesellschaftsordnung ist das Resultat vergangenen menschlichen Tuns) als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur und solange menschliche Aktivität nicht davon abläßt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen.67

Berger und Luckmann begreifen die Wirklichkeit daher als »subjektiv und objektiv«68 zugleich. In ihren Konstruktionsleistungen greifen die Akteure auf einen Wissensvorrat zurück, der »dem Individuum von den verschiedenen Vermittlungsinstanzen (z.B. Familie, Peergroups, Bildungseinrichtungen, Massenmedien) als objektiv gegeben vorgestellt und von den Subjekten in unterschiedlichsten Prozessen und Situationen angeeignet«69 wird. Dieser Wissensvorrat bietet verschiedene Ordnungs-, Typisierungs- oder Handlungsmuster an, die als vorstrukturierende Parameter die Aushandlungen auf der Ebene der Subjekte bestimmen. In den Aneignungsprozessen dieser objektiven Wirklichkeit wird diese jedoch stets aktualisiert, transformiert und modifiziert. Die Rolle des Subjekts wird hierbei als eine souverän handelnde bestimmt. Es bildet sich somit ein andauerndes, dialektisches Wechselspiel zwischen beiden Ebenen, das nur erforscht werden kann, wenn der Blick auch auf die Akteure selbst gerichtet wird. Die Autoren plädieren daher im wissenschaftlichen Arbeiten (bei ihnen speziell das soziologische Arbeiten) für einen stärkeren Einbezug des »menschlichen Faktor[s]«.70 Sie betonen: Für eine solche Integration wäre die systematische Berücksichtigung der dialektischen Beziehung zwischen struktureller Wirklichkeit und menschlicher Konstruktion von Wirklichkeit in der Geschichte unerläßlich.71

Insgesamt bringen die Autoren »beide Ebenen gesellschaftlicher Wissensverhältnisse – kollektive und individuelle – in ihren wechselseitigen Konstituie-

67 Berger & Luckmann 2007, 55. 68 Ebd., 139. 69 Keller 2011, 42. 70 Berger & Luckmann 2007, 198. 71 Ebd.

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rungsprozessen und als permanenter Herstellungsprozess«72 zusammen. Mit dieser Verkoppelung beider Ebenen und dem damit verbundenen dezidierten Interesse an subjektiven Perspektiven wurde der Ansatz von Berger und Luckmann für viele weitere hermeneutisch orientierte Forschungsprogramme zu einem wichtigen Ausgangspunkt. Doch lässt sich mit Keller bereits mit kritischem Blick auf die Subjektkonzeption der beiden Autoren bemerken, dass sie von »weitgehend stabilen Subjektstrukturen und Identitätsmustern«73 ausgehen. Auch werden Subjekte als handlungs- und entscheidungsbefugt und -bewusst konzipiert, eine Annahme, der viele strukturalistische, aber auch poststrukturalistische Ansätze – so auch der Foucaults – widersprechen würden. Eine weitere Fokussierung auf subjektive Perspektiven im Anschluss an die Grundlagen von Schütz, Berger und Luckmann wurde dann in verschiedenen Ansätzen ausgearbeitet, die in der Literatur oft unter dem Label »hermeneutische Wissenssoziologie« zusammengefasst werden. Verschiedenste Autoren, methodologische und methodische Ausarbeitungen werden dieser Richtung zugeschrieben. Einen gemeinsamen Nenner für alle festzuhalten gelingt Hitzler, Reichertz und Schröer dabei nur als vorläufiges Ergebnis: Die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihr Schicksal ergibt sich – so jedenfalls der heuristische handlungstheoretische Nenner einer hermeneutischen Wissenssoziologie – nicht allein aus den eingefahrenen und verbürgten Vorauslegungen, sondern auch aus den alltäglichen Auslegungen dieser Vorauslegungen durch die agierenden und reagierenden Akteure und deren daraus resultierenden Handlungsentwürfen und Handlungen. … So betrachtet, rückt der Handlungsbegriff ins Zentrum des sozialwissenschaftlichen Interesses – ein Handlungsbegriff, der sich gleich zweifach auf den Akteur bezieht: Einmal versteht er ihn als selbstreflexives Subjekt, das in der alltäglichen Aneignung soziale Wissensbestände ausdeutet und sie prüft, sie differenziert oder zusammenfasst. Zum anderen versteht er ihn als Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen.74

Dieses Grundverständnis teilen die Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann, narratologische Ansätze in der Tradition von Fritz Schütze oder die qualitative Biographieforschung von Gabriele Rosenthal.75 Verallgemeinert kann folgendes Modell der Beschreibung von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen als Basis von hermeneutisch-subjektorientierten Ansätzen beschrieben werden.

72 Keller 2011, 48. 73 Ebd. 74 Hitzler, Reichertz & Schröer 1999, 13. 75 Vgl. Maasen 2009, 37.

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Es geht davon aus, dass Sinn- und Deutungszusammenhänge durch Interpretation und Kommunikation hergestellt werden, die beide auf den unterschiedlichsten Ebenen stattfinden. Die doppelte Rekursivität, welche diesen Zusammenhängen zugrunde liegt, lässt die Dynamik und Komplexität durchscheinen, denen diese Bedeutungskonstruktionen unterworfen sind. Sinn- und Deutungszusammenhänge werden von Akteuren produziert bzw. rekonstruiert. Dies geschieht in selbstreflektiven Prozessen, die situativ gebunden sind und stetig fortgeführt werden. Oftmals liegt diesen Konstruktionsprozessen eine narrative Aushandlung oder Kommunikation zu Grunde. Akteure produzieren Sinn- und Deutungszusammenhänge in Kommunikationsvorgängen und hier insbesondere auch in Erzählungen. Sie interpretieren diese und reflektieren sie teilweise bereits beim Erzählvorgang selbst. In Abgrenzung, Positionierung oder einfach nur in Bezugnahme auf das hörende Gegenüber werden Sinn- und Deutungszusammenhänge hergestellt und kommuniziert. Kommunikation kann dabei sowohl auf persönlicher Gesprächsebene als auch auf weiteren Kommunikationsebenen wie z. B. in Unterhaltungs- und Informationsmedien stattfinden. Die im kommunikativen Prozess entwickelten und ausgehandelten Konstruktionen werden von den Akteuren interpretiert. Die so entstehenden Bedeutungszuschreibungen und Interpretationsmuster bilden dabei nicht nur eine wesentliche Grundlage kommunikativer Prozesse selbst, sondern wirken auch als Produktionskontext auf die Rekonstruktionsleistungen zurück. Sie dienen als Rezeptionsgrundlage für produktive und kommunikative Aushandlungen.76 Dabei funktioniert die Herstellung und Aushandlung von Sinn- und Deutungszusammenhängen selbstverständlich nie losgelöst von ihren jeweiligen Kontexten. Soziale und kulturelle Faktoren beeinflussen maßgeblich die Konstruktions- und Verstehensprozesse, in denen besagte Zusammenhänge verhandelt werden. Die Einbettung der Akteure in gesellschaftliche, politische und kulturelle Felder wirkt jedoch auf deren Aufbau und Regelhaftigkeiten zurück. Die Wechselwirkung zwischen Akteuren und Feldern kann somit als Bedingung aber auch Ergebnis der Konstruktionen von Sinn- und Deutungszusammenhängen betrachtet werden. In hermeneutisch orientierten Ansätzen wird der Einfluss gesellschaftlicher Strukturierungen allerdings in unterschiedlicher Stärke bewertet. In den theoretischen Diskussionen, die sich mit der sozialen Aushandlung von Sinn durch Subjekte befassen, schließen sich bereits seit einiger Zeit parallel Diskussionen um die »Natur« dieser Subjekte an. Insbesondere vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theoriedebatten entwickelten sich dabei Ansätze,

76 Zur Konstruktion von Sinn- und Deutungszusammenhängen siehe auch Lueger 2000, 16-37.

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die großen Einfluss auf anschließende Diskussionen genommen haben. Neben dem Subjekt stehen hier Begriffe wie »Identität« und »Individualität« im Vordergrund. Einen kurzen Überblick dazu gibt das folgende Kapitel. 2.3.2 Subjekt- und Identitätskonstruktionen Die Debatten darum, wie es zur Ausbildung von Identität kommt, haben sich in den letzten Jahrzehnten ebenso rasch verändert wie viele andere Diskussionen zu vermeintlich »eindeutigen« Dingen wie Kultur, Raum, Körper, Geschlecht etc. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich die Diskussionslinien vermehrt kreuzen und daraus eine fruchtbare Synthese zu entstehen scheint. Im Falle von Subjekt- und Identitätskonstruktionen ist es insbesondere die moderne Erzählforschung, die verstärkt ihren Weg in die Diskussionen findet. Die wissenschaftlichen Überlegungen zur Ausformung von Identität sind eng verknüpft mit der Idee des Menschen als Individuum77 oder eigenständiges Subjekt,78 das je nach Autor und Epoche über einen unveränderlichen Wesenskern verfügt, der den Einzelnen charakterisiert und gleichzeitig einzigartig macht. Erst im Zuge der gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen in der einsetzenden Moderne, verbunden mit der Entwicklung der modernen Psychologie und anderer akademischer Disziplinen, hat diese Idee ihren Weg in eine breite Öffentlichkeit gefunden. Die diskursive Schaffung der Idee eines modernen Menschen, der erhaben ist sowohl über Natur wie auch Technik und sich durch Selbstbewusstsein und Individualität auszeichnet, ist inzwischen tief in das Selbstverständnis und damit auch in die Selbstkonstruktionen der Akteure eingedrungen. Im akademischen Bereich befassten sich mehrere Disziplinen mit der Untersuchung und theoretischen Ausformulierung von Identitätskonzepten, neben der Psychologie vor allem auch die Erziehungswissenschaft, Sozialpädagogik und Soziologie. Hier wurde in den letzten Jahrzehnten schließlich die Idee eines Subjektes geschaffen, das – einmal final ausgebildet bzw. gereift – in sich konsistent ist und Bestand hat.79 Über die Entwicklung dieses »Ichs« gibt es inzwischen die unterschiedlichsten Ansätze aus verschiedenen Fachdisziplinen.80 So stellte z. B. George Herbert Mead bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert die Theorie auf, dass die Aus-

77 Den Versuch einer historischen Verortung bietet Sonntag 1999. 78 Vgl. dazu ausführlich Zima 2000, Keupp, Ahbe & Gmür 2006. 79 Vgl. Keupp, Ahbe & Gmür 2006, 294. 80 Ein umfassender Überblick kann hier nicht geleistet werden. Siehe dazu z. B. Abels 2006.

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formung der Identität wesentlich durch die Übernahme von Rollen geschehe. Um die einzigartigen Merkmale des Menschen erklären zu können, führt er außerdem die Differenzierung zwischen dem »I«, gedacht als vorsozialer und unbewusster Identitätsteil, und dem »Me« ein, das »die Identifikation des Individuums durch andere widerspiegelt.«81 Meads gesamtes Werk zeigte sich als äußerst einflussreich für spätere Autoren. So nahmen beispielsweise auch Berger und Luckmann auf dieses Konzept wesentlich Bezug. Ebenfalls mit dem Thema Identität befasst sich der weit rezipierte Psychoanalytiker Erik H. Erikson, der stärker als Mead die Entwicklung von Identität beim einzelnen Menschen in den Vordergrund rückte. Seiner Vorstellung nach bildet sich Identität in mehreren Lebensphasen, die jeweils von bestimmten Krisenerfahrungen geprägt sind. Ziel ist es bei Erikson jedoch, spätestens im Erwachsenenalter eine konstante Identität ausgebildet zu haben, mit der der Mensch nun fähig ist, im sozialen Raum erfolgreich zu agieren.82 Diese beiden Beispiele stehen stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer Identitätstheorien, denen jedoch gemeinsam ist, dass sie von Identität, wenn sie einmal ausgebildet ist, als einer mehr oder weniger unveränderlichen Konstante ausgehen, die den Menschen prägt und gleichzeitig seine Einzigartigkeit ausmacht. Dies ist der Hauptkritikpunkt, den postmoderne Identitätsdebatten aufgreifen. Insbesondere in soziologischen und sozial-psychologischen Diskussionen der letzten zehn bis zwanzig Jahre kam es unter dem Eindruck der Globalisierung und Modernisierung, aber auch einsetzender poststrukturalistischer Kritik zu einer wachsenden Problematisierung des gängigen Identitätsbilds. Die moderne Gesellschaft wird dabei als sich stetig wandelnder, risikoreicher83 Ort begriffen, der durch seine Komplexität und stetige Individualisierung den Akteuren nicht (mehr) die notwendige Sicherheit bietet. Die Individuen reagieren entsprechend der neuen Situation mit einem veränderten Verhalten in der Identitätsausbildung. Hierzu sind von den Autoren die unterschiedlichsten Modelle vorgeschlagen worden, von denen im Folgenden stellvertretend nur zwei genannt werden, die

81 Abels 2006, 265. 82 Vgl. ebd., 271-288. 83 Vgl. Beck 1993.

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sich insbesondere für hermeneutisch-subjektorientierte Theoriediskussionen, aber auch für religionswissenschaftliche Modelle als einflussreich erwiesen.84 Die Soziologen Ronald Hitzler und Anne Honer gehen vor dem Hintergrund moderner Individualisierungstheorien85 davon aus, »daß die alltägliche Lebenswelt des modernen Menschen zersplittert ist in nicht mehr zusammenhängende Teil-Orientierungen, daß Sinngebung zu einer privaten Angelegenheit jedes einzelnen geworden ist.«86 Als Konsequenz daraus muss der Mensch mit einer Fülle von Entscheidungssituationen umgehen: [D]er individualisierte Mensch [ist] permanent mit einer Vielzahl von (Selbst-) Stilisierungsformen und Sinnangeboten konfrontiert, unter denen er mehr oder minder ›frei‹ wählen kann – und muß, und daß er sich dabei – sei es freiwillig oder gezwungenermaßen – sozusagen von Situation zu Situation in sozial vorgefertigte Handlungs- und Beziehungsmuster einbindet und die dort jeweils typisch vorformulierten, thematisch begrenzten Weltdeutungsschemata übernimmt.87

Zur Beschreibung dieses modernen, individualisierten Akteurs, der stetig eine Wahl treffen muss, führen die Autoren den Begriff des Bastlers ein. Im Gegensatz zu einem Konstrukteur, der plan- und sinnvoll handle, sieht Hitzler den Existenzbastler vielmehr als einen Do-It-Yourself-Werkler, der eben immer aus dem, was ihm gerade so zur Verfügung steht, oder was sich ohne allzu hohe ›Kosten‹ besorgen läßt, ›irgendwie‹ und ›ungefähr‹ das zusammenmontiert, was ihm je gerade wünschenswert, brauchbar, nützlich oder nötig erscheint.

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84 In der Beschreibung moderner Identitäten wurde u. a. der Begriff »Flaneur« (z. B. Jean Baudrillard oder Walter Benjamin) eingeführt. Bei Zygmunt Bauman vereinen sich Teilaspekte des Flaneurs »im postmodernen Chorus« mit drei weiteren Typen postmodernen Lebensstilen, dem Vagabund, dem Tourist und dem Spieler. Vgl. Bauman 1997, 149ff. Zur soziologisch-orientierten Adaption der Metaphern Flaneur und Vagabund bzw. der Vorstellung des Nomaden-Bildes siehe Gebhardt & Hitzler 2006. 85 Sie berufen sich u. a. auf Ulrich Beck, im religiösen Bereich auf Thomas Luckmann und Hans-Georg Soeffner. 86 Hitzler & Honer 1994, 308. 87 Ebd., 309. 88 Hitzler 1999, 357.

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Hitzler findet diese postmoderne Existenzform des Bastlers auch in religiösen Bereichen wieder, insbesondere dort, wo im Sinne Luckmanns eine Abwendung der Akteure von institutionellen Strukturen hin ins Private zu beobachten ist. Zwar sind Hitzlers Ausführungen dazu stark christozentrisch geprägt und thematisieren in erster Linie die Konsequenzen, welche die religiöse Individualisierung für die kirchlichen Institutionen hat, doch scheint bei ihm bereits ein Bild religiöser Akteure durch, die ihre religiösen Identitätskonstruktionen flexibler – in Hitzlers Worten »bastelnd« – angehen. Weiter aufgebrochen und dynamisiert werden die Vorstellungen von Identität bei Heiner Keupp, der mit dem Konzept des »Patchworking« für viele Arbeiten, die sich mit dem Thema Religion befassen, als einflussreich gelten dürfte. Bei Keupp wird die Idee einer durchgängigen, unveränderlichen Identität gerade auch im Spiegel »spätmoderner« Individualisierungstendenzen radikal in Frage gestellt. Identität wird zu einem Prozess, an dem die Menschen tagtäglich arbeiten: Identität verstehen wir als das individuelle Rahmenkonzept einer Person, innerhalb dessen sie ihre Erfahrungen interpretiert und das ihr als Basis für alltägliche Identitätsarbeit dient. In dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu ver89

knüpfen.

Die Prozesse dieser täglichen Identitätsarbeit beschreibt Keupp für das Individuum der Spätmoderne mit der Metapher des »Patchworking«. Auf Basis der ihnen im sozialen und kulturellen Raum zur Verfügung stehenden Ressourcen fertigen Menschen ein »patchworkartiges Gebilde« an Identitätsmustern, in denen sich nach Keupp auch »die schöpferischen Möglichkeiten der Subjekte«90 widerspiegeln. In der religionswissenschaftlichen Forschung wurde diese Idee jüngst von Kerstin Radde-Antweiler aufgegriffen, die die Metapher für den Bereich der Ritualforschung fruchtbar zu machen sucht.91 Eine wichtige Rolle in den Herstellungsprozessen von Identität spielt der Faktor der Kohärenz. Keupp gelingt es, Kohärenz nicht wie in älteren identitätstheoretischen Ansätzen mit Unveränderlichkeit und Stabilität gleichzusetzen, sondern das Ganze zu sehen als »ein Prozeßgeschehen der ständigen Ausbalancierung und Austarierung von Erfahrungen mit der eigenen Handlungswirksam-

89 Keupp, Ahbe & Gmür 2006, 60. 90 Ebd., 294. 91 Vgl. Radde-Antweiler 2008, 35ff.

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keit in einer Alltagswelt, die längst nicht immer den eigenen Erwartungen entspricht.«92 Einen wichtigen Punkt in der alltäglichen Identitätsarbeit spielen nach Keupp auch Narrationen, in welchen die Individuen versuchen, die im Zuge der Passungsarbeit auftretenden Spannungen, Ambivalenzen und Widersprüche in ein »lebbares Beziehungsverhältnis« zu bringen.93 Wie neuere Diskussionen um Identität zeigen, werden Subjekte hier nicht wie noch beispielsweise bei Mead und Erikson als Akteure gedacht, deren Identitätsbildung sich irgendwann endgültig gefestigt und vervollkommnet hat. Im Gegenteil – die Ausbildung von Identität wird als Prozess beschrieben, der nie zu einem Abschluss kommt und der situativ immer wieder neu bearbeitet werden muss. Grundlage für diese Vorstellung von Identitätsbildung sind vor allem die Ergebnisse aus qualitativen Forschungen, in denen sich beispielsweise in der Interviewauswertung diese prozesshaften Verläufe bei den Akteuren selbst nachzeichnen lassen. Wie bereits erwähnt, liegen vielfach Verknüpfungen zwischen hermeneutisch-subjektorientierten Theoriediskussionen und Identitätsbildungsdebatten vor. Unabhängig davon, ob sich erstere nun auf ältere oder neuere Diskussionen um Identitätsbildung beziehen, so lässt sich doch als gemeinsamer Nenner festhalten: Beide gehen von Subjekten aus, die reflektierend, wählend und intentional entscheidend vorgehen. Zwar wird die gesellschaftlich und sozial geprägte Lebenswelt der Akteure als maßgeblich beeinflussend für Handlungsund Identitätsbildungsprozesse erachtet, in der bereits vorgefertigte Typisierungen, Interpretations- und Darstellungsmuster zum Gebrauch angeboten werden, die Subjekte gehen jedoch wählend damit um. Wo Foucault die Macht der Diskurse als determinierendes Prinzip auch für die Ebene einzelner Akteure sieht, steht in hermeneutisch-subjektorientierten Ansätzen – um in der Terminologie zu bleiben – die Macht des Subjekts. 2.3.3 Konstruktion von gegenwärtiger Religiosität Was bedeuten die vorangehenden Ausführungen nun für das hier thematisierte Untersuchungsfeld? Folgt man hermeneutisch-subjektorientierten Ansätzen so können auch religiöse Akteure als souverän handelnde Subjekte begriffen werden, die in Prozessen der Identitätsarbeit Entwürfe über ihr »religiöses Selbst« ausarbeiten, modifizieren und diese kommunizieren. Mit neueren Ansätzen, die vor allem die Veränderbarkeit und Dynamik bei Identitätsbildungsprozessen betonen, kann auch bei religiösen Akteuren kein durchgängiger religiöser Identi-

92 Keupp, Ahbe & Gmür 2006, 296. 93 Ebd., 207.

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tätskern ausgemacht werden, der, einmal ausgebildet, konstant bleibt. Gerade für Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität scheint diese Auffassung offensichtlich zutreffend. Denkt man an das eingangs vorgestellte, zwar fiktive, aber typische Beispiel von Luise zurück, so ist davon auszugehen, dass sie im Zuge ihrer Identitätsarbeit aus einer Vielzahl von für sie sinnstiftenden Angeboten auswählt und daraus eine für sie gültige und kohärente religiöse Identität entwickelt. Befragte man sie allerdings an verschiedenen Zeitpunkten ihrer Biographie, würde deutlich werden, dass sie die entworfenen Selbstbilder, die immer auch auf eine Positionierung im sozialen Raum verweisen und entsprechend religiöse Praktiken beeinflussen, verändert und situativ anpasst bzw. umgestaltet. Steht zu einem gedachten Befragungszeitpunkt Mitte der 1980er Jahre vielleicht das Thema Astrologie mit dem entsprechendem Verständnis von Welt und Mensch im Mittelpunkt, das auch für die eigene Identitätskonstruktion übernommen wird, so kann in den 90er Jahren die Verknüpfung von rezenten Engelvorstellungen mit Neuinterpretationen des Christentums für die Ausbildung ihrer religiösen Identität entscheidend sein. Denkbar wäre, dass Elemente aus ihrem christlichen Sozialisationshintergrund dabei eine ebenso große Rolle spielen wie neuere Elemente. Ein Forschungszugang ist es nun, in einem interpretativen Vorgehen nachzuzeichnen, wie genau derartige Konstruktionen gegenwärtiger Religiosität von den Akteuren ausgearbeitet werden. Die Rekonstruktion subjektiver Perspektiven gegenwärtiger Religiosität setzt aus hermeneutisch-subjektiver Sicht Akteure voraus, denen eine gewisse Handlungs-, Entscheidungs- und Deutungshoheit in diesen Prozessen zugesprochen wird. Zwar wird ihre Einbindung in sozio-kulturelle Zusammenhänge erkannt und reflektiert, letztlich erscheinen die Akteure hier jedoch als Personen, die selbstständig wählend und bestimmend ihre Religiosität aus der wachsenden Vielfalt an zur Verfügung stehenden religiösen und rituellen Elementen zusammenbauen. Doch bereits nach einem kurzen Blick in die gängige Praxis stellt man fest, dass wir es keineswegs mit höchst individualisierten Eigenkreationen von Religiosität zu tun haben. Sowohl was die Auswahl der verwendeten Elemente betrifft, als auch im Hinblick auf die angewandten Legitimations- und Authentifizierungsmuster bemerkt man, dass hier einige Varianten prominenter erscheinen als andere. Bestimmte Wahlkombinationen funktionieren scheinbar besser als andere bzw. einige religiöse Elemente werden eher gewählt als andere. Die Konstruktionsmechanismen subjektiver Religiosität dürften daher wesentlich auch durch verschiedenste diskursive Konstellationen beeinflusst werden. Eine Verbindung von diskursorientierten und hermeneutisch-subjektorientierten Ansätzen scheint daher eine lohnende Unternehmung.

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2.4 D ISKURS , N ARRATION UND B IOGRAPHIE – E NTWURF EINER S YNTHESE Im Folgenden soll gefragt werden, ob und wie beide Ansätze zusammen gebracht werden können. Einige Vorschläge dazu liegen bereits vor, u. a. von dem Soziologen Reiner Keller, der mit seinem Entwurf einer »Wissenssoziologischen Diskursanalyse« versucht, »den Ansatz der Diskursanalyse im interpretativen Paradigma und hier insbesondere in der Hermeneutischen Wissenssoziologie zu verankern.«94 Aufbauend auf Keller sollen daher im Folgenden Möglichkeiten aber auch Grenzen der Fusion diskutiert werden. Als verbindendes Element zwischen interpretativen und diskursiven Perspektiven werden Narrationen besonders hervorgehoben, da diese nicht nur auf theoretischer, sondern auch auf methodischer Ebene einen Zugang zu beiden Perspektiven eröffnen. 2.4.1 Wissenssoziologische Diskursanalyse Die Synthese von hermeneutischer Wissenssoziologie und Diskursanalyse ist für Keller ein notwendiges Unternehmen, da seiner Meinung nach beide Perspektiven bestimmte Desiderate aufweisen. Einer hermeneutischen Wissenssoziologie attestiert der Autor im Anschluss an die Aussagen von Berger und Luckmann, in denen er durchaus Reflexionen über Wissensformationen in einem an Foucault angelehnten Sinne wieder findet95, einen mangelnden Einbezug eben dieser Reflexionen in der tatsächlichen analytischen Anwendung des Ansatzes. Die hermeneutische Wissenssoziologie nach Berger und Luckmann münde »in die mikrosoziologischen Analysen der Rekonstruktion von Deutungsleistungen individueller Akteure, die nicht in Bezug zur Ebene der kollektiven Wissensvorräte gesetzt werden.«96 Dieses Desiderat, so erkennt auch Keller, werde allerdings in nachfolgenden wissenssoziologischen Arbeiten z. B. bei Hubert Knoblauch mit der Untersuchung von Kommunikationsprozessen bereits bearbeitet. Der Autor betont, dass es nicht darum gehe, Diskurs an der Stelle einzusetzen, wo der hermeneutischen Wissenssoziologie der Fokus auf die Ebene der kollektiven Wissensproduktion fehlt, sondern die Diskursanalyse stelle eine notwendige »Fortführung«97 dar. Um eine Einbindung der Diskursperspektive jedoch zu ermöglichen, müsse geprüft werden, »ob und inwieweit eine stärkere handlungs- oder

94 Keller 2011, 190. 95 Ebd., 182. 96 Ebd., 183. 97 Ebd., 185.

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akteurstheoretische Wendung der Diskurstheorie möglich ist.«98 Wie bereits in Kapitel 2.2.1 dargestellt, spielen Subjektperspektiven bei Foucault eine eher untergeordnete Rolle. Akteure nehmen in Diskursen bestimmte Subjektpositionen ein, deren individuelle Aneignung, Umsetzung oder Anpassung wird aber nicht beachtet. Gerade eine hermeneutische Wissenssoziologie, die im Zeichen des interpretativen Paradigmas auch methodisch oft primär bei Subjektperspektiven ansetzt, muss auf ihre Komparabilität zu Foucaultschen Diskursansatz hin befragt werden. Für eine Zusammenführung beider Perspektiven kann daher im Hinblick auf Foucault, aber auch auf Berger und Luckmann nur gelingen, wenn beide Ansätze lediglich als Ausgangspositionen genommen werden. Ein starres Beharren auf theoretischen Prämissen ist hier fehl am Platz: Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich als Vorschlag zur Entfaltung grundlegender Potentiale der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie unabhängig davon, ob dies mit der ursprünglichen Intention von Peter Berger und Thomas Luckmann in Einklang stehen mag oder nicht. Umgekehrt verabschiedet sie sich auch von dem Ziel werkgetreuer Nachfolgen des Foucaultschen Ansatzes.99

Wichtig ist jedoch, dass eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit der Ansätze gegeben ist, auch wenn dafür die jeweilige theoretische Linie erweitert werden muss.100 Keller richtet sein Interesse dabei auf die Erweiterung der hermeneutischen Wissenssoziologie, die sich auf die Rekonstruktion von Deutungs- und Handlungsweisen »auf der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen, sozialen Kollektiven und Akteuren«101 konzentriert. Den Grundannahmen Kellers zur grundsätzlichen Anschlussfähigkeit beider theoretischer Perspektiven folgend, richtet die vorliegende Studie die Perspektive zwar auch auf den gegenseitigen Anschluss beider Perspektiven, doch stehen hier verstärkt individuelle Akteure im Vordergrund. Inwiefern können ihre Aussagen als Teil eines diskursiven Aussageereignisses erfasst werden? Welche Rolle spielen ihre Deutungsund Handlungsmuster in diskursiven Feldern? Diesen Fragen nachzugehen bedeutet jedoch nicht, in die von Keller konstatierte mikrosoziologische Perspektive der hermeneutischen Wissenssoziologie »zurückzufallen«. Es bedeutet hingegen, das von Keller festgestellte Desiderat dieser Forschungsrichtung konsequent

98

Keller 2011, 186.

99

Ebd., 190.

100 Diese Anschlussfähigkeit sieht Keller sowohl bei der hermeneutischen Wissenssoziologie als auch bei der Diskurstheorie gegeben. Ebd., 180ff. 101 Ebd., 192.

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auch auf Ebene individueller Akteure umzusetzen. In Anlehnung an Keller soll daher auf Basis seiner Ausführungen zur wissenssoziologischen Diskursanalyse eine Fokussierung auf die Aussagen einzelner Akteure und deren diskursive Produktion vorgenommen werden. Im Anschluss an Foucault spricht Keller von diskursiven Ereignissen bzw. Aussageereignissen. Sie sind als »die typisierbare materiale Gestalt von Äußerungen, in der ein Diskurs in Erscheinung tritt«102, zu begreifen. Ihre ständige Reproduktion und Aktualisierung bildet die Grundlage für eine Realisierung von Diskursen und begründen letztlich ihre Dynamik. Die in Diskursen wirksamen Regeln und Formationsprozesse werden unter Rückgriff auf Antony Giddens und Arnold Gehlen von Keller reinterpretiert. Als normative Regeln zur Aussagenproduktion, als Signifikationsregeln bzw. -angebote, als Handlungsressourcen und materiale Ressource bilden sie die Struktur eines Diskurses, welche für die sozialen Akteure als handlungsleitend angesehen wird.103 Die Prozesse der Reproduktion, Aktualisierung oder Transformation dieser Diskursstruktur104 bedürfen jedoch laut Keller sozialer Akteure, die auch für ihre Umsetzung in der Praxis sorgen. Damit ist eine erste Verbindung zwischen Diskurs und sozialen Akteuren geschaffen. Wichtig ist nun allerdings zu sehen, wie diese Akteure konstituiert sind. Die Soziologie geht von historisch-bedingten und -situierten sozialen Akteuren aus105 und hat damit eine andere Ausgangsbasis als die von Foucault kritisierte und abgelehnte Bewusstseinsphilosophie. In der hermeneutischen Wissenssoziologie spielen, wie vorangehend gezeigt, auch neuere Diskussionen um die Ausbildung von Subjektidentitäten eine Rolle, in denen nicht (mehr) von einem Subjekt mit unveränderlicher Kernidentität ausgegangen wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen subjektiv-hermeneutischen und diskursorientierten Ansätzen bleibt jedoch bestehen. Erstere sehen – je nach Ansatz mal mehr, mal weniger – Akteure als handlungs- und reflexionsfähig an. Die Hermeneutische Wissenssoziologie geht jedoch auch davon aus, dass »Reflexionen, Handlungsentwürfe und Selbstverständigung unabänderlich in [einem] geschichtlichen Deutungshorizont bzw. Diskursuniversum stattfinden.«106 Für die Wissenssoziologische Diskursanalyse orientiert sich Keller an den, bei Foucault nur wenig ausdifferenzierten Akteurskonzepten der Sprecher- und Subjektposition und fügt als eigene Kategorie den sozialen Akteur hinzu. Sprecherpositionen

102 Keller 2011, 205. 103 Ebd., 208. 104 Vgl. ebd., 206. 105 Vgl. ebd., 215. 106 Ebd., 222 [Herv. i.O.].

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bilden bestimmte Rollen in diskursiven Aushandlungen, an die u. a. bestimmte Rederechte gebunden sind. Subjektpositionen hingegen sind als in einem Diskurs ausgehandelte Identitätsschemata oder -angebote/folien zu verstehen, mit deren Übernahme bestimmte Positionierungen einhergehen. Unter sozialen Akteuren sind schließlich »Individuen oder Kollektive [zu verstehen], die sich auf erwähnte Sprecher- oder Subjektpositionen beziehen und diese nach Maßgabe ihrer mehr oder weniger eigen-willigen [sic!] Rolleninterpretationen und -kompetenzen einnehmen und ausführen, also realisieren.«107 Für das Anliegen einer wissenssoziologischen Diskursanalyse, die gerade im Hinblick auf das Akteurskonzept eine Erweiterung der foucaultschen Diskurstheorie vorschlägt, hält Keller fest: Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt dann nicht auf die (sozial-) phänomenologische Rekonstruktion typisierbarer Bewusstseinsleistung, sondern auf die Analyse und Erklärung der diskursiven Konstruktion gesellschaftlicher Wissensbestände einschließlich derjenigen Elemente, die sich auf Sprecherpositionen, Selbsttechnologien und Subjektpositionen im Sinne diskursiv adressierter Subjekte richten. Sie verwechselt jedoch nicht vorschnell die diskursiv vorgestellten Subjektpositionen mit den tatsächlichen Deutungsund Handlungs-Praktiken der Akteure des Alltags. Soziale Akteure sind Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen, aber auch nach Maßgabe der sozio-historischen und situativen Bedingungen selbstreflexive Subjekte, die in ihrer alltäglichen Be-Deutungsleistung soziale Wissensbestände als Regelbestände mehr oder weniger eigen-sinnig [sic!] interpretieren.108

Die wissenschaftliche Diskursanalyse geht also mit der Annahme eines »eigensinnigen« Subjekts über den Ansatz von Foucault hinaus, tritt aber durch ihre Fokussierung auf die verschiedenen Akteurspositionen und -technologien hinter das Programm der hermeneutischen Wissenssoziologie zurück. Die vorliegende Arbeit geht jedoch davon aus, dass gerade die Verbindung zwischen den Akteurspositionen und den individuellen Akteursaussagen gestärkt werden kann. Denn letztlich ist anzunehmen, dass die Akteurspositionen wiederum durch interpretative Prozesse aus den Akteursaussagen erschlossen werden können. Als ein Mittel für diese Erschließung werden daher im folgenden Narrationen herangezogen.

107 Keller 2011, 223. 108 Ebd., 221 [Herv.i.O.].

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2.4.2 Narration und Diskurs Meine These ist, daß es sich bei Narrationen … um ein zentrales diskursstrukturierendes Regelsystem handelt. Individuelle und kollektive Akteure machen – bewußt oder unbewußt – in der sozialen Praxis Gebrauch von narrativen Schemata und verleihen dadurch ihren Weltdeutungen und ihren sozialen Praktiken Kohärenz, Bedeutung und qua Wiederholung eine gewisse Regelmäßigkeit. Kurz, ich betrachte den Menschen als Geschichtenerzähler.109

Dieser These von Willy Viehöver möchte ich mich im Folgenden anschließen. Erzählungen sind mit Sicherheit eine der wichtigsten Grundbausteine menschlicher Kommunikation. Sie finden sich in ihren jeweils spezifischen Ausprägungen nicht nur in den unterschiedlichsten kulturellen Kontexten, sondern auch als dominante Strukturen in historischen Überlieferungen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Untersuchung von Erzählungen bis heute ihren Weg in die verschiedensten akademischen Disziplinen gefunden hat und sich immer mehr zu einem interdisziplinär ausgerichteten Studiengebiet mit kulturwissenschaftlicher Ausrichtung formiert.110 Dabei wurde die Erforschung von Erzählungen primär zunächst in der Literaturwissenschaft entwickelt, wobei gegenwärtige Autoren von zwei Perioden sprechen.111 Bis zum Ende der 1970er Jahre war die Erzählforschung vorwiegend strukturalistisch geprägt und zeichnete sich durch Textzentriertheit und Ahistorismus aus. Man konzentrierte sich auf die Untersuchung von Erzählungen als geschlossenen, statischen und weitgehend kontext-unabhängigen Gebilden.112 Erst mit der Öffnung literaturwissenschaftlich geprägter Ansätze der Erzählforschung hin zu anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen und »unter Rückgriff auf theoretische Ansätze und methodische Verfahren«113 dieser Fächer, kam es zur Entwicklung neuerer erzähltheoretischer Perspektiven, die kontextorientiert, interpretativ und rezeptionsbezogen arbeiten. In diachron ausgerichteten Analysen geht es nun »um das jeweils historisch und kulturell Spezifische einzelner narrativer Texte und Genres.«114 Eine weitere Veränderung gegenüber älteren erzähltheoretischen Ansätzen ergibt sich aus der Öffnung des

109 Viehöver 2006, 180 [Herv.i.O.]. 110 Eine Einführung in aktuelle Entwicklungen findet sich bei Nünning & Butter 2004. 111 Vgl. Nünning & Nünning 2002. 112 Vgl. ebd. 24f. 113 Erll & Roggendorf 2002, 73. 114 Nünning & Nünning 2002, 25.

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Untersuchungsfeldes weg von ausschließlich literarischen Texten hin zu einer großen Vielzahl von Medien und Formen, in denen Erzählungen zu finden sind. Mittlerweile ist die Rede und Analyse von Narrativen in viele akademische Disziplinen durchgedrungen. Hayden White entwickelte mit Hilfe der Perspektive auf Narrative sein bekanntes Konzept der »Metahistory«115, welches für die Geschichtswissenschaft von entscheidender Bedeutung ist. Paul Ricoeur arbeitete die Bedeutung von narrativen Strukturen im Bereich der Philosophie heraus116 und insbesondere die Psychologie und Sozialpsychologie betont mit bekannten Autoren wie Jerome Bruner und Jürgen Straub117 (im deutschsprachigen Bereich) die Wichtigkeit von Narrativen u. a. im Rahmen gegenwärtiger Identitätsdebatten. Auch in den Aushandlungen in Diskursen spielen narrative Muster und Prozesse der Narrativisierung eine wichtige Rolle. Viehöver folgend kann »der Gebrauch narrativer Schemata zum Set der (kollektiven) kommunikativen Praktiken [gerechnet werden], mittels derer Akteure Bedeutung konstituieren und verändern, Sinn verstehen und ihre (individuelle) Identität konstruieren.«118 Dabei kann man davon ausgehen, dass Narrationen ein zentrales Formations- bzw. Regelsystem von Diskursen darstellen. In ihnen und durch sie werden diskursive Aussagen geformt, vermittelt, rezipiert und transformiert. Durch ihre Produktion erfolgt so eine stete Aktualisierung und Realisierung des Diskurses. Dazu wird allerdings die Anbindung an soziale Akteure benötigt. Narrationen können damit gleichsam als Scharnier zwischen Diskursen und Akteuren gelten. Als vorgegebene Strukturen, die wiederum diskursiv ausgehandelt sind, werden durch sie diskursive Machtgefüge, Positionierungen, Handlungsrahmen, Subjektrollen etc. vermittelt. Soziale Akteure greifen diese narrativen Schemata auf und konstruieren auf dieser Basis ihre Lebenswelt und Identität. Durch die Prozesse der Auswahl und der Adaption kommt es jedoch zu Transformationen der Narrationen oder zu Re-Narrativisierungen, die wiederum als veränderte Struktur im Diskurs wirkt. Viehöver fasst dieses Beziehungsgeflecht in folgendem Satz zusammen: Narrationen sind somit als strukturierte und strukturierende Struktur zu verstehen, die im Rahmen von Diskursen sowohl Moment der Reproduktion (Integration, Distinktion, Mobilisierung) als auch der Transformation und Kritik sein können.119

115 Vgl. White 1987. 116 Vgl. Ricoeur 1988. 117 Vgl. Straub 1998. 118 Viehöver 2006, 181. 119 Ebd.

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Eine ähnliche Rolle spricht auch Georg Glasze den Narrationen in Prozessen diskursiver Aushandlung zu, verweist dabei jedoch gleichzeitig verstärkt auf die methodischen Implikationen, die sich daraus ergeben. Im Anschluss an das Diskursmodell von Laclau und Mouffe können Narrationen nach Glasze als diskursive Artikulationen gesehen werden, »die eine Beziehung zwischen Elementen herstellen, Grenzen etablieren, auf diese Weise eine temporäre Fixierung leisten, Bedeutung und damit Identität konstituieren.«120 Die Vorstellung, was genau unter einer Narration zu verstehen ist, kann dabei selbst als Teil diskursiver Aushandlungen gedeutet werden. In der Erzählforschung gibt es – wie in fast jeder Disziplin – vielfältige Ansätze zur Bestimmung des Untersuchungsgegenstands, von denen keiner allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann.121 Ein oft verwendeter Ansatz nähert sich einer Gegenstandsbestimmung über eine funktionalistische Perspektive. Eine Erzählung gibt demnach ein Erlebnis im Wandel der Zeit wieder. Für eine Erzählung im engeren Sinne – auch als szenisch-episodisch bezeichnet – wurden bereits in der frühen Erzählforschung Idealschemata entworfen, die im Zuge weiterer Forschung vielfach kritisiert bzw. ausdifferenziert wurden. Exemplarisch sei hier das Idealschema nach William Labov und Joshua Waletzky genannt:122 • Abstract: Vorausschau auf die folgende Erzählung • Orientierung: Vorstellung des Settings, beteiligter Personen und Umstände, so

dass der Hörer alle nötigen Rahmeninformationen besitzt, um der Erzählung folgen zu können • Komplikation: Erzählung der eigentlichen Handlung, des Ereignisses • Evaluation: Reflexion und/oder Bewertung des Geschehens • Coda: Abschluss der Erzählung wird für den Hörer signalisiert In den Fächern, die sich bereits intensiv mit Narrationen auseinandergesetzt haben (insbesondere die Literaturwissenschaft), ist man sich des Umstands bewusst, dass ein narrativer Text häufig nicht ausschließlich narrative Strukturen aufweist:

120 Glasze 2007, 47. 121 Die Verwendung des Erzählbegriffs ist dabei wesentlich geprägt von den (akademischen) Entwicklungen der Narrationsforschung (auch Narratologie). Ein Überblick dazu bieten Nünning & Nünning 2002, 1-34. 122 Zitiert nach Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 147-149.

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[It] does not exclusively consist in narrative sentences but includes a large number of supposedly nonnarrativ items (the speech and thought representation of the characters, for instance) as well as metanarrative features (e.g. the narrator’s evaluation, reader address) and some strictly speaking nonnarrative elements, such as description, that are, however, constitutive of how most narratives handle the setting.123

Insbesondere bei der Betrachtung der Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Textsorten wie Argumentationen und Beschreibungen gegenüber Narrationen sind gerade von linguistischer Seite zahlreiche, teilweise sehr komplexe Modelle entstanden, auf die ich hier allerdings nicht weiter eingehen kann.124 Für die weiteren Ausführungen verwende ich einen breit angelegten Erzählbegriff. Unter einer Erzählung fasse ich im Folgenden die sprachliche Darstellung eines Geschehens (plot), das einem zeitlichen Wandel unterliegt. Erzählungen werden als oftmals verschränkt und verwoben mit weiteren Textsorten betrachtet: Beschreibungen bemühen sich um eine Darstellung von »Welt« und in einer Argumentation wird eine »theoretisch-abstrahierende und bewertende Stellungnahme« abgegeben.125 In einer Gesamterzählung bilden beschreibende und argumentative Elemente häufig die Übergänge zwischen zwei Erzählsegmenten oder finden sich als Einschübe in den Einzelerzählungen. Eine weitere wichtige Differenzierung wird von Viehöver übernommen: Erzählen als Prozess und Erzählungen als fertige (kommunikativ vermittelte) Form. Beide Aspekte sind als diskursiv ausgehandelt zu begreifen. Bei der Betrachtung des Prozesses des Erzählens (Narrativisierung) »gelangen sowohl die Motive des Erzählers und der Rezipienten als auch die Kontextbedingungen, unter denen Narrationen kommuniziert werden, in den Blick.«126 Sowohl die Motive wie auch die Kontextbedingungen werden durch die Formationsregeln des Diskurses mitbestimmt. Im Prozess des Erzählens wird außerdem diskursiv bestimmt, wer an welchem Ort und zu welcher Zeit als Erzähler auftreten darf, wer gehört wird und wer Einfluss nehmen kann auf die weiteren Aushandlungen des Diskurses. Narrationen als kommunikatives Schema sind ebenfalls als Teil diskursiver Aushandlungen zu begreifen. Welche Elemente eine Erzählung enthält bzw. enthalten sollte, welche narrativen Schemata tradiert und rezipiert werden und welche Vorstellungen von einer »idealen« Erzählung vorliegen, wird diskursiv bestimmt. Kenneth Gergen fasst zusammen:

123 Fludernik 2000, 274. 124 Vgl. dazu Fludernik 2000. 125 Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 143. 126 Viehöver 2006, 181.

84 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Weil die Erzählung in erster Linie ein diskursiver Modus ist, Verständlichkeit zu schaffen, teilt sie mit den anderen sprachlichen Formen die Eigenschaft, in bestimmten soziokulturellen Verhältnissen zu gründen. Gerade so, wie wir überall in der Welt auf ungeheure Variationen in den sprachlichen Praktiken stoßen, müssen wir uns auf vielerlei Abwandlungen des Erzählens gefasst machen – sowohl bezüglich der bloßen Existenz und der Verbreitung von Erzählungen als auch hinsichtlich der Frage, was jeweils als wohlgeformte Geschichte gilt.127

Als »competing narratives«128 werden Erzählungen oft in langen Rezeptionslinien überliefert und dabei diskursiv geformt, bis sie temporär zu Gewinnern oder Verlierern in zeitgenössischen Aushandlungen werden. Narrationen werden in den verschiedensten Medien und Formen produziert und kommuniziert. Werden mediale Strukturen als Aushandlungsräume für Diskurse betrachtet, bekräftigt dies wiederum die Annahme, dass Narrationen als diskursstrukturierendes Regelsystem gesehen werden können. In einer bekannten Auflistung des Literaturwissenschaftlers Roland Barthes finden sich folgende Beispiele zu Medien und Formen von Erzählungen: Narrative is first and foremost a prodigious variety of genres, themselves distributed amongst different substances – as though any material were fit to receive man’s stories. Able to be carried by articulated language, spoken or written, fixed or moving images, gestures, and the ordered mixture of all these substances; narrative is present in myth, legend, fable, tale, novella, epic, history, tragedy, drama, comedy, mime, painting…stained glass window, cinema, comics, news item, conversation.129

Dieser beeindruckenden Aufzählung aus dem Jahr 1966 (hier erschien der Artikel im Original) lässt sich heute u. a. noch das Internet ergänzen, wo auf Webseiten, in Foren oder Blogs, via Twitter oder in virtuellen 3D Welten Erzählungen produziert und kommuniziert werden. Wie bereits vorangehend angesprochen wurde, liegen enge Verbindungen zwischen der Formulierung von Narrationen und Identitätsarbeit vor. Vor dem Hintergrund diskurstheoretischer Verknüpfungen von Narrationen und Diskursen kann daher auch Identitätsarbeit als diskursiv geleiteter Prozess gesehen werden, der über Sprache vermittelt und in sozialer Interaktion ausgehandelt wird. Narrative Identität ist daher an das sprachliche Zeichensystem gebunden und verweist – im Sinne Jacques Derridas – eben nicht

127 Gergen 1998, 181. 128 White 2001, 376. 129 Barthes & Duisit 1975, 237.

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auf ein »transzendentales Signifikat«, das hinter dem Sprachhorizont liegt. Narrative Identität kann somit als Konstrukt begriffen werden, das nur in Abhängigkeit zu seinen sprachlichen Ausdrucksformen und Interpretationen besteht, die wiederum gekoppelt sind an die handelnden Akteure. Damit ist die Konstruktion immer auch eingebettet in unterschiedliche Diskurse und wird hier in Auseinandersetzung mit anderen Diskursteilnehmern verhandelt. Im Zentrum der narrativen Identitätsarbeit stehen dabei vor allem die Aspekte der Kontinuität und Kohärenz. Diese werden von Lucius-Hoene und Deppermann wie folgt gefasst: ›Kontinuität‹ als Aspekt der Einheit einer Person fragt nach ihrer temporalen Strukturierung: Wie kann ich mich trotz der Erfahrung zeitlichen Wandels immer (noch) als dieselbe Person verstehen, und wie bin ich im Wandel der Zeit zu dem Menschen geworden, der ich heute bin? … Der Begriff der ›Kohärenz‹ thematisiert hingegen das Streben nach der Einheit der Person als Frage nach der inneren Stimmigkeit: Wie kann ich die vielfältigen Lebensbezüge, Rollen und Handlungsaufgaben, die innerpsychischen Bedürfnislagen und Motive mit ihren oftmals divergierenden Anforderungen in meiner Person integrieren?130

Beide Aspekte sind nicht nur in biographischen Narrationen von Bedeutung, sondern werden auch in anderen Erzählungen benötigt, um eine sinnvolle, für den Hörer nachvollziehbare Struktur zubilden. Sie müssen daher kontinuierlich narrativ hergestellt werden und liegen nicht an sich vor. Diese Konstruktionsprozesse von Kontinuität und Kohärenz finden im Zuge der Identitätsarbeit meist im Rahmen von diskursiv geprägten narrativen Strukturen statt. Analytisch lassen sich diese Prozesse und Strukturen über verschiedene Aspekte erschließen, in denen sich die Scharnierfunktion zwischen Narrativen, Diskursen und sozialen Akteuren fassen lassen. Hier sind in erster Linie die Positionierungsprozesse und die Verwendung kulturell vorgeprägter, narrativer Muster, die als Ressourcen zur Verfügung stehen und von den Akteuren adaptiert und ggf. transformiert werden. Die genannten Punkte sollen nun, in religionswissenschaftlicher Perspektive, eingehender betrachtet werden, da sie für die vorliegende Untersuchung zu gegenwärtiger Religiosität eine wichtige Rolle spielen. a) Positionierungen Das Konzept der Positionierung stammt Luk van Langenhove und Rom Harré zufolge ursprünglich aus dem Bereich des Marketings, wo es vorrangig zur Beschreibung der Platzierung eines Produktes in einem bestimmten Rahmen

130 Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 48 [Herv. i.O.].

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dient.131 In den letzten Jahren hat sich das Konzept jedoch auch als nützliches Analysewerkzeug für sozio-kulturelle Aushandlungsprozesse erwiesen und wird daher nun verstärkt auch in kulturwissenschaftlich ausgerichteten Fächern verwendet. Unter dem Konzept fassen Lucius-Hoene und Deppermann in Bezug auf Ausarbeitung von narrativen Identitätskonstruktionen in qualitativen Interviews Folgendes: ›Positionierung‹ beschreibt, wie sich ein Sprecher in der Interaktion mit sprachlichen Handlungen zu einer sozial bestimmbaren Person macht, eben eine ›Position‹ für sich herstellt und beansprucht und dem Interaktionspartner damit zu verstehen gibt, wie er gesehen werden möchte (Selbstpositionierung). Ebenso weist er mit seinen sprachlichen Handlungen dem Interaktionspartner eine soziale Position zu und gibt ihm zu verstehen, wie er ihn sieht (Fremdpositionierung). Der Interaktionspartner kann seinerseits auf die Positionierung reagieren und sie bestätigen oder zurückweisen.132

Es gilt dabei zwischen unterschiedlichen Positionierten zu unterscheiden: Bei einem sprachlichen Geschehen können durch das Erzählte sowohl direkt der Hörer bzw. implizit der Leser (liegt ein Text vor) positioniert werden, gleichzeitig können aber auch Positionierungen von Personen vorgenommen werden, die als erzählte Akteure nur im Rahmen der Erzählung bzw. des Gesprächs ›anwesend‹ sind. Van Langenhove und Harré unterscheiden in ihrem Einführungsartikel außerdem zwischen »deliberate« und »forced« Selbst- und Fremdpositionierung.133 Da die jeweilige Klassifizierung jedoch in hohem Maß von den Zuschreibungsbzw. Interpretationsprozessen der Forscher abhängt, wird diese in der vorliegenden Untersuchung nicht übernommen. Auch in anderen Formen der Narration sind Positionierungsprozesse zu erwarten. Den vorangehend zitierten Autoren folgend, handelt es sich dabei um Prozesse, die ein souveränes Subjekt erfordern. Nicht zu verwechseln ist dies allerdings mit der Annahme, dass solche Prozesse zwingend ein intentional gesteuertes Geschehen benötigen. Im Gegenteil – es ist davon auszugehen, dass Akteure Positionierungen in narrativen Rahmen vornehmen, die sowohl durch die eigenen, bisherigen Selbstkonstruktionen geprägt sind, als auch durch Positionierungserwartungen, die an Subjektpositionen innerhalb eines Diskurses gekoppelt sind. Selbst- und Fremdpositionierungen können dabei als Zuschreibungsprozesse begriffen werden, die einheits- oder grenzbildend wirken. Damit

131 Harré & Langenhove 1999, 16. 132 Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 62. 133 Harré & Langenhove 1999, 23ff.

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wird das Konzept der Positionierung anschlussfähig an die von Laclau und Mouffe konstatierten Diskurslogiken der Differenz und Äquivalenz, durch die die Autoren bereits versuchten, die Rolle sozialer Akteure in einem diskurstheoretischen Rahmen zu stärken. Narrative Positionierungsprozesse können als ein analytisch greifbares Mittel gesehen werden, um eben diese Diskurslogiken zu fassen. Auch in den Aushandlungen von Positionen religiöser Akteure kommt es zu vielfachen Positionierungsprozessen. In Erzählungen und performativen Sprechakten der Akteure werden u.a. Positionierungen von anderen religiösen Akteuren vorgenommen. Gerade Erläuterungen über die eigene Religiosität, sei es in biographisch-erzählender Weise oder z. B. über einen Internetauftritt, beinhalten Eigen- wie auch Fremdpositionierungen. Wie in den späteren Analysen deutlich wird, ist dabei zu beachten, dass auch das Positionierungsverhalten in hohem Maß von den Regelhaftigkeiten des Diskurses abhängt, in dem es stattfindet. So bedingt eine Selbstpositionierung als »christlich« im Diskurs gegenwärtiger Religiosität häufig zugleich eine ablehnende Fremdpositionierung von »Kirche« und eine damit einhergehende Differenzierung von »Christlichkeit«. Dieses Positionierungsverhalten ist als Muster bereits im Diskurs bekannt und wird von den Akteuren individuell aufgegriffen und sprachlich verarbeitet. Wie bereits an dem eben genannten Beispiel deutlich wird, ist die Positionierungszuschreibung nicht auf einzelne Akteure beschränkt, da auch ganze Akteursgruppen (wie z. B. Institutionen) angesprochen werden können. Für religiöse Bereiche ist zudem zu ergänzen, dass es sich nicht unbedingt um menschliche Akteure handeln muss. So können z. B. auch Positionierungen von Engeln, Energiewesen oder »spirituellen Meistern« vorgenommen werden, die von den menschlichen Akteuren als Handlungs- und damit Positionierungspartner angesehen werden. b) Narrative Muster und Topoi Neben der großen Bedeutung, die Positionierungsprozesse in narrativem Geschehen einnehmen, spielt auch die Verwendung von kulturell vorgeprägten, diskursspezifischen Erzählmustern eine wichtige Rolle. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die narrative Kompetenz eine Fähigkeit ist, die von den Akteuren im Rahmen von Sozialisations- und Spracherwerbsprozessen angeeignet werden muss. So erwerben wir einerseits narrative Muster zur Gestaltung von Erfahrungen und lernen Regeln und Konventionen, nach denen sie versprachlicht werden. Gleichzeitig wird uns ein familiärer Geschichtenvorrat angetragen … . Auf Basis unserer narrativen Kompetenz erwerben wir im Älterwerden zunehmend biographische Kompetenz, d. h. die Fähigkeit,

88 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN unsere vergangenen Erfahrungen in reflexiven Akten zu einer persönlichen Lebensgeschichte aufzuordnen.134

Mit der Ausweitung des Aktionshorizontes auf verschiedene soziale Gruppen oder kulturelle Milieus treffen die Akteure im Laufe ihres Lebens auf immer weitere Plots, die bei der Formung und rhetorischen Ausgestaltung der eigenen Narrationen, wie z. B. der Lebensgeschichte herangezogen werden. Eine zentrale Rolle bei der Vermittlung dieser Plots spielen heute vor allem (massenorientierte) Medien.135 Hier werden vielfältige Erzählmuster angeboten, wie Geschichten, Krisen oder Konflikte narrativiert werden können. Den Akteuren steht es dann offen, ausgewählte Erzählmuster für die eigene Identitätsarbeit zu adaptieren. Die Muster sind Ressourcen, mit denen wir kommunikative Erfahrung gemacht haben und von denen wir Gebrauch machen können, wenn wir bestimmte Darstellungsaufgaben meistern wollen. Sie helfen uns, in der erzählten Geschichte Kohärenz herzustellen und für unsere Erfahrungen Formen zu finden, in denen sie von den Menschen unserer Kultur verstanden werden können.136

Gerade auch in religiösen Bereichen existiert eine Vielzahl narrativer Muster, die von den Akteuren u. a. im Prozess der religiösen Identitätskonstruktion verwendet werden. Diese Muster sind jedoch nicht als präexistent und überzeitlich zu verstehen, sondern sie bilden ein diskursives und unter spezifischen historischen und kulturellen Bedingungen ausgebildetes Repertoire, auf das die Akteure zurückgreifen können. Der Zugang zu diesem narrativen Repertoire ist dabei reguliert durch die Position des Akteurs im Diskurs. Wichtige Faktoren sind hier vor allem der Zugang zu Bildung und Informationen. Ein Beispiel für ein solches narratives Muster in diskursiven Aushandlungen um ein anderes Segment gegenwärtiger Religiosität sind z. B. Aussteigerberichte von »Sektenmitgliedern«.137 Mit der Popularisierung der sogenannten Neuen religiösen Bewegungen in Deutschland ab den 1970er Jahren und dem bald folgenden enormen Medieninteresse, in dessen Zuge sich in diskursiver Verschränkung vor allem mit kirchlichen Feldern das »Schreckensbild Sekte« herauskris-

134 Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 42. 135 Hier im Sinne von modernen Massenmedien und digitalen Medien. 136 Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 66. 137 Eine Untersuchung von Aussteigerberichten ehemaliger Satanisten findet sich bei Möller 2007.

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tallisierte, häufte sich die Zahl publizierter Aussteigerberichte. Diese verwendeten bestimmte Rhetoriken und Erzählmuster: Es war z. B. die Rede davon, dass sie »in die Fänge« der Sekte geraten seien. Oder sie schilderten Aufenthaltsbeschreibungen in der Bewegung, die von »Sklavendasein« und »Ausbeutung« sprachen und die schließlich mit einer »abenteuerlichen, aber gelungenen Flucht« aus der Sekte endeten. Diese narrativen Muster behielten im Sektendiskurs bis Anfang der 1990er Jahre eine weitgehende Dominanz und wurden von Medien und Beratungsstellen, aber auch von Seiten der Politik rezipiert und perpetuiert. Noch heute dürfte der Begriff »Sekte« bei vielen Menschen deutlich negativ besetzte Assoziationsketten auslösen.138 Andere typische Erzählmuster religiöser Segmente sind Konversionserzählungen, Erzählungen von Begegnungen mit nicht menschlichen Wesen (z. B. Engeln oder Geistern) oder bestimmten Ritualerfahrungen. Insgesamt sind narrative Muster – auch in religiösen Bereichen – nicht als starr und unveränderlich zu denken. Sie werden vielmehr diskursiv ausgehandelt bzw. kommuniziert und schließlich von den Akteuren individuell adaptiert. Die Verwendung diskursspezifischer und kulturell geprägter narrativer Muster erfolgt im Rahmen von Erzählungen kaum als »bewusste Auswahl«139, sondern sie werden im sprachlichen Geschehen von den Akteuren meist ohne explizite Reflexionsprozesse eingesetzt. Zusammen mit anderen Elementen bilden sie gleichsam typische Ressourcen, denen sich die Akteure bedienen können. Der Begriff »Topos« stammt ursprünglich aus der Linguistik und ist hier seit der Antike als Mittel in der Rhetorik bekannt. Hier war »der rhetorische Topos … ein Fundort für Beweise oder Argumente, die man in einer Rede verwenden kann.«140 Zu einer Umdeutung und Neuinterpretation des Begriffs kam es erst Mitte des letzten Jahrhunderts durch E. R. Curtius141, der unter einem Topos »feste Clichés oder Denk- und Ausdrucksschemata«142 verstand. Sie bildeten die Grundlage für sein komparatistisches Arbeiten. Besonders aber die Ausführungen von Lothar Bornscheuer zu »Topik«143 machten den Topos-Begriff für den Einsatz in kulturwissenschaftlich orientierten Arbeiten interessant. Hier wurde er jüngst für diskurslinguistische Forschungen aufgegriffen, deren Konzeptionalisierungen für diese Arbeit verwendet werden. Im Anschluss an Bornscheuer

138 Zur Thematik und Problematik siehe Usarski 1988; Seiwert 1998. 139 Lucius-Hoene und Deppermann 2004, 66. 140 Müller 2008, 722. 141 Siehe dazu auch Brendt 2005, 39ff. 142 Müller 2008, 722. 143 Bornscheuer 1976.

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werden von Martin Wengeler vier Merkmale eines Topos hervorgehoben, die für diskursanalytisches Arbeiten äußerst fruchtbar erscheinen: Nach Bornscheuer ist ein Topos habituell, das heißt gewohnheitsmäßig und kollektiv verbreitet und abrufbar. Sein Potenzialitätsmerkmal begründet die relative Abstraktheit der Topoi: Sie können als Denk- und Argumentationsmuster jeweils für und gegen die in Frage stehenden Positionen eingesetzt werden. Das Intentionalitätsmerkmal betont, dass die sprechenden Individuen mit ihren Interessen und Intentionen die vorhandenen Denkmuster, Topoi, Bedeutungen zwar perpetuieren (Habitualitätsmerkmal), sie aber gleichzeitig mit jeder sprachlichen Handlung modifizieren. Das Symbolizitätsmerkmal hebt darauf ab, dass Topoi in verschiedener Weise sprachlich/symbolisch realisiert werden können.144

Topoi können als »generative Schemata zur Erzeugung von Argumenten«145 angesehen werden, die jedoch nicht – wie Alexander Ziem konstatiert – als »vordiskursiv«146 betrachtet werden können. Zwar bilden sprachlich-diskursive Bereiche gleichsam die Aktualisierungs- und Artikulationsbühnen von Topoi, ihre Formation, Produktion und Rezeption sollte jedoch als feldgebunden gedacht werden. Im Anschluss an Wengeler können Topoi als habituell inkorporierte, von den Akteuren in unterschiedlichen Feldern stetig aktualisierte (und teilweise transformierte) Argumentationsmuster verstanden werden, die von den Akteuren in Positionierungsprozessen eingesetzt werden. Als kulturwissenschaftlich orientierte Vokabel kann der Topos-Begriff als dynamisches Konzept verstanden werden, das inhaltlich-orientierte und allgemeine147 argumentative Muster diskursiver Aushandlungen religiöser Felder zu fassen vermag. Topoi werden als Konstruktionen aufgefasst, die von den Akteuren durch stetige Rezeption und Distribution ausgehandelt werden und die somit in historischen Überlieferungsketten weitergegeben werden. Es ist davon auszugehen, dass hierbei wiederum Narrationen eine zentrale Rolle spielen. In erzählter Form und in unterschiedlichen Medien werden Topoi durch Geschichten und Geschichtsschreibungen überliefert, werden dabei konstant an neue Kontexte angepasst oder sogar völlig verändert. Die Bandbreite dynamischer Entwicklungen kann dabei sehr weit

144 Wengeler 2007, 167f. 145 Ziem 2005, 323. 146 Ebd. 147 Im Anschluss an Wengeler kann mit Aristoteles differenziert werden zwischen: »allgemeinen Topoi«, denen sich Sprecher bei allen Themen bedienen können (z. B. Berufung auf eine anerkannte Autorität) und »spezifischen Topoi«, die sich auf inhaltliche Elemente bestimmter Felder beziehen. Vgl. Wengeler 2007, 168f.

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sein: von kaum merklichen Umformungen eines Topos, der somit fast als statisch und unveränderlich wirkt, bis hin zu radikalen Umstrukturierungen, der völligen Aufgabe oder der Neuschaffung bestimmter Topoi. Entscheidend für die Rezeptions-, Aushandlungs- und Distributionsprozesse ist, welche Autorität bzw. Sprachgewalt ein Topos von den Akteuren zugeschrieben bekommt. Im Rahmen der Öffentlichkeit und in Medien verhandelte Topoi besitzen innerhalb eines religiösen Konstruktionsfeldes meist eine dominante Autorität und Wirksamkeit, wohingegen andere Topoi lediglich in bestimmten, spezialisierten Kreisen verhandelt werden und somit nicht-dominant bleiben. In einer historischen Untersuchungsperspektive kann zu beobachten sein, wie solche marginalen Topoi im Laufe von historisch-kulturellen Prozessen eine derartige Präsenz entwickeln, dass sie von einer breiten Schicht von Akteuren als identitätsstiftende Elemente rezipiert werden. In einer synchronen, gegenwartsbezogenen Perspektive stehen dagegen weniger die Entwicklungen verschiedener Topoi im Mittelpunkt, sondern vielmehr deren Einsatz und Umsetzung in der religiösen Identitätsarbeit von Akteuren im Vordergrund. 2.4.3 Diskurs, Narration und Biographie: Möglichkeiten für die Erforschung gegenwärtiger Religiosität Eine Verbindung der hier aufgezeigten theoretischen Perspektiven über Narrationen als Scharnier zwischen Diskurs und Subjekt ermöglicht eine umfassende und detaillierte Beschreibung und Analyse gegenwärtiger Religiosität. Insbesondere biographische Erzählungen bieten dabei die Möglichkeit, bislang oft vernachlässigte Aspekte in der Erforschung gegenwärtiger Religiosität näher zu beleuchten. Konkret kann nach den Prozessen und Dynamiken in den Konstruktionen gegenwärtiger Religiosität gefragt werden, die zwar ihren Ausgangspunkt bei subjektiven Perspektiven haben, jedoch nicht hier stehen bleiben. Auf diese Verbindung von Erzählung und Diskurs weist auch die Psychologin Elisabeth Tuider hin: Die biographischen Erzählungen zeigen die individuellen Sinnproduktionen und -repräsentationen im Kontext diskursiver Regime auf. Umgekehrt gibt die Diskursanalyse Anhaltspunkte für den größeren Gesamtkontext von Erzählungen, die die Bezüge und Brüche der individuellen Positionierungen ausweisen.148

148 Tuider 2007, 26.

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Im Kontext des sich als äußerst komplex darstellenden Diskurses gegenwärtiger Religiosität stehen biographische Erzählungen in vielfältiger Form zur Analyse zur Verfügung bzw. können ohne Schwierigkeiten erhoben werden. Kurze Erzählungen über den eigenen Lebensweg von Autoren finden sich nicht nur häufig in deren Büchern, sondern sie sind auch im Internet in großer Zahl z.B. auf persönlichen Homepages zugänglich. Über Interviews können zudem ausführliche biographische Narrative erhoben werden. In der Analyse biographischer Narrationen zu gegenwärtiger Religiosität lassen sich bestimmte Ergebnisse erwarten. Durch die systematische Analyse subjektiv-narrativer Positionen können diachrone Perspektiven auf die Entwicklungen und Veränderungen von Religiositätskonstruktionen geworfen werden. Die Diachronizität ist prinzipiell in zweifacher Hinsicht möglich: Innerhalb ein und desselben Erzählrahmens, in dem rückblickend die eigene Lebensgeschichte erzählt wird, wird ein chronologischer Ablauf der Ereignisse konstruiert. Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität finden sich hierbei überwiegend Erzählungen, in denen von einer religiösen Orientierung in der Kindheit ausgehend, die Entwicklung bis in die Gegenwart erzählt wird. Eine genuine Sozialisation im Diskurs gegenwärtiger Religiosität dürfte beim Großteil der Diskursteilnehmer aufgrund des rezenten Entwicklungsstatus dieses religionsgeschichtlichen Segments noch nicht vorliegen. Eine zweite Möglichkeit ist, dass an verschiedenen Zeitpunkten im Leben der Personen biographische Erzählungen entstehen. Eine Beobachtung einer solchen Erzählproduktion ist beispielsweise im Rahmen einer längerfristigen Online-Studie denkbar, in der beobachtet wird, wie Akteure ihre Selbsterzählungen im Internet überarbeiten bzw. neu verfassen. Beide Zugänge bieten, wie bereits erwähnt, Einblicke in die Dynamik der Konstellationen gegenwärtiger Religiosität. Es wird nicht nur deutlich, mit welchen religiösen und rituellen Elementen die Akteure umgehen, sondern oft finden sich auch Begründungen, wie und warum genau diese Elemente ausgewählt und verwendet werden. Neben Rezeptionslinien, die hier mehr oder weniger sichtbar werden können, sind es vor allem Positionierungsprozesse um Autorität und Handlungsmacht, die sich in den Erzählungen nachvollziehen lassen. Damit wird gleichzeitig eine Brücke zu allgemeineren Ebenen diskursiver Konstellationen gegenwärtiger Religiosität geschlagen. Im Sinne der oben vorgeschlagenen Verbindung zwischen Diskurs und Narration können in biographischen Erzählungen über die Entwicklung und individuelle Umsetzung gegenwärtiger Religiosität die Formationsregeln und die Praktiken des Diskurses erkannt werden. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass eine biographische Erzählung lediglich eine mögliche Quelle für die Sichtbarmachung und Analyse des Diskurses darstellt. Für eine ausführliche Diskursanalyse müssten weitaus mehr Daten

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hinzugezogen werden, die sich zudem nicht auf den Diskurs gegenwärtiger Religiosität beschränken. Für die folgende, notwendigerweise in ihrem Umfang beschränkte Untersuchung stehen primär biographische Erzählungen, erhoben in narrativen Interviews, als Quelle zur Verfügung. Ergänzt werden diese Daten mit Material aus dem Internet. Wie genau die methodische Umsetzung und das Forschungsdesign für diese Studie konzipiert sind, wird nun im folgenden Methodenkapitel näher vorgestellt.

3. Methodischer Zugang

Die qualitative Analyse von Narrationen bildet den Ausgangspunkt für diese Untersuchung gegenwärtiger Religiosität. Im Anschluss an Reiner Kellers Forschungsprogramm der wissenssoziologischen Diskursanalyse liegt ihr die Annahme zugrunde, dass »textübergreifend[e] Verweisungszusammenhänge in Gestalt von diskursiven Strukturen der Aussagenproduktion« auch im Rahmen »einzelner Aussageereignisse«1 vorliegen. Ein Herausarbeiten einzelner Typen oder Fälle, die als in sich geschlossen und vollständig betrachtet werden – wie es die Biographieforschung vielfach anstrebt2 – wird hier nicht verfolgt. Ausgehend von religiösen Akteuren wird versucht, einige diskursive Konstruktionsverläufe gegenwärtiger Religiosität herauszuarbeiten. Über eine diskursive Narrationsanalyse, die als Quellen sowohl qualitative Interviews wie auch Internetmaterialen verwendet, können jedoch primär Details in den diskursiven Aushandlungen um gegenwärtige Religiosität beleuchtet werden. Die folgenden Ausführungen entbehren daher jeglichem Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität. Aber eine solche Detailanalyse ermöglicht gerade »im Kleinen« Verweisungsund Deutungszusammenhänge aufzuzeigen, die auch bei anderen Akteursgruppen im Diskurs gegenwärtiger Religiosität von Bedeutung sind.

3.1 F ORSCHUNGSDESIGN Die folgenden Ausführungen zum methodischen Zugang, den diese Arbeit verfolgt, orientieren sich überwiegend am praktischen Vorgehen. Reflexionen über die Auswahl der einzelnen methodischen Arbeitsschritte werden ebenso dargestellt wie Überlegungen die Auswertung betreffend. Allerdings wurde für die

1

Keller 2011, 275.

2

Vgl. z. B. Griese & Griesehop 2007.

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Studie nicht die eine Methode zur Datenerhebung und Auswertung ausgewählt, sondern es handelt sich vielmehr um ein Zusammenfügen verschiedener Ansätze, die sich immer an dem theoretischen Hintergrund orientieren, der vorangehend erläutert wurde. 3.1.1 Zugang zum Untersuchungsfeld und Auswahl der Akteure Die Studie nahm ihren Ausgangspunkt im Untersuchungsinteresse an Akteuren, die in ihren Religiositätskonstruktionen eine Vielzahl verschiedener religiöser und ritueller Elemente miteinander verbinden. Im Vordergrund stehen dabei Elemente, die christlichen und esoterischen diskursiven Aushandlungen zugeschrieben werden. Aus letzteren können Reiki, Engel und aufgestiegene Meister, Reinkarnation, Astrologie, Pendeln, etc. als Beispiele genannt werden. Bemerkenswert bei derartigen Akteuren ist, wie problemlos (zumindest aus emischer Sicht) ein Umgang mit der hohen Diversität religiöser und ritueller Elemente erfolgt. Eine Fokussierung auf diese Elemente ergab sich aus zwei Gründen: Zum einen lag bei vielen Akteuren im weitesten Sinne ein christlicher Sozialisationshintergrund vor3 und somit erschien die Frage nach dem Umgang mit diesem Hintergrund im Zuge aktueller Ausarbeitungen von gegenwärtiger Religiosität spannend. Zum anderen musste bei der Vielfalt der im Diskurs gegenwärtiger Religiosität verhandelten Elemente pragmatisch eine Auswahl getroffen werden. So ergab sich die untersuchungsleitende Frage, wie genau religiöse Subjekte ihre Religiosität konstruieren und was gleichzeitig über die diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität ausgesagt werden kann. Ein erster Zugang zu diesem nur schwer zu umreißenden Forschungsfeld erfolgte über das Internet. Vorangegangene Untersuchungen zu anderen Segmenten gegenwärtiger Religiosität – der Hexendiskurs oder rezente Ufo-Bewegungen – konnten zeigen, dass das Internet auch für religiöse Mittelfeldakteure eine wichtige Präsentations- und Kommunikationsplattform darstellt.4 Daher verschaffte ich mir zunächst einen eingehenden Überblick über deutschsprachige Internetinhalte zum Diskurs gegenwärtiger Religiosität mit den oben genannten

3

Dies ging implizit oder explizit aus den Selbstbeschreibungen auf der Homepage der ausgewählten Personen hervor. Sie zeigten einerseits Kenntnis von christlichreligiösen Konzepten oder Figuren oder beschrieben in den biographischen Selbstdarstellungen ihren christlichen Sozialisationshintergrund.

4 Vgl. Meier 2005, Radde-Antweiler 2008.

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Schwerpunkten auf esoterischen und christlichen Elementen.5 Beginnend im Herbst 2005 besuchte ich in einem explorativen Vorgehen verschiedene Angebote und Inhalte im Internet: Esoterikportale, Diskussionsforen, persönliche Homepages. Rasch ergab sich hieraus eine Fokussierung auf persönliche Homepages, auf denen die Akteure einerseits ein persönliches Bild ihrer Religiosität und den dazugehörigen rituellen Aktivitäten entwarfen, andererseits aber auch die mediale Vernetzung zu anderen Akteuren oder Kommunikationsplattformen nachgezeichnet werden konnte. Als Suchstrategien wurden verschiedene Varianten verwendet: Über die Suchmaschine Google wurde beispielsweise eine Schlagwortsuche durchgeführt, bei der Begriffe verwendet wurden, die sich beim ersten Überblicksvorgehen als dominant für das Untersuchungsgebiet herauskristallisiert hatten. Eine Kombinationssuche zu Wörtern wie Energie, Engel, Jesus, Religion, spirituell, Ritual oder Reiki führte zu ersten persönlichen Homepages, auf denen sich einzelne Akteure darstellten. Von diesen ersten Seiten ausgehend wurden weitere Seiten über die hier angegebenen Links oder über Einträge im Gästebuch gefunden. Viele dieser persönlichen Webseiten waren damals in sogenannte Webringe eingebunden. In diesen, meist thematisch orientierten Webringen, schlossen sich viele Webseiten-Besitzer zusammen. Der Besucher eines solchen Rings konnte sich entweder eine Gesamtübersicht der teilnehmenden Seiten anzeigen lassen oder sich von Seite zu Seite weiterklicken. Die Webringe waren beispielsweise betitelt als »Esoterikwebring«, »Engelwebring« oder »Reikiwebring«. Einer der meistgenutzten Webringanbieter, Parsimony, stellte allerdings seinen Dienst zum 31.05.2007 ein, sodass viele Webringe inzwischen nicht mehr existieren. Neben Verlinkungen zu Webringen gelangte ich auch über Toplisten oder Portale an neue Adressen für persönliche Webseiten. Eine andere Suchstrategie setzte bei den großen deutschsprachigen Esoterik-Foren an.6 In den Mitgliederlisten geben viele eingetragene Akteure auch den Link zu ihrer persönlichen Homepage an. Im Zuge dieser Suchstrategien wurde eine zunächst unspezifische Sammlung von persönlichen Homepages angelegt, die dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität mit mehr oder weniger starken Bezügen zu esoterischen Elementen zugeordnet werden konnten. Unter »persönlichen Homepages« wurden im Anschluss an Nicola Döring Seiten verstanden, die von einer einzel-

5

Zur Problematik der Bezeichnung und Erfassung des Untersuchungsfeldes sei noch-

6

Das wohl im deutschsprachigen Raum derzeit größte Forum ist »Esoterik Forum.at«

mal ausdrücklich auf die Ausführung in Kap. 1.1 verwiesen. mit 37.590 registrierten Mitgliedern (im Jahr 2011). Im »Esoterik Forum.de« sind gegenwärtig 26.253 Mitglieder angemeldet.

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nen Person stammen und von ihr kontrolliert werden.7 Ausnahmen bilden einige wenige Seiten, die jeweils von einer kleinen Gruppe von zwei bis drei Personen unterhalten wurden. Ein Hauptanliegen von persönlichen Homepages ist die umfassende Selbstdarstellung, die sich sowohl auf private, wie berufliche Bereiche beziehen kann.8 Bei den hier betrachteten Homepages stellte sich heraus, dass sowohl kurze biographische Angaben und persönliche Interessen vorgestellt wurden, als auch rituelle Angebote, die die Anbieter kommerziell vertrieben. Es ergab sich so eine Zusammenstellung von 237 deutschsprachigen Webseiten, die in der inhaltlichen Orientierung eine weite Bandbreite von Themen aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität mit einem Fokus auf esoterische und christliche Elemente aufwiesen. Das Spektrum reichte hier von Energiearbeit, Engelskontakten, Runenmagie, Astrologie, Channeln, Chakrenlehren, Tarot bis hin zu Jenseitskontakten, Pendeln oder Schamanismus. Kombinationselemente stammten vorwiegend aus christlichen, buddhistischen und islamischen (Mystik) Diskursen. Ein Überblick über die ausgesuchten Homepages ermöglichte es, erste Tendenzen festzuhalten, welche inhaltlichen und strukturellen Schwerpunkte in den diskursiven Aushandlungen in diesem Segment gegenwärtiger Religiosität zu beobachten sind. Die biographischen Angaben auf vielen Seiten ließen zudem erkennen, dass viele Akteure einen kirchen-christlichen Sozialisationshintergrund besaßen oder häufig religiöse oder rituelle Elemente verwendeten, die im weitesten Sinne christliche Züge aufwiesen. Prominent traten hier christliche Gebete wie das Vater Unser oder Jesus oder Erzengel als Figuren für z. B. Heilungsgeschehen hervor. Die Hinweise auf den persönlichen Homepages zu den Entstehungs- und Ausarbeitungszusammenhängen persönlicher Religiosität und zu den Auswahl- und Begründungsmechanismen waren jedoch häufig nur knapp gehalten. Um daher der Frage nach den Konstruktionsprozessen derartiger Religiosität detaillierter nachgehen zu können, entschloss ich mich schließlich, vom Online-Bereich in den Offline-Bereich zu wechseln. Ausgehend von den ausgesuchten persönlichen Homepages wurden qualitative Interviews mit ausgewählten Besitzern durchgeführt. Aus dem weiten Feld wurden für die Interviews Akteure ausgewählt, auf deren Homepages zu erkennen war, dass sie neben anderen religiösen und rituellen

7

Vgl. dazu Döring 2001, 211.

8

Eine Übersicht zu den verschiedenen Ansätzen, was genau unter einer »Homepage« zu verstehen ist und welchem Zweck sie dient, siehe Machilek 2008. Eine Zusammenstellung aktueller Studien zu Selbstpräsentationen auf Homepages findet sich bei Döring 2002.

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Elementen auch mit christlich zu verortende Elementen operierten. Ein christlicher Sozialisationshintergrund ließ sich bei einigen nur aufgrund der Verwendung von z. B. christlichen Gebeten annehmen, bei einigen Akteuren waren entsprechende explizite Angaben dazu jedoch bereits in den biographischen Kurzbeschreibungen auf der Homepage zu finden. Davon ausgehend, dass diskursive Aushandlungen sowohl durch Artikulation wie z. B. in narrativen Kontexten, als auch über Handlungen stetig aktualisiert und realisiert werden, richtete die Untersuchung ihren Blick auch auf die religiöse Praxis der Akteure. Es wurden daher Akteure zum Interview ausgewählt, bei denen bereits auf der Homepage zu erkennen war, dass sie verschiedenste Rituale durchführen. Hierzu zählen beispielsweise energetische Heilrituale wie Reiki, Gebete, Meditationen oder selbst entwickelte Rituale. Thematisiert wurden diese Rituale auf den Homepages in Präskriptform, als Beschreibung, als rituelle Texte oder als gewerbliche Angebote zur Durchführung im Offline-Bereich. Aus der Homepagesammlung wurden so die ersten 15 möglichen Interviewpartner9 ausgewählt, auf welche die Kriterien zutrafen. Der hier hoch erscheinende Zufallsfaktor der Auswahl ist insofern nicht problematisch, da es nicht um eine Quantifizierung von diskursiven Formungen und Inhalten des Diskurses gegenwärtiger Religiosität ging, sondern eine qualitative Detailanalyse im Vordergrund stand. Auf dem Hintergrund des vorgestellten theoretischen Rahmens wurde angenommen, dass übergreifende diskursive Strukturen sich auch in Aussagen und Positionen von einzelnen Subjekten wieder finden lassen. Ich stellte meine Person und das Forschungsprojekt zunächst per Email vor, nach positivem Feedback erfolgte eine Terminvereinbarung in den meisten Fällen per Telefon. Von den angefragten Personen gaben 12 ihre Zusage zu einem Interview.10 Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass fast alle angefragten Personen zunächst sehr überrascht über die Anfrage waren. Anfängliche Bedenken zur Teilnahme gingen in die Richtung, dass die Akteure meinten, sie als »normale« Leute seien doch nicht sonderlich interessant. Mit der Betonung, dass mich jedoch genau ihre Geschichte und ihre Meinung interessierten, konnte ich in allen

9

Da die Interviews narrativ ausgerichtet werden sollten, wurde die Zahl auf 15 beschränkt, um die Durchführung, Transkription und Auswertung bewältigen zu können.

10 Obwohl der Untersuchungsraum der Studie sich auf den deutschsprachigen Raum konzentriert, ergab sich in der Interviewpraxis eine Fokussierung auf Deutschland (10 Personen) und Österreich (2 Personen). Angefragte Schweizer waren leider nicht zu einem Interview bereit. Wie jedoch gerade auf den persönlichen Webpräsenzen deutlich wird, sind die religiösen Akteure im gesamten deutschsprachigen Raum gut vernetzt.

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Fällen diese Bedenken zerstreuen. Ich vermute, das Zögern ist darauf zurückzuführen, dass die Dominanz von Experten und Expertenwissen in den meisten wissenschaftlichen Diskursen auch von »normalen« Akteuren wahrgenommen wird. Unter den Interviewpartnern befand sich ein Mann (44 Jahre), die anderen waren Frauen zwischen 22 und 65 Jahren.11 Die Interviews wurden in einem Zeitraum von mehreren Monaten ab April 2007 durchgeführt und fanden alle bei den Interviewpartnern zu Hause statt. So konnte ich in vielen Fällen einen kurzen Einblick bekommen, wie die Religiositätskonstruktionen der Akteure auf die häusliche Raumnutzung oder Dekoration auswirken. Die Bandbreite reichte hier von einigen Behandlungszimmern, in denen spirituelle Heilungen durchgeführt wurden, über Gebetsecken und kleine Altare für Rituale bis hin zu Kerzen- und Engelsdekoration, die die Fensterbretter schmückten. Die Interviews dauerten bei den meisten Personen zwischen einer und eineinhalb Stunden, das längste Interview ging über drei Stunden. Im Folgenden werden die Interviewpartner in einem Kurzprofil vorgestellt, um den Lesern ein erstes Bild der Personen zu vermitteln. Alle persönlichen Angaben wurden anonymisiert, die verwendeten geschlechtsunspezifischen Namen wurden von mir ausgewählt und zugeteilt.12 Die Angaben beziehen sich auf den Zeitpunkt des Interviews, also von April 2007 bis Februar 2008. Alex ist Anfang 30 und lebt mit ihrer Familie (2 Kindern) im Norden von Deutschland. Bereits seit der Kindheit hat sie nach eigenen Angaben Kontakt zu ihrem Schutzengel, der für sie eine wichtige Bezugsperson darstellt. Den Zugang zum Diskurs gegenwärtiger Religiosität fand sie über Tarotkarten, wendete sich jedoch bald der Arbeit mit Engeln und Reiki zu. Sie beschreibt ihre Glaubensvorstellungen als »zusammengemixt«. Ihre religiöse Praxis (Reiki, Channelings, Meditationen) vermittelt sie in eigenen Seminaren und Sitzungen. Zeitweise un-

11 Die Geschlechter- und Altersverteilung der ausgewählten Akteure entspricht dabei den Tendenzen, die sich aus einem Überblick im Bereich gegenwärtiger Religiosität ergeben. Eine Studie dazu führte z. B. Stuart Rose (1998) für Großbritannien durch, der einen 70 prozentigen Frauenanteil im »New Age« ausmachte. 12 Um die zugesicherte Anonymität des männlichen Studienteilnehmers zu gewährleisten, wird im Folgenden bei allen Interviewpersonen die weibliche Sprach- und Darstellungsform verwendet. Wenn also von einer Interviewperson und ihrem Ehemann die Rede ist, so könnte es sich auch um den männlichen Teilnehmer und seine Ehefrau handeln.

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terhielt sie einen eigenen Internetshop, über den sie Bücher, aber auch selbst hergestellte Produkte wie Engelessenzen13 vertrieb. Andi lebt in einer Großstadt in Österreich, ist Mitte 40 und hat zwei Kinder. Nach einer familiären Krise und körperlichen Beschwerden stößt sie bei Recherchen im Internet auf Reiki und beginnt hier mit der Ausbildung. Mittlerweile arbeitet sie mit verschiedensten Energien und bietet hierzu auch Ausbildungen und Behandlungen an, wofür sie in ihrer Wohnung eigens ein Zimmer eingerichtet hat. Sie interessiert sich außerdem für Bachblüten, Klangschalen und Kartenlegen. Chris ist Mitte 60 und lebt in einer deutschen Großstadt. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie als Beamtin, begann jedoch bereits in den 1990er Jahren erste Seminare und Vorträge anzubieten. Heute bereist sie ganz Deutschland und Österreich und vermittelt in Seminaren ihre religiösen Vorstellungen. Jesus und die Essener, Energiearbeit und Reinkarnationserfahrungen sind nur einige Punkte in ihrem mittlerweile sehr ausdifferenzierten Lehrsystem. Jo wohnt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in der Nähe einer mitteldeutschen Metropolregion. Mit Mitte 50 kann sie von sich sagen, »Gott gefunden« zu haben bzw. »erwacht« zu sein. Christliche Neumystiker wie Frédérik Lionel14 oder Daskalos15 standen auf ihrem »Weg« genauso im Zentrum wie neohinduistische16 Lehren. Über ihre Erfahrungen hat sie mittlerweile ein Buch verfasst, das sie über ihre Webpräsenz vertreibt. Unter den interviewten Personen ist sie die Einzige, die keine Seminare anbietet. Kim ist Mitte 40 und lebt mit ihrer Familie in einer mittelgroßen Stadt im Westen Deutschlands. Stark geprägt durch kirchliche Strukturen in Kindheit und Jugend, tritt sie über das Lesen philosophischer und anthropologischer Werke immer mehr in den Diskurs gegenwärtiger Religiosität ein. Hier befasst sie sich in-

13 Engelessenzen sind meist kleine Fläschchen mit Flüssigkeit (häufig gefärbtes Wasser), die mit der spezifischen Energieschwingung eines Engels aufgeladen sein sollen. 14 Der 1908 geborene, inzwischen verstorbene Franzose Frédéric Lionel befasst sich in seinen Büchern mit Themen wie Tarot, dem neuen Bewusstsein, Pythagoras oder dem heiligen Gral. Vgl. Lionel 1989; 1990; 1991. 15 Siehe überblickend Portalseite »Researchers of Truth«: Zugriff unter: http://daskalos. org/ (04.01.12). 16 Hier in erster Linie das sog. Neo-Advaita.

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tensiv mit Daskalos und anderen christlich-mystischen Ansätzen. Im Mittelpunkt stehen neben Tarot und Räucherungen heute vor allem der Glaube an Engel und die rituelle Arbeit mit »magischen« Elementen. Luca ist alleinstehend, hat einen erwachsenen Sohn und lebt in einer deutschen Großstadt. Sie ist ca. 50 Jahre alt und blickt im Interview auf eine bewegte Biographie zurück. Familiäre Probleme, Erfahrungen mit Drogen, Arbeitslosigkeit bilden den Hintergrund für ihre Religiositätskonstruktionen. Im Zentrum steht hier die Arbeit mit unterschiedlichen Engeln, die sich auch in unterschiedlichen rituellen Praxen (Channeln, Meditationen) spiegelt. Bei ihr finden sich zahlreiche Anleihen aus dem rezenten Hexendiskurs. Maxi ist Anfang 40, alleinstehend und lebt in einem Ort nahe einer mitteldeutschen Metropolregion. Im Zentrum der religiösen Vorstellungen stehen Aufgestiegene Meister, Engel und Lichtarbeit. Sie engagiert sich über Vorträge und Seminare hinaus auch auf politischer Ebene und versucht hier neue »spirituelle« Netzwerke zu schaffen. Michi lebt mit ihrer Familie in einem Ort in Süddeutschland. Sie ist Anfang 50, arbeitet in einem Krankenhaus und wurde über eine Reikiausbildung aktive Teilnehmerin des gegenwärtigen religiösen Diskurses. Sie befasst sich mit einem breiten Spektrum religiöser Themengebiete: Bachblüten, Heilsteine, Mantren, Reiki, Indianer, Sufismus, Schamanismus, Engel u.v.m. Nicki wohnt zusammen mit ihrer erwachsenen Tochter am Rand einer österreichischen Großstadt. Mit Anfang 50 blickt sie auf eine stark katholisch geprägte Erziehung zurück, die sie bis heute beeinflusst. Im Zentrum ihres Glaubens und Wirkens steht Jesus. Sie selbst kann jedoch diesen christlichen Hintergrund problemlos in Einklang bringen mit ihrem Interesse an Reiki oder ihren Fähigkeiten Engelbotschaften zu übermitteln. Sam lebt mit ihrem Lebenspartner in einer norddeutschen Großstadt und ist ca. Mitte 40. Sie selbst bezeichnet sich als Engel-Therapeutin und Reiki-Meisterin und hat mit einer Bekannten ein eigenes Angebot geschaffen, bei dem sie ihr religiöses Wissen durch Coachings oder auf speziellen Reisen weitergeben. Die Arbeit mit Kristallen, Meditationen und Gebeten prägen ihre rituelle Praxis. Toni ist Mitte 50, lebt allein in einer westdeutschen Großstadt. Fundamental für die Ausbildung ihrer gegenwärtigen Religiosität ist zum einen ihr Kontakt zu

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Engeln, die sie channelt und deren Botschaften sie in Einzel- und Gruppensitzungen weitergibt. Zum anderen ist sie Anhängerin von Sathya Sai Baba, dessen Lehren sie ohne weiteres mit ihren aktuellen religiösen Interessen vereinbaren kann. Uli ist Mitte 20, alleinstehend und hat vor einiger Zeit ihre Ausbildung zur Heilpraktikerin begonnen. Bereits in früher Jugend zeigte sie Interesse an Reiki und besuchte im Alter von 16 Jahren die ersten Ausbildungen dazu. Über ihre damalige Lehrerin wurde sie auch auf Huna17 aufmerksam, ein Element, das in Kombination mit Reiki im Mittelpunkt ihrer heutigen religiösen Praxis steht. 3.1.2 Interviewdesign und Auswertung Entsprechend dem theoretischen Rahmen dieser Arbeit wurde in den Interviews das Hauptgewicht auf die Produktion von Erzählungen gelegt. Zum einen lag der Fokus auf den Religiositätskonstruktionen einzelner Subjekte, wobei hier insbesondere dynamische Transformations- und Aushandlungsprozesse interessierten. Daher wurde als erster Teil des Interviewdesigns ein narratives Interview für die Fragestellung entwickelt, in dem ich die Personen aufforderte, in diachroner Perspektive über ihre Religiosität zu sprechen. Zum anderen lag der Fokus auf den zwei Themengebieten, die im Rahmen der Forschung als besonders interessant eingeschätzt wurden: die rituelle Praxis der Akteure und die Nutzung moderner Medien. So wurde im Anschluss an den narrativen Teil des Interviews ein leitfaden-orientierter Interviewteil18 geschaltet, in dem die Personen explizit zu beiden Themenfeldern befragt wurden. Im narrativen Teil des Interviews wurden die Personen angeregt, möglichst eigenständig biographische Erzählungen zu ihrer Religiosität und deren Veränderung zu entwerfen. Wie bereits in einem vorhergehenden Kapitel dargestellt, bieten Erzählungen einen möglichen, empirisch gut umsetzbaren Zugang zu den diskursiven Identitätskonstruktionen. Ein narratives Interview sieht im Allgemeinen drei Teile vor: eine erzählgenerierende Einstiegsfrage, auf die dann eine möglichst vom Interviewer nicht unterbrochene, eigenständige und zusammenhängende Erzählung der befragten Person folgt. Im sogenannten tangentialen Nachfrageteil werden nach Beendigung des ersten ausführlichen Erzählflusses

17 Mit »Huna« bezeichnen Akteure eine gegenwärtige Form des Schamanismus, dessen Wurzeln auf Hawaii gesehen werden. 18 Da der biographische Teil der Interviews zeitlich einen großen Raum einnahm, beschränkte sich der Leitfragenteil auf einige, ausgewählte Fragen.

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gezielt Nachfragen zu inhaltlichen Unklarheiten gestellt. Als letztes folgt der sogenannte Bilanzierungsteil, indem der Interviewer die Möglichkeit hat, den Forschungskontext betreffende spezifische Nachfragen zu stellen.19 Die Formulierung der erzählgenerierenden Einstiegsfrage gestaltete sich zunächst etwas schwierig, ist doch im Vorfeld zu bedenken, dass die gestellte Frage die induzierte Erzählung entscheidend beeinflusst. Im Rahmen der Studie sollte der Fokus klar auf einer biographischen Erzählung zum Thema »Religiosität« liegen. In den ersten durchgeführten Interviews stellte sich jedoch heraus, dass allein die Verwendung der Vokabel »Religiosität« auf starke Ablehnungsreaktionen stieß. Daher wurde in den folgenden Interviews eine Erweiterung des Begriffs angefügt, um den Interviewpersonen ein weiter gefasstes Spektrum anzubieten, indem sie eine Eigenverortung vornehmen konnten. So wurden neben »Religiosität« noch die Begriffe »Spiritualität«, eine Vokabel bewusst aus dem Wortgebrauch der Akteure, und »persönlicher Glaube« in die Fragestellung integriert. In den folgenden Interviews erwies sich diese Wortkombination als geeignet. Somit lautete die Einstiegsfrage, die auf die biographische Entwicklung der individuellen Religiosität abzielte und zusätzlich einige Erzählanker enthielt, die als Hilfestellung und Orientierung für die Interviewperson dienten, wie folgt: Mich würde interessieren, wie sich ihre Religiosität, Spiritualität, ihr persönlicher Glaube bis heute entwickelt hat. Es wäre schön, wenn Sie vielleicht bei ihrem Elternhaus und ihrer Kindheit beginnen könnten, über die Jugendzeit bis heute. Gab es besondere Ereignisse oder Personen, die ihnen in Erinnerung geblieben sind? Nehmen Sie sich ruhig Zeit und erzählen Sie….

Falls der darauf folgende, erste Erzählfluss sehr knapp ausfiel, kamen erzählgenerierende Nachfragen zum Einsatz, die meist die Aufforderung enthielten, bestimmte, bereits genannte Punkte weiter zu explizieren. Im Bilanzierungsteil wurden anhand vorformulierter Leitfragen insbesondere noch zwei Bereiche abgefragt. Zum einen wurden die Personen aufgefordert, ihre Definitionen und Zuschreibungen zu den Wörtern Religion, Religiosität, Spiritualität und Glaube zu formulieren. Zum anderen wurde zur Analyse eventueller Rezeptionslinien nach Büchern gefragt, welche die Personen besonders beeindruckt hatten und an die sie sich noch besonders gut erinnern konnten. Im Anschluss daran folgte der zweite, leitfaden-orientierte Teil des Interviews, der den Personen zuvor angekündigt wurde, um ihnen die Möglichkeit einer Orientierung im Interviewrahmen zu geben. Zunächst wurden einige Fragen zum Thema Internet gestellt. Hier

19 Siehe dazu ausführlich Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 295ff.

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interessierte insbesondere das Nutzungsprofil, d. h. es wurde nach der Art und Dauer der Nutzung gefragt. Den Schwerpunkt bildete jeweils die eigene Webpräsenz. Ich fragte nach der Intention der Erstellung, nach Auswahlkriterien für den Namen, zur Entwicklung von Design und Inhalt und zum Feedback. Der zweite Themenschwerpunkt umfasste das Gebiet der Rituale. Hier wurde nachgefragt, was die Personen genau unter einem Ritual verstehen, welche Rituale sie wie durchführen und was aus ihrer Sicht für das Gelingen eines Rituals besonders bedeutsam ist. Nachdem das Interviewdesign nach den ersten durchgeführten Interviews gerade in Feinheiten der Fragenstellung ergänzt oder optimiert wurde, erwies es sich als gut praktikabel. Die interviewten Personen fanden sich innerhalb des Interviewrahmens zurecht und die gewonnenen Antworten stellten ein reiches Untersuchungsmaterial dar. Die Interviews wurden anonymisiert und vollständig transkribiert20, wobei eine Feintranskription jedoch aus arbeitsökonomischen Gründen nur bei ausgewählten, für die Auswertung bedeutsamen Stellen vorgenommen wurde. Im Rahmen einer Erzähltextanalyse wurden die Texte schließlich untersucht und interpretiert. Die Erzähltextanalyse wurde dazu benutzt, die Texte zunächst grundlegend für die folgende Interpretation zu erschließen. Hierzu zählten zunächst die Gliederung des Erzähltextes, die Bestimmung der Textsorten21, die Analyse temporaler Dimensionen (erzähltes Ich, erzählendes Ich, Erzählzeit, erzählte Zeit)22 und die Kennzeichnung sprachlicher Besonderheiten.23 Nach einer grundlegenden Erzähltextanalyse nach Lucius-Hoene und Deppermann wurden in weiteren Interpretationsschritten Positionierungsprozesse, narrative Muster und die Konstruktion des Erzählraumes näher betrachtet. Zudem wurden die im Interview erwähnten, religiösen und rituellen Elemente in ihrem jeweiligen Kontext

20 An dieser Stelle möchte ich Stefanie Mohr, Tobias Knoll, Jan Wessel, Laila Abu-ErRub und Hannah Grünethal danken, ohne deren Mitwirkung die Transkriptionsarbeit, die einen Umfang von 1000 Seiten deutlich überschritt, nicht zu bewältigen gewesen wäre. 21 Eine längere Erzählung besteht in den seltensten Fällen aus rein narrativen Elementen. Meist finden sich Mischformen mit eingeflochtenen Beschreibungen und Argumentationen. 22 Erzählte Zeit: Zeit, von der erzählt wird, in der die Geschichte stattfindet; Erzählzeit: Gegenwart der Erzählsituation. Erzählendes Ich: Das Ich des Erzählers während des Erzählens; Erzähltes Ich: das (vergangene) Ich des Erzählers in der Geschichte. 23 Vgl. dazu Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 109-176.

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erfasst. Mit Softwareunterstützung wurde eine Codierung24 aller Interviews vorgenommen, in der neben der Sammlung inhaltlicher Kategorien wie Verweise auf Engel, Jesus oder Reiki auch erste narrative Muster wie die Weg-Vorstellung oder die Konstruktion besonderer Kindheiten markiert wurden. Die verwendeten Codes wurden dabei aus den Interviews selbst herausgearbeitet bzw. auf Basis des Textes durch Interpretation erschlossen. Es wurde in komparatistischer Perspektive geprüft, inwiefern es sich dabei um interviewübergreifende Codes handelte. Die in allen Interviews dominant hervortretenden Codes wurden im Rahmen religionswissenschaftlicher Fragestellungen interpretiert, weiter abstrahiert und thematisch geordnet. Hieraus ergab sich schließlich die Auswahl und Gliederung für die folgenden Kapitel. 3.1.3 Internetmaterial Neben den Interviews stellen die persönlichen Homepages der befragten Akteure eine weitere wichtige Quelle dar. Auf dieser Basis wurden die Akteure nicht nur für die Interviews ausgewählt, auch der Nachfrageteil zur Mediennutzung bezog sich explizit auf die jeweilige Webpräsenz. Dazu wurden die Webseiten vorher einer ersten Analyse unterzogen. Soweit wie möglich versuchte ich hierbei die Komplexität und Multimedialität von Webpräsenzen zu beachten. Denn das Internet als Medienverbund25 schließt neben Texten vor allem auch Bilder, Video und Audio ein, die bislang gerade im Bereich der Forschung über computervermittelte Darstellung und Kommunikation nur ungenügend berücksichtigt werden.26 Im Rahmen eines multimethodischen Ansatzes wurden die für diese Arbeit untersuchten Seiten neben einer Textanalyse, auch einer Struktur- und weiteren Contentanalyse unterzogen. Bei der Strukturanalyse geht es vorwiegend darum, den Aufbau und die Untergliederung der Webpräsenz näher zu betrachten, die sich sowohl auf der Browseroberfläche als auch im Seitenquelltext zeigt. Bei letzterem ist gerade für religionswissenschaftliche Fragestellungen ein Blick auf die sogenannten Keywords gewinnbringend. Diese Wörter – eine Art Schlagwörter – werden von den Betreibern der Webpräsenz gewählt, um die Sei-

24 Unter »Codierung« wird hier die Entwicklung von Ordnungskategorien verstanden, die sich sowohl auf Inhalte, als auch auf narrative und argumentative Muster beziehen können. 25 Vgl. Meier 2008, 149f. Zu Methoden religionswissenschaftlicher Forschung im Internet und möglichen Problemfeldern siehe u. a. Krüger 2005, Hine 2006. 26 Vgl. Soukup 2000, 408.

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te näher thematisch zu charakterisieren.27 Sie bieten daher für die Analyse einen ersten Anhaltspunkt über die Selbstverortung der Akteure. Bei der Struktur gilt es außerdem, den Vernetzungsgrad der Seite in den Blick zu nehmen. Im Vordergrund stehen hier vor allem Verlinkungen zu anderen Webpräsenzen, aber auch Verbindungen zu anderen, dem Betreiber zuzuordnenden Seiten, wie z. B. angelagerten Webshops oder Foren. Bei der Analyse von weiterem (nichttextuellen) Content wurden schließlich die verwendeten graphischen und auditiven Elemente in den Blick genommen. Die Farbauswahl und das Design der Homepage standen hier im Mittelpunkt, da hierzu explizit Nachfragen in den Interviews gestellt wurden. Neben den Webpräsenzen der interviewten Akteure lag – wie zu Beginn des Methodenkapitels bereits dargestellt – insgesamt eine Auswahl von 237 Homepages aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität vor. Die Seiten nicht interviewter Akteure wurden keiner detaillierten qualitativen Analyse unterzogen, sondern nur einer ersten rudimentären quantitativen, um einige grundlegende Rahmendaten zu erhalten. Dazu zählte vor allem die Geschlechter- und Altersverteilung. Über die Geschlechterverteilung28 lassen sich folgende Angaben machen: Weiblich (Einzelperson)

77,6 %

Männlich (Einzelperson)

16,4 %

Mehrere Betreiber (2-4er Konstellatio-

4,2 %

nen, männlich/weiblich gemischt) Mehrere Betreiber (2er Konstellation,

0,4 %

weiblich/ weiblich) Keine Aussage möglich

1,3 %

Es fällt deutlich die starke Präsenz weiblicher Homepagebetreiber auf. Damit zeigen sich Differenzen zu dem, was in der jüngeren Forschung zur Altersstruktur »typischer« Homepagebesitzer erarbeitet wurde. So zeichnete die Soziologin Sabine Misoch in einer Studie aus dem Jahr 2004 folgendes Bild eines typischen Homepagebesitzers: In 80,7% der Fälle handelt es sich um Männer, die tenden-

27 Die Keywords, befindlich in den Metadaten einer Webpräsenz, dienen auch dazu, die Erfassung durch Suchmaschinen zu erleichtern. Siehe dazu auch die Beschreibung des World

Wide

Web

Consortium

(W3C),

Zugriff

unter:

http://www.w3.org/

TR/html401/struct/global.html#h-7.4.4.2 (09.03.12). 28 n= 237; ggf. Geschlecht über Domainabfrage und damit den Namen der Person erschlossen.

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ziell ca. 34 Jahre alt sind. Der typische Besitzer lebt alleine, ist unverheiratet und kinderlos, verfügt über ein hohes Bildungsniveau, liegt mit einem monatlichen Nettoverdienst von bis zu 1999 Euro jedoch deutlich unter dem ermittelten Durchschnittseinkommen allgemeiner Internetnutzer.29 Ebenso wie die Geschlechterverteilung weist auch die Altersverteilung Differenzen zum Durchschnitt der Homepagebesitzer auf. Vorweg ist allerdings zu bemerken, dass lediglich von 71,7% der untersuchten Homepages Aussagen über das Alter der Akteure getroffen werden konnten. Neben Altersangaben, die sich auf den Seiten meist in den biographischen Kurzbeschrieben finden ließen, wurden auch Schätzungen aufgrund von eingestellten Fotos vorgenommen. Dies birgt zwei Hauptprobleme: Zum einen ist für den Betrachter nicht ersichtlich, wie alt die Fotos sind, zum anderen sind Schätzungen immer subjektiv. Da es im Rahmen dieser Untersuchung jedoch darum ging, erste grundlegende Eindrücke zu sammeln, kann an dieser Stelle über die Unschärfe hinweggesehen werden, um zumindest einen Trend in der Altersstruktur aufzuzeigen. Die Altersverteilung zeigt sich basierend auf der Auswertung von 170 Webseiten, denen eine Altersangabe zu entnehmen war, wie folgt:

21-30 Jahre

4,2 %

31-40 Jahre

22,3 %

41-50 Jahre

47,1 %

51-60 Jahre

23,5 %

61-70 Jahre

2,4 %

71 plus

0,5 %

Hatte Misoch das Durchschnittsalter eines typischen Homepagebesitzers auf 34 Jahre ermittelt, zeigen sich hier erste Tendenzen, die eine diskursspezifische Altersstruktur vermuten lassen. Auffällig ist die starke Präsenz der Altersgruppe von 41-50 Jahren. Die Webpräsenzen der für diese Arbeit interviewten Personen und die weiteren persönlichen Homepages wurden in regelmäßigen Abständen gespeichert. Dies diente einerseits dazu, Aussagen über die Veränderlichkeit der Präsenzen zu treffen, andererseits aber auch eine Datengrundlage aufrechtzuerhalten, da die durchschnittliche »Lebensdauer« einer Webpräsenz nicht sehr hoch ist. So sind drei Präsenzen von interviewten Personen mittlerweile nicht mehr online. Weite-

29 Misoch 2004, 154.

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re Webpräsenzen, die im Rahmen der Arbeit Verwendung fanden, wurden zumindest in einer Version gespeichert. In den Zitationen wird entsprechend vermerkt, wenn eine Homepage inzwischen nicht mehr zugänglich ist. Die Daten können auf Anfrage bei der Autorin eingesehen werden.

3.2 D ARSTELLUNG DER A NALYSE WEITERES V ORGEHEN

UND

Die folgenden Analysen fokussieren zunächst die Interviewtexte. In dieser Version der Arbeit wurde auf eine diachrone Darstellung von Einzelfällen verzichtet30, in synchron-komparatistischer Perspektive werden direkt zu den jeweiligen Abschnitten Interviewzitate verschiedener Personen angeführt. Des Weiteren verzichte ich in der Mehrheit der Darstellungen darauf, Einzelheiten der Textanalyse wiederzugeben. Die zu den jeweiligen Abschnitten gehörenden Interpretationen und Ausführungen bewegen sich bereits auf einem abstrakteren Niveau, da die Darstellung der Einzelheiten zur Textanalyse den ohnehin nicht geringen Leseaufwand dieser Arbeit zusätzlich erhöht hätte. In der Wiedergabe der Interviewzitate wurde außerdem auf eine Feintranskription verzichtet. Der Text wurde mit Groß- und Kleinschreibung und Satzzeichen versehen, alle »ähms« und »mmhs« etc. wurden entfernt. Der geglättete Text präsentiert sich nun zwar leserfreundlicher, doch geht dies klar zuungunsten der Textgenauigkeit für die Nachvollziehbarkeit der Interpretation. Da das Buch jedoch auch den in Transkriptionszeichen ungeübten Leser ansprechen möchte, fiel die Entscheidung zugunsten eines geglätteten Interviewtextes. Die folgenden Analysen sind zunächst entsprechend der gewohnten Chronologie von biographischen Darstellungen gegliedert, bevor im Anschluss verschiedene Schwerpunktthemen präsentiert werden, die für die Untersuchung gegenwärtiger Religiosität von Bedeutung sind. In zwei anschließenden eigenständigen Hauptkapiteln werden dann Rituale und die Rolle moderner Medien gesondert thematisiert. Hier greife ich in den Darstellungen verstärkt auf das weitere Internetmaterial zurück, vorwiegend um den Lesern einen exemplarischen Eindruck der derzeit populären Rituale zu geben. Im Schlusskapitel dieser Studie

30 In der ersten Version der Studie wurden die Fälle Toni und Nicki exemplarisch ausführlich dargestellt. Hieraus ergaben sich erste Hinweise auf bestimmte narrative Muster und diskursive Aushandlungen. Diese werden in dieser Fassung direkt und in komparatistischer Perspektive vorgestellt.

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wird versucht, auf Basis der in der Analyse erarbeiteten Ergebnisse einen Bogen zu allgemeineren Diskursperspektiven zu schlagen. Wie bereits oben angesprochen, wurde allen Interviewpersonen im Rahmen der Studie Anonymität zugesichert, da mir ein geschützter Erzählraum für die freie Entfaltung der biographischen Erzählungen geeigneter erschien. Dies bedeutet nun jedoch auch, dass keine direkten Bezüge zu den jeweiligen Webpräsenzen der Interviewten gezogen werden können. Die Webseiten sind zwar in der Sammlung der insgesamt 237 Seiten enthalten (siehe Anhang), können hier jedoch nicht gesondert markiert werden.

4. Zur narrativ-diskursiven Konstruktion von gegenwärtiger Religiosität

Die Aspekte, die in diesem Teilkapitel vorgestellt werden, stellen einige ausgewählte Punkte dar, die im Rahmen der Betrachtungen zu gegenwärtiger Religiosität als besonders interessant erachtet werden. Es ist erneut deutlich zu betonen, dass hier kein vollständiges Bild der Konstruktions- und Aushandlungsmechanismen gegenwärtiger Religiosität aufgezeigt werden kann, da die ausgewählten Quellen nur bestimmte Perspektiven eröffnen. Es werden zunächst verschiedene narrative Muster, Topoi und Positionierungen anhand der Interviewaussagen rekonstruiert. Im Anschluss daran gilt es, jeweils nach der diskursiven Einbettung bzw. Formierung und Transformation dieser Strukturen zu fragen. Verweise sind hier vor allem auf mediale Wortführer des Diskurses wie z. B. prominente Buchautoren oder institutionelle Experten zu ziehen, die bestimmte Sprecherpositionen innerhalb der diskursiven Aushandlungen besitzen bzw. diese zugeschrieben bekommen. In den Reflexionen dazu wird auf bereits vorliegende Analysen zu diesen Wortführern zurückgegriffen, die sich primär mit der Darstellung zentraler Inhalte oder Argumente dieser Akteursgruppe befassen. Der Aufbau der nächsten Teilkapitel folgt einer vom Akteur ausgehenden, sich erweiternden Perspektive. Zunächst stehen biographische Entwürfe im Mittelpunkt, in denen die Akteure narrativ ihre aktuelle religiöse Identität konstruieren. Anschließend werden ausgewählte inhaltliche Konzepte ebenso wie Positionierungs- und Grenzziehungskonstruktionen näher betrachtet. Hier wird einerseits deutlich, wie religiöse Elemente gestaltet sein müssen, um über narrative und argumentative Strukturen in die Selbstkonstruktionen Eingang zu finden. Andererseits setzen sich die Akteure auch stetig in Beziehung zu anderen Subjekten bzw. zu Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen. Sie verorten sich selbst und positionieren damit gleichzeitig »die anderen«, was letztlich zu einem komplexen Zugehörigkeits- und Abgrenzungsgeschehen führt.

112 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN

4.1 R ELIGIOSITÄT

IM

L EBENSLAUF

Die narrativen Muster, die in der Konstruktion von Lebensläufen verarbeitet werden, orientieren sich an dem, was Alfred Schütz (mit Luckmann) »typische Biographien«1 nennt, die sich jedem in jeder Gesellschaft anböten. Heiner Keupp hingegen spricht von sogenannten »narrativen Ready Mades«2, kulturell vorgeprägte, meist in unterschiedlichen Varianten und Medien überlieferte und rezipierte Vorlagen, die von Subjekten in der Ausformung der narrativen Identität herangezogen werden. So gestaltet sich die situativ gebundene Ausprägung der narrativen Identität im Wechselverhältnis von rezipierbaren, bereits vorgeformten, adaptierbaren Erzählmustern und subjektiven narrativen Verarbeitungen, in deren Zuge es vor allem zu Transformationen und individuellen Anpassungen kommen kann. Den Ausführungen im Theoriekapitel dieser Arbeit folgend, wird dabei die Annahme zugrunde gelegt, dass diese Prozesse der Rezeption, Transformation und Kommunikation biographischer narrativer Muster diskursiven Aushandlungen unterliegen. Bei der Ausformulierung religiöser Biographien dürften erwartungsgemäß sowohl spezifische Erzählvorlagen aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität rezipiert werden, als auch allgemeine Muster biographischer Geschichtsschreibung. Gesamtbiographische Erzählungen, gleichgültig ob in Situationen entstanden, in denen explizit zur Produktion aufgefordert wurde (wie im Falle der im Rahmen der Studie erhobenen Interviews) oder als gewählte Möglichkeit der Selbstrepräsentation (zum Beispiel auf Homepages), folgen bestimmten Strukturen, die das Grundgerüst einer solchen Erzählung vorgeben. Im europäischen Kulturraum existierten verschiedene Strukturen, nach denen biographische Erzählungen gestaltet werden können. Eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die dominanteste Grundstruktur sieht eine chronologische Orientierung der Erzählung vor. Der Erzähler oder Biograph setzt mit der Geburt der betreffenden Person ein, lässt die Umstände und Entwicklungen innerhalb der Kindheit und Jugend folgen und gelangt schließlich ins Erwachsenenalter bis zum aktuellen Erzählzeitpunkt. Diese Erzählstruktur kann auf eine lange Überlieferungstradition zurückblicken3 und ist bis heute eine der prägenden Formen, die z. B. durch die Medien vermittelt wird. Sie kann selbst sowohl als Ergebnis als auch als Produktionsbasis für den modernen Subjektdiskurs gelten, spiegeln sich in ihr doch Topoi wie die Idee einer kontinuierlichen persönlichen (Fort-)Entwicklung oder die

1

Schütz & Luckmann 2003, 146.

2

Keupp, Ahbe & Gmür 2006, 104.

3

Vgl. dazu Niggl 1998.

N ARRATIV - DISKURSIVE K ONSTRUKTION

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Grundannahme von der absoluten Einzigartigkeit eines jeden Menschen wider. Diesen Umstand reflektierend wurden die Akteure im Rahmen der Datenerhebung aufgefordert, diesem dominanten Erzählmuster von Biographie zu folgen. Denn bereits auf den Webpräsenzen der meisten Akteure war zu erkennen, dass sie von sich aus ebenfalls diesem traditionellen biographischen Erzählmuster folgen. 4.1.1 Ein besonderes Kind Die Verknüpfung der eigenen Biographie mit bestimmten religiösen Konzepten gegenwärtiger Religiosität wird von den Akteuren bereits in der Erzählsequenz zur eigenen Kindheit vorgenommen.4 Hierzu bedienen sich viele Akteure einer narrativen Struktur, die innerhalb der diskursiven Aushandlungen als dominant gelten darf und mit deren Hilfe sie sich auf eine bestimmte Art und Weise positionieren. In der Beschreibung ihrer Kindheit entwerfen sie ein Bild von sich selbst als »besonderes Kind«. Dieses wird – wie gleich anhand der Beispiele deutlich wird – subjektspezifisch in der eigenen biographischen Erzählung umgesetzt. Aus dem Datenmaterial lassen sich insgesamt einige Tendenzen erkennen, wie sich die beteiligten religiösen Akteure selbst als »besonderes Kind« beschreiben bzw. ihr kindliches Umfeld retrospektiv konstruieren und sich darin verorten. Das erste rekonstruierte Selbstbild »Kind« weist einen hohen Grad an Selbstständigkeit und Reflektiertheit in Bezug auf Glaubensfragen auf. Sam erzählt:

4

Innerhalb der Anfangssequenzen der biographischen Erzählungen wird dem Hörer ein Bild eines Kindes vorgestellt, so wie es der Erzähler aus seiner heutigen Sicht heraus (re-)konstruiert. Diese Konstruktionen sind in hohem Maße durch das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld der Erzählerinnen geprägt. In komplexen Aushandlungsprozessen werden von einzelnen Akteuren, Institutionen, den Medien etc. Konzepte von Kindheit bzw. Konstruktionen von Kindheitsbildern vorgestellt, verhandelt und ausgetauscht, welche sich auch in biographischen Erzählungen einzelner Akteure wieder finden. So können nach Kurt Lüscher (zitiert nach Magdalena Joos) u. a. drei Konzepte von Kindern unterschieden werden: 1) »das verletzliche, schutzbedürftige (verwahrloste) Subjekt«; 2) »die sich in aktiver Auseinandersetzung mit Lebenswelten entwickelnde Person …« und 3) »das autonome, mit Rechten ausgestattete Individuum«. Siehe dazu Joos 2006, 144f.

114 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Sam: Ich mein, ich komm aus [T-Land] und da ist es halt ganz wichtig katholisch, sehr katholisch, sehr streng. Es geht weniger darum, was man glaubt, sondern was der andere sagt, so ungefähr. Das war mir halt, das ging mir sehr gegen den Strich. Ich hab gesagt »Nein, so bringt man den lieben Gott nicht zu den Menschen und das ist nicht gut, weil, ja, man muss es ihnen auf ne andere Art und Weise zeigen.« Ich wusste nicht, wie. Ich war zu klein, aber das war mir ganz wichtig und ich hatte einen ganz besonderen Draht zu Jesus. Und da hat es mir das Herz irgendwie in 1000 Stücke auseinander gebrochen, als ich in den katholischen Kirchen Jesus am Kreuz hab hängen sehen, weil meines Erachtens war das so, es soll nicht symbolisieren, dass wir leiden, sondern dass wir aus dem Leid rausgehen. Er möchte ja, dass es uns gut geht. Das war mein Glaube, als ich ganz klein war.

Sam schildert zunächst die geographische Verortung ihres Glaubens, der kirchen-christlich geprägt ist. Es wird eine Charakterisierung der religiösen Strukturen vorgenommen, indem zwei Bilder kontrastiert werden: Glaube um des Glaube willens im Gegensatz zu einer Religiosität, bei der kontrollierende soziale Strukturen im Vordergrund stehen. Sam lehnt letzteres Verhalten, das mit kirchlicher Religiosität assoziiert wird, ab bzw. beschreibt sich als emotional berührt. Dies zeigt sich auch im folgenden Abschnitt, der dem eben angeführten Interviewzitat unmittelbar voran geht: Sam: Und es macht mich halt sehr traurig, dass die Menschen teilweise nur in die Kirche gehen, um der Tatsache willen, dass die andere Menschen sehen, dass sie in die Kirche gehen, aber nicht wirklich aus diesem Glauben heraus.

Wie aus der temporalen Perspektive dieses Ausschnitts deutlich wird, spricht Sam an dieser Stelle zum Hörer aus einer gegenwärtigen Perspektive. Im Fortlauf des Interviews ist zu sehen, wie diese aus der gegenwärtigen Situation entwickelte Überlegung zur Kontrastierung in die Konstruktion der kindlichen Umgebung übertragen wird. Sam beschreibt sich weiter als Person, die sich bereits im Kindesalter gegen die Deutungshoheit eines religiösen Expertentums auflehnt und dieses als unzutreffend zurückweist. An einem konkreten Beispiel (Jesus am Kreuz) kontrastiert sie sehr emotional die der katholischen Kirche zugeschriebenen Deutungsmuster mit den eigenen und positioniert sich somit bereits in der Kindheit als selbstständig reflektierende Person, die sich mit religiösen Vorstellungen auseinandersetzt. Sam präsentiert hier einen individuellen Glauben, welcher der eigenen Kinderfigur zugeschrieben wird. Die religiösen Reflexionen aus heutiger Sicht werden retrospektiv auf die eigene Kinderfigur übertragen. Wichtig ist außerdem zu be-

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merken, dass kirchen-christliche Strukturen im gesamten Abschnitt als Kontrastbzw. Abgrenzungsfolien von Sam herangezogen werden. Dies wird in einem folgenden Kapitel noch gesondert auszuführen sein. Auch Jo beschreibt sich als ein Kind, das in Glaubensangelegenheiten sehr selbstständig agiert. Jo: War von klein auf sehr gläubig und an Gott interessiert und bin dann, wir waren evangelisch, aber die evangelische Kirche war so ein Betonding, so eine neue. Und dann bin ich immer alleine in die kleine katholische Kirche gegangen, die war nämlich immer offen, waren lauter so Heiligenbildchen, da konnte man Weihwasser und so. Und [ich] hatte halt irgendwie schon früh das Bedürfnis, mich da hin zu begeben, in so ne Schwingung, die war ja in der evangelischen Kirche nicht.

Jo stellt sich rückblickend als ein Kind dar, das in Abgrenzung zur familiären religiösen Verortung bereits selbstständig eigene Wege in der Auswahl der religiösen Orte trifft. Retrospektiv wird dies in Bezug gesetzt zu der aktuellen Realitätskonstruktion, in der energetische Schwingungen eine große Rolle spielen. Dies lässt das Kind als eine Person erscheinen, in der bereits eine gewisse Besonderheit zum Ausdruck kommt. Jo rekonstruiert das Kindbild gleichsam so, als ob das Kind ganz selbstverständlich unterschiedliche religiöse Qualitäten unterscheiden könne. Hier deutet sich ein weiteres Charakteristikum an, welches sich auch in anderen Sequenzen wieder findet. Bereits für das Kindesalter konstruieren sich die Akteure als Personen, die sich gegenüber anderen durch ihre Religiosität oder religiöse Wahrnehmung auszeichnen. Zur Darstellung und Begründung dieses Musters werden unterschiedliche Narrative herangezogen. So können außergewöhnliche Ereignisse aus der Kindheit zur Unterstützung der Konstruktion von Besonderheit angeführt werden. Häufig finden sich Schilderungen von dramatischen Ereignissen wie Gefahrensituationen, die durch das Eingreifen von übermenschlichen Dritten entschärft werden.5 Das Motiv der Besonderheit wird auch durch die Darstellung auszeichnender Fähigkeiten oder Wahrnehmungen hervorgehoben. So berichtet Alex: Alex: Ich hab von Anfang an, also ich kann mich nicht erinnern, wann ich mal nicht an meinen Schutzengel geglaubt hab, obwohl sie [die Mutter, N.M.] überhaupt nicht an Engel glaubt. Also das war für mich von Anfang an, von klein auf klar. Ich hab auch von klein

5

Toni erzählt beispielsweise, dass sie als Kind »auf wundersame Weise« durch einen Engel vor dem Ertrinken gerettet wurde.

116 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN auf an meditiert, ohne es eigentlich zu wissen, also das war wirklich mir in die Wiege gelegt.

Alex stellt die Religiosität mit den dazugehörigen rituellen Handlungen als Wissen bzw. Fähigkeit dar, die ihr von Geburt an gleichsam intrinsisch eingeschrieben waren. Alex zeichnet sich damit implizit gegenüber anderen aus. Auch in diesem Abschnitt findet sich eine Kindbildkonstruktion, die geprägt ist von Selbstständigkeit. In Abgrenzung zur Mutter beschreibt Alex den eigenen Glauben, der Elemente enthält, die nach eigener Aussage nicht durch das soziale Umfeld aufgenommen wurden. Die eigene Religiosität erscheint somit aus der Person selbst heraus begründet und wird dadurch legitimiert. Im Gegensatz zu den Erzählungen über ein sehr selbstständiges Verhalten in Bezug auf religiöses Denken und Handeln in der eigenen Kindheit findet sich in den Interviews der befragten Akteure auch die Figur eines Kindes, das im Hinblick auf die eigene Religiosität eher den familiären Strukturen folgt. Doch auch hier zeichnen sich die Erzähler jeweils als besonderes Kind aus, indem z. B. einzelne Elemente hervorgehoben werden (insbesondere Ritualelemente), die als Kind bewusst wahrgenommen und teilweise reflektiert wurden. Dazu erzählt Andi: Andi: Meine Mama hatte so eine Marienstatue in der Ecke stehen und, ich weiß auch gar nicht, ich wusste es einfach. Also ich hab immer an Gott geglaubt, also das war einfach so. Da also kann auch gar nicht mich zurückerinnern, ob es da ein besonderes Ereignis gegeben hat. Das war einfach so. Und eben schon als Kind bin ich eben, wie man es halt so kennt, wenn man Sorgen hat oder Probleme oder man traurig ist, hab ich mich halt oft davor gekniet und hab gebetet.

Andi zeigt sich in diesem Abschnitt deutlich geprägt von familiären religiösen Strukturen, konstruiert ihren Glauben an Gott jedoch auch als Element, das ohne weitere Reflexionen als »einfach« vorhandenes Wissen angesehen wurde. Im Rahmen dieser familiären Religionsstrukturen präsentiert sie sich als Kind, das vor allem durch seine selbstverständliche und selbstständige rituelle Handlung auffällt. Interessant ist in diesem Fall, dass die narrative Positionierung als selbständig rituell handelndes Kind, das gleichzeitig Anschluss sucht an familiäre Gegebenheiten von Religiosität – hier eine katholische Prägung – bei der Akteurin nicht erstmalig in der Interviewsituation auftaucht. Auch auf ihrer Homepage stellt sie sich selbst als Kind vor, das vor der Marienstatue betet. Des Weiteren betont sie, dass sie schon als Kind über das Wissen darüber verfügte, dass es mehr gebe als sinnlich wahrnehmbar oder wissenschaftlich belegbar ist. Man

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kann annehmen, dass durch die Formulierung und schriftliche bzw. gestalterische Fixierung der Kurzbiographie auf der persönlichen Homepage bestimmte narrative Sequenzen ausgearbeitet und für den weiteren Gebrauch gefestigt werden. Überblickend lässt sich festhalten, dass sich in unterschiedlichen Abstufungsgraden Kindbildkonstruktionen finden, in denen ein hohes Maß an Reflexivität und Selbstständigkeit vorherrscht. Die Kinder agieren nur dann als passive Rezipienten, wenn vorgegebene hierarchische Strukturen innerhalb der Familienreligiosität eine selbstständige Reflexion beschränkten. Die Familienreligiosität6 und deren Rekonstruktion und Wirkmechanismen innerhalb der Erzählungen werden im Anschluss gesondert thematisiert. Dass die individuelle Konstruktion von Religiosität nicht losgelöst von ihren Kontexten betrachtet werden kann, sondern immer in Rückbindung an soziale und kulturelle diskursive Aushandlungen gesehen werden muss, wurde bereits mehrfach betont. Familiäre Strukturen stellen dabei einen wichtigen Rezeptionspunkt im Bereich der individuellen Identitätsarbeit dar.7 Bei der Konstruktion von Religiosität gilt es daher zunächst nach Bedeutungszuschreibungen an den Bereich der Familienreligiosität zu suchen, bevor diese in weiterführende Zusammenhänge gestellt werden. Im Vorfeld ist in Erinnerung zu rufen, dass das Elternhaus als narrative Stütze von der Autorin in der Eingangsfrage zu den Interviews genannt wurde. Alle Interviewpersonen griffen diese Stütze auf. Dabei waren jedoch deutliche Unterschiede sowohl in der formellen wie inhaltlichen Gewichtung zu beobachten. Das Spektrum der zugemessenen Bedeutung von Religiosität innerhalb der Familie umfasst dabei sowohl familiäre Strukturen, in denen Religiosität eine zentrale Rolle spielte, als auch Elternhäuser, die als eher distanziert zu religiösen Themen beschrieben werden. Zur Benennung der Glaubensstrukturen innerhalb der Familie werden meist Kategorien wie »evangelisch« oder »katholisch« oder »nicht gläubig« verwendet, eine differenzierte Kategorisierung findet sich nicht. Ein Großteil der Akteure schildert, dass sie die religiösen Familienstrukturen, bei denen nicht nur die Eltern-, sondern auch die Großelterngeneration eine Rolle spielt, gleichsam automatisch übernahmen bzw. der religiöse »Weg« zunächst von den Eltern vorbe-

6

Eine theologische Untersuchung zu diesem Bereich liegt von Ulrich Schwab vor.

7

Als weitere Kontexte sind die schulische Ausbildung, Peergroups und mediale Inhalte

Schwab 1995. zu nennen. Da in den Interviews insbesondere das familiäre Umfeld hervortrat, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf diesen Bereich.

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stimmt wurde. Dies umfasst neben dem entsprechenden Schulunterricht auch das Erlernen bzw. die Durchführung von Ritualen im Kindesalter. So schildert Uli die Situation in der Kindheit wie folgt: Uli: Ok, muss ich zurückdenken, also meine Kindheit, mein Vater ist sehr katholisch erzogen worden, meine Mutter ist Evangelin und das war für meine Oma väterlicherseits nicht so einfach, dass mein Vater dann mit einer evangelischen Frau zusammengezogen ist und geheiratet hat, weil meine Oma väterlicherseits doch wirklich sehr sehr konservativ katholisch ist. Mein Vater kommt aus G-Stadt. G-Stadt ist ja so Erzdiözese Stadt und hat ja auch so’n den Ruf, so ein bisschen konservativ katholisch zu sein. Wenn man also, es war quasi, ich glaube es ist auffällig geworden, dass wir Kinder auf jeden Fall katholisch sein sollten, von der Konfession her und meine Mutter hatte da nichts dagegen. Sie hatte mit Kirche allgemein nicht viel zu tun, mütterlicherseits ist nicht sehr kirchlich geprägt. Ja, man hat dann das alles durchexerziert, Firmung, Kommunion beziehungsweise andersrum.

Uli sieht ihre kindliche religiöse Prägung in der Familienstruktur verankert, wobei die Bestimmungshoheit und Handlungsmacht klar den älteren Generationen zugeschrieben werden. Die Verwendung der Vokabel »durchexerzieren« lässt anklingen, dass sich die Interviewperson lediglich in einer passiv handelnden, vorgegebenen Strukturen folgenden Rolle sieht. Uli erwähnt ihre Teilnahme an traditionellen kirchlichen Kindheits- und Jugendritualen, ohne jedoch auf diese detaillierter einzugehen. Neben diesem von der Akteurin konstatierten Einfluss kirchen-christlicher Konzepte und Rituale ist allerdings im Fortgang der Erzählung erneut zu beobachten, dass sie sich als »besonderes Kind« hervorhebt. Gegen den Widerstand ihrer Mutter und als jüngste Teilnehmerin besucht sie im Alter von erst dreizehn Jahren ihren ersten Reiki-Kurs. Von starken kirchlichen Prägungen, die vor allem als durch die Familie vermittelt dargestellt werden, berichtet auch Nicki: Nicki: Ja, also aufgewachsen in einer, wie man halt so schön sagt, sehr streng katholischen Familie. Und mein Opa und meine Oma vor allem waren halt so richtig brave Kirchengänger, die jeden Sonntag in der Kirche waren, die bei jedem Festtag in der Kirchen waren und die den Glauben sehr streng, für mich damals, gelebt haben. Das hab ich so als Kind schon erlebt, weil man halt so sagt, so gar keine 10 Jahre alt, hab ich da das schon so bemerkt. Meine Oma hat sehr viele Wallfahrten gemacht und bei diesen Wallfahrten hab ich auch sehr sehr häufig mitfahren dürfen. Ich red da jetzt speziell von meiner Oma, weil also da war meine Mutter eigentlich nie so präsent, da hat sich meine Mutter so ein bisschen raus gehalten, das hab ich eher mit den Großeltern gelebt. Ich bin auch mit dem Opa sehr

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gerne in die Kirche gegangen und mir hat das einfach fasziniert, dieses Beten, dieses Singen, dieses miteinander Feiern, das hat mich eigentlich fasziniert.

Nicki beschreibt, dass die familiären religiösen Orientierungen gerade im Bereich der rituellen Praxis prägend oder zumindest erinnerungs- und damit erzählwürdig sind. Nach ihren Angaben konnte bereits damals eine Einstufung der Religiosität der älteren Generation als »streng« gläubig bzw. bei der Mutter als eher unbeteiligt vorgenommen werden. Wie oben bereits Uli zeigt, wird Religiosität auch hier nicht als homogen gruppenspezifisch (in diesem Falle für die Gruppe »Familie«) betrachtet, sondern es kommt auch aus emischer Perspektive zu Differenzierungen der Bedeutungszuschreibungen an Religiosität in der Lebenswelt. Des Weiteren wird die Teilnahme an kirchlichen Ritualanlässen herausgestellt, die von der Interviewperson als emotional berührend beschrieben werden. Dabei wird neben der Teilnahme insbesondere der Erlebnischarakter der rituellen Handlungen betont. Man kann annehmen, dass gerade dieser Erlebnischarakter die Memorierung dieser Strukturen unterstützt, sodass sie Eingang in die narrativen Konstruktionen der biographisch-orientierten Religiosität und Ritualität finden. Beide oben genannten Erzähleinheiten weisen bei der Darstellung der Aneignungsprozesse religiöser Elemente einige charakteristische Merkmale auf, die sich auch in anderen untersuchten Erzählungen finden: Als Einstieg wird die Familienreligiosität mit bekannten Kategorien umschrieben, im Anschluss daran erfolgt eine Einschätzung der unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen an Religiosität innerhalb der familiären Strukturen (Charakterisierung der Wichtigkeit), bevor im Folgenden die Explikation der Glaubensstrukturen anhand von Beispielen rituellen Handelns aufgezeigt wird. In diesem Rahmen wird schließlich eigenes, durch das familiäre Umfeld erlerntes religiöses Handeln erwähnt. Neben der Aneignung von religiösen Strukturen kommt es im Bereich der Familie jedoch auch zu Abgrenzungs- bzw. Exklusionsstrategien. Folgender Erzählabschnitt von Alex, der bereits oben zur Interpretation herangezogen wurde, kann auch im Hinblick auf diese Thematik herangezogen werden. Alex erzählt: Alex: In meiner Kindheit war es an sich so, meine Mutter war sehr gläubig, also jetzt nicht kirchlich, sondern ja sie glaubt an Gott, sehr fest, aber es hat nicht unbedingt primär jetzt was mit der Kirche zu tun, es ist eher so ein bisschen ihr eigener Weg. Und das hat merkwürdigerweise, so gut wie gar nicht auf mich abgefärbt. Ich hab von Anfang an, also ich kann mich nicht erinnern, wann ich mal nicht an meinen Schutzengel geglaubt hab, obwohl sie überhaupt nicht an Engel glaubt.

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Nach einer Charakterisierung der Glaubensvorstellungen der Mutter, bei der auf kirchliche Religiosität als Abgrenzungsfolie verwiesen wird, konstatiert Alex, dass die religiösen Vorstellungen ihrer Meinung nach nicht »abgefärbt« hätten. Nach Alex‫ ތ‬Wahrnehmung ist als wichtiges Element des mütterlichen Glaubens »Gott« zu identifizieren. Außerdem gehe die Mutter ihren »eigenen Weg«. Die im Folgenden dargestellte Abgrenzung könnte sich auf beide Punkte beziehen, wie jedoch aus dem weiteren Kontext des Interviews hervorgeht, bezieht sie sich auf die Zentralität Gottes innerhalb der Religiosität. Dem wird eine eigene Vorstellung entgegengestellt, in deren Mittelpunkt der Glaube an Engel steht. Als legitimierendes Mittel wird darauf verwiesen, dass diese bestimmten Glaubensvorstellungen »von Anfang an« da waren, der Interviewperson somit seit Lebensbeginn eigen waren. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Akteure ihre eigene Kindheit unter Rückgriff auf Konzepte wie Selbstständigkeit in Glaubensfragen und/oder die Auszeichnung durch besondere spirituelle Fähigkeiten oder Erlebnisse konstruieren. Eine wichtige Orientierungs- und Abgrenzungsfolie stellt auch die Religiosität der Familie dar. Insgesamt passen die narrativen Muster über die eigene Kindheit zur weiteren Ausarbeitung der religiösen Biographie. Die Konstruktion von Kindern, die sich einerseits über spezielle Fähigkeiten im spirituellen Bereich von anderen Kindern absetzen, die andererseits aber auch stark in familienreligiösen Strukturen sozialisiert sind, lassen einen kohärenten Identitätsentwurf im narrativen Gesamtgeschehen entstehen. Die Bedeutung eines narrativen Musters »besondere Kindheit« lässt sich auch nachvollziehen, wenn der Blick auf weitere Selbstdarstellungen von Akteuren in anderen Medien gerichtet wird. In der Durchsicht der für diese Studie ausgewählten Homepages fällt auf, dass sich die Thematisierung der eigenen religiösen Biographie dreifach charakterisieren lässt: eine Darstellung ab der Kindheit, eine Darstellung ab dem Einsetzen der Beschäftigung mit bestimmten religiösen oder rituellen Themen (meist mit Beginn heiltherapeutischer Ausbildungen wie Reiki) im Erwachsenenalter oder keine Darstellung der eigenen Person. Im ersten Fall – also wenn eine Darstellung der Biographie ab der Kindheit vorhanden ist – kann man deutlich erkennen, dass auf das narrative Muster der »besonderen Kindheit« zurückgegriffen wird. Folgend einige Beispiele zur Illustration:

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Ich heiße Sigrun Butscher und wurde 1965 in Wien geboren. Ich entdeckte schon in früher Kindheit die Gabe, Dinge zu ›sehen‹, zu ›wissen‹. Damals verwirrte mich das, heute weiß ich, es ist mein Weg, mit Energien arbeiten zu dürfen!8 Schon als Mädchen sah, träumte und spürte ich Energien, Ereignisse und Gefahren im Voraus. In meiner Familie mütterlicherseits zieht sich die Heilarbeit und Sensitivität wie ein roter Faden bis auf meine Urgroßmutter zurück.9 Mein Name ist Bianca Shirana Albertz. Schon als Kind hat [sic!] mich mein Glauben und meine ausgeprägte Intuition in allen Handlungen geführt.10

Wie aus den Interviewausschnitten deutlich wird, scheint die konkrete inhaltliche Ausformulierung des narrativen Musters individuell anpassbar. Ob mediale Fähigkeiten, ein besonders fester Glaube oder bestimmte rituelle Praktiken – im Rahmen der Aushandlungen der religiösen Identität im Diskurs gegenwärtiger Religiosität kann die narrative Struktur »besondere Kindheit« akteursspezifisch gefüllt werden. Es kann weiterhin überlegt werden, inwiefern der Diskurs selbst inzwischen eine solche biographische Positionierung im Rahmen der Erzählung der eigenen Kindheit geradezu fordert. Insbesondere in den öffentlichen Darstellungen (z. B. auf persönlichen Homepages) ist das narrative Muster einer besonderen Kindheit zusammen mit einer detaillierten Darstellung der eigenen Ritual(-therapeutischen)-Ausbildungen und deren Abschlussnachweisen (z. B. Zertifikate, Diplome) ein zentraler Punkt in der Selbstpositionierung der Akteure. Beides signalisiert einerseits Zugehörigkeit zum Diskurs, in beiden spiegeln sich jedoch andererseits auch dominante Momente des Diskurses wie die Betonung des individuellen Weges oder des eigenen Expertentums wider. Zum weiteren Verständnis müssen jedoch zuerst noch die weiteren Materialauswertungen gehört werden. Im weiteren Verlauf der biographischen Konstruktion kommt es dann, meist im einsetzenden Erwachsenenalter, zu sogenannten religiösen Schlüsselerlebnis-

8

Homepage »Licht ist leben«. Zugriff unter: http://www.licht-ist-leben.de.tl/-Ue-bermich-.htm ( 21.01.12).

9

Homepage »Lichtspirale«. Zugriff unter: http://www.lichtspirale.ch/index.php?id= barbara_hofstetter (21.01.12).

10 Homepage »Energetische Oase«. Zugriff unter: http://www.engelsenergie-bianca. com/ (21.01.12).

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sen, die den weiteren Verlauf der Ausarbeitungen der eigenen Religiosität entscheidend beeinflussen. 4.1.2 Religiöse Schlüsselerlebnisse Der Begriff des Schlüsselerlebnisses bzw. der Schlüsselerfahrung wurde im Kontext der Untersuchung gegenwärtiger Religiosität, hier speziell der Esoterik, bereits 1993 von dem Soziologen Horst Stenger verwendet. Unter einem Schlüsselerlebnis versteht er Folgendes: Schlüsselerlebnisse eröffnen einen Kontext, also einen Sinnzusammenhang, indem der evidente Sachverhalt mit anderen Sachverhalten und Erfahrungswerten verknüpft, darauf bezogen wird.11

Konkretisiert auf die Anwendung innerhalb »okkulter« Kontexte – hier übernimmt Stenger vor allem die soziologische Terminologie – bedeutet dies, dass die Person durch ein solches Erlebnis die Fähigkeit erhält, »Okkultes als Realität zu erleben, oder okkulten Sinn zu konstruieren.«12 Als Grundlage für ein solches Schlüsselerlebnis sieht der Autor einen »Erfahrungszusammenhang, der eine doppelte Evidenz beinhaltet. Die erste Evidenz betrifft das Bewusstwerden einer Situation existenziellen Mangels, die zweite Evidenz die des Mangelausgleichs in einem (sozial gesetzten) okkulten Kontext.«13 Damit stellen Schlüsselerlebnisse für ihn Begebenheiten dar, die funktional auf die Beseitigung eines Mangels und auf die Eingliederung in einen neuen Kontext hin gedeutet werden. Wie das im Rahmen dieser Arbeit untersuchte Material zeigt, stellt diese Interpretation jedoch lediglich eine Facette der Bedeutungszusammenhänge dar. Eine einfache funktionalistische Reduktion des Zusammenhangs auf Mangelsituationen ist mit Sicherheit zu kurz gegriffen und bedarf eines Einbezugs der im Diskurs vorhandenen dominanten Authentifizierungs- und Legitimationsmuster. Als Schlüsselerlebnis wird im Folgenden eine narrative Sequenz bezeichnet, die durch spezielle Markierungen oder Hörerorientierungspunkte als besonderer Inhalt von den Akteuren gekennzeichnet wird. Als Identifizierungsmarker für Schlüsselerlebnisse kommt eine Spanne von sprachlichen Ausdrücken in Frage, die jeweils unterschiedliche Gewichtungen der Erlebnisse umschreiben. So kann ganz explizit die Rede sein von einem »einschneidenden Erlebnis«, das alles

11 Stenger 1993, 140 [Herv.i.O.]. 12 Ebd., 150. 13 Ebd. [Herv.i.O.].

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Weitere »entscheidend verändert« hat, oder durch die Verwendung bestimmter Adjektive und Adverbien wie »plötzlich« oder »und auf einmal«, die anzeigen, dass hier eine entscheidende Wendung in der Handlung markiert werden soll. Im Gesamtkontext der Erzählung zeigen Schlüsselerlebnisse zudem meist Punkte an, die von den Akteuren als bedeutsame Wende für ihre gesamte religiöse Identitätsbildung erfahren werden. Betrachtet man die jeweiligen Gesamtnarrationen, so lassen sich zum einen verschiedene Verwendungen von Schlüsselereignissen identifizieren. Zum anderen können bestimmte Strukturen als dominant innerhalb dieser Schlüsselerzählungen benannt werden. Auffällig ist, dass zwei unterschiedliche Grundschemata in den Biographien zu finden sind: Im Ersten wird ein Erlebnis als absolut bedeutsam hervorgehoben und als Begründungshorizont für alle weiteren Erzählungen zur eigenen Religiosität verwendet. Erst über die Erzählung dieses Ereignisses verortet sich das Subjekt im Diskurs gegenwärtiger Religiosität. Zum anderen findet sich eine Reihung mehrerer Erlebnisse, mit deren Hilfe der persönliche religiöse Weg konstruiert wird. Als Beispiel wird ein Zitat von Andi angeführt, in dem sie vom Beginn ihres religiösen Weges erzählt: Andi: Ja und ich hab dann die Scheidung eingereicht und bin dann mit meinen Kindern alleine eigentlich sehr gut klar gekommen und dann ist irgendwie dieses Interesse plötzlich da gewesen. Also ich hab dann ja im Internet sehr viel gelesen, hab mich einfach stark für Esoterik interessiert und was eigentlich das ausschlaggebende war und wo mein Weg so richtig wieder intensiv begonnen hat, war, ich hatte immer so ein Kribbeln im Körper, also meistens im Nacken. Das war ein ganz Eigenartiges, wo ich mir gedacht hab, was ist das? Fühlt sich an, wie wenn ein Körperteil einschläft und dann wieder so aufwacht und das war aber immer häufiger und immer stärker. Und ich dachte mir, komisch, also grad im Nacken, da kann nix einschlafen. Und bin dann durch viele Zufälle, also Zufälle in dem Sinn gibt’s ja für mich nicht, eben auf Reiki gestoßen, zuerst im Internet, also ich kannte weder das Wort, noch was es ist oder die Bedeutung. Bin dann auf Reiki gestoßen, hab eben erst im Internet geforscht, hab mir dann einige Bücher besorgt und wusste dann, das ist es! Und ja, so hat mein Weg begonnen, hab mich dann in Reiki 1 einweihen lassen, auch ohne irgendwie mit Plänen, wie es weiter geht oder ich, sondern einfach, ich wollte wissen, wie das ist und ich wollte das einfach. Und ja und so hat dann mein Weg begonnen.

Dieses Erzählsegment wird bereits kurz nach einer knappen Schilderung über die Bedeutung von Religiosität in der Kindheit positioniert. Andi gibt an, dass sie ihren Mann geheiratet und zwei Kinder bekommen hat, mit ihrem damaligen Le-

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ben jedoch nicht zufrieden gewesen sei. Sie charakterisiert ihre damalige Lebenssituation als »Roboterleben«, in dem sie nur Mann und Kinder versorgte, jedoch nicht weiter über die Zukunft nachgedacht habe. Dem Schlüsselerlebnis, das sie selbst als Anfangspunkt für ihren religiösen Weg bezeichnet, gehen mit der Scheidung veränderte Lebensumstände voraus. Das Interesse an religiösen Themen tritt nach Aussage von Andi »plötzlich« auf und steht zunächst in keinem weiteren Zusammenhang. In einer plausibilisierenden Ergänzung fügt sie dann jedoch die Geschichte vom »Kribbeln im Nacken« an. Somit steht für die Erzählerin eine körperliche Ursache am Anfang ihres Weges. Es bleibt allerdings an dieser Stelle offen, wie genau der Zusammenhang von körperlichen Beschwerden und der Verwendung von Reiki zu sehen ist, da der Hörer nicht erfährt, ob sie mit Reiki ihre Beschwerden (erfolgreich) behandelt hat. Wichtig ist für Andi im Kontext des Schlüsselerlebnisses der Zugriff auf verschiedene Medien. So gibt sie an, über Bücher und das Internet überhaupt erst Zugang zu den notwendigen Informationen erhalten zu haben. Auffällig ist, dass Andi im gesamten Erzählsegment eine hohe Handlungsmacht inne hat, diese jedoch kombinieren kann mit dem Gedanken, dass ihre Entwicklung gelenkt oder vorbestimmt ist, da es »Zufälle« ja nicht gebe. Andi positioniert dieses Reikierlebnis als Anfangsmarker ihres religiösen Weges, durch das sie im Rahmen der Biographie den Einstieg in die gegenwärtige Religiosität vollzieht. Auf diese Positionierung im Diskurs folgen im Laufe der Erzählung noch weitere, von der Erzählerin als bedeutsam herausgestellte Ereignisse. Dazu gehört eine Liebesgeschichte, die als »Seelenverwandschaft« gedeutet wird und in der religiöse Elemente eine wichtige Rolle spielen, oder eine Geschichte über die unmittelbare Wirksamkeit von Gebeten. Hatte sich Andi bereits in ihrer Erzählung über die eigene Kindheit als selbstständig und für religiöse Dinge sensibles Kind dargestellt (betend vor einer Marienstatue), so schließt sie mit der Erzählung dieser Erlebnisse nun an den biographischen Beginn an. Ähnlich verhält es sich auch bei der nächsten Erzählerin. Die bei Andi nicht weiter ausgeführte körperliche Komponente des Schlüsselerlebnisses wird bei Michi explizit aufgegriffen. Sie verortet ihr Schlüsselerlebnis ebenfalls als Geschehen, das in einer Zeit erfolgte, in der sie veränderte Lebensumstände erfahren hat. Nach einer gescheiterten Ehe ist sie, zusammen mit ihren Kindern, in ein anderes Bundesland umgezogen. Sie erzählt, wie sie bei einem Arztbesuch zum ersten Mal etwas über Montessori-Pädagogik liest, worauf hin sie ein Seminar zu diesem Thema belegt. Dort thematisiert sie Probleme mit ihrem Sohn, der damals jedoch nicht mehr im Schulalter und damit kein Fall mehr für Montessori-Pädagogik war. Die Seminarleiterin erwähnt daraufhin Reiki als Behandlungsmöglichkeit. Michi erzählt weiter:

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Michi: [Ich] hab da an meinen Sohn gedacht, der hat da mittlerweile schon Depressionen gehabt und dann sagt die [die Seminarleiterin, N.M.] zu mir »Ja, mit Reiki kann man das dann probieren,« »Reiki, was ist das?« sag ich, »glaub, das ist nix für mich,« weil ich war mal in einer Disko, da hat jemand Hypnose probiert und das hat bei mir auch nicht geklappt. Ich wusste gar nicht, was das ist. Und dann hat die ihre Hand zwischen meine Schulterblätter gelegt, und so was hab ich wirklich danach nie mehr, nie mehr empfunden mit Reiki, egal wer mir Reiki gegeben hat, ich hab gedacht, ich verbrenne an meinem Rücken. So eine Hitze war das. Ich musste aufstehen, ich hatte einen dicken Wollpullover an und das war so ein Gesprächskreis und ich bin also wirklich gerannt, ich dachte, ich hätte Feuer im Rücken. Und bin dann noch in die, die mir gegenüber saßen, reingefallen, und das war so eine Hitze. Und dann hab ich gesagt: »Wo kann man das machen? Wo kann man das lernen? Was ist das?« Und da sagt sie: »Bei mir, ich bin Reiki Meisterin.« Oh toll, gleich ein Seminar gebucht!

Der entscheidende Punkt, warum sich Michi Reiki zuwendet, ist ihrer Darstellung nach die eigene, sehr intensive körperliche Erfahrung, die sie mit Reiki macht. Die Besonderheit dieses Erlebnisses wird dadurch betont, dass sie die enorme Wirksamkeit der Reikibehandlung hervorhebt. Sie zeichnet ein Bild von sich, in dem sie ein Verhalten zeigt, das gerade vor anderen Personen höchst ungewöhnlich ist. Sie »rennt« umher und »fällt« in die anderen Personen hinein. Damit kann sie die Wirksamkeit der Erfahrung authentifizieren und dies gleichzeitig als Ausgangspunkt für die Begründung nehmen, warum sie sich weiterhin mit Reiki beschäftigt hat. Betrachtet man die weitere narrative Konstruktion von Michis Biographie, wird ersichtlich, dass dieses Schlüsselerlebnis lediglich den Anfangspunkt für die eigene religiöse »Entwicklung« bildet, die nach Ansicht der Erzählerin in den kommenden Jahren folgt. Sie erzählt, dass sie nach dem Schlüsselerlebnis ein Reikiseminar besucht habe, in dem für sie vor allem die Frage nach der Vereinbarkeit von Reiki mit ihrem christlich geprägten Glauben zunächst ein Problem darstellte. Sie erhält in diesem Seminar den Hinweis auf ein Buch, mit dessen Hilfe sie für sich feststellen kann, »dass also da überall Glauben drin ist«. Die Idee, dass sich verschiedene religiöse und rituelle Elemente auf den gleichen Ursprung zurückführen lassen und letztlich nur unterschiedliche Ausprägungen einer grundlegenden religiösen Idee sind, ist ein zentraler Topos im Diskurs gegenwärtiger Religiosität. Den Topos setzt Michi an dieser Stelle zur Legitimation für die verschiedenen, auf ihrem religiösen Weg verwendeten Elemente ein. Den gesamten Abschnitt beendet sie schließlich mit folgendem Satz:

126 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Michi: Und dann bin ich in diesen ganzen Jahren, 12 Jahre sind es jetzt, Stück für Stück bin ich immer, also hat mein Inneres oder etwas in meinem Inneren immer mehr zugelassen, etwas anzunehmen, etwas vorstellen zu können und so weiter.

Michi macht damit deutlich, dass die vorangegangenen Ereignisse als Teilelemente einer Ausformung der eigenen Religiosität zu begreifen sind, ein Prozess, der als kontinuierliche Entwicklung verstanden wird. Bemerkenswert ist hier, dass als handelnder und verantwortlicher Akteur dieser Entwicklung ihr »Inneres« identifiziert wird. In den beiden eben vorgestellten Biographien finden sich Schlüsselerlebnisse zu chronologisch frühen Zeitpunkten und bei beiden können die Erlebnisse als initiale Positionierungen im Diskurs interpretiert werden. Beide Erzählungen werden nur in den Interviews ausgeführt, auf den persönlichen Homepages sind eher allgemein gehaltene Aussagen zu lesen. Hier werden unspezifisch schwierige Lebensumstände, private Krisen oder familiäre Probleme genannt, die zu einer Hinwendung zu gegenwärtiger Religiosität führten. Wie in den Interviews wird allerdings auch hier deutlich, dass insbesondere zwei Faktoren bei der Ausbildung der eigenen Religiosität im Mittelpunkt stehen: Medien und Veranstaltungen anderer religiöser Akteure. Die hier diskursiv produzierten Inhalte, Regeln und Praktiken werden in den biographischen Erzählungen der Akteure realisiert, aktualisiert und transformiert. Die Einbindung medialer Inhalte, aber auch der Kontakt zum sozialen Umfeld ist auch im folgenden Beispiel von großer Bedeutung. Auf Ebene des Subjekts ist hier interessant, wie diese diskursiven Referenzen in der Erzählung eingesetzt werden und wie sich die Akteurin hiermit positioniert. Das Schlüsselerlebnis ist in diesem Fall chronologisch in einem sehr fortgeschrittenen Abschnitt der Erzählung zu lokalisieren. Luca, die bereits mit Anfang 20 von ersten Erfahrungen mit Elementen gegenwärtiger Religiosität berichtet (sie hat Bücher gelesen, arbeitet mit ihrer Hellsichtigkeit), erzählt von vielen bewegten Jahren, die geprägt waren durch persönliche, gesundheitliche und finanzielle Krisen. Erst im fortgeschrittenen Alter (ca. Ende 30) schildert sie schließlich ein wichtiges Schlüsselerlebnis. Ausgangspunkt für die Erzählung ist eine akute organische Erkrankung. Da die Argumentationsstrukturen dieses Erzählsegments wichtige Aspekte enthalten, wird ein etwas längerer Ausschnitt zitiert: Luca: So und in der Phase, wo ich diese Bauchspeichel, in diesen drei Tagen, wo ich diese Bauchspeicheldrüsenentzündung so krass hatte, bin ich zwischendurch in einen luftleeren Raum gefallen und mir wurde ganz fürchterlich schlecht. Und dann wurde mir sehr schwindlig, weil meine Bauchspeicheldrüse mit der Zuckerproduktion Probleme hatte, mit

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Insulin und dann bin ich fast ins Nichts gefallen. Und ich hab dann irgendwie gedacht, jetzt sterb ich. Und dann hab ich gedacht, eigentlich, wenn ich sowieso nichts dagegen tun kann, dann kann ich’s ja auch, das Sterben, eigentlich genießen. Dann hab ich mich ergeben und hab einfach mit Vertrauen, mich da so rein begeben in diesen Zustand. Und da hörte ich plötzlich ne Stimme, innerlich aber nur, nicht laut, die sagte: »Du musst dich nicht fürchten, ich bin dein Schutzengel, mein Name ist Michael.« Zu dem Zeitpunkt hab ich gedacht, verarschen kann ich mich auch alleine, es fehlten noch Peter und Bernd! Mit Engeln war ich damals nicht so, hatte keine Ahnung groß mit den Engeln. »Mein Name ist Michael.« Haha! Das war ja lächerlich alles! So und am nächsten Tag meldete sich der nächste Engel, der sagt: »Du musst dich nicht fürchten, mein Name ist Gabriel, ich bin dein Schutzengel.« Und am dritten Tag meldete sich der Engel, der sagte: »Mein Name ist Raphael. Du musst dich nicht fürchten.« Und am vierten Tag meldete sich einer mit dem Namen Uriel. Ok, gut, ich fand das alles ja ganz witzig, aber hab mir da jetzt nicht irgendwie, gedacht, dass da irgendwas stimmig ist oder so. Aber ich hab’s einfach mal witzig gefunden. Und dann bin ich ein paar Tage später in einem Laden gewesen, der verkaufte in D-Stadt Kruzifixe, Kruzifixe und Figuren, alles aus Spanien, Italien, du weißt schon, richtig aus’m katholischen Schnickschnack. So richtig schöne Sachen haben die, hab immer mit der Frau gerne diskutiert. … Und ich bin in den Laden rein gekommen und die hatten seltsamerweise lauter so ne kleine Engel mit so Saugknöpfen für die Fensterscheiben und da hab ich mitten rein gegriffen, Schnapp! Einen raus genommen und hab gesagt: »Den will ich«. Und da sagt sie: »Oh! Da hast du dir den Boss von den Erz[engeln], da hast du dir den Erzengelfürsten Michael, den Boss der Engel rausgesucht, den der Erzengel rausgesucht, der heißt Michael.« Und da hab ich gedacht: »Wow! Der Obermacker ist für mich zuständig!« Da war ich so glücklich auf einmal, ja dass ich mir nix eingebildet habe, sondern der Engel wirklich da mit mir geredet hat. Da hab ich dann natürlich meine ganzen alten Bücher rausgekramt, ob ich irgendwo was finde mit den Engeln und hab tatsächlich dann was gefunden, aus dem Crowley Orden übrigens noch. Feuer, Wasser, Luft und Erde, Michael Feuer, Wasser Gabriel, Erde Uriel und Luft Raphael. [Auslassung: Zuordnung der Engel zu Himmelrichtungen, Erläuterung der Aufgabenbereiche der Engel, N.M.]. Und dann hab ich mich beschäftigt und dann hab ich festgestellt, das sind wirklich die vier Elemente, die mir serviert wurden. Ist ja irre! Vier Elemente, vier Engel, wow! Also dann hatte ich da erstmal für mich so ein Stück weit Vertrauen, aber ich hab mich nie so gekümmert, dass ich so der Mensch gewesen bin, ich guck jetzt in ein Buch und find da was, sondern es war immer umgekehrt. Ich hab was selbst erlebt, hab dann das Buch genommen und dann die Bestätigung in dem Buch gefunden. Das war immer mein Weg.

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Die Erzählerin gibt im Weiteren an, dass sie aufgrund des Erlebnisses mit den Engeln ihr weiteres Leben völlig umstrukturiert hat. Seither lebe sie »zölibatär« und habe ihr Leben gänzlich auf die tägliche Praxis ihrer »Spiritualität« hin ausgerichtet. Der Aufbau des Schlüsselerlebnisses beinhaltet insgesamt einige Aspekte, die sich auch vielfach in anderen Erzählsegmenten wieder finden lassen. Nachdem eine negativ konnotierte Ausgangssituation geschildert wird, geschieht »plötzlich« etwas Unerwartetes. Luca positioniert sich in der ersten Begegnung mit den Engeln zunächst als eine Person, die den Wahrheitscharakter des Erlebnisses selbst anzweifelt. Rhetorisch macht sie dies dadurch deutlich, dass Luca das Erlebte vor den Hintergrund der Lächerlichkeit zieht. Sie verweist damit implizit auf einen aktuellen, zur den verschiedenen Ausformungen gegenwärtiger Religiosität kritisch-rationalen Diskurs, in dem eine Etikettierung der Akteure erfolgt, indem diesen vernünftiges Denken und Handeln in Abrede gestellt wird. Luca tritt daher als Person auf, die solche Erlebnisse durchaus nicht einfach hinnimmt, sondern das Geschehene entsprechend bekannten und logischen Denkmustern zunächst – wie auch eine angenommene allgemeine Erwartungshaltung in dieser Situation wäre – anzweifelt. Die Legitimation erfolgt im Anschluss durch die Verwendung zweier, vielfach verwendeter Muster. Zum einen verweist sie auf eine außenstehende Person, in diesem Fall die Verkäuferin, die ihr bestätigt, dass es den »Erzengelfürsten Michael« auch wirklich gibt. Verortet wird dieses Wissen im katholischen Bereich. Der Verweis auf diesen, oftmals als etabliert beschriebenen religiösen Kontext kann an dieser Stelle als Authentifizierung betrachtet werden. Zum anderen beruft sich Luca auf literarische Quellen, in denen sich ebenfalls Hinweise auf Engel finden. Interessant ist insbesondere bei der Verwendung dieses zweiten Musters, dass die literarischen Materialien lediglich als Bestätigung eines bereits bei der Erzählerin vorhandenen Wissens dargestellt werden. Zuerst erfolgt bei Luca das Erleben, die Bücher bestätigen dann ihr bereits vorliegendes Wissen. Im Hinblick auf die Gesamterzählung von Luca lässt sich konstatieren, dass sie durch dieses späte Schlüsselerlebnis für sich eine Umpositionierung im Diskurs vornehmen kann, in der nun insbesondere Engelskonzepte in den Vordergrund ihrer religiösen Identitätsarbeit rücken. Zuvor standen primär Astrologie und Inhalte aus dem rezenten Hexendiskurs im Vordergrund. Neben einer relativ starken Signifikanz bestimmter Schlüsselerlebnisse, die im biographischen Verlauf unterschiedlich positioniert werden können, liegen auch Erzählschemata vor, die von einer Ausarbeitung von einem oder mehreren Schlüsselerlebnissen absehen. So schildert z. B. Maxi ihren Zugang zum diskursiven Feld als einen kontinuierlichen Prozess, in dem immer wieder neue Elemente hinzutreten. Sie erzählt von ihrem anfänglichen Interesse an japanischer

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Kampfkunst, über erste Erfahrungen mit Reinkarnationsvorstellungen bis hin zur »Entdeckung« der Lichtarbeit. Die einzelnen Erzählsegmente werden sprachlich lediglich minimal oder gar nicht besonders hervorgehoben, sondern reihen sich als Repräsentationen der Entwicklung des eigenen »Weges« scheinbar gleichberechtigt hintereinander. Auch bei Chris wird die biographische Entwicklung der eigenen Religiosität als ein aufeinander aufbauendes Konstrukt von einzelnen Erlebnissen präsentiert. Sie liest anfänglich einige esoterische Klassiker (z. B. Jane Roberts »Gespräche mit Seth«), erprobt die »Silva-Mind Control« Methode14, macht ihre ersten Erfahrungen mit Lichtheilung und entwickelt im Laufe der Jahre ihr eigenes religiöses »System«. Damit ergeben sich zusammenfassend für die Betrachtung von Schlüsselerlebnissen einige Ergebnisse. Grundsätzlich »funktionieren« im Diskurs gegenwärtiger Religiosität biographische Strukturen, die mit solchen Erlebnissen arbeiten, sie gelten jedoch nicht als Voraussetzung, um eine legitime Biographie zu konstruieren. Schlüsselerlebnisse können zum einen als initiale Positionierungen im Diskurs eingesetzt werden, zum anderen jedoch auch als Umpositionierung, wenn der Akteur sich bereits innerhalb des Diskurses verortet. Der biographische Verlauf wird von allen Akteuren als prozesshaftes Geschehen verstanden, in dem narrativ mehr oder weniger stark bestimmte Erlebnisse als bedeutsame Punkte der Biographie herausgearbeitet werden. 4.1.3 Lernend und lehrend Vom Diskurs gegenwärtiger Religiosität wird in der breiten Öffentlichkeit momentan vor allem die scheinbar stetig wachsende Zahl an lehrenden, religiösen »Experten« wahrgenommen.15 Als solche werden im Folgenden Personen bezeichnet, die sich selbst die Fähigkeit zuschreiben, in öffentlichen Diskursen ihre religiösen Vorstellungen und ihre rituelle Praxis an andere Interessierte weiterzugeben. Im Sinne eines Dienstleistungsangebots wird in der Mehrzahl der Fälle ein finanzieller Ausgleich für die erbrachten Leistungen verlangt.16 Meist findet

14 Die Methode, bestehend aus einem Übungsprogramm, wurde in den 1960er Jahren von dem US-Amerikaner José Silva entwickelt. Es sollten die Gehirnfrequenzen dabei durch bestimmte Techniken (Konzentrationsübungen, Visualisierungen) abgesenkt werden, sodass – nach Silva – eine gesteigerte Aufnahme von Informationen möglich sei. Silva 1991. 15 Zu aktuellen Entwicklungen und Formungen des Marktes siehe auch Hero 2010. 16 Konzeptionell sind hier zwei Varianten der Bezahlung gängig: Festpreise und Bezahlung nach Werteinschätzung des Kunden (jeder gibt, was er/sie möchte).

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der öffentliche Auftritt in Form von Seminaren, Vorträgen oder persönlichen Beratungssitzungen statt, diese werden aber zunehmend durch Angebote im Medium Internet ergänzt. Hier wird die Dienstleistung nicht nur online präsentiert, sondern auch die Praxis erfolgt über das Internet. Ein Beispiel hierfür ist der beratende Austausch in Foren oder über E-Mail oder die Nutzung von Internetplattformen wie Questico17, über die auch eine telefonische Beratung abgewickelt werden kann. Bemerkenswert ist bei einem Überblick der Angebote, dass viele nicht nur darauf angelegt sind, die religiöse Entwicklung anderer Akteure zu fördern, sondern dezidiert so ausgerichtet sind, dass die Teilnehmer ihr erworbenes Wissen auch lehrend weitergeben können. Dadurch entsteht ein komplexer Kreislauf, in dem die Akteure als Lernende, aber auch – in vielen Fällen parallel – als Lehrende auftreten. Durch die Parallelität der beiden Modi wird diskursimmanent dafür gesorgt, dass ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage zunächst erhalten bleibt. In jüngerer Zeit ist jedoch zu beobachten, dass die Ausbildungsangebote immer stärker den Markt dominieren.18 Untersuchungen zu den sich daraus ergebenden Konsequenzen liegen bislang jedoch noch nicht vor. Im Hinblick auf das Auftreten der Akteure als Lehrende sind vor allem Differenzierungen hinsichtlich ihrer öffentlichen Präsenz zu treffen. So ist z. B. zu unterscheiden, ob die Akteure in einen direkten persönlichen Kontakt zu anderen treten oder ihr Wissen im Internet oder in einem Buch veröffentlichen. So hat sich z. B. Jo bewusst dagegen entschieden, als Lehrende in Seminaren aufzutreten, da sie nach eigener Aussage »nicht so der Typ ist, der vor so ner Gruppe sich darstellen kann.« Sie gibt weiter an, dass sie Personen ablehnt, die ihr in Argumentationen hinsichtlich ihrer religiösen Vorstellungen widersprechen. Daher ist sie zwar bereit, auf E-Mail-Anfragen einzugehen, direkten persönlichen Kontakt als Lehrende möchte sie jedoch nicht. Bei der Entwicklung der Expertenrolle sind im Rahmen der biographischen Narrationen verschiedene Muster erkennbar, die im Folgenden anhand einiger Beispiele erläutert werden. So ist zu bemerken, dass die Selbstwahrnehmung als Lehrende oft mit einer hohen Selbstverständlichkeit einhergeht. Dies hat zur Folge, dass narrativ kaum begründende oder rechtfertigende Elemente einbezogen werden. Nachdem sie über ihre eigenen Ausbildungen in Reiki berichtet hat, erzählt Michi kurz und knapp:

17 Für ausführliche Erläuterungen siehe Beispiel von Sam in diesem Kapitel. 18 Vgl. Hero 2010, 151f.

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Michi: Das war halt eben ein langer Weg, diesen Reikiweg gemacht, jetzt bis mittlerweile zum 10. Großmeistergrad und hab also das also nicht so im Schnelldurchgang gemacht, sondern hab also bis zur Reiki Lehrerin hab ich also immer ein Jahr Pause dazwischen gehabt, so immer alles wirken lassen. Ja und hab dann, als ich Reiki Lehrerin war, selber dann halt auch ausgebildet.

Es folgt eine Erzählung darüber, dass ein indischer katholischer Priester sich bei ihr im Reiki hat ausbilden lassen. Michi gibt an dieser Stelle keine weiteren Begründungen dafür an, warum sie von der Position als Lernende nahezu nahtlos überwechselt in die Position als Lehrende. Man kann vermuten, dass sich der Aspekt der Wissensweitergabe im emischen Erwartungshorizont des Diskurses mittlerweile stark gefestigt hat. Der Wechsel von einer lernenden hin zu einer lehrenden Position ist als dominante diskursive Struktur zu sehen, die von den religiösen Akteuren inzwischen mit hoher Selbstverständlichkeit inkorporiert wird. Dieser Eindruck verfestigt sich bei der Betrachtung weiterer Beispiele. In einem Erzählsegment von Sam lässt sich aufzeigen, wie sie für sich die Rolle als religiöse Expertin entwickelt. Sam: Das war dann der Startschuss sozusagen, also ich hab angefangen bei einer Internetplattform, die heißt Questio … als Experte Lebensberatung zu machen, mit Engel Kontakt. Also ich war unter Engelkontakt zu finden und das hab ich eine zeitlang angefangen zu machen, weil ich animiert wurde von anderen, die gesagt haben: »Du kannst das, mach das doch.« Und diese Arbeit hat mich natürlich immer mehr und immer tiefer in meine Kraft gebracht und mein Glauben und ich wusste, ich hab gesehen, ich kann Menschen helfen. Es wächst immer mehr, ich kann andere Menschen zu sich selber führen, damit sie diesen eigenen Kontakt spüren und sich selber helfen können. Und das hat mir ganz viel Freude und ganz viel Spaß gemacht. Und so hab ich angefangen, bis ich dann soweit war, dass ich gesagt hab, ich muss da noch was machen, ich muss noch was machen und mir diese Idee, die auch eine himmlische Eingebung war, direkte Eingebung, mach doch mal ENGELPROJEKT19 kam da. Das war so der Moment, in dem das alles noch viel mehr angewachsen ist und ich endlich Menschen zu ihrer Spiritualität bringen konnte. Also B-Person und ich, unser Ziel ist es die Menschen in ihre eigene Kraft zu bringen, dass heißt aber auch unter anderem, sich selber zu finden. Und dieses Ganze, was man immer im Außen sieht, in sich wieder zu finden, zum Leben zu erwecken und sich leben zu können.

19 Originalname aus Gründen der Anonymisierung verändert.

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Sam zeichnet ihren Weg hin zur Position einer religiös Lehrenden nach. Sie erwähnt zuvor, dass sie in Seminaren und vor allem durch Bücher selbst Wissen erworben hat und dieses nun weitergeben möchte. Ihren ersten Zugang zum Expertenfeld erhält sie durch die Internetplattform Questico. Hier präsentieren sich eine Vielzahl unterschiedlicher Anbieter zu Themen wie »Astrologie & Horoskope«, »Tarot & Kartenlegen« und »Hellsehen & Wahrsagen«.20 Auf einzelnen Webseiten können sich die Anbieter kurz vorstellen. Neben einem Foto findet sich meist ein Lebenslauf, eine Aufstellung aktueller Interessenschwerpunkte und – insofern vorhanden – ein Überblick über erworbene Qualifikationen. Jeder Berater/ jede Beraterin (es sind überwiegend Frauen) hat zudem eine Bewertungsliste, in der Kunden ihre Zufriedenheit durch schriftliche Kommentare und durch ein Bewertungssystem äußern können. Das Maximum, mit dem ein Berater bewertet werden kann, beträgt fünf Sterne. Alle Experten sind gegen Gebühr telefonisch zu erreichen, einige bieten zusätzlich die Möglichkeit zum Chat an. Sam begründet ihre Entscheidung, bei Questico anzufangen, mit dem Verweis auf Personen, die ihr die Fähigkeit anderen zu helfen oder beratend zur Seite zu stehen, zugesprochen hätten. Hier wird das soziale Umfeld, das in diesem Fall sehr unspezifisch bleibt, als argumentative Bestätigung für die eigenen Fähigkeiten herangezogen. Die weitere Ausführung zur Erlangung der Expertenposition folgt in verschiedenen Punkten. Zum einen gibt Sam an, dass die Arbeit ihren Glauben und ihre lehrenden Fähigkeiten gesteigert habe. Des Weiteren kommt ein altruistisches Motiv hinzu. Zum Schluss betont sie den Wohlfühl- und Spaß-Faktor, den diese Arbeit mit sich gebracht habe. Sam zieht hier verschiedene Faktoren heran, um ihr Expertentum erzählerisch zu legitimieren und schafft somit die Ausgangsbasis dafür, ihren Status als Lehrende in dem folgenden Abschnitt weiter auszubauen. Die Entwicklung ihres neuen Engelprojekts schreibt sie dabei nicht nur ihrer eigenen Handlungsmacht zu. Zum Einsatz kommt eine narrative Struktur, die sich auch an zahlreichen weiteren Stellen biographischer Erzählungen finden lässt. Einerseits geht von ihr der Gedanke aus, sie müsse »noch was machen«, andererseits wird das neue Projekt auf eine »himmlische Eingebung« zurückgeführt. Sie erhält für den Ausbau ihrer Expertenrolle somit argumentativ die Unterstützung von »göttlicher Seite«. Diese shifting Agency21 ist in vielen

20 Siehe zu Themen die Homepage von »Questico«. Zugriff unter: http://www.questico. de/berater/alle-kategorien/content.do (23.08.09). 21 Das Konzept der Agency (Handlungsmacht) ist in Bezug auf die religiöse Praxis vor allem durch die aktuelle Ritualforschung bekannt geworden. Vgl. dazu ausführlich Sax 2006.

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Narrativen zu finden, in denen handlungspragmatische Schritte erläutert oder auch der Einsatz von Ritualen erklärt werden. Die Handlungsinitiative wechselt zwischen zwei oder mehreren Parteien, was wiederum den Eindruck von Legitimation verstärkt. Ihre Aufgabe in der Arbeit mit anderen Menschen versteht Sam als Hilfe zur Selbsthilfe. Im Rahmen des Engelprojekts werden neben Seminaren auch Reisen angeboten, auf denen die Teilnehmer nach Sams Aussage »sich selbst finden« sollen. Wie bereits erwähnt, ist bei allen Interviewpersonen zu beobachten, dass sie als Lernende zunächst mit bestimmten Ideen und Konzepten gegenwärtiger Religiosität in Kontakt kamen, indem sie an Seminaren teilnahmen oder durch Bücher oder das Internet Informationen zu bestimmten Themen erhielten. Im Rahmen der Biographiearbeit findet sich gerade bei Personen, die zum Interviewzeitpunkt fast ausschließlich lehrend tätig sind, eine Parallelität von lernenden und lehrenden Modi. Chris erzählt im Laufe des Interviews, wie sie nach ersten Seminaren zur »Silva Mind Control« Methode und Lichtarbeit schließlich dazu übergeht, eigene Seminare anzubieten. Diese Entwicklung geht immer stärker einher mit der Abgrenzung von ihrem damaligen Beruf als Verwaltungsangestellte, bis sie diesen schließlich ganz aufgibt bzw. frühzeitig in Pension geht. Danach konzentriert sie sich nun völlig auf die eigene Seminar- und Vortragstätigkeit. Das folgende Erzählsegment ist der Übergangszeit entnommen, in der die Modi »lernend« und »lehrend« parallel in der Biographie dargestellt werden. Chris: Im Laufe der Jahre, wo ich eben auch selbstständig wurde, da diese Praxis hatte, das fing 2000 an und gleichzeitig hab ich mich dann auch von dieser Lehrerin getrennt. Machte dann auch Gruppenabende, zuerst mit einer anderen Freundin, weil ich dachte, ich könnte da ne Praxis vielleicht gar nicht unterhalten und dann trennte sie sich aber von mir und so lernte ich eben auch selber zu vertrauen. Und ich wurde ja die ganze Zeit über unterrichtet, das waren so Themenbereiche, also über ›Manipulation‹, das kam dann, eben auch durch eigenes Erleben, aber das wesentliche war Anfang 2000, das war noch, bevor ich mich da getrennt hatte. Da wurde mir über eine andere Frau gechannelt von der Christuswesenheit diese kleine Formel gesagt, wie man in die bedingungslose Liebe kommt, indem ich mich auf mein Herzchakra besinnen soll und dabei sagen »ich gehe in Resonanz zur bedingungslosen Liebe.« Das hatte ich damals gar nicht so erfasst, aber fing dann irgendwann mal an zu üben, auch so mit anderen, denen ich das erzählt habe.

Chris beschreibt schrittweise, wie sie ihre Position als Lehrende ausgebaut hat. Dem voran geht nach ihrer Aussage zunächst eine Trennung von ihrer damaligen Lehrerin, bei der sie – wie aus einem früheren Interviewteil deutlich wird – vor

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allem die Lichtarbeit kennen gelernt hat. Zu Beginn der Selbstständigkeit hatte Chris nach eigenen Angaben zunächst zusammen mit einer Freundin eine gemeinsame Praxis aufgebaut. Hier sind unternehmerische Bedenken zu erkennen, dass die Praxis »nicht unterhalten« werden könne. Dieser angedeutete finanzielle Faktor spielt auch in anderen Interviews eine Rolle. Die meisten Akteure geben an, dass finanzielle Probleme einer der größten Hinderungsgründe sind, ihre Rolle als Lehrende vor Ort auszuüben. Insofern privat keine Räumlichkeiten vorhanden sind, müssen diese angemietet werden, ein Faktor, der eine große finanzielle Belastung darstellt. Daher kommt es vor, dass diejenigen, die das Risiko nicht eingehen können oder wollen, auf andere Vermittlungsmedien wie das Telefon oder das Internet zurückgreifen. Ökonomische Faktoren erweisen sich somit als einflussreich für Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität. Bei Chris wird im weiteren Verlauf des Interviews deutlich, dass sie sich in der Zeitspanne, in der sie in eine lehrende Rolle wechselt, weiterhin als Lernende versteht. Unterrichtet wird sie, wie sie zuvor bereits geschildert hat, zum einen von einer »Wesenheit«, die allerdings nicht näher spezifiziert wird. Zum anderen nimmt sie ein Angebot einer anderen Expertin wahr, durch die sie eine Botschaft von der »Christuswesenheit« erhält. Es bleibt festzuhalten, dass die Ausformulierung der Rolle einer Lehrenden in den meisten Biographien narrativ mehr oder weniger deutlich dargestellt wird. In der narrativen Konstruktion wird die Selbstzuschreibung als Lehrende oftmals mit großer Selbstverständlichkeit vollzogen, zur Begründung und Rechtfertigung werden andere Akteure als Zeugen für die eigenen Fähigkeiten aufgerufen. Durch das Aufgreifen von externen Handlungsmächten wie »Wesenheiten« oder dem »Schicksal« bzw. die »Fügungen des eigenen Weges«, welche die Zuschreibungen der Expertenrolle vornehmen, kann, gesamtbiographisch betrachtet, die Ausformulierung der Positionierung als Lehrende vollzogen werden. Es finden sich aber auch Anknüpfungen an das Muster einer besonderen Kindheit. Lag hier z. B. bereits die Fähigkeit zur Kommunikation mit Engeln vor, berufen sich die Akteure in den Legitimationen ihrer Expertenrolle auch darauf. Diese Rollenverständnisse werden in den Erzählungen ebenso thematisiert wie auf den persönlichen Homepages, auch wenn hier weniger Einzelheiten des individuellen Werdegangs im Vordergrund stehen, sondern eher eine überblickartige Darstellung der eigenen Aktivitäten, meist mit Betonung auf der Lehrenden-Komponente. So schreibt Eva-Maria Sendel, Betreiberin der Seite »Reiki Atlantis« über ihren Werdegang: 1997 kam ich durch eine Freundin zu Reiki, von da an hat sich mein Leben verändert. Obwohl ich nie auf der Suche war, hatte ich meinen Weg gefunden. Es war ein Gefühl, als

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wenn jemand in einem dunklen Raum ein Licht angezündet hat, ich habe mich erinnert, wer ich bin und wozu ich hier auf dieser Erde bin. 1999 wurde ich Reikilehrerin im traditionellen Usui – System. Seit diesem Zeitpunkt versuche ich die Hilfe, die ich anderen geben möchte, immer mehr zu vervollkommnen. Natürlich steht für mich meine eigene Entwicklung immer an erster Stelle, denn wie will ich anderen helfen, wenn ich mir selbst nicht helfe! 2000 wurde ich Meditationslehrerin. Danach besuchte ich Seminare für die Anwendung von Bachblüten, Edelsteinen nach Hildegard von Bingen, Kommunikationstechnik, (NLP), Rückführung und Fußreflexzonenmassage. Außerdem ein Initiations- (Avatar), Heiler-, Channeling- und Auraseminar.22

Als Schlüsselerlebnis beschreibt die Akteurin hier ihren Kontakt zu Reiki, was ihren weiteren Lebensweg veränderte. Altruistische Motive führen sie dann zu einem Positionswechsel, in dem sie nun als Lehrerin tätig ist. Es folgt eine Auflistung weiterer Ausbildungen, die im Laufe der folgenden Jahre absolviert wurden. Eine andere Akteurin antwortet im Selbstportrait auf ihrer Homepage auf die Frage einer Klientin, wie bei ihr alles angefangen habe, folgendes: Dazu konnte ich nur sagen, dass es nie angefangen hat. Es war schon immer da. Seit meiner Kindheit habe ich eine intensive Beziehung zur Geistigen Welt. … Über die Jahre habe ich meine Spiritualität - die übrigens jeder hat - weiter entwickelt. Ich habe mich bewusst entschieden, mich auf diese spirituelle Reise zu machen. Mich darauf einzulassen. Wohl wissend, dass dieser Weg kein leichter sein würde.23

Neben dem Verweis auf eine besondere Kindheit – hier spezielle, bereits früh vorhandene Fähigkeiten – findet sich auf der Webpräsenz noch eine ausführliche Liste der besuchten Workshops und Ausbildungsseminare. Zum Teil werden auch die Namen der Ausbilder angegeben, wenn diese bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben. Diese Darstellung der Ausbildungsreferenzen scheint insbesondere auf den Webpräsenzen eine wichtige Rolle zu spielen. Es finden sich vielfach solche Zusammenstellungen der eigenen Ausbildungen und

22 Homepage »Reiki-Atlantis«. Zugriff unter: http://www.reiki-atlantis.de/ (21.01.12). 23 Homepage (21.01.12).

»Lichtwege«

Zugriff

unter:

http://www.licht-wege.com/41234.html

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Abschlussgrade.24 In der öffentlichen Präsentation des eigenen Status als Lehrende untermauern diese Verweise den Kompetenznachweis für Außenstehende und legitimieren gleichzeitig die Position der Anbieter im Diskurs. 4.1.4 »Mein Weg« Vorangehend wurden einige, ausgewählte narrative Muster vorgestellt, die einzelne Abschnitte biographischer Erzählungen zur Konstruktion gegenwärtiger Religiosität strukturieren. Erste Anbindungen an diskursive Aushandlungen wurden deutlich, die in den Narrationen aktualisiert werden und durch ihre Kommunikation wieder in den Diskurs Eingang finden. Die einzelnen narrativen Ausarbeitungen wie die einer besonderen Kindheit, von Schlüsselerlebnissen oder der Rollenübernahme als Lehrende werden von den Akteuren zudem in einen übergeordneten Interpretationszusammenhang gestellt, der an vielen Stellen bereits deutlich wurde. Zur Bezeichnung wird die Metapher des Weges25 verwendet. Die biographisch-narrative Organisation des eigenen Lebensweges unter Nutzung dominanter narrativer Muster wie die eben vorgestellten, bewegt sich dabei vor dem Hintergrund zentraler konzeptioneller Ideen aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität. Sowohl die narrative als auch die praktische Ausgestaltung des Weges folgt der grundlegenden Vorstellung, dass das eigene Leben als fortwährender Lern- und Entwicklungsprozess zu begreifen ist. Dieser wird von den Akteuren als von Grund auf mit Sinn ausgestattet betrachtet. Im Vordergrund steht die Reifung bestimmter geistiger Fähigkeiten oder die Annäherung an »die eigene Göttlichkeit«. Der eigene Weg wird als Verlaufsprozess empfunden, der verschiedene Stationen beinhaltet, die von den Akteuren individuell jeweils anders gewichtet werden. Gleichzeitig spielen vor allem die Konstruktion anderer Wege und die Reflexion der Auswahlkriterien des eigenen Weges eine zentrale Rolle. Das im Rahmen gegenwärtiger Religiosität ausgehandelte Bild des Weges betont zudem die Individualität des Entwicklungsprozesses, womit deutlich ein Anschluss an moderne Subjektdiskurse gesucht wird. Die eigene religiöse Entwicklung wird als einmalig und einzigartig beschrieben, da sie als

24 Vgl. exemplarisch folgende Homepages: http://www.reiki-kraft.de/start.html, http:// www.ruheundstille.de/html/meine_ausbildungen.html,

http://www.rainbowreiki.at/

steinhuber.htm, http://reiki-sonne.de/?page_id=20 (alle verfügbar am 24.01.12). 25 Bereits Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt haben in ihrer Studie zum »Spirituellen Wanderer« auf die Bedeutung der Weg-Metapher und ihre konzeptionellen Ausarbeitungen im Diskurs gegenwärtiger Religiosität hingewiesen. Vgl. Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt 2005, 143-146.

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Teil einer übergeordneten religiösen Zeitkonzeption als vorherbestimmt betrachtet wird. Sie ist vor dem Hintergrund eines Reinkarnationsmodells eingebettet in Zusammenhänge, die nach Ansicht der Akteure über das jetzige Leben hinausreichen.26 In den Interviews sind nun einige grundlegende Merkmale dieser Weg-Konstruktion zu finden. Für die jeweilige Person gibt es genau einen richtigen Weg, aber auch die Möglichkeit, zunächst falsche Wege einzuschlagen. Dies merke man daran, dass einem »Steine« in den Weg gelegt werden. Stellvertretend ist hier eine Aussage von Uli angeführt: Uli: Also dass man grundsätzlich auch weiß, wie ist sein Lebensplan und dann im Fluss ist und danach auch lebt, weil wenn man sich quasi gegen seinen Lebensplan stellt, dann kommen aus, sind das die bekannten Steine, die im Weg liegen. Ansonsten ist es oftmals so, wenn man danach handelt und man weiß irgendwie, man muss das so und so machen oder man hat so ne Intuition, dass das jetzt der richtige Weg ist, den man geht, dann ist meistens alles ganz einfach.

Das eigene Leben wird als Verlauf begriffen, der mit Sinn ausgestattet ist. Retrospektiv können so die im Rahmen der Narration zunächst als schwierig oder problematisch empfundenen Lebensabschnitte als Situationen interpretiert werden, die als Lernaufgabe oder Richtungsmarker aufgefasst werden. Diese positiven Reinterpretationen sind eines der durchgängigsten argumentativen Muster, die sich in den biographischen Erzählungen finden. Nicht nur Krankheiten27, Unfälle und andere Schicksalsschläge werden in diesem Kontext als »Lernaufgaben« gedeutet, sondern auch Begegnungen mit bestimmten Menschen oder berufliche Entwicklungen. So resümiert z. B. Michi: Michi: Ja ich hab dann also mein Leben mal so Retour passieren lassen und hab mir auch gedacht, hätte ich diese schlimmen 19 Jahre nicht erlebt, dann wäre mein Sohn nicht krank geworden. Ich wäre auf diesen Weg überhaupt nicht gegangen, ich hab dann also nicht nur diese Reiki Ausbildung gemacht, ich hab auch andere Ausbildungen gemacht.

26 Vgl. Kapitel 4.2.2. 27 Die positive Umdeutung von Krankheitserfahrungen ist im deutschsprachigen Raum insbesondere durch Thorwald Dethlefsen und Rüdiger Dahlke bekannt geworden. Ihre Bücher »Krankheit als Weg« und »Schicksal als Chance« erlangten in den 1980er und 90er Jahren Bestsellerstatus auf dem Markt gegenwärtiger Religiosität. Vgl. Dethlefsen 1980; Dethlefsen & Dahlke 1990.

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Die Perspektive der Entwicklung ist dabei meist auf den eigenen Kontext beschränkt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Akteure egozentrisch handeln. Fast alle sehen ihre Aufgabe auch darin, ihr erworbenes Wissen um die persönliche Entwicklung des Menschen an andere weiterzugeben. Narrativ ausgebildet und praktisch umgesetzt wird diese Vorstellung in der Konstruktion eines Rollenübergangs von lernend zu lehrend. Bei der Konstruktion des Weges ist weiterhin zu beobachten, wie die Akteure in ihren Erzählungen bestimmte Auswahlkriterien für die Elemente anführen, die sie für genau ihren Weg auswählen. Leider fallen diese Angaben im Erzählfluss nicht sehr ausführlich aus, ein Indiz dafür, dass diese Wahlprozesse mit einer hohen Selbstverständlichkeit durchgeführt werden und keiner ausführlichen Legimitation innerhalb der diskursiven Aushandlungen bedürfen. In Anbetracht des bereits genannten Charakteristikums, dass der Weg als Lernaufgabe gesehen wird und größtenteils vorbestimmt ist, ist es umso bemerkenswerter, dass die Akteure bei der Explikation der Auswahlkriterien ihre eigene Handlungsmacht betonen. Dies wird jedoch nicht als Widerspruch zur Vorbestimmtheit des Weges empfunden. Bei der Auswahl stehen die individuellen Bedürfnisse im Vordergrund. Die für den eigenen Weg ausgesuchten religiösen Elemente und Techniken müssen, sofern sie temporär oder dauerhaft in die eigene Konstruktion übernommen werden, passend sein und gefallen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist ihre Funktion und Wirksamkeit. Insbesondere rituelle Techniken werden nach diesem Kriterium ausgewählt. Im folgenden Ausschnitt begründet und kontextualisiert Uli, warum sie mit Huna28 arbeitet: Uli: Beziehungsweise, was heilt, hat recht. Das bedeutet quasi, egal welches Mittel man benutzt, ob man jetzt Rasseln benutzt oder Edelsteine oder Reiki oder die Psychologie oder einen Exorzismus macht, Hauptsache es funktioniert. Solange es funktioniert und für denjenigen gut ist, dann ist das passend für den. Und deswegen ist man im Huna eigentlich da auch sehr frei mit Methoden, die man anwendet.

Nach Ulis Aussage sind die verwendeten rituellen Techniken letztlich austauschbar und werden so aus emischer Sicht zu Platzhaltern, die individuell und

28 Unter »Huna« wird im Diskurs gegenwärtiger Religiosität die Tradition des hawaiischen Schamanismus verstanden. Aus religionswissenschaftlicher Perspektive ist davon auszugehen, dass es sich um eine erst in den letzten Jahrzehnten neu geschaffene Tradition handelt, die aus emischer Sicht als »alt« und »ursprünglich hawaiianisch« dargestellt wird.

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je nach Wirkungserfolg belegt werden können. Vor diesem Hintergrund kann schließlich auch ohne Probleme Ulis Verwendung von Huna legitimiert werden. Des Weiteren steht, wie bereits erwähnt, das persönliche Wohlbefinden im Umgang mit bestimmten religiösen Elementen oder Techniken im Vordergrund. Dies bedeutet im Zweifelsfall jedoch auch, dass der richtige Zeitpunkt bzw. der richtige geistige Entwicklungsstand vorhanden sein muss, um sich bestimmten religiösen Elementen zuzuwenden und diese zu adaptieren. Eindrücklich schildert dies Michi: Michi: Und ich hab gemerkt also, dass das in mir die, meine Seele immer bereit sein muss für etwas, was es annehmen kann. Und wenn was zu viel ist und ich merke, irgendwas ist mir aus der Richtung zu viel, dann leg ich’s auch weg und sag »gut, es tut mir jetzt nicht gut, dann ist es auch nicht gut für mich.« Und so war’s also auch die ganze Zeit, ich musste das aber auch erstmal lernen, damit umzugehen.

Es ist zu beobachten, dass die religiösen Akteure beim Umgang mit den unterschiedlichen religiösen Elementen zwischen dauerhaften Adaptionen und lediglich temporären Orientierungen differenzieren. So hat Michi z. B. Reiki zu einem ihrer Hauptelemente im Rahmen der eigenen Religiosität ausgebaut. Im Vordergrund des Adaptionsprozesses steht für sie das eigene Wohlbefinden im Umgang mit dem neuen religiösen Element. Die Adaption wird hier als langsames und vor allem gezieltes Lernen beschrieben, bei dem die Akteurin gleichzeitig von der lernenden zur lehrenden Seite wechselt. Temporäre Orientierungen werden hingegen meist als Stationen auf dem Weg gedeutet, an denen die Akteure bestimmte religiöse Inhalte rezipieren konnten, eine dauerhafte Übernahme eines Gesamtkonzepts jedoch nicht in Frage kommt. Jo drückt ihre Abkehr von Daskalos, einem griechischen »NeuMystiker«, wie folgt aus: Jo: Naja und dann, das war auch in dieser Daskalos Zeit, dann hab ich, wie ging’s dann weiter? Ja, Daskalos war dann irgendwann ausgeschöpft, also, da hatte ich dann die Seminare alle besucht, die es gab und heilen wollte ich ja nicht. Also ich wollte ja dann jetzt nicht in dem Sinn was lernen, sondern ich hab ja immer versucht, für mich das raus zu ziehen, was für meine spirituelle, für diese, ich wollte mit Gott verschmelzen. Und wie komm ich da hin, darum ging’s mir, dann hab ich, ja, da war erst mal ne Weile nix.

Die Lehren von Daskalos stellen für Jo eine Ressource dar, aus der sie solange schöpfen kann, bis die eigenen Bedürfnisse erfüllt sind. Auffällig ist bei ihr, dass sie den Auswahlprozess als sehr zielorientiert beschreibt. Mit dem Ziel vor Au-

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gen »mit Gott (zu) verschmelzen« begibt sie sich auf die Suche nach Lehren und Personen, die sie ihrer Meinung nach diesem Ziel näher bringen. Diese Fokussierung auf ein bestimmtes, allem übergeordneten, religiöses Ziel stellt eher einen Sonderfall dar und wurde von den anderen Interviewteilnehmern weitaus weniger bzw. gar nicht thematisiert. Ihre Wegkonstruktionen sind geprägt durch Offenheit und Ungerichtetheit. Vor dem Hintergrund einer dieses Leben überspannenden Zeitkonzeption werden jedoch alle Elemente, denen die Akteure begegnen, als sinnhaft und für die eigene Entwicklung nützlich beschrieben. Insgesamt lässt sich im Hinblick auf die Auswahlkriterien resümieren, dass aus emischer Perspektive das individuelle Wohlbefinden und der Nutzen für die eigene Entwicklung in den Vordergrund gerückt werden. In den gesamtbiographischen Gefügen sind es meist Begegnungen mit Personen oder die Rezeption bestimmter Bücher, die das Interesse für ein bislang unbekanntes religiöses Thema eröffnen. Die Beschäftigung mit verschiedenen religiösen Traditionen und Lehren erfolgt in überspannender Betrachtung zeitlich oft nicht parallel, sondern hintereinander. Der Aufmerksamkeitsfokus der Akteure richtet sich, so jedenfalls der Eindruck aus den Erzählungen, für eine bestimmte Zeit auf ein spezielles religiöses Thema, welches vollständig, teilweise oder überhaupt nicht dauerhaft in die individuelle Religiositätskonstruktion aufgenommen wird. Insgesamt ist über die genauen Abläufe der Selektionsprozesse noch recht wenig bekannt, nicht zuletzt aufgrund der spärlichen Thematisierung des Punktes von Akteursseite. Es ist jedoch davon auszugehen, dass religiöse Akteure nicht einfach willkürlich aus dem vorhandenen Angebot wählen, sondern bestimmte einflussreiche Strukturen des Diskurses die Auswahlentscheidungen beeinflussen. Inwiefern diese jedoch aktiv von den Akteuren reflektiert und damit direkt aus den Aussagen ableitbar sind, ist fraglich. Weiterführende Reflexionen hierzu können jedoch erst nach der Vorstellung und der Analyse des gesamten untersuchten Materialkorpus vorgenommen werden. Mit der Konstruktion des eigenen Weges wird zugleich auch die Konstruktion von anderen Wegen thematisiert. Aufgrund der beim eigenen Weg bereits betonten individuellen Gestaltbarkeit steht die Toleranz gegenüber anderen Wegen an oberster Stelle. Religiöse Intoleranz kann zudem nicht hingenommen werden29, da in emischer Perspektive alles durch ein übergeordnetes (göttliches) Prinzip miteinander verbunden ist und die unterschiedlichen religiösen Traditionen lediglich Ausformungen desselben religiösen Kerns darstellen.30 Beide

29 Vgl. dazu auch Hanegraaff 1998, 330. 30 Siehe dazu ausführlich Kapitel 4.2.1.

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Punkte zusammen führen in den Erzählungen der Akteure zu einer »Rhetorik der Toleranz«. Stellvertretend wird hier eine Aussage von Michi angeführt: Michi: Also früher wollte ich jedem meine Botschaft überbringen, mach ich nicht mehr. Wenn mich einer fragt, gebe ich Auskunft und auch nicht zu viel, sondern warte, wird nachgefragt oder nicht. Hab ich also mittlerweile verstanden, dass also jeder seinen Weg finden muss. Und das ist auch nicht dieser Weg, dass man jetzt gläubig ist in diesem Leben, ist auch nicht unbedingt das für jeden Anstrebbare, weil man eben auch manchmal mit dem anderen Auftrag hier auf die Erde kommt, ist meine Meinung.

Michi stellt sich an dieser Stelle als zurückhaltende Person dar, die anderen ihre Ansichten auf keinen Fall aufdrängen möchte. Sie beschreibt diese Einstellung als Resultat eines Lernprozesses, wobei offen bleibt, was diesen Prozess angestoßen hat. Zwar muss jeder seinen individuellen Weg gehen, doch dieser Weg wird, wie bei Michi zu sehen, in das übergeordnete Lern- und Entwicklungsmodell eingeordnet, dem jeder Mensch unterliegt. Damit gelingt es ihr, auch nichtgläubige Personen im Rahmen ihrer Realitätskonstruktion zu legitimieren. Michi deutet hier ein Spannungsverhältnis an, das auch bei anderen Akteuren zu finden ist. Einerseits steht vor dem Hintergrund der individuellen Auswahl und dem Gedanken, dass alle religiösen Traditionen letztlich den gleichen Kern bzw. das gleiche Ziel haben, Toleranz an erster Stelle. Dies gilt es jedoch andererseits damit zu vereinen, dass die meisten Akteure ihren speziellen Weg bzw. Teile davon an andere lehrend weiter geben. Dabei entwickeln sie eine Erzähllinie, in der sie lediglich als helfende oder unterstützende Person auftreten, deren Ziel es ist, anderen bei der Findung des eigenen Weges behilflich zu sein. Oftmals sind hier Anklänge einer Hierarchisierung zu erkennen, welche die Akteure bei sich selbst und anderen Personen vornehmen. Je weiter man bereits auf dem Weg gekommen ist, desto höher ist die eigene Position bzw. desto ausgezeichneter ist das eigene Wissen. Beim Beschreiten ihrer Wege stehen die Menschen daher auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen. Luca liefert hierfür ein anschauliches Beispiel. Luca: Es gibt also nicht nur eine Wahrheit, es gibt letztlich eine Wahrheit, aber eine Wahrheit hat immer viele Facetten, je nachdem, welchen Stand ein Mensch hat mit seinem Bewusstsein eine Wahrheit zu betrachten. Der einfache Mensch, von dem ich vorhin vom Thema abgekommen bin, der denkt nicht großartig über die Welt nach. Der sieht da draußen einen Penner auf der Straße auf der Parkbank, der ist schon halbtot, der ist erfroren, der geht da dran vorbei und den interessiert das vielleicht nicht. Ich würd da hingehen und dem helfen, ich nehm auch so ne Leute mit nach Hause und lass mir dann noch 50 Euro

142 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN klauen und habe trotzdem nicht eine Sekunde das Gefühl, ich hab was falsch gemacht. Und der tut mir auch noch leid, weil er mir 50 Euro klauen muss, nachdem ich dem so helfe. Aber so sind die Menschen verschieden, jeder hat ein anderes Bewusstsein, das hab ich einfach mal heute akzeptiert. Respektiere ich, verstehe ich. Deswegen kann ich heute nicht voraussetzen, dass einer so tiefsinnig denkt oder fühlt wie ich. Das kann eben nicht jeder, so einfach ist es.

Die Erzählerin zeichnet hier ihren Weg anhand der eigenen geistigen Entwicklung nach. Sie setzt sich in Beziehung zu ihrem sozialen Umfeld, bei dem sie eine Klassifizierung bzw. Hierarchisierung zwischen Personen vornimmt, die ihrer Ansicht nach einen unterschiedlichen Stand der Bewusstseinsentwicklung haben. Trotz der von ihr festgestellten Unterschiede betont auch sie stark den Toleranzfaktor gegenüber anderen. Sie hebt allerdings sprachlich zweimal besonders hervor, dass sie diese Toleranz »heute« besitzt, was darauf hindeutet, dass sie sich diese auch im Laufe der Zeit erst erarbeiten musste. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Wegkonstruktionen und ihre inhaltlichen und rhetorischen Ausformulierungen im Rahmen der biographischen Entwürfe als konstituierend für die Akteure gelten können. Im Kontext dieser narrativen Struktur werden andere diskursleitende religiöse Vorstellungen, wie z. B. der Gedanke, dass letztlich »alles eins« ist, individualbiographisch umgesetzt und auf den einzelnen Akteur zentriert. Die Organisation der eigenen religiösen Biographie als stetiger Entwicklungsprozess ist ein narratives Muster, das sich nicht nur in den Interviewkonstruktionen findet, sondern auch auf den Homepages sehr präsent ist. In unterschiedlicher Gewichtung werden hier narrative Ausgestaltungen aufgenommen und ausgebaut. Oft sind die Darstellungen auf den Homepages knapp gehalten und vermitteln nur einige wichtige biographische Eckpunkte, was dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass zu lange Texte auf Webpräsenzen als leserunfreundlich gelten. Zur exemplarischen Verdeutlichung ist im Folgenden ein Ausschnitt einer biographischen Selbstbeschreibung einer Akteurin im Internet angeführt, die u. a. Reiki, Huna, Kartenlegen, Chakrenarbeit, Engel der Kabbala und Engel als Themen angibt, mit denen sie sich befasst. Meine mediale Gabe erbte ich von meiner Urgroßmutter und Großmutter, die mit Verstorbenen sprechen konnten. »Seit meiner Kindheit lege ich Karten und habe viele Eigebungen [sic], die sich danach als richtig erwiesen,« Nach einem schweren Schicksalsschlag wusste ich intuitiv, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war, um sich ganz der Spi-

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ritualität zu widmen. Seit Ende der 90er Jahre bin ich hauptberuflich als Beraterin tätig und habe mich seitdem durch zahlreiche Seminare weitergebildet.31

In aller Kürze wird hier auf die in den vorangehenden Kapiteln vorgestellten narrativen Muster referiert: Sie konstruiert sich als Kind mit besonderen Fähigkeiten, gibt an, ein Schlüsselerlebnis in Form eines unbestimmt bleibenden Schicksalsschlags gehabt zu haben und macht klar, dass sie sowohl lehrend als auch lernend auftritt. Die Beschreibung der eigenen Biographie als Weg ist in religiösen Diskursen ein bereits bekanntes Motiv. Religionshistorisch sind die Betonung des eigenen subjektiven Glaubens und dessen stete Umsetzung im alltäglichen Leben insbesondere aus pietistischen, pfingstlerischen oder charismatischen Bewegungen christlicher Traditionen bekannt. Nach der Verwirklichung eines christlichen Lebens im Diesseits führt hier der persönliche Weg zu Gottes Reich im Jenseits. Es kann angenommen werden, dass dieser christliche Weg-Diskurs als Rezeptionsressource mit Sicherheit in die Aushandlungen im Diskurs gegenwärtiger Religiosität eingegangen ist, auch wenn direkte Verbindungen nur schwer nachweisbar sein dürften. Die diskursiven Verflechtungen dürften nicht als klar und eindeutig zu bestimmende Linien vorliegen, sondern es ist davon auszugehen, dass es hier zu komplexen Überlappungs-, Adaptions- und Transformationsprozessen gekommen ist. Die Ausgestaltung der Wegvorstellung ist inzwischen allerdings transformiert worden. Nicht mehr Gottes Reich wird als Endpunkt des Weges angegeben, sondern vielmehr die Vollendung der eigenen religiösen Entwicklung. Für den Diskurs gegenwärtiger Religiosität lässt sich jedenfalls festhalten, dass die Konstruktion des eigenen Weges inzwischen zu einer dominanten narrativen Struktur im Diskurs geworden ist. Sie unterscheidet sich deutlich von »klassisch-christlichen« Weg-Vorstellungen: die Betonung der Individualität einerseits, das Hervorheben der Toleranz gegenüber anderen Akteuren andererseits und vor allem die Einordnung des eigenen Weges in eine überspannende Zeitkonstruktion, die sich am Konzept westlicher Reinkarnationsvorstellungen orientiert. Ein weiteres Merkmal ist zudem die grundlegende Annahme der Akteure, dass verschiedene religiöse und rituelle Elemente grundsätzlich miteinander vereinbar sind und problemlos zusammen in die eigene Religiositätskonstruktion aufgenommen werden können (temporär oder dauerhaft). Die beiden letztgenannten Punkte werden nun u. a. im folgenden Teilkapitel näher erläutert.

31 Homepage »Sina Amann«. Zugriff unter: http://www.sina-amann.de/ (24.01.12) [Herv.i.O.].

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4.2 Z UR K ONSTRUKTION K ONZEPTE

ZENTRALER RELIGIÖSER

4.2.1 »Alles ist eins« Als Basis für Argumentationen, aber auch als Konzept, das innerhalb von Narrationen zum Einsatz kommt, hat sich im Diskurs gegenwärtiger Religiosität die Idee durchgesetzt, dass in Bezug auf religiöse Inhalte aber auch Praktiken letztlich »alles eins« ist bzw. alles auf eine letztgültige Wahrheit/Weisheit zurückgeht.32 Dieser Topos ist aus religionsgeschichtlichen Bezügen bereits aus esoterischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts (Theosophie, Anthroposophie) bekannt33, wo er allerdings nahezu ausschließlich in bestimmten Oberschichtendiskursen rezipiert wurde. Gegenwärtig ist die grundlegende Vorstellung, dass »alles eins« ist, zu einem der wichtigsten und am weitesten verbreiteten Topoi gegenwärtiger Religiosität avanciert, der von nahezu allen Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmern verwendet wird. Betrachtet man seine argumentativen und narrativen Einsätze, wird jedoch schnell klar, dass die Idee einer letztgültigen Einheit aller Dinge in vielfältigen Ausführungen vorliegt, die je nach Bedarf von den Akteuren eingesetzt werden. Anhand einiger ausgewählter Beispiele sollen im Folgenden vier Aspekte des Topos näher betrachtet werden, die sich in den Erzählungen der befragten Akteure besonders signifikant abzeichnen: 1.) letztgültiges, alles verbindendes Prinzip ist Gott, 2.) der Mensch selbst ist letztlich göttlich, 3.) das Göttliche ist die Auflösung der Polarität, 4.) Gemeinsamkeiten und Unterschiede religiöser Traditionen. Es wurde im Weiteren bewusst darauf verzichtet, von Holismus, Pantheismus oder ähnlichem zur Bezeichnung des Topos zu sprechen, die auf einen einheitlichen Vorstellungskomplex hinweisen. Wie die Narrationen zeigen werden, setzen die Akteure vielfältige Ausarbeitungen dieser Konzepte in ihrer Identitätsarbeit ein, ohne präzise Differenzierungen vorzunehmen. Die umfassendste Grundtendenz in den Erzählungen zu diesem Punkt kann als Idee, dass »alles eins« ist, summiert werden. In der Identitätsarbeit der Akteure fallen darunter Aspekte von einer Einheit mit Gott, die energetischen Verbindungen von Mensch und Kosmos oder eben eine allen Dingen zugrunde liegende religiöse

32 In der Forschung werden zur Beschreibung dieses Konzepts verschiedene Begriffe eingesetzt, die jeweils unterschiedliche Aspekte betonen, letztlich jedoch auf dieselbe Grundidee verweisen. Zu nennen wären hier »philosophia perennis«; »Holismus« oder »Pantheismus«. 33 Hanegraaff 1998, 451; Hammer 2004, 170.

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Wahrheit. Allerdings sind diese Aspekte meist so eng miteinander verwoben, dass eine Separierung nur aus heuristischen Gründen anzuraten ist. 1.) Gott als letztgültiges, alles verbindendes Prinzip Als erster und vielleicht wichtigster Punkt ist festzuhalten, dass als letztgültiger Seinsgrund von den Akteuren ein absolut übergeordnetes Prinzip genannt wird, welches meist mit »Gott« bezeichnet bzw. als »Göttliches« identifiziert wird. Das Göttliche (oder Gott) ist es auch, das in den Realitätskonstruktionen der Akteure von zentraler Bedeutung ist, da die Vorstellung davon als strukturierendes Prinzip wahrgenommen wird, auf dessen Basis die weitere Konstruktion religiöser Identität möglich ist. Dieses höchste Prinzip wird mit Hilfe unterschiedlicher Aspekte konstruiert, wobei anzumerken ist, dass sich die Verwendungen der Aspekte auf keinen Fall gegenseitig ausschließen. In den Narrationen werden meist verschiedene Begriffsalternativen vorgeschlagen, die nach Meinung der Akteure jedoch synonym verwendet werden können. Hier zunächst zwei Beispiele von den Interviewpersonen Maxi und Andi: Maxi: In der Esoterik gibt es diesen Begriff des inneren Lichts. Ich bin mittlerweile der Ansicht, es ist das, wo jetzt Christen dann zum Beispiel dann sagen würden, sie haben Gott gefunden. Das ist einfach – dass man etwas in sich gefunden hat, eine Essenz, einen göttlichen Kern oder was immer, wie man das ausdrücken möchte. Andi: Ich sag immer Schöpfer oder Universum, aber wie gesagt, es ist auch alles eins. Ob er jetzt Allah heißt oder Buddha oder wie auch immer, es ist alles eins. Also es gibt da keinen Unterschied. Nur eben so wie für Reiki es verschiedene Energiearten gibt, gibt’s halt verschiedene Bezeichnungen für dieses Alles, was ist. Aber ne Bezeichnung gibt’s da nicht, also ich kann das nicht definieren.

Mit der Verwendung von Synonymen finden in beiden Fällen Parallelisierungen statt, die im Rahmen der Identitätskonstruktion der Akteure eine wichtige Rolle spielen, um einen adäquaten Umgang mit religiöser Pluralität zu finden. Die Konstruktion eines göttlichen Prinzips, das absolute Allgemeingültigkeit besitzt, erlaubt es den Akteuren sich in einem changierenden Diskurs zu bewegen, in dem sie je nach Bedarf eine spezifische Benennung auswählen können. So wird je nach Erzählkontext eher von Gott gesprochen, wenn es z. B. um individuelle Kommunikationsrituale (z. B. Gebete)34 geht, und eher von göttlicher oder höchster Energie, Kraft oder Urquelle, wenn es z. B. im Reikikontext um Hei-

34 Vgl. dazu unter 2.) die Zitate von Michi.

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lungen geht.35 Doch auch in weiteren Kontexten spielt die Vorstellung des göttlichen Prinzips als Energie eine wichtige Rolle. Oft wird durch den Entwurf eines Energiemodells nicht nur die Universalität des göttlichen Prinzips belegt, sondern auch ein Anknüpfungspunkt zum Bereich »Liebe« gefunden. Anhand von zwei exemplarischen Interviewpassagen kann dies verdeutlicht werden. Michi: …, dieser Gott ist Liebe, das ist eine Energie, also die höchste Energieform überhaupt, ist ja schon wissenschaftlich gemessen, ist die Liebe, das ist die höchste Energieform, die es gibt. Sam: Für mich die Quelle Gott, für mich gibt es nur eine Kraft im Universum, das ist die Kraft der Liebe. Die Liebe Gottes, die alles erschafft. Aus dieser Kraft heraus gibt es natürlich ganz viele andere, natürlich weil alles ist ein Ganzes und alles fügt sich zusammen zu einem Ganzen, aber für mich, wie gesagt, gibt es, die einzige Macht im Universum ist die Liebe Gottes. Also und die Liebe Gottes übersetzt einfach diese Urkraft, dieses Allerschaffende und das lebe ich, weil das das einzige ist, was ich tun kann.

Bemerkenswert ist bei Michi, dass sie ihre Vorstellung von Gott als höchste Energieform unter Rückgriff auf »wissenschaftliche« Messungen belegen möchte. Zwar bleibt sie in ihrer Argumentation an dieser Stelle sehr zurückhaltend, doch zeigt sich auch bei anderen Akteuren, dass eine Legitimation der eigenen Aussagen unter Rückgriff auf wissenschaftliche Belege ein gängiges Muster in den Erklärungen darstellt.36 Bei Sam liegt die Betonung hingegen eher in einer Gleichsetzung von Gott als der einzigen, alles verbindenden »Kraft im Universum« mit Liebe. Während sie im Bereich von Universum-Liebe-Gott bleibt, findet sich bei Nicki ein Zitat, in dem sie die Vorstellung über ein göttliches Prinzip auf den Bereich der Natur ausweiten kann. Nicki: Die göttliche Allmacht zählt, ob sie’s jetzt [Star?] nennen oder ob sie’s jetzt zum Beispiel Baum nennen, die göttliche Allmacht, das, was aus der göttlichen Allmacht entspringt, das ist das Göttliche und alles, was göttlich ist, ist gut.

35 Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass über die Herkunft des göttlichen Prinzips selbst von den Akteuren nur wenig reflektiert wird. Lediglich eine Erzählerin thematisiert diesen Punkt und konstatiert, dass Gott »das einzig Unerschaffene« ist. 36 Rademacher 2010, 374-377.

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Wie die Beispiele zeigen, greifen die Akteure bei der Konstruktion eines allumfassenden göttlichen Prinzips auf Parallelsetzungen zurück, anhand derer sie die verschiedenen Dimensionen des Prinzips erläutern. Dabei kann es sowohl zu Gleichsetzungen unterschiedlicher religiöser Traditionen kommen, wie auch zur Gleichsetzung von abstrakteren Kategorien wie Liebe oder Natur. Als verstärkendes Element können Energiekonzepte eingeführt werden, welche die verbindende Hintergrundfolie für die Konstruktion bilden. Als diskursiv-rhetorisches Prinzip ist der Einsatz von Parallelisierungen von religiösen Elementen ein bereits bekanntes Mittel. Nicht nur in den Schriften von H. B. Blavatsky und R. Steiner findet sich dieses rhetorische Element, wenn sie z. B. Parallelen zwischen indischen und westlichen Konzepten aufzeigen, sondern auch in neuerer Primärliteratur der gegenwärtigen Esoterik.37 Hier wirken die Gleichsetzungen in erster Linie authentifizierend, wenn z. B. die Autorin Diane Stein die universellen Heilenergien, die beim Reiki eingesetzt werden, auch in anderen Kulturen verorten kann (Prana/Indien, Ruach/Hebräisch, Ch’i/ China).38 Im Kontext der biographischen Identitätsarbeit wird das Mittel der Parallelisierung dagegen eher dazu eingesetzt, die Verwendung von unterschiedlichen religiösen Elementen legitimierend auf einer gemeinsamen Hintergrundfolie zu stützen. Geht alles auf einen gemeinsamen Nenner zurück, der meist als Energieform konzipiert ist, die alles und jeden »durchdringt«. So ist es kein Problem, mit verschiedenen religiösen Traditionen innerhalb eines biographischen Entwurfs zu arbeiten, da diese schließlich einen kohärenzstiftenden Charakter besitzen. Direkt an die Idee eines allumfassenden, letztgültigen göttlichen Prinzips schließt sich ein weiterer Aspekt des »alles-ist-eins«-Topos an. 2.) Die Göttlichkeit des Menschen In den Erzählungen wird ersichtlich, dass dieses letztgültige göttliche Prinzip nicht als etwas außerhalb des Menschen Stehendes gedacht wird, sondern den einzelnen Akteuren gleichsam intrinsisch eingeschrieben ist. Das göttliche Prinzip durchdringt damit nicht nur die gesamte Realität, sondern auch alle in ihr befindlichen Lebewesen und Materialien. Oft ist die Rede davon, dass der Mensch einen »göttlichen Funken« besitzt oder sogar gänzlich göttlich ist, diese »Tatsache« nur meist selbst nicht erkennen kann. Exemplarisch ist dazu ein Zitat von Jo anzuführen:

37 Hammer 2001, 164f. 38 Siehe Beispiel Diane Stein ausführlich bei Hammer. Ebd., 164.

148 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Jo: Und plötzlich merkte ich, dass es ja überhaupt keine Trennung gibt zwischen allem und mir, dass ich ja mit allem verbunden bin, dass das ja alles ich ist und dass ich das alles bin. Wenn man sich von Gott getrennt fühlt, es gibt ja tatsächlich nen Zustand, in dem man eins ist mit Gott, wir sind alle eigentlich eins, wir wissen’s nur nicht.

Es wird deutlich, dass die Idee eines allumfassenden göttlichen Prinzips auch auf die eigene Person übertragen wird. Die Präsenz dieses göttlichen Prinzips schafft nicht nur eine universelle Verbindung zwischen Gott, den Menschen und der Umwelt, sondern lässt den Menschen selbst göttliche Qualitäten erlangen. Dazu äußert sich auch Sam in zwei Zitaten, die aus jeweils unterschiedlichen Abschnitten des Interviews stammen. Sam: Und dieses Gefühl zu Gott, was für mich der liebe Gott ist, nämlich in mir dieses, was alles erschafft, was alle Menschen miteinander eins werden lässt, was alle in sich tragen. Sam: Und mein Glaube war, dass ich wusste, dass wir alle eins sind, dass der liebe Gott in jedem von uns ist, dass wir alle diesen Funken haben und jeder diesen Draht [hat].

Im Rahmen dieser Beschreibungen wird sehr häufig eine Ambivalenzspanne zwischen einem außerhalb und innerhalb befindlichen Gott aufgezogen, in der die eigene Göttlichkeit dann verortet wird. Das selbst-postulierte Ideal ist, wie im Beispiel von Uli, »Gott in sich« zu finden. Uli: Also es geht für mich mehr um ein eigenes Selbstbewusstsein, um meine eigene Identität innen, mein Gott in mir zu finden und nicht irgendein diffuses Wesen im Außen.

Dieses Ideal kann jedoch in Bezug auf die religiöse Praxis angepasst werden. Hier gelingt es je nach Situation das göttliche Prinzip einmal als intrinsisch, den Akteuren innewohnend zu beschreiben, ein anderes Mal als externe Entität, an die man sich z. B. in rituellen Anrufungen wendet. Dies wird aus emischer Perspektive nicht problematisiert, sondern stellt lediglich zwei Perspektiven auf die Grundannahme eines, alles durchdringenden göttlichen Prinzips dar. So beschreibt Michi ihre Sichtweise wie folgt: Michi: Gott ist für mich, ist das eine ganz mächtige Energieform und meine Vorstellung ist das so: wir Seelen sind also Teile von Gott, also wir sind göttlich. Wir sind Gott, weil wir kommen von Gott, wir kommen aus der Masse Gott. Es sind Teile von Gott, die auf der Erde jetzt sind, auf dem Planeten Erde, wo wir Lernaufgaben erfüllen. Wir sind Gott

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ist meine Meinung. Wir sind Gott, wir sind Liebe, wir sind die höchste Energieform. Und wie das mal alles zustande kam oder, es gibt ja da doch gar keine Zeit.

Bei Michi ist der Mensch selbst göttlich, seine Aufgabe ist es, durch seine verschiedenen Leben auf der Erde soviel zu lernen, bis er wieder zu seinem Ursprung zurückkehren kann. Hier wird die Verflechtung zu der Organisation des eigenen Lebenslaufs als einem fortschreitenden Entwicklungsweg erneut deutlich. Aus dem Erzählkontext des Zitats geht hervor, dass Michi diese Vorstellung vom Verhältnis zu Gott und der Position des Menschen aus einem Buch rezipiert und für ihre eigene Vorstellung adaptiert hat. Sie verweist auf den bekannten US-amerikanischen Reinkarnationstherapeuten Dr. Michael Newton39, der eine Vielzahl von Veröffentlichungen zum Thema Reinkarnation verfasst hat. Michi findet in den vom Autor geschilderten »karmischen Fallstudien« eine für sie logische Erklärung der Zusammenhänge von Leben und Tod. Das begründende Element in diesen Zusammenhängen ist die Idee des stetigen Lernens und die Idee von der Einheit aller Dinge. Eine solch klare Rezeptionslinie ist jedoch die Ausnahme. Wenn Michi allerdings im Anschluss an dieses Erzählsegment von ihrem täglichen Gebet mit ihrer Tochter erzählt, wird das göttliche Prinzip nicht mehr innerhalb ihrer selbst verortet, sondern ist nun eine Einheit, die in ritueller Kommunikation adressiert werden kann: Michi: Dann setz ich mich also da hin zu meiner Tochter oder kuschel mich an sie. Wir falten dann beide die Hände, (sie macht dann also, egal, und wenn’s so ist, also sie macht dann nicht extra so, sondern auch so, macht nichts [Michi zeigte hier verschiedene Handpositionen, aneinander gelegte Finger oder verschränkte]). Und dann bet ich zum Beispiel »Lieber Gott, ich danke dir für den schönen Tag und wir danken dir für den schönen Tag, wir bitten um … .«

Die direkte Anrede von Gott, an den Dankesanliegen gerichtet werden, lassen das übergeordnete Prinzip eher als einen außerhalb des Menschen stehenden, eventuell personifizierten Ansprechpartner erscheinen. Es wird deutlich, dass Michi situativ auswählt zwischen beiden Perspektiven: einmal ist sie selbst Teil Gottes bzw. Gott in ihr, ein anderes Mal ist Gott ein Kommunikationspartner, der adressiert werden kann. Die Idee der Göttlichkeit des Menschen oder eines »göttlichen Funkens« ist in den Aushandlungen rezenter Akteure nicht direkt im Anschluss an gnostische

39 Newton 2008, 2009.

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oder pantheistische Entwürfe aus älteren religionsgeschichtlichen Szenarien zu verstehen, sondern vielmehr im Anschluss an Konzeptionen, die von populären Autoren der 1970er und 80er Jahre verhandelt wurden. Mit Shirely MacLaines Postulat »I am God«, welches vor allem auf die Einflüsse von Chris Griscom und J.Z. Knight zurückgeführt werden kann, ist die Idee, dass der Mensch selbst göttlich ist bzw. göttliche Anteile besitzt, bereits in breit rezipierten Quellen der Esoterik zu finden.40 Aber auch in Bestsellern der Gegenwart findet sich die Idee, dass die Menschen letztlich selbst Teil Gottes sind. So werden die Menschen in »Die Prophezeiungen von Celestine«, verfasst vom Bestsellerautor James Redfield, durch Anschluss an das Universum bzw. die Energiequelle letztlich selbst zu »Himmelswanderern«.41 Das Konzept der eigenen Göttlichkeit kann als dominantes Muster in den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität begriffen werden. Wie genau bei den einzelnen Akteuren jedoch die Rezeptionsprozesse verlaufen, ist meist nicht nachzuvollziehen. Für die Konstruktion einer stringenten Realität, auf deren Basis die individuellen Identitätsentwürfe erarbeitet werden, schließt sich der Aspekt der eigenen Göttlichkeit nahtlos an das Postulat eines allumfassenden, göttlichen Prinzips an. Für den »alles-ist-eins«-Topos finden sich noch weitere Aspekte in den Narrationen der Akteure. 3.) Das Göttliche als Auflösung der Polarität Der »alles-ist-eins«-Topos wird in der Biographiearbeit um einen weiteren Aspekt ergänzt, der sich allerdings nicht so deutlich wie die beiden anderen Aspekte von der übergeordneten göttlichen Quelle und dem göttlichen Funken präsentiert. Das übergeordnete göttliche, dem Menschen innewohnende Prinzip wird häufig auch als Spannung zwischen zwei entgegen gesetzten Polen konzipiert, wobei deren Auflösung im Weg der Mitte betont wird. Von den Akteuren wird zur Umschreibung u. a. die Yin-Yang-Symbolik eingesetzt, allerdings meist ohne weitere Quellennennung. Ausnahmen in den Interviews finden sich bei Kim und Maxi, die dezidiert auf »taoistische« Texte verweisen. So erinnert sich Kim daran, wie sie und ein Freund sich im Alter von 20 Jahren gegenseitig entsprechende Texte vorgelesen haben: Kim: Wir haben uns gegenseitig taoistische Texte und philosophische Texte vorgelesen, immer einen Abschnitt der eine, einen Abschnitt der andere. Und dann hat einer seine eigene Interpretation dazu gegeben und dann das nächste Mal der andere, so dass man die

40 Vgl. Hanegraaff 1998, 204-209. 41 Vgl. Redfield 2004.

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männliche Sicht und die weibliche Sicht [hatte]. Also Yin und Yang hat uns immer begleitet, als weiblich männlich oder das duale System. Und obwohl in diesem, sag ich mal dualen System schon das Dritte mit dabei ist, weil der Kreis hält das zusammen.

Im Vordergrund steht die Polarität zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen, ein Begriffspaar, das im Rahmen dieses Konzepts sehr gängig ist. Dieses »duale System« stellt auch bei Kim, die an eine »Vergöttlichung« des Menschen glaubt, lediglich einen ergänzenden Aspekt ihrer Realitätskonstruktion dar. Dieser lässt sich durch die Auflösung der Polarität im »Dritten« ohne weiteres in Kohärenz mit der Annahme eines übergeordneten, alles durchdringenden göttlichen Prinzips bringen. Eine weitere individualreligiöse Adaption dieses Konzepts macht deutlich, wie auch diese Vorstellung dazu eingesetzt wird, kreativ mit verschiedenen religiösen Traditionen umzugehen. Zunächst ein längeres Zitat von Maxi: Maxi: Und dann in der Zeit, wo ich mich mit Chi Gong beschäftigt habe, hab ich mich dann mit dem Tao Te King beschäftigt, dem Taoismus. Und hab da eigentlich, ja das hat mir eigentlich am meisten weitergeholfen. Und als da halt mit die Polarität mit Yin und Yang und dass die beiden im Tao enthalten sind irgendwo und dass das Tao das Ganze ist und irgendwo konnte ich das dann, diese Vorstellungen von Yin und Yang, konnte ich dann auch ganz irgendwie gut auf das Christliche übertragen. Und [ich] habe dann plötzlich ein anderes christliches Weltbild gehabt für mich, womit ich dann plötzlich ja zu Recht kam, was plötzlich ziemlich klar für mich war. Und im Wesentlichen eigentlich, da gibt es ja diese Polaritäten, Yin und Yang kann man dann wieder vergleichen mit Himmel und Erde. Und so ist Jesus zum Beispiel gezeugt aus dem heiligen Geist, ist jetzt mal, steht jetzt mal für den Himmel und Maria steht jetzt für die Erde als Symbol. Und dass er jetzt eigentlich beides in sich hat, Himmel in sich hat und Erde in sich hat und dass er stellvertretend für die Menschen eigentlich steht, da jeder Mensch beides irgendwo hat, auch einen Körper hat und ne Seele hat oder einen Geist hat, was auch wieder Yin und Yang irgendwo ist. Und ja wo ich dann so den Weg der Mitte für mich gefunden habe, wo’s also darum geht, diese beiden Polaritäten wieder zu vereinen, in sich zu vereinen.

Maxi beschreibt, wie sie die Idee von Yin und Yang bzw. das Konzept der Polarität als Zugang verwenden kann, um sich durch eine Uminterpretation christliche Ideen neu zu erschließen und diese in die eigene Religiosität aufzunehmen. Dies kann geschehen, da Maxi, ebenso wie die anderen Akteure, das Konzept eines allumfassenden göttlichen Prinzips als Hintergrundfolie für sich akzeptiert

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hat. Durch die Applikation des Yin-Yang Prinzips auf das Konstrukt, dass Jesus durch die Vereinigung des Heiligen Geistes mit Maria entstanden sei, kann Maxi die biblische Geschichte in einen neuen Interpretationsrahmen stellen. Indem sie Entsprechungen zwischen Yin-Yang, Himmel-Erde, Körper-Geist/Seele zieht und diese Dichotomie im »Weg der Mitte« aufhebt, gelingt es ihr, theologische Divergenzen aufzulösen und durch individualreligiöse Interpretationen in einen gemeinsamen Deutungshorizont zu überführen. Die Idee einer »dynamic harmony of opposites«42, die vor allem im Bild der Yin-Yang-Polarität ausgedrückt wird, führen die hier zitierten Erzähler direkt auf »taoistische« Texte bzw. das Tao-Te-King zurück. Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität wurde das Polaritätsprinzip von Yin-Yang vor allem durch Fritjof Capras Buch »Das Tao der Physik«43 bekannt, das im Kontext der Interviews allerdings nicht als Rezeptionsquelle angegeben wird. Sie berufen sich vielmehr auf Quelltexte, bei denen jedoch davon auszugehen ist, dass die vorliegenden Übersetzungen selbst stark religiös geprägt sind.44 Wie insbesondere am Beispiel von Maxi deutlich wird, kann auch hier ein Aspekt des »alles-ist-eins«-Topos in individualreligiöser Applikation zum Umgang bzw. zur Synchronisation von unterschiedlichen religiösen Traditionen eingesetzt werden. Der Akteurin gelingt es somit, eine gewisse Kohärenz im Zuge einer mit Pluralität und Komplexität konfrontierten Identitätskonstruktion aufzubauen. 4.) Gemeinsamkeiten und Unterschiede religiöser Traditionen Als ein weiterer Aspekt des »alles-ist-eins«-Topos wird von einigen Akteuren die Idee einer philosophia perennis aufgegriffen, der Begriff selbst findet allerdings keine Anwendung. Es wird angenommen, dass ein in allen Religionen innewohnender Kern existiert, der letztlich nur eine religiöse Wahrheit umfasst. Durch diesen Kern sind die unterschiedlichen religiösen Traditionen miteinander verbunden und im Grunde eins. Offensichtliche Überschneidungspunkte, an denen dieser Kern deutlich zu Tage tritt, sind – nach Meinung der Akteure – in ers-

42 Hanegraaff 1998, 152. 43 Vgl. dazu ausführlich Bochinger 1994, 421- 453. 44 Bis heute am weitesten verbreitet ist die Übersetzung des Theologen und Sinologen Richard Wilhelm aus dem Jahr 1911. Eine neuere Übersetzung (1994), die von Reclam publiziert wird, stammt von Wolfgang Kopp, laut Umschlagtext einem »praktizierenden Meditationsmeister«. Beide Übersetzungen dürften deutlich von den jeweiligen religiösen Hintergründen der Übersetzer geprägt sein. Vgl. Laotse [Wilhelm] 1911; Laotse [Kopp] 1994.

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ter Linie sogenannte »mystische Traditionen« wie der Sufismus, die Lehren der Kabbala oder auch die christliche Mystik nach Meister Eckhart. Jo erzählt, dass sie sich im Alter von 24 Jahren, nachdem sie sich von der Kirche abgewendet hatte und gerade eine schwierige Phase durchlebte, verstärkt mit »dem Sufismus« befasste. Bei ihrem Bruder findet sie ein Buch von Idries Shah45, nach dessen Lektüre sie »Feuer und Flamme« gewesen sei, da ihr hier nach eigener Aussage zum ersten Mal die Idee eines »erfahrbaren« Gottes begegnet sei. Sie führt weiter an: Jo: In dem Buch wurde eben auch gesagt, das was ich bis heute ja auch so sehe, dass alle, es sich in den Mystikern alle Religionen, die Einheit eigentlich aller Religionen zu finden ist, weil die alle dasselbe sagen.

Im Kontext dieses Erzählsegments, in dem sich Jo zum ersten Mal mit einer nicht-christlichen religiösen Tradition befasst, kann der Verweis auf einen gemeinsamen Kern aller Religionen als Rechtfertigungsmuster interpretiert werden, das zur Legitimierung der Beschäftigung mit dem Sufismus angeführt wird. Ihre Aussage konstruiert sie mit Hilfe des Verweises auf das Buch, wodurch ihre Annahme gleichzeitig authentifiziert wird. Auch Maxi findet in mystischen Traditionen ein verbindendes Element. Maxi: Und ja so gesehen bin ich eigentlich, sagen wir mal eher ein Mensch, der sich, oder der als ein Mystiker bezeichnet wird, weil’s da um das Erleben geht, um das Erleben der Einheit und die mystische Richtung findet sich auch in jeder Religion. Im Indischen ist es eine bestimmte Yoga Richtung, im Islam, im … Kabbala im, na hier, Judentum oder im Christentum ja auch. Christliche Mystik oder Gnostik, Gnosis. Und ja, auf dieser Ebene, sag ich mal, auf der Ebene der Erfahrung bin ich auch der Ansicht, können wir auch irgendwo alle, die irgendwo auf der Suche sind, die sich irgendwo mit Religionen beschäftigen, auseinandersetzen, auch zusammenfinden nur.

Im Gegensatz zu bestimmten religiösen Konzepten stellt Maxi die individuelle Erfahrung und das persönliche Erleben als gemeinsame Basis für die Verbindung zwischen religiösen Traditionen vor. Implizit wird hier erneut der Anschluss an eine biographische Weg-Konstruktion vorgenommen.

45 Der 1924 in Indien geborene Autor wuchs überwiegend in Großbritannien auf und verfasste eine ganze Reihe von Büchern über den Sufismus. Er präsentiert den Sufismus als eine universale Form von Weisheit, die über die Grenzen des Islam hinausreicht. Vgl. Shah 1999. Siehe auch Partridge 2004, 137.

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Die letztgültige Einheit aller Religionen, definiert über einen gemeinsamen Kern oder ein gemeinsames Ziel, wird als Topos in den Narrationen aber auch zurückgeführt auf bekannte und wortführende Personen innerhalb des Diskurses gegenwärtiger Religiosität. Hier stehen vor allem Buchautoren im Vordergrund, die über dieses Medium, aber auch in persönlichen Auftritten und Vorträgen, ihre Vorstellungen von der Idee, dass »alles eins« ist, verbreiteten. So beruft sich beispielsweise Toni in ihrer Erzählung auf Sathya Sai Baba, wenn sie von der »Einheit aller Religionen« spricht. Weiterhin formuliert sie das Ziel an, welches alle Religionen gemeinsam hätten. Toni: [Es gibt] keinen Unterschied zwischen den Religionen, denn der Sinn jeder Religion ist die Suche nach Gott, es sind nur verschiedene Wege.

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive hielt bereits Hanegraaff fest, dass die Idee einer philosophia perennis in vielen literarischen Quellen gegenwärtiger Religiosität zu finden ist. In der Analyse von Büchern von David Bohm und Matthew Fox zeigt er exemplarisch auf, dass hier eine »universelle Weisheit« vorgestellt wird, die präsent ist in »the esoteric depth dimensions in all great religions.«46 Als wegweisend für die wachsende Dominanz dieses Aspekts wird jedoch von Seiten der Forschung vor allem das Gedankengut der theosophischen Gesellschaft gesehen.47 Die hier befragten Akteure weisen hingegen auf andere Rezeptionsquellen hin. Genannt werden Idries Shah und Sathya Sai Baba. Es ist davon auszugehen, dass es sich hier um einen Aspekt handelt, der durch diverse diskursive Aushandlungsprozesse in den unterschiedlichsten religiösen Diskursen so bekannt wurde, dass er von den verschiedenen Akteuren immer wieder rezipiert und distribuiert wurde. Ähnlich wie das Thema Wiedergeburt wird er ohne weitere Verweise in den Narrationen eingesetzt. Bemerkenswert ist auch, dass neben der Suche nach einem gemeinsamen Kern aller religiösen Traditionen auch die Diversität von unterschiedlichen religiösen Richtungen oder religiösen Konzepten thematisiert wird. Dabei steht vor allem ein qualitativer Unterschied im Vordergrund. Zunächst sind zwei Beispiele anzuführen: Kim: Und nicht alles ist, also nicht alles ist für mich gleich. Ich achte die Unterschiede der verschiedenen religiösen Strömungen und Richtungen und versuch aber, die Gemeinsamkeiten herauszufinden. Und das kann man aber auch nur, wenn man die Unterschiede vorher feststellt, sonst man kann nicht sagen, alles ist gleich und Gott ist einer. Natürlich kann

46 Hanegraaff 1998, 328. 47 Vgl. dazu Hammer 2004, 60.

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man es pauschal so äußern, aber der Glaube eines Indianers ist anders als der Glaube eines Hindus oder eines orthodoxen Christen oder als ein, was gibt es dann noch, Katholischen, der mitten aus Rom kommt. Das ist, die Qualitäten sind einfach anders. Alex: Ich bin aber auch noch in verschiedene Richtungen, ich mache das Engel Ki, das ist im Grunde dieselbe Geschichte wie Reiki, universelle Lebensenergie, aber über die Ebene der Engel. Es ist, Berichten meiner Kunden zu Folge, ist es, fühlt es sich weicher an. Es fühlt sich runder an, es fühlt sich wesentlich geliebter an. Als es ist ja sowieso schon diese Reikienergie, also die universelle Lebensenergie ist ja sowieso schon sehr angenehm, sehr wärmend und sie umarmt einen, aber ich habe eben gehört, das ist ganz anders, wenn ich die Engel mit rein bringe. Es fühlt sich wesentlich weicher an. Es gab Leute, die haben behauptet, wie im Mutterleib geborgen, aufgehoben.

Kim macht deutlich, dass sie zwar auf der Suche nach einem gemeinsamen Kern aller Religionen ist, dabei jedoch auch deren Unterschiede festhalten möchte. Sie differenziert zwischen den verschiedenen Religionen, denen sie unterschiedliche »Qualitäten« zuschreibt. Dabei gibt sie zunächst keine Wertung darüber ab, welche von höherer oder niedrigerer Qualität ist. Es ist zu beobachten, dass bei aller Toleranz, die der »alles-ist-eins«-Topos impliziert, immer wieder Favorisierungen von bestimmten religiösen Traditionen entstehen, die entweder als weiter entwickelt oder wie im Falle von östlichen Religionen als unverfälschter im Gegensatz zu westlichen Religionen konstruiert werden. Am Beispiel von Alex wird sichtbar, dass Differenzierungen zwischen unterschiedlichen religiösen Konzepten auch in der Praxis von Bedeutung sind, um wie in diesem Fall, das Auftreten verschiedener Heilenergiesysteme zu erklären. Auch hier wird ein qualitativer Unterschied attestiert, den Alex authentifizierend unter Verweis auf die Erfahrungen ihrer Kunden beschreibt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der »alles-ist-eins«-Topos in den Konstruktionsleistungen der Akteure vor allem über das Konzept eines alles verbindenden, übergeordneten göttlichen Prinzips und der daraus resultierenden Verwirklichung als »göttlicher Funke« im Menschen konzipiert wird. Die Integration einer Idee von der Spannung zwischen zwei Polen wird ebenso aufgegriffen wie die Vorstellung von einem, allen religiösen Traditionen gemeinsamen Kern. Die Vereinheitlichungstendenzen können jedoch durch die Benennung von qualitativen Unterschieden zwischen Religionen ergänzt werden, ohne dass es bei den Akteuren zu Kohärenzproblemen in der religiösen Identitätsarbeit kommt. Wie in den Beispielen deutlich wird, findet der Topos im Rahmen der Biographiearbeit vor allem Anwendung in der Legitimierung und Authentifizierung des Umgangs mit unterschiedlichen religiösen Elementen. Dabei ist zu

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beachten, dass der Topos in den Interviews selten hoch reflektiert und detailliert expliziert wird. Es werden situationsabhängig verschiedene Aspekte des Topos eingesetzt, die aber meist nicht weiter erläutert werden. Wie an mehreren Stellen angedeutet, wurde der Topos in zahlreichen literarischen Quellen gegenwärtiger Religiosität ausgearbeitet. Es ist daher davon auszugehen, dass viele Ideen aus diesem literarischen Diskurs als allgemein zugängliche Ressource auf den Akteursebenen zur Verfügung stehen. Dies lässt sich u. a. daraus schließen, dass die hier zitierten Akteure den Topos nicht notwendigerweise unter Rückgriff auf bestimmte literarische oder religiöse Quellen begründen. Diese können – zu Rechtfertigungs- oder Authentifizierungszwecken – angeführt werden, eine Auslassung des Verweises ist für die Akteure aber genauso legitim. Bemerkenswert ist dabei, dass der Topos im Gegensatz zur Literatur oft stark vereinfacht aufgegriffen wird. Verschiedene seiner Aspekte finden je nach Erzählkontext Anwendung und kommen in der Biographiearbeit gerade im Umgang mit religiöser Pluralität zum Einsatz. Im Rahmen religiöser Konzeptualisierungen bildet der »alles-isteins«-Topos jedoch nur einen möglichen Referenzpunkt, auf den die Akteure im Zuge der Identitätsarbeit Bezug nehmen. 4.2.2 Reinkarnation Ein Konzept, das im Diskurs gegenwärtiger Religiosität bereits nahezu selbstverständlich vertreten wird, ist die Vorstellung von Reinkarnation.48 Sie wird sowohl als Postmortalitätsmodell, als auch als strukturierendes Element in den biographischen Konstruktionen von zahlreichen Akteuren verwendet. Dieses Modell entspricht am besten den von den Akteuren adaptierten Weg-Konstruktionen. Die einzelnen Leben werden als Herausforderung gesehen, in denen stufenweise und aufeinander aufbauend verschiedene Lernerfahrungen gesammelt werden. Ziel ist es, zu seinem »eigentlichen« Ursprung, also zu/in Gott zurückzukommen. Dieses letzte Ziel steht allerdings nur bei den wenigsten Akteuren im Mittelpunkt der Erzählung. Die Vorstellung der Reinkarnation läuft einher mit der Übernahme eines Karma-Konzepts. Dabei wird allerdings ein westliches Karma-Konzept aufgegriffen, ein Umstand, der aus emischer Perspektive auch reflektiert wird. Andi formuliert dies wie folgt: Andi: Das Leben ist wie eine Schulklasse, also von der ersten dann ins nächste Leben kommt die zweite, so wie wenn wir ja dazu lernen. Und ich denk auch nicht so wie im

48 Vgl. Hammer 2004, 455-494; zur Kontextualisierung im Rahmen der europäischen Religionsgeschichte vgl. Ahn 2001.

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Buddhismus zum Beispiel, wenn wir jetzt negative Taten, dann wir dann als Ameise wiedergeboren werden oder so, also das denk ich nicht. Es gibt natürlich schon so was wie Karma, als je nachdem, was ich halt, also es ist alles eins, es kommt alles zurück, sagen wir mal so. Alles, was du tust, kommt auf dich zurück, sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne. Und das ist so, das kann man so mit Karma gleichsetzen und ja, wie gesagt, das ist halt so mein Glauben.

Andi zeichnet hier als Abgrenzungsfolie ein Konzept von Karma, welches sie dem Buddhismus zuschreibt und in dem Inkarnationen in Tierformen möglich seien. Sie zeigt damit, dass sie zwar um andere Entstehungs- und Herkunftskontexte des Karma-Gedankens weiß, ihr aber konzeptionelle Differenzierungen zwischen hinduistischen und buddhistischen Karma-Vorstellungen in diesem Moment nicht bekannt sind. Sie verallgemeinert das Karma-Konzept auf einen breiten Ursache-Wirkungszusammenhang und kann es so im Rahmen ihrer Identitätskonstruktion adaptieren. Insgesamt ist zu beobachten, dass die individuelle Vorstellung von Reinkarnation sowohl in den Interviews als auch auf den Homepages nur basal thematisiert wird. Einzig Chris führt dieses Thema auf ihrer Webpräsenz ausführlich aus. Im Interview hingegen genügen ihr einige wenige Verweise. Reinkarnation gehöre zu dem Wissen, das ihr durch höhere Mächte vermittelt wurde. Man benötige dieses Wissen, um »die menschliche Geschichte«, den »Werdegang der Menschen« und den »heutigen Zustand« zu erklären. Zwei Mal betont sie außerdem, dass auch Jesus Reinkarnation gelehrt habe. Uli und Michi sprechen auf ihren Homepages ganz selbstverständlich davon, dass sich Lichtarbeiter auf der Erde inkarnieren. Michi ergänzt ihre Ausführung im Interview mit Verweisen auf die Bücher des Reinkarnationsforschers Michael Newton. Hier gibt sie eine detaillierte Beschreibung, was genau nach dem Tod geschieht. Ihre Ideen dazu übernimmt sie, wie sie selbst angibt, aus dem Buch »Die Reisen der Seele: Karmische Fallstudien« von Newton. Erläuterungen darüber, welcher Aspekt oder Teil des Menschen von Inkarnation zu Inkarnation weiterkommt und in welchem Verhältnis dieser Teil zur übrigen Persönlichkeit steht, finden sich nicht. Das Wissen um vergangene Inkarnationen fließt – wenn überhaupt – eher beiläufig in die Erzählungen ein und wird nicht weiter erläutert. So z. B. bei Jo, die von einem Traum erzählt, in dem sie von Gott gerufen wird: Jo: Ich hab mich natürlich auch immer mit Reinkarnation und so weiter beschäftigt, hab da fest daran geglaubt, dass es mich schon mal gab und so weiter und so fort. Da hab ich geträumt, dass irgendjemand alle meine Namen aus vergangenen Inkarnationen sagen würde und ich war immer Frau, weiß ich, ich kann mich an die Namen nicht erinnern. Und ich

158 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN sollte dann jeden Namen los lassen und das hab ich auch gemacht. Als er sagt ›[Name der IP]‹ und ich ließ den los, wieder ›[Name der IP]‹ und ich ließ den los. Zig Namen, ganz viele. Und dann irgendwann sagte da eine Stimme ganz laut in mein rechtes Ohr, ich weiß nicht mehr genau, ich hab’s aufgeschrieben und das war Gottes Stimme, meinen vollen Namen, der lautet »[VOLLER NAME DER IP]« also meinen jetzigen Namen mit allen Vornamen. Und zwar war das eine Stimme, die war so eindringlich, durchdringend, kann man gar nicht beschreiben. Ich wusste natürlich, das ist Gott, der sagte diesen Namen in mein Ohr und ich war schlagartig wach.

Das Erzählsegment könnte unter den Titel »Gott ruft mich bei meinen Namen« gestellt werden. Das Konzept der Reinkarnation bzw. die Erinnerung an vergangene Inkarnationen bildet die Rahmung für ein religiöses Erlebnis, in dem die Kommunikation mit Gott eine zentrale Rolle spielt. Gut zu beobachten ist an dieser Stelle, dass das Konzept der Reinkarnation als so bekannt vorausgesetzt wird, dass Jo als einzige Erläuterung hinzufügt, dass sie es »schon mal« gegeben hätte. Für die Hörerin werden keine weiteren Erklärungen angefügt. Ähnlich reduziert fasst Alex das Reinkarnationskonzept in ihren Beschreibungen zusammen. Besonders interessant ist hier der Erzählkontext: Alex: Und dann ging es eigentlich los, dass ich wirklich meine Fühler in alle möglichen Richtungen ausgestreckt hab und einfach alles mal kennen lernen wollte, den Buddhismus, also ich bin jetzt kein Fachmann in diesen ganzen Gebieten, aber ich hab überall mal reingeschnuppert. Und mein Glauben ist eigentlich eine Mixtur aus allem, weil ich denke, ich such mir das raus, was zu mir passt und das ist dann mein Glauben und meine Religion. Ich lass mir nichts aufstempeln, dafür stempel ich anderen aber auch nichts auf. Und ich hab so ein bisschen eine Mixtur aus allem eigentlich, ich glaube an Wiedergeburt, ich weiß, dass ich schon öfters gelebt habe, aus nicht aus irgendwelchen Sitzungen mit anderen, sondern einfach aus mir selbst heraus. Ich bin auch sicher, dass ich in diesem Leben viel dafür tun kann, dass mein nächstes Leben etwas anders verläuft. Ich bin überzeugt davon, dass wir auf der Seelenebene mit allen anderen sowieso Kontakt haben.

Alex beschreibt zunächst ihren Umgang mit verschiedenen religiösen Traditionen. Hier findet sich erneut ein Auswahlkriterium, das bereits aus den Erläuterungen zur Weg-Konstruktion bekannt ist. Die ausgewählten religiösen Elemente müssen nach Alex‫ ތ‬Angaben individuell stimmig sein, zudem betont sie ihre Handlungsmacht beim Auswahlprozess. Nun greift sie das Konzept der Wiedergeburt auf. Ebenso wie bei Jo gibt sie an, dass das Wissen um frühere Inkarnationen nicht durch Reinkarnationstherapien o. ä. entstanden ist. Sie wendet sich bei der Authentifizierung dieses Konzepts also explizit gegen kommerziell-

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therapeutische Angebote, sondern legitimiert es dadurch, dass sie auf sich »selbst« referiert. Ohne das Stichwort »Karma« zu nennen, verweist sie im Weiteren auf einen Ursache-Wirkungszusammenhang, der zwischen den einzelnen Leben bestünde und den sie wesentlich beeinflussen könne. Mit dem Verweis auf die universale Verbundenheit »auf der Seelenebene« greift sie als letztes noch einen räumlichen Aspekt des Topos auf. Es bleibt festzuhalten, dass Reinkarnation in Verbindung mit der Idee von Karma zwar ein Bereich ist, der im Rahmen der Religiositätskonstruktion der Akteure sehr selbstverständlich genannt wird, dies aber lediglich in Grundzügen und ohne detailreiche Erläuterungen. Der westliche Diskurs um Reinkarnation in Verbindung mit Karma-Vorstellungen kann heute bereits auf eine weit reichende Geschichte zurückblicken.49 Bereits von Blavatsky und Steiner aufgegriffen, entwickelte sich das Konzept der Reinkarnation vor allem auch in den literarischen Bestsellern der Esoterik ab den 1970er Jahren zu einem Standardtopos in den Religiositätskonstruktionen. Auf der Basis der Vorstellung von einer konstanten Evolution des Menschen hin zu seiner Göttlichkeit oder dem göttlichen Bewusstsein, ist Reinkarnation eines der bevorzugten Konzepte, um eine kohärente Zeitlinie in den biographischen Narrationen der Akteure zu schaffen. Dazu Hanegraaff: Rather than reincarnation, the universal element in New Age ideas about survival is progressive spiritual evolution considered as a process which started before birth and will continue beyond death. Reincarnation is a crucial part, but nevertheless only a part, of this larger process.50

Wie der Autor anhand von literarischen Primärquellen zeigt, finden sich oftmals detaillierte Beschreibungen darüber, wie der Reinkarnationsprozess genau abläuft. Es werden Fragen verhandelt, welcher Teil des Menschen oder seines Bewusstseins von Inkarnation zu Inkarnation »wandert«, was unmittelbar nach dem Tod geschieht und warum das Wissen um frühere Inkarnationen nicht in das neue Leben mitgenommen werden kann.51 Von vielen Buchautoren wird außerdem angenommen, dass der Mensch selbst über seine nächste Inkarnation entscheidet, je nachdem welche Lernaufgaben er bewältigen möchte. Ein weiterer Aspekt des Reinkarnationskonzepts, den Hanegraaff am Beispiel von Shirley

49 Siehe Zander 1995. Einen differenzierten Abriss gibt Hammer 2004, 455-494. 50 Hanegraaff 1998, 262. 51 Vgl. Hanegraaff 1998, 265-271.

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MacLaine vorstellt, ist die Vorstellung, dass die Dimension, in der sich der Wiedergeburtsprozess abspielt, außerhalb der »weltlichen« Zeitlinie liegt.52 Neben diesen eher theoretischen Reflexionen hielt in Publikationen gegenwärtiger Religiosität ein weiterer Aspekt Einzug, der vor allem für die religiöse Praxis in den letzten Jahrzehnten immer mehr an Bedeutung gewann. Mit Unterstützung bestimmter Techniken kann es den Menschen gelingen, Zugang zum Wissen um die eigenen, vergangenen Inkarnationen zu erlangen.53 Dieses Wissen wird dann hauptsächlich zur therapeutischen Problemlösung von gegenwärtigen Konflikten oder schwierigen Situationen genutzt. Wie aus den Interviewbeispielen deutlich wurde, grenzen sich die Akteure von solchen therapeutischen Kontexten ab. Es kann angenommen werden, dass das in literarischen Diskursen ausformulierte Konzept der Reinkarnation über Jahrzehnte hinweg von verschiedensten Akteuren im Diskurs gegenwärtiger Religiosität rezipiert und dabei stetig neu ausgehandelt wurde. Inzwischen gilt es als dominantes Diskurselement, das im Zuge seiner Rezeptions-, Transformations- und Aushandlungsprozesse jedoch deutlich an Komplexität verloren hat. Auf der Ebene einzelner Akteure wird es im Rahmen der biographischen Konstruktionen verwendet, doch nur selten expliziert. Das Konzept der Reinkarnation stellt sich damit als ein Diskurselement dar, dessen Komplexität bei Bedarf aufgezeigt werden kann, das aber auch ohne dieses Aufzeigen »funktioniert«. 4.2.3 Zur Rolle nichtmenschlicher Handlungsmächte Ein weiteres wichtiges Element in den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität sind nichtmenschliche Handlungsmächte.54 Diese spielen insbesondere in den Interviews, aber auch in anderen Medien wie z. B. auf den persönlichen Homepages eine große Rolle. Sie werden von den Akteuren in vielfältiger Weise als Interkations- und Kommunikationspartner angesprochen. Dieser Kontakt wird in vielen Fällen als Legitimation oder Authentifizierung der eigenen Positionierung innerhalb des Diskurses verwendet. Die Bandbreite an nichtmenschlichen Handlungsmächten ist dabei sehr groß, wobei zu beachten ist, dass einige der Figuren wie z. B. Engel in den diskursiven Aushandlungen ge-

52 Vgl. Hanegraaff 1998, 270f. 53 Der bekannteste Vertreter der Reinkarnationstherapie in Deutschland ist Thorwald Dethlefsen. 54 Die Problematik der religionswissenschaftlichen Konzeptionalisierung solcher Figuren zeigt Ahn am Beispiel von Grenzgängerfiguren auf. Vgl. Ahn 1997b.

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genwärtiger Religiosität inzwischen von einer Vielzahl der Partizipierenden genannt werden, auf andere Figuren berufen sich hingegen nur wenige Akteure. Wie es zur Ausbildung dieser diskursiven Gewichtungen kommt und wie sich diese Präferenzen bei den einzelnen Akteuren zeigen, wird im Anschluss an folgende Ausführungen näher beleuchtet. Zunächst soll jedoch in den Identitätskonstruktionen der hier befragten Personen aufgezeigt werden, wie hier nichtmenschliche Handlungsmächte thematisiert werden. Welche Entscheidungsgewalt wird ihnen zugesprochen und welche Rolle und Position sprechen ihn die Akteure zu? In einer Interviewpassage thematisiert Andi ihren Kontakt zu Engeln, bei dem nicht nur der kommunikative Austausch, sondern die Erfahrungsdimension von Bedeutung ist. Andi: Also ich arbeite oder rede oft mit Engeln und ich bekomm auch Antworten. Oder ich spüre sie, wenn ich sie ruf. Ich bitt sie dann, meine Aura zu reinigen oder irgendwie mir zu helfen, mein Herz zu öffnen und, und ich spür das wirklich. Also ich spür richtig, wie dann an mir gearbeitet wird und es ist einfach schön.

Das Wirken der Engel wird von der Erzählerin als Akt vorgestellt, dessen Initiative auf sie zurückgeht. Die Engel werden zum Handeln aufgefordert, eine Erfahrung, welche die Erzählerin explizit auch auf körperlicher Ebene erlebt. Die somatische Erfahrungsdimension im Kontakt mit meta-empirischen Entitäten steht nicht nur in den Narrationen häufig im Mittelpunkt, sondern sie besitzt insgesamt für die Akteure große Bedeutung: Religiöses Wissen wird erst durch Erfahrung gültig, rituelle Praxis muss erleb- und spürbar sein. So wird die Handlungsmacht der Engel gerade durch die körperliche Wahrnehmung wirksam. Wie jedoch die Handlungsreichweite von z. B. Engeln einzuschätzen ist, wird von Andi nicht thematisiert. Dieser Punkt findet sich in einer Interviewpassage von Alex. Das Thema Engel bzw. Schutzengel steht bei ihr im Vordergrund. Sie setzt bereits zu Beginn des Interviews mit der Erläuterung ein, dass bei ihr der Glaube an Schutzengel immer präsent gewesen sei, quasi von Geburt an: Alex: Ich hab von Anfang an, also ich kann mich nicht erinnern, wann ich mal nicht an meinen Schutzengel geglaubt hab.

Im weiteren Verlauf des Interviews spricht sie an, welchen Handlungsradius Schutzengel besitzen bzw. wie ihr Wirken mit menschlicher Handlungsmacht korrespondiert.

162 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Alex: Die Schutzengel, die zeigen sich mitunter als sehr vertraute, sehr körperlich, sehr, ja wie Bruder oder Schwester oder bester Freund, einfach weil sie ganz dichten Kontakt mit einem haben. Und die sind immer da, greifen aber nur, ohne, also man muss sie bitten, man muss jeden Engel bitten, bevor sie irgendwas tun. Sie machen nichts eigenständig, das ist eben unser freier Wille. Man muss sie ins Leben bitten, man muss sie um Hilfe explizit bitten, damit sie handeln dürfen. Und sie sind aber trotzdem immer da und passiert irgendwas, was für uns gefährlich ist, schalten sie sich ein, weil sie eben auch dafür aufpassen, dass wir nicht zu früh gehen, durch Unfälle oder sonst irgendwas. Und das sind dann oft die Situationen, wo man sagt »meine Güte, stell dir mal vor, das hätte ich jetzt gemacht.« Das sind die Momente, dass wir man abgehalten, wo man sich eigentlich nicht erklären kann, warum hab ich das jetzt eigentlich nicht gemacht. Normalerweise, verstandesgemäß hätte ich das jetzt durchgezogen, aber man hat’s aus irgendeinem Grund nicht gemacht. Und da ist meistens dann der Schutzengel dabei, der einen irgendwie aufhält.

Engel werden hier als Handlungsmächte begriffen, deren Handlungsinitiative generell beschränkt ist. Sie können lediglich in Ausnahmen selbstständig agieren, nämlich dann, wenn der Mensch in Gefahr gerät. Dahinter steht die Vorstellung eines Lebensweges, der vorbestimmt und geplant ist, bei dem eventuell sogar der Endpunkt vorbestimmt ist. Die nichtmenschlichen Handlungsmächte müssen nach Alex Meinung für die Einhaltung eben dieses Lebensweges sorgen. Das Wirken der Engel wird für einen solchen Fall als dem betroffenen Akteur situativ nicht erklärbar dargestellt. Die Deutung erfolgt schließlich erst im Nachhinein, nachdem z. B. ein Unglück abgewendet wurde. Für Ausnahmesituationen gilt, dass die Handlungsreichweite der Engel als unbegrenzt gedacht wird, da sie fokussiert ist auf das Wohl des einzelnen Akteurs. Für den Normalfall jedoch stellt Alex klar, dass das Konzept des »freien Willens« den Handlungsrahmen von den Entitäten einschränkt. Jegliches Handeln, jegliches Eingreifen untersteht der Handlungsaufforderung der Akteure. Mit der Einführung des Konzepts des »freien Willens« wird so eine grundsätzliche Positionierung der beteiligten Akteure geschaffen, in der die Handlungsmacht klar auf menschlicher Seite liegt. Das Handeln außermenschlicher Akteure steht stets in Abhängigkeit dazu. Das Konzept des freien Willens wird auch von einer weiteren Erzählerin, Nicki, in einem etwas anderen Kontext aufgegriffen. Nicki: Zu mir hat mal einer gesagt, bei einem Vortrag hat er gesagt »Es gibt ja soviel, es gibt den Allah und gibt das und das und das und das hat er gesagt. Und was glauben sie eigentlich, was da jetzt das Richtige ist? Und wer da eigentlich der Richtige ist? Und wie man’s wirklich nennen soll?« Und ich hab gesagt »Wissen’s was, die göttliche Allmacht zählt, ob sie’s jetzt [Star?] nennen oder ob sie’s jetzt zum Beispiel da Baum nennen oder,

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die göttliche Allmacht, das, was aus der göttlichen Allmacht entspringt, das ist das Göttliche und alles, was göttlich ist, ist gut. Und mir haben ja den freien Willen, den wir ja auch von Gottvater gekriegt haben und wir entscheiden ja, was mir tun eigentlich.«

In dieser Passage tritt der »alles-ist-eins«-Topos erneut deutlich hervor. Gleichgültig welchen Namen man verwendet, der Ursprung ist nach Nickis Meinung derselbe. Im Verhältnis zu dieser Handlungs-»Allmacht« werden die Menschen als Wesen begriffen, die durch ihren »freien Willen« geleitet werden. Während im Beispiel von Alex unklar bleibt, wer den Menschen diesen freien Willen zuspricht, macht Nicki klar, dass dies durch »Gottvater« geschieht. Inwieweit Nicki, die sich bis ins Erwachsenenalter hinein stark auch im katholischen Diskurs positioniert, hier auf kirchen-christliche Debatten um die Position des Menschen als eigenständigem und damit auch vollverantwortlichem Wesen zurückgreift, kann nicht festgestellt werden. Doch in beiden Beispielen zeigt sich, dass dem Wirken außermenschlicher Handlungsmächte die eigene Handlungsmacht entgegengesetzt wird, die sich sowohl auf die Freiheit der eigenen Entscheidung, als auch der eigenen Handlungen bezieht. In der religiösen Praxis der Akteure finden sich trotz der Betonung des eigenen »freien Willens« einige Beispiele, wie die externe Handlungsmacht, unter der Voraussetzung, man hat sie gefragt oder gerufen, Handlungsanweisungen gibt, denen die Akteure folgen. So berichtet Maxi von ihrem Verhältnis zu Engeln und Aufgestiegenen Meistern, das für sie erfahr- und erlebbar wird in der religiösen Praxis. Maxi: Ja sagen wir’s mal so, ich seh’s mehr als ein Austausch, als ein innerer, eine innere Kommunikation mit dem, was man so innere Führung nennen kann, geistige Führung, Schutzengel, Engelwesen, begleitende Engelwesen, Gott oder ja auch mit Erzengeln. Ich fühle mich also auch mit Metatron zum Beispiel verbunden und auch von den Aufgestiegenen Meistern, die ich mal anfänglich nannte. Da ist der Sananda oder der St. Germain, die ich dann auch, sagen wir mal, wenn irgendwo ne Frage da ist, wenn ich nicht weiß, was soll ich jetzt machen, welchen Schritt soll ich gehen und so, dass ich dann innerlich frage, meistens ohne bestimmte Adresse, aber manchmal dann auch, wenn ich spüre, es ist wichtig, dass ich ne bestimmte Wesenheit dann anspreche, dass ich da dann die Frage hinrichte und dann innerlich dann auch die Antworten bekomme dann. Und die Antworten sind immer so, dass ich innerlich wirklich spüre, ja, die Antwort ist gut für mich. Das also irgendwo auch eine Freude da ist. Also ich weiß, das ist richtig und dann tu ich das auch und das hat sich eigentlich immer als gut herausgestellt.

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Die Erzählerin gibt an, dass sie in Situationen, in denen es ihr schwer fällt, eine eigene Entscheidung zu treffen, diverse nichtmenschliche Entitäten um Rat fragt. Welche Wesenheit dabei ausgewählt wird, ist stark situativ bedingt. Engel, Aufgestiegene Meister und Gott werden hier als Akteure aufgezeigt, welche Handlungsanweisungen geben, die von menschlicher Seite angenommen und akzeptiert werden. Die Bewertung dieser Anweisungen erfolgt anhand der Handlungserfahrung, die Maxi durchweg als positiv und »richtig« darstellt. Auch Sam schildert in einem Abschnitt, wie sie die Handlungsempfehlung, die in diesem Fall von Gott kommt, annimmt und in die Tat umsetzt. Sam: Und ja und das [ihre Religiosität, N.M.] hab ich dann wie gesagt angefangen zu leben, in meiner letzten Partnerschaft, weil ich das nicht mehr konnte und weil ich innerlich gefragt habe, in meinem Ich, mein Ich, mein wahres Selbst, mein höheres Selbst, nenn’s den lieben Gott, nenne wie man will, die Quelle, wo ich gefragt hab, was soll ich tun, um diese Liebe, die ich in mir spüre und all das weiter geben zu können, ich möchte es teilen, ich möchte es mit Menschen teilen, ich möchte es weitergeben, was kann ich tun? Was kann ich tun? Und dann kam ein Satz, drei Mal, also das waren zwei Worte, aber die haben das genau das ausgesagt, was eigentlich ist. Das hieß: Lebe es, lebe es, lebe es. Und dann hat’s bei mir und das hat bei mir ganz viel ausgelöst, dass ich gesagt hab »Ja!« Jesus hat’s ja auch nicht anders gemacht, das heißt jetzt im übertriebenen Sinne, hat es ja auch gelebt.

Die Erzählerin schildert eine Situation, in der sie »Gott« oder ihr »höheres Selbst« – eine bereits bekannte Gleichsetzung – zum Verlauf ihres weiteren Weges befragt. Sie hatte zuvor von einer Beziehung berichtet, in welcher der Partner ihrem Interesse an religiösen Themen sehr skeptisch gegenüberstand und sie daher keine Versuche unternommen hatte, dieses Interesse auch in berufliche Bahnen zu lenken. Hier schildert sie nun, wie sie eine direkte Frage – die Handlungsaufforderung geht wieder von einem menschlichen Akteur aus – an eine andere55 Handlungsmacht richtet und darauf folgend die erhaltenen Handlungsanweisungen (»Lebe es!«) befolgt. Als Referenz für die Legitimität der übermittelten Botschaft wird Jesus bzw. dessen Lebensgestaltung angeführt. Insgesamt betrachtet werden nichtmenschliche Entitäten von den Akteuren zwar als Einfluss nehmende Figuren dargestellt, ihnen wird allerdings erst auf menschliche Initiative Handlungsmacht zugesprochen. Die dann vermittelten

55 Gerade in diesem Fall wird deutlich, wie problematisch die Einteilung zwischen menschlichen und außermenschlichen Akteuren ist. Durch Sams Gleichsetzung von Gott und ihrem höheren Selbst verwischen hier die Grenzen.

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Handlungsempfehlungen bzw. -anweisungen werden von den Akteuren jedoch überwiegend akzeptiert und durch die Berufung auf eine positive Bestätigung im eigenen Leben legitimiert. Sie stellen sich insgesamt als Personen dar, für die eigenständiges Entscheiden und Handeln enorme Bedeutung besitzen. Für die Positionierung der Akteure innerhalb der diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität ist die Berufung auf nichtmenschliche Entitäten auch in die praktische religiöse Arbeit, wie z. B. in Ritualen, von zentraler Bedeutung. Mit ihnen gelingt einerseits die Betonung der eigenen Handlungsreichweite, durch die Anbindung an diese Entitäten kann andererseits aber auch eine persönliche und teilweise exklusive Verknüpfung zu meta-empirischen Bereichen deutlich gemacht werden. Eine dezidierte Anbindung an eine bestimmte religiöse Tradition ist dafür jedoch nicht notwendig. Wurde eben dargestellt, wie die Akteure nichtmenschliche Entitäten in ihre biographischen Narrationen einbauen, so soll nun der Fokus darauf gelegt werden, mit welchen Figuren sie arbeiten und wie diese gestaltet sind. Sowohl die Interviews als auch die persönlichen Homepages können darüber eine erste Auskunft geben. Auf den Homepages der interviewten Personen, aber auch auf den weiteren, im Rahmen der Studie betrachteten Webauftritten fällt die Präsenz einer Figurengruppe besonders ins Auge. Engel scheinen überall gegenwärtig. Engelsvorstellungen werden bereits seit langem besonders in abendländisch-christlichen Traditionen, in neuerer Zeit aber auch in anderen Strömungen gegenwärtiger Religiosität verhandelt, so z. B. im Rahmen der Anthroposophie Rudolph Steiners.56 Im Mittelpunkt rezenter Engelsvorstellungen57 stehen unterschiedliche Typen von Engeln, deren Aufgaben oder Einsatzgebiete je nach Kontext oder individuellen Vorlieben variieren. Insgesamt gesehen fungieren sie als persönliche Ansprechpartner, die nach Vorstellung der Akteure über ein umfassendes (religiöses) Wissen verfügen und somit sowohl situativ als auch in Bezug auf biographische Verläufe um Rat gefragt werden können. Die Charakterisierung ihrer Natur erfolgt entlang von bekannten Energie- und Schwingungsmodellen, nach denen Engel bereits eine höhere Bewusstseinsstufe erreicht haben und daher eine andere, von Typ zu Typ jedoch unterschiedliche Schwingungsfrequenz besitzen. Die aus dem christlichen Raum bekannte Bedeutungszuschreibung der Engel als Sprachrohr Gottes ist ebenso verbreitet wie Engelsvorstellungen, die vollständig ohne einen Gottesbezug auskommen und in denen Engel selbst als Quelle religiösen Wissens gesehen werden. Die Übergänge zwischen beiden Positionen sind oftmals situativ bedingt und daher fließend. Auch die Vorstellun-

56 Vgl. Steiner 2008; Zander 2007, 656f. 57 Vgl. auch Ahn 1996; Murken & Namini 2008.

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gen über die Ursprünge von Engeln variieren. Manche Akteure sehen sie als Wesen, die keine Inkarnationen durchlaufen, andere sehen sie als Wesen der Entwicklung (wie sie selbst), die im Gegensatz zu den Menschen jedoch bereits verstärkt ihre göttlichen Aspekte verwirklicht haben. Insgesamt besteht der Kanon der Engel aus einer fast unüberschaubaren Vielfalt, unter denen es jedoch eine Auswahl besonders populärer Figuren gibt. In der Typisierung greifen die Akteure vielfach auf die Hierarchisierung des Pseudo-Dionysios Areopagita58 zurück. Der unbekannte Autor, dessen Werk in einem Entstehungszeitraum zwischen 485 und 518/28 datiert wird, verfasste unter anderem eine Schrift mit dem Titel »Peri tes ouranias hierarchias«59 (Über die himmlische Hierarchie), in der er eine Einteilung der »himmlischen Wesen« in verschiedene Sphären vornimmt: • Sphäre: Seraphim, Cherubim, Thronoi • Sphäre: Herrschaften, Mächte, Gewalten • Sphäre: Fürsten, Erzengel, Engel

Im Rahmen kirchengeschichtlicher Entwicklungen wurde diese Einteilung vielfach rezipiert, teilweise unter leichten Veränderungen.60 Auch Akteure aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität greifen heute auf die Einteilung des PseudoDionysios zurück, wie vielfache Namensnennungen auf den Homepages zeigen.61 Die Akteure modifizieren diese Einteilung allerdings oft, da zu den bekannten Engelsfiguren noch eine Vielzahl anderer Figuren hinzugetreten ist. In Bezug auf die aus dem kirchen-christlichen Diskurs bekannten Figuren ist festzuhalten, dass in der religiösen Praxis und auch im Zuge biographischer Konstruktionen primär Erzengel und »normale« Engel bzw. Schutzengel genannt werden, auf den Homepages finden sich hingegen auch andere Engelsfiguren. Häufig tritt Metatron als »Sprachrohr Gottes« auf, der sich nach Ansicht der Ak-

58 Vgl. Jarka-Sellers 1998. 59 Ein griechisches Manuskript des Textes aus dem 14. Jahrhundert ist online zugänglich an der Oxford University: Zugriff unter: http://image.ox.ac.uk/show?collection= magdalen&manuscript=msgr2 (28.01.12). 60 Vgl. Dürr 2009, 60-63. 61 Siehe exemplarisch Homepage »Engelwelt«: Zugriff unter: http://www. engelwelt.de/engelwelt/engelhierarchie/engelhierarchie.html.

Homepage

»Lichtkanal«:

http://www.solaria-2362.net/lichtkanal/engelordnung-aufgaben-einsatz.html.

Home-

page »Sternen-Zauber«: Zugriff unter: http://www.sternen-zauber.com/index. php? option=com_content&view=article&id=66&Itemid=77 (alle verfügbar am 28.01.12).

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teure durch seine hochfrequenten energetischen Schwingungen auszeichnet. Dieser wird in einigen Fällen ebenfalls zur Gruppe der Erzengel gezählt. Zu den aus dem christlich-theologischen Kanon biblischer Schriften bekannten Erzengeln Michael, Gabriel und Raphael kommen im Diskurs gegenwärtiger Religiosität noch Uriel, Zadkiel, Chamuel, Sandalphon, Haniel, Jophiel u. a. hinzu, wobei zu beachten ist, dass die Anzahl der Engel innerhalb des Erzengelkanons von Akteur zu Akteur unterschiedlich sein kann. Über den religionsgeschichtlichen Ursprung und die Rezeptionsverläufe der zusätzlichen, aus außerkanonischen Schriften bekannten Erzengel ist noch wenig bekannt, doch werden sie oftmals in Schriften des Judentums verortet.62 Die Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität sind an einer religionsgeschichtlichen Einordnung einzelner Engelsfiguren meist nicht interessiert. Insofern überhaupt eine Verortung vorgenommen wird, finden sich vielfältige Zuschreibungen zu den Ursprüngen der Engelsvorstellungen, auch außerhalb des jüdisch-christlichen Kontextes. So heißt es beispielsweise auf der Homepage »Solaria«: Historisch gesehen gehen manche Texterfassungen über Engel schon auf frühzeitliche Steinzeitmalereien und versteinerte Relikte aus alten Hochkulturen zurück, deren einzigste [sic] Zeugen beispielsweise heute noch in Südamerika und Mexico [sic] zu bewundern sind. Auf Schriftrollen oder Papyrosblättern [sic] gibt es weitere nachlesbare Hinweise von Engelserscheinungen, die in gewissen Abständen auftraten. Sehr viel später erst, mit Verbreitung der Bibel, des Korans und des Talmuds, um hier nur einige religiöshistorische Beispiele zu nennen, wurden mit der Einführung auch arabischer Schriftenzeichen Informationen zu Engeln über die uns bekannteren Literaturausgaben zugänglich gemacht.63

Vielfach werden Engel als Wesen angesehen, die über alle Zeiten hinweg und in nahezu allen Religionen der Welt zu finden sind. Diese Tendenz zur Universali-

62 In den apokryphen Büchern Henoch existieren beispielsweise unterschiedliche Namensreihen der Erzengel: In grHen 20 werden Uriel, Rafael, Raguel, Michael, Sariel, Gabriel und Remiel genannt, in hebr-Hen 17,3 finden sich Michael, Gabriel, Šataqî’el, Šahaqî’el, Badarî’el, Barakî’el, Pazrî’el. Vgl. dazu Grözinger 1982, III Judentum. Die heute im Diskurs gegenwärtiger Religiosität gebräuchlichen Engelnamen lassen sich aber in vielen Fällen nur schwer auf die in jüdischen Quellen genannten Figuren zurückführen, da sich kein eindeutiger Bezug zwischen den lateinischen Umschriften der hebräischen Namen und den heutigen Namensbildungen herstellen lässt. 63 Homepage »Lichtkanal«. Zugriff unter: http://www.solaria-2362.net/lichtkanal/engelund-lichtwesenhort.html (28.01.12).

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sierung ist vom Standpunkt der Akteure aus betrachtet vor allem vor dem Hintergrund des dominanten »alles-ist-eins«-Topos nachvollziehbar. Sind letztlich alle Religionen im Kern gleich und laufen sie auf gleiche inhaltliche Botschaften und Ziele hinaus, sind auch die hier agierenden meta-empirischen Figuren nicht an spezifische religiöse Kontexte gebunden. Zu den Erzengeln treten insbesondere auf den Webpräsenzen eine Vielzahl weiterer »normaler« Engel hinzu, deren religionsgeschichtliche Verortung völlig unklar ist bzw. angenommen werden kann, dass diese im Rahmen inventiver Prozesse dem Engelkanon hinzugefügt wurden. So werden auf der Webpräsenz »Omkara« unter dem Stichwort Engelhierarchie z. B. folgende, den Erzengeln nachgeordnete Engel genannt: Ramaela, Mihr, Israfel, Shushienae, Hadraniel, Soqed Hozi, Paschar, Ooniemme etc.64 In den Interviews spielen Feinklassifizierungen und ausgearbeitete Hierarchisierungen von Engeln hingegen keine Rolle. Neben der Erweiterung des Engelkanons durch bestimmte Erzengel und Engel verweisen die Akteure außerdem häufig auf den Typus Schutzengel, der als den Menschen am nächsten stehend gedacht wird und insbesondere in der religiösen Praxis eine herausragende Position einnimmt. Schutzengel treten oftmals als persönliche Helfer auf65, die von Menschen nach Belieben kontaktiert werden können (auch ohne vermittelndes Medium). Populäre Autoren wie Sabrina Fox oder Alexa Kriele geben in ihren Büchern ausführliche Informationen, wie persönliche Schutzengel kontaktiert oder Engel generell für z. B. Heilungen angesprochen werden können.66 Betrachtet man die Entwicklung in den letzten Jahrzehnten im Umgang mit Engeln und anderen meta-empirischen Gestalten, so ist eine starke Tendenz zur Demokratisierung vor allem in der rituellen Praxis zu beobachten. War der Kontakt zu meta-empirischen Wesen beispielsweise in den 1970er Jahren nur einzelnen Personen vorbehalten67, wurden diese Figuren im Verlauf der folgenden Jahrzehnte auch für Mittelfeldakteure erreichbar – und dies ohne fremde Hilfe. Gegenwärtig scheinen die praktischen Ausformungen der Engelkontakte vielfältig: Es existieren weiterhin Medien, die für andere Personen Kontakt zum persönlichen Schutzengel oder anderen Engeln aufbauen, andere können nach erfolgter Einweihung nun selbst Kontakt herstellen, wiede-

64 Homepage »Omkara«: Zugriff unter: http://www.omkara.de (28.01.12). 65 Vgl. Murken & Namini 2008, 69f. 66 Siehe Fox 2005; Kriele 2007. 67 Hier sind vor allem die ersten bekannten Medien wie Jane Roberts und J. Z. Knight zu nennen. Gechannelt wurden damals allerdings singulär auftretende Entitäten (in diesem Fall die Wesenheiten Seth und Ramtha), Engel als meta-empirische Kontaktfiguren standen noch nicht in den Vordergrund. Vgl. Roberts 1970; Ramtha 1986.

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rum andere verfügen auf »natürliche Weise« über die Fähigkeiten, mit Engeln zu kommunizieren. Toni erzählt, dass sie zum ersten Mal in einer Gefahrensituation spontan in Kontakt zu ihrem Schutzengel kam und seitdem ihre Fähigkeiten in der Kommunikation mit Engeln weiter ausgebaut hat. Heute channelt sie für andere deren Schutzengel, sie hat aber auch Kontakt zu Erzengeln, die im Rahmen eines eigens entwickelten rituellen Setting durch Toni zu allen Anwesenden sprechen. Andi hingegen bietet auf ihrer Homepage Workshops an, in denen sie den Teilnehmern verschiedene Wege eröffnet, selbst Kontakt zu Engeln aufzunehmen z. B. über Engelgebete, Engelbriefe, Meditationen oder die Einweihung in die Engel-Energie. Von den insgesamt zwölf interviewten Personen arbeiten nur zwei nicht mit Engeln. Jo thematisiert diese Figuren weder auf ihrer Homepage noch im Interview. Uli gibt im Interview an, sich im Verlauf ihres Weges durchaus schon mit Engeln beschäftigt zu haben. Heute steht sie ihnen jedoch kritisch gegenüber, da sich viele Menschen ihrer Meinung nach in Prozessen der Entscheidungsfindung in eine zu große Abhängigkeit zu den Engeln begeben. Bei allen anderen Interviewpartnern stehen Engel in erster Linie als Figuren in der religiösen Praxis im Mittelpunkt. Diese Tendenz lässt sich auch bei der Durchsicht der ausgewählten Homepages nachvollziehen. Offeriert werden Engelgebete, Engelmeditationen, Engeleinweihungen, Engelchannelings, etc., wobei Erzengel und Schutzengel meist favorisiert werden. Inzwischen hat sich im Diskurs gegenwärtiger Religiosität auch eine breite Palette weiterer, teilweise ergänzender Produkte zu Engeln entwickelt. Figuren, Amulette, Bilder oder Engelessenzen sind hier nur einige Beispiele. Über die vielfältigen Angebote, seien es praktische oder materielle Produkte, entsteht derzeit ein ausdifferenziertes diskursives Feld, in dem Engel »Hochkonjunktur« haben. Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität berufen sich jedoch außer auf Engel auf weitere metaempirische Entitäten. Zu den hier am prominentesten vertretenen zählen Aufgestiegene Meister und sogenannte Naturwesen wie Feen und Elfen. Quantitative Aussagen darüber, in welchem Verhältnis diese Figuren zu Engeln stehen, können an dieser Stelle nicht gemacht werden. Es lässt sich aus den Beobachtungen von den Interviews und Homepages lediglich die Tendenz erkennen, dass der Verweis auf diese anderen Figuren weniger oft zu beobachten ist. Von den Interviewpersonen referieren drei zusätzlich auf Naturwesen, fünf sprechen an, dass sie auch Kontakt zu Aufgestiegenen Meistern aufnehmen. Diese Meister werden als nichtkörperliche Wesenheiten betrachtet, denen ein sehr weit entwickelter Bewusstseinszustand zugesprochen wird und die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Menschen bei ihrer religiösen Entwicklung zu helfen. Dies tun sie zum einen, indem sie immer wieder auf der Erde inkarnieren

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und den Menschen spirituelle Wege aufzeigen oder aber indem sie durch Channeling direkt mit den Akteuren in Kontakt treten. Teilweise werden diese Meister auch mit der »großen weißen Bruderschaft«68 gleichgesetzt. Zum Kreis der Aufgestiegenen Meister gehören, je nach Quelle und Richtung, unterschiedliche Entitäten. Die bedeutendsten Meister und ihre jeweils wichtigsten Inkarnationen stellt eine emische Quelle wie folgt dar:69 • St. Germain: inkarniert u. a. als Prophet Samuel, Josef (Vater von Jesus), Mer-

lin (am Hofe von Artus) und Francis Bacon • Lady Nada: inkarniert als Maria Magdalena, Klara von Assisi • El Morya: inkarniert als Abraham, König Arthus, Thomas Moore (englischer

Dichter) • Sananda: inkarniert als Jesus Christus • Koot Hoomi (Kuthumi): inkarniert als Thutmose III, Phythagoras, Franz von

Assisi Eine detaillierte geschichtliche Aufarbeitung zusammen mit einer weiterführenden Betrachtung der unterschiedlichen Entwicklungslinien, die das Konzept der Aufgestiegenen Meister bis heute erfahren hat, kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.70 Es sei lediglich der Hinweis gestattet, dass von Koot Hoomi und El Morya bereits bei H. B. Blavatsky und der Theosophischen Gesellschaft eine wichtige Rolle spielten71 und insbesondere St. Germain später von dem Theosophen Guy W. Ballad vorgestellt wurde. Ballad gilt als der Begründer der sogenannten »I AM« Bewegung, in der Aufgestiegene Meister im Mittelpunkt stehen.72 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die derzeitige Popularität von Engeln oder anderen meta-empirischen Wesen unter anderem darauf zurückzuführen sein dürfte, dass diese sich – in ihrer heutigen Konzeption – individuell passend in Biographie und ritueller Praxis der Akteure einfügen. Aus dem Kanon der zur Verfügung stehenden Figuren können diejenigen für den persönli-

68 Siehe dazu Hanegraaff 1998, 316. 69 Vgl. Partridge 2004, 300. Eine emische Systematik inklusive der Reinkarnationszuordnungen findet sich beispielsweise auf der Homepage von »Andranleah«: Zugriff unter: http://www.andranleah.de/Aufgestiegene_Meister.htm (28.01.12). 70 Eine detaillierte religionswissenschaftliche Erfassung gegenwärtiger Ausdifferenzierungen des Themas »Aufgestiegene Meister« liegt noch nicht vor. 71 Vgl. Godwin 1994, 172; Zander 2007, 95 (FN 113). 72 Einführend siehe dazu Hammer 2001, 78-80.

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chen Gebrauch gewählt werden, die für den Akteur selbst als am besten geeignet erscheinen. Aus emischer Perspektive wird dies jedoch nicht als bewusster Auswahlvorgang beschrieben, sondern das Verhältnis ist geprägt von wechselnden Handlungsinitiativen. Im primären Kontakt zu solchen Wesen beschreiben sich die meisten Personen als passiv. Sie erleben den Kontakt als etwas, was von außen auf sie zukommt. Ist die Verbindung jedoch einmal hergestellt, kann mit den Wesenheiten auch »aktiv« gearbeitet werden, sei es um individuellen Rückhalt zu bekommen. Mit der religiösen »Entkernung« der meta-empirischen Gestalten fällt es den Akteuren auch leicht, sie in vielfältige individuelle Kontexte einzubinden, eine Möglichkeit, die vor allem vor dem Hintergrund des »alles ist eins« Denkens funktioniert und die gleichzeitig die individuelle Ausgestaltung des persönlichen Weges unterstützt.

4.3 P OSITIONIERUNGEN

UND

G RENZKONSTRUKTIONEN

Der Ausbau und die Konstruktion der eigenen Religiosität innerhalb eines biographischen Rahmens orientiert sich neben den bereits dargestellten Elementen außerdem an verschiedenen Abgrenzungsfolien, die es dem Akteur ermöglichen, die eigene Religiosität in Bezug zum Umfeld zu setzen und sich damit selbst zu positionieren. Im Folgenden werden zwei Bereiche vorgestellt und an einigen Beispielen erläutert, in denen sich die Abgrenzungsprozesse nachvollziehen lassen. Zum einen wird der Fokus auf die Konstruktion der Kirche als einem Thema gelegt, das aus Akteursperspektive eine der dominantesten Abgrenzungsfolien darstellt. Teilweise findet parallel die Konstruktion eines »wahren Christentums« statt, ein Muster, das bereits aus literarischen Diskursen bekannt ist und von dessen Rezeption durch zahlreiche Akteure auszugehen ist. Als zweiter Bereich werden verschiedene Begriffe vorgestellt, in deren Rahmen ebenfalls Abgrenzungen und damit verbunden Selbstpositionierungsleistungen vollzogen werden. Leitend sind hier die Wörter Spiritualität, Religion und Esoterik. In beiden Bereichen ist insbesondere interessant, wie genau diese Abgrenzungsprozesse narrativ gestaltet werden und an welchen Stellen sie innerhalb der Erzählung zu finden sind. 4.3.1 Kirche versus »das wahre Christentum« Die Konstruktion der Abgrenzungsfolie Kirche erfolgt bei den Akteuren anhand verschiedener Schwerpunkte, die je nach Bedarf und Erzählsituation für die benötigten Positionierungsleistungen herangezogen werden. Zunächst ist zu be-

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obachten, dass es häufig an den Stellen im Interview, an denen die Akteure ihre eigene Religiosität charakterisierten und sich selbst beschreiben, zur Konstruktion von kirchlichen Gegenfolien kommt. Die kirchliche Auslegung von christlicher Religiosität stellt bei allen beteiligten Interviewpersonen eine der wichtigsten religiösen Sozialisationsgrundlagen dar. Es ist anzunehmen, dass die Konstruktion von kirchlichen Glaubensschemata daher als primärer Argumentationsbezug aufgegriffen wird. Über quantitative Zusammenhänge lässt sich jedoch an dieser Stelle keine Aussage treffen. Es ist lediglich die Tendenz zu bemerken, dass Interviewpersonen, die von einer Kindheit mit weniger starken kirchlichen Prägungen erzählen, auch in ihren weiteren Positionierungsleistungen weitaus weniger auf die Konstruktion einer kirchlichen Abgrenzungsfolie rekurrieren. So etwa bei Andi, die ihr Elternhaus als »nicht religiös« charakterisiert und anfügt, dass sie zwar getauft ist und die Kommunion erhalten habe, sonst aber nicht weiter in kirchliche Strukturen eingebunden war. Bei der späteren Selbstbeschreibung finden sich bei Andi keinerlei Abgrenzungen gegenüber der Kirche als Institution oder ihren Theologien. Dies kann jedoch auch im Interviewkontext einfach als nicht erzählenswerter Inhalt betrachtet worden sein. Weiterführende Aussagen können daher an dieser Stelle nicht getroffen werden. Insgesamt werden bei der Konstruktion der Abgrenzungsfolie Kirche drei Perspektiven verwendet: 1.) die Kirche als institutionelles Ganzes, 2.) einzelne kirchliche Spezialisten, die im persönlichen Austausch mit den Akteuren stehen und 3.) andere Personen, die sich als Laien den kirchlichen Lehren angeschlossen haben. Zunächst soll ein genauerer Blick darauf geworfen werden, mit welchen Inhalten und sprachlichen Mitteln die Abgrenzungsfolie Kirche als institutionelles Ganzes konstruiert wird. Die Akteure zeichnen ein Bild von »der Kirche« – eine Differenzierung der unterschiedlichen Denominationen wird kaum oder nur grob (evangelisch – katholisch) vorgenommen – welche die Menschen unterdrückt und die Angst verbreitet. So spricht Nicki von der katholischen Kirche als einer Institution, die sich auszeichnet durch »Angstgemache mit der Drohbotschaft«. Auch Toni gibt an, dass »die Kirche ja mit Angst [arbeitet] und das ist ja n altes Druckmittel, um die Menschen gefügig zu machen«. Uli schildert ihre Position gegenüber »dem christlichen Glauben« in einem Abschnitt, in dem sie sich bemüht, eine Selbstpositionierung ihrer Religiosität vorzunehmen. Sie nimmt Bezug auf die religiöse Pluralität, die sie in ihrem Umfeld wahrnehmen kann. Uli: Also ich bin dem christlichen Glauben nicht abgeneigt, also ich bin jetzt nicht, würd ich sagen, ich bin jetzt nicht Buddhist oder ich bin Sufist oder ich bin, oder der Schamanismus ist so meine Hauptreligion, sondern ich seh auch viel Wahrheit, in dem, was Chris-

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tus gesagt hat, so in der Bergpredigt gesagt oder überhaupt mit Nächstenliebe und ich denke schon, dass der Christusweg ein Weg auch für uns sein kann, irgendwie quasi zur Erleuchtung zu gelangen oder halt ein besseres Leben zu führen. Wenn man sich unter die Führung von Gott oder nem höheren Wesen stellt und sagt, nicht sagt, also ich würde jetzt nicht sagen, ich bin dein untertänigster Diener, sondern einfach sagen, nicht Gott ist außerhalb von mir, sondern Gott ist auch in mir. Und ich muss mich nicht geißeln und Schuldgefühle haben, besonders nicht als Frau, was einem die katholische Kirche ja gern mal auferlegen möchte. Wir sind die Bösen und unter Schmerzen gebären, das ham wir jetzt nun davon. Das ist nicht so mein Ding. Also es geht für mich mehr um ein eigenes Selbstbewusstsein, um meine eigene Identität, innen mein Gott zu finden und nicht irgendein diffuses Wesen im Außen und quasi wie in einem patriarchalischen Gott, der einen unterdrückt, also das ist nicht mein Weg. Und ich für mich glaube auch nicht, dass Jesus das gemeint hat. Und also mit der Religion der Kirche hab ich nicht viel zu tun, also ich bin, ich würd schon sagen, dass ich durchaus noch Christin bin, aber mit den irdischen Stellvertretern nicht ganz klar komme. Also zum Beispiel der Papst gibt mir nichts und wenn ich jetzt auch die neueren Entwicklungen sehe, mit den, also allein die Geschichte sehe, wie kann man Nächstenliebe predigen und Hexenverbrennungen machen und so viel Leid auch in die Welt bringen oder Kreuzzüge.

Uli zeichnet hier ein Bild von »der« Kirche, das sie in Kontrast setzt zu den Beschreibungsmustern ihrer eigenen Religiosität, die unter Rückgriff auf bereits besprochene Topoi wie den des »Weges« oder das »alles-ist-eins«-Muster gestaltet werden. Auf der Suche nach einer Selbstpositionierung beginnt die Erzählerin zunächst mit einer Selbstverortung in der Nähe des Christentums, indem sie sich vorab von anderen, nicht-christlichen religiösen Traditionen distanziert. Mit dem Buddhismus, Sufismus und Schamanismus verweist sie dabei auf drei Traditionen, die insbesondere im Diskurs gegenwärtiger Religiosität eine gewisse Popularität genießen.73 Im Anschluss daran nennt sie diejenigen Elemente des christlichen Bereiches, mit denen sie im Rahmen ihrer Religiositätskonstruktion arbeiten kann. Sie stellt dabei »Christus« bzw. den »Christusweg« in den Mittelpunkt. Als Ziel des Weges formuliert die Erzählerin »Erleuchtung«, die sie ohne weiteres mit ihren Vorstellungen von »Christus« vereinbaren kann. Um jedoch ihre Position bezüglich des christlichen Bereiches noch deutlicher zu machen, beginnt Uli schließlich eine Abgrenzungsfolie »Kirche« zu entwerfen. Zunächst spitzt sie ihre Ausführungen zum Thema auf die katholische Kirche zu, ein Vorgehen, das auch in anderen Interviews zu finden ist. Gerade die ka-

73 Gerade bei einer Durchsicht der Internetmaterialien fällt auf, dass diese drei Bereiche am häufigsten angeführt werden.

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tholische Kirche wird als Sinnbild einer Institution konstruiert, in der Menschen »Schuldgefühle« von einem meist »strafenden Gott« auferlegt werden. Die Betonung, dass es sich dabei um einen »patriarchalischen Gott« handelt, wird insbesondere von weiblichen Akteuren hervorgehoben. Anhand eines Schriftverweises (»unter Schmerzen gebären«) konstruiert Uli ein Bild von Kirche, in dem vor allem eine gewisse Frauenfeindlichkeit betont wird. Das kirchliche Gottesbild, welches an dieser Stelle gezeichnet wird, zeigt eine dem Menschen gegenüberstehende Instanz, die Unterordnung und Gehorsam fordert. Dieses negativ konnotierte Bild kann Uli nutzen um deutlich zu machen, dass sie »Gott in sich« finden möchte, womit sie klar an den »alles-ist-eins«-Topos anschließt. Die Ablehnung der kirchlichen Glaubensvorstellungen wird weiter anhand von geschichtlichen Verweisen auf die »Hexenverbrennung« und die »Kreuzzüge« expliziert, die als unvereinbar mit christlichen Lehren angesehen werden. Diese Schlagwörter der Kirchengeschichte legitimieren die Abgrenzungsfolie insofern, da an ihnen verdeutlicht werden kann, dass das kirchliche Fehlverhalten auf eine lange Tradition zurückgeht. Auch der Papst als ein bekannter personeller Stellvertreter der Kirche wird abgelehnt, weil er ihr »nichts gibt«. Auf dem Hintergrund dieser Abgrenzungsfolie gelingt es Uli nun, bestimmte Elemente aus dem Diskurs christlicher Religiosität in Kontrast zu einer kirchlichen Religiosität zu setzen und diese für ihre eigenen religiösen Vorstellungen aufzugreifen. Anhand dieser Abgrenzungen kann die Erzählerin sich selbst im christlichen Diskurs positionieren und diese Vorstellung in Kohärenz mit den von ihr verwendeten Topoi und Inhalten aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität bringen. Im Mittelpunkt steht hier, wie auch in einigen der anderen Interviewtexte Jesus, der als Leitfigur für die Konstruktion eines »wahren« oder »ursprünglichen« Christentums dient. So wird auch bei Toni eine im Gegensatz zur historischen Kirche stehende »Urkirche« konstruiert, in der Jesus die leitende Figur ist und Lehren wie z. B. von Reinkarnation als genuin betrachtet werden. Somit werden in der Akteursperspektive zwei verschiedene Typen von Christentum ausgearbeitet: ein »Kirchen-Christentum«, welches primär als Abgrenzungsfolie verwendet wird, wenn die eigene Religiosität erzählerisch ausgestaltet wird, und ein »wahres Christentum«, das als religiöses Element in die eigenen Konstruktionen von Religiosität aufgenommen werden kann, da seine Interpretation kompatibel ist mit den dominanten Topoi gegenwärtiger Religiosität. Das »Kirchen-Christentum«, welches als die Menschen unterdrückend und Angst einflößend beschrieben wird, erhält in den Schilderungen ein weiteres charakteristisches Attribut. Erläutert wird dies anhand der prominenten Beispiel-

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figur von Willigis Jäger.74 Die Akteure verweisen auf ihn, wenn sie betonen möchten, dass der Kirche als bedeutender religiöser Inhalt im Laufe der Jahrhunderte die Mystik verloren gegangen bzw. bewusst ausgegrenzt worden sei. Dieses Konstruktionsschema kann exemplarisch bei Toni veranschaulicht werden: Toni: Also ich hab zum Beispiel wunderbare Begegnungen mit Willigis Jäger gehabt und er sagt, als die Kirche die Mystik weggenommen hat, hat sie sich ganz viel genommen. Die Bereicherungen der Kirche waren die großen Mystiker wie Meister Eckhart oder diese ganz Großen. Und die, und das ist auch das Problem, was ich auch selbst mit der Kirche hab, bin vor vielen Jahren ja ausgetreten, hab dann überlegt, ob ich wieder eintrete, aber ich hab mich entschieden, es nicht zu tun, weil ich eben mit der Institution Kirche in dieser Form nichts anfangen kann.

Auch Jo verweist auf Willigis Jäger, allerdings hebt sie nicht explizit den Aspekt der Mystik hervor, sondern betont generell den Bereich der Spiritualität, der ihr bei der Kirche fehle: Jo: Ja es gibt ja auch, wer mir natürlich total zusagt, ist Pater Willigis Jäger, des also diese Verbindung mit Zen und so, das find ich toll, also dass es das gibt. Und ich find’s halt sehr schade, dass solche Menschen dann so immer wieder Steine in den Weg gelegt bekommen von der Kirche. Das sind meiner Meinung nach auch grade die, die die Kirche bräuchte und dann würde die Kirche auch wieder Zulauf haben, wenn sie die mal ein bisschen, wenn es mal so ein Papst gäbe oder so, der ein bisschen ne spirituelle Ader hat.

Willigis Jäger ist mittlerweile gerade in deutschsprachigen Ländern zu einer bekannten Persönlichkeit avanciert, die in unterschiedlichen religiösen Kontexten wahrgenommen wird. Geschätzt wird der ordinierte Priester vor allem durch seine Versuche, christliches Gedankengut mit Ideen aus dem Zen-Buddhismus75 zu verbinden, was zu starken Auseinandersetzungen mit seinen kirchlichen Vorgesetzten führte. Dieser Konflikt, betrachtet man die obigen Interviews, wird von den Akteuren als Paradebeispiel kirchlichen Fehlverhaltens wahrgenommen. Jäger wurde zum Sinnbild des Ausschlusses mystischer Tendenzen aus dem kirch-

74 Willigis Jäger, geboren 1925, ist Benediktinermönch und Zen-Meister. Er leitete lange Zeit ein überkonfessionelles Bildungshaus in Holzkirchen. Im Jahr 2000 geriet er in Konflikt mit der römischen Glaubenskongregation, der in seiner Exklaustrierung endete. 2009 gründete er seine eigene Zenlinie »Leere Wolke«. 75 Vgl. Jäger 2007; Jäger, Poraj & Zöllis 2009.

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lichen Bereich. Verweise darauf dienen im Rahmen der eigenen Biographie zum einen dazu, die Konstruktion der Abgrenzungsfolie Kirche anhand einer bekannten Persönlichkeit zu legitimieren. Zum anderen wird die christliche Mystik oder Spiritualität in der Argumentation von den kirchlichen Strukturen gelöst und damit zugänglich gemacht für den Gebrauch in der eigenen Religiositätskonstruktion. Bei aller Ablehnung der Kirche oder der kirchlichen Inhalte und Strukturen ist jedoch festzustellen, dass bei einigen Akteuren gerade gegenüber der katholischen Kirche in bestimmten Erzählsituationen ein ambivalentes Verhältnis besteht. Zwar lehnen sie die katholischen theologischen Inhalte weitgehend ab und wenden sich auch gegen Organisationsstruktur und Personal, jedoch werden insbesondere katholische Kirchen als Ritualorte bzw. die Rituale selbst als positiv hervorgehoben. Häufig sind dies Konstruktionen, die in die Kindheit hineinverlegt werden. So wird auch bei Jo, die später in der biographischen Erzählung die fehlende Spiritualität innerhalb der Kirche beklagt, für die Kindheit die katholische Kirche noch als ein Ort beschrieben, der durch seine besondere Atmosphäre als erinnerungswürdig dargestellt wird. Allerdings wird dieses, bereits zitierte Erzählsegment an rezente Interpretationsschemata von Jo angepasst, wenn sie das Energiemodell auf den kirchlichen Ort überträgt. Jo: War von klein auf sehr gläubig und an Gott interessiert und bin dann, wir waren evangelisch, aber die evangelische Kirche war so ein Betonding, so ne Neue und dann bin ich immer alleine in die kleine katholische Kirche gegangen, die war nämlich immer offen. Waren lauter so Heiligenbildchen, da konnte man Weihwasser und so und [ich] hatte halt irgendwie schon früh das Bedürfnis mich da hin zu begeben, in so ne Schwingung. Die war ja in der evangelischen Kirche nicht. Und ja also hab also an Gott geglaubt und hab auch gebetet das Vater Unser und so weiter und so fort.

Bei Toni, die wie oben gezeigt die Kirche ebenfalls als Abgrenzungsfolie konstruiert, wird insbesondere die katholische Kirche als herausragender Ritualort beschrieben. Zu ihrem Verhältnis zur Kirche sagt Toni folgendes: Toni: Bin vor vielen Jahren ja ausgetreten, hab dann überlegt, ob ich wieder eintrete aber ich hab mich entschieden, es nicht zu tun, weil ich eben mit der Institution Kirche in dieser Form nichts anfangen kann, obwohl ich traditionell evangelisch bin, aber auch lieber in katholische Kirchen geh, weil in katholischen Kirchen es wirklich so Rituale so gibt und ich find Rituale sind für Menschen wichtig.

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Überblickend lässt sich festhalten, dass die Kirche (als institutionelles Ganzes) konstruiert wird als Vertreter von Glaubensinhalten und Organisationsstrukturen (patriarchalischer Gott, unterdrückende, Angst verbreitende Institution), welche die Akteure gegenwärtiger Religiosität mehrheitlich ablehnen. Indem sie jedoch einige religiöse Inhalte und bedeutende Figuren wie Jesus oder christliche Mystiker aus dem Konstruktionsrahmen »Kirche« lösen, gelingt es ihnen, diese Inhalte als christlich, nicht aber als kirchlich zu identifizieren und diese in ihre eigene Religiositätsbeschreibung aufzunehmen. Die in emischer Perspektive vollzogene Differenzierung zwischen Kirche und Christentum wird bislang aus wissenschaftlicher Sicht noch wenig beachtet oder als emische Fehlinterpretation gedeutet.76 Diese Befunde stellen jedoch eine ausgezeichnete Basis dar, die Ergebnisse nicht vorschnell als »falsche« emische Interpretation abzuqualifizieren, sondern bisherige Beschreibungsmuster von rezenter Religionsgeschichte zu überdenken. In den Konstruktionen der Abgrenzungsfolie Kirche finden sich noch weitere Perspektiven, die im Folgenden erläutert werden. Die ablehnende Haltung gegenüber der Kirche wird von den Akteuren im Rahmen der Biographiearbeit (hier meist in der Kindheit und Jugendzeit) auch durch negative Erlebnisse mit kirchlichen Mitarbeitern veranschaulicht. Hier treten Pfarrer auf, die wie bei Michi eine hohe finanzielle Zuwendung im Gegenzug für kirchlichen Beistand bei der Krankheit ihres Vaters verlangen, oder die wie bei Chris eine Teilnahme am Religionsunterricht verweigern und sie vor der gesamten Klasse bloßstellen. Bei Uli wird zuerst von einem guten persönlichen Verhältnis zum ortsansässigen Pfarrer und damit auch zur Kirche in der Kindheit berichtet. Dies ändert sich jedoch, als ein neuer Pfarrer das Amt übernimmt: Uli: Ja [ich] war dann auch ja sehr lange Messdienerin, wirklich regelmäßig da also bei diesem Pater auch. Als der Pater dann gewechselt hat, hat das bei mir aufgehört, weil der mir einfach unsympathisch war. Es war ein neuer Pater, der sehr streng auch war, der aus Polen direkt kam und dann auch sehr konservativ streng war. Dieses Herzliche hat einfach gefehlt. Die Firmung war dann auch bei diesem Pater und da ist das so bei mir auch abgeflacht. Also, es war nicht mehr so schön in der Kirche, war auch nicht mehr so besucht und Jugendliche sind dann auch eher weggegangen. Und der war einfach nicht, da hat was gefehlt, der war nicht mehr so freundlich, herzlich.

76 Insbesondere von theologischer Seite wird betont, dass die »esoterische« Konzeption von z. B. Jesus nichts mit der kirchlichen und damit christlichen Figur zu tun habe. Vgl. Päpstlicher Rat für die Kultur Päpstlicher / Rat für den Interreligiösen Dialog 2002.

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Auch aus anderen Erzählsegmenten der Akteure geht hervor, dass im Umgang mit kirchlichen Mitarbeitern oftmals die persönliche Sympathie als Begründung genannt wird, auf deren Basis ein Kontakt oder sogar eine Mitgliedschaft in der Kirche verläuft. Entsprechend wird neues kirchliches Personal an den Vorgängern gemessen, was eine Abqualifikation zur Folge haben kann. Auch Kim, früher aktives Mitglied in der lokalen kirchlichen Gemeinde, kann sich nach einem Pfarrerwechsel nicht mehr in diesem Rahmen verorten, da die persönliche Sympathie für sie verloren gegangen ist. Als letzte Perspektive werden in den Interviews kirchenzugehörige Laien thematisiert. Die Abgrenzungen zu ihnen bzw. aus der Sicht der befragten Akteure zu ihrem Fehlverhalten stellen einen weiteren Aspekt dar, der die Konstruktion von Kirche als Abgrenzungsfolie vervollständigt. Nicki lehnt sogenannte »Taufscheinchristen« vehement ab, da diese ihrer Meinung nach den Glauben nicht leben, sondern nur zu bestimmten Feiertagen in die Kirche gehen, um dort von anderen gesehen zu werden. Nicki: Ein Taufscheinchrist ist für mich der, wo jeden Sonntag in der Kirche ist, der wo ein jedes Brauchtum, religiöses Brauchtum feiert, der wo alles tut, was man halt so tut, wenn man katholisch ist, wenn man religiös ist, aber der wo in Wirklichkeit im ganzen Leben nicht das tut, was der Jesus gesagt hat. Und der Jesus hat gesagt »liebt einander«, und die gehen aus der Kirche raus und schimpfen schon über die Nachbarin und schimpfen schon über den und schimpfen schon über den. Und ich sag, das sind diese Taufscheinchristen, die nur das Brauchtum leben, aber eigentlich nicht das, was der Jesus gesagt hat.

Sie differenziert zwischen Personen, die zwar vordergründig als Christen zu definieren wären, ihrer Meinung nach jedoch im Blick auf die Umsetzung religiöser Lehren und Werte scheitern und denjenigen, die Jesus »wirklich« folgen und »die Liebe leben«. Zu letztgenannter Gruppe zählt sie auch sich selbst. Ähnlich drückt sich Sam aus, die dieses Erzählsegment bereits im Abschnitt über ihre Kindheit verortet: Sam: Schon von klein auf war es mir sehr sehr wichtig, ja, es den Menschen wirklich zu zeigen und es macht mich halt sehr traurig, dass die Menschen teilweise nur in die Kirche gehen, um der Tatsache willen, dass sie andere Menschen sehen, dass sie in die Kirche gehen, aber nicht wirklich aus diesem Glauben heraus.

Die Erzählerin kritisiert die ihrer Meinung nach falschen Intentionen, die bei den Kirchenbesuchern vorherrschen. Die Partizipation am kirchlichen Geschehen

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wird primär als Akt des sozialen Statuserhalts gedeutet, für Sam zählt jedoch nur der »Glauben« als Motivation. Daher möchte sie sich von diesen kirchlichen Akteuren abgrenzen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass »die Kirche« eine der wichtigsten Abgrenzungsfolien für Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität darstellt, zumindest im Rahmen der Biographiearbeit. Es kann konstatiert werden, dass ein Konstruktionsbild von »Kirche« entworfen wird, in dem die kirchliche Organisation, ihre Lehren und auch ihre Mitglieder sehr generalisierend beschrieben werden. Aus emischer Perspektive wird »die Kirche« als Konstrukt präsentiert, dem negativ konnotierte Attribute zugeschrieben werden und das nach außen als weitgehend abgeschlossen betrachtet wird. Es wurde deutlich, dass im Zuge der Konstruktion dieser Abgrenzungsfolie bestimmte religiöse Elemente aus dem Bereich Kirche argumentativ gelöst werden, die dann als »christlich« charakterisiert werden und damit als mögliche Konstruktionselemente der eigenen Religiosität in Frage kommen. In diesem Prozess kann es zur Herausarbeitung eines »anderen«, »wahren« oder »ursprünglichen« Christentums kommen, ein Konzept, das bereits aus dem literarischen Diskurs bekannt ist. Allerdings wird die Komplexität des Topos bei den Akteuren erheblich reduziert. In der Literatur wird ein Bild von Jesus konstruiert, in dem er als Person dargestellt wird, dessen Lehren erst später durch die Kirche verfälscht oder missinterpretiert wurden. Ein populärer Aspekt ist eine angenommene Mitgliedschaft von Jesus bei den Essenern, die als spirituelle bzw. esoterische Gemeinschaft dargestellt werden.77 Auch wird vermutet, dass Jesus in den Jahren, in denen die kanonischen Evangelien eine Zeitlücke aufweisen, nach Indien gegangen sei, um dort von religiösen Meistern zu lernen. So ist auch die gängige Annahme vieler Akteure nachzuvollziehen, dass Jesus eigentlich auch Reinkarnation lehrte, da er mit dieser Idee während seines Indienaufenthaltes in Berührung kam. Diese »Tatsache« sei später durch die Kirche verfälscht worden. Für viele Akteure werden vor allem die Schriftrollen aus Qumran und die Funde in Nagamadi als Beleg für ein »alternatives Christentum« bzw. eine »Urkirche« herangezogen.78 Für die Untersuchung bot sich eine Differenzierung an, in der jeweils unterschiedliche Aspekte von Kirche bzw. kirchlicher Praxis als Abgrenzungen verwendet werden. Kirche wird präsentiert als institutionelles Ganzes, von dem eine generelle Abgrenzung gelingen kann, indem eine gleichzeitige Auslagerung be-

77 Besonders stark betont bei Chris. Zur Ausarbeitung dieses Aspekts in literarischen Diskursen siehe Hanegraaff 1998, 315f. 78 Vgl. ebd., 319.

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stimmter religiöser Elemente vorgenommen wird. Diese können schließlich als christlich, aber nicht mehr als kirchlich von den Akteuren identifiziert werden. Zudem werden negative Erfahrungen mit sowohl kirchlichen Experten wie auch mit Laien als Begründung für die eigene Positionierung außerhalb kirchlicher Strukturen bzw. kirchlicher Theologien angeführt. 4.3.2 Religion – Spiritualität – Esoterik Ein weiteres wichtiges Mittel zur Konstruktion der eigenen Position stellen bestimmte Begrifflichkeiten dar, die von den Akteuren an zentralen Punkten der Interviews verwendet wurden, welche ich jedoch zusätzlich auch explizit nachfragte. Die wichtigste Rolle spielen dabei drei Begriffe: Religion, Spiritualität und Esoterik. Anhand dieser Wörter charakterisieren und kategorisieren die Akteure die »Richtung« ihrer Religiosität, wobei es sowohl zur Bildung von Abgrenzungsfolien kommt, als auch zum Entwurf von positiv konnotierten Modellen, welche schließlich für den eigenen Identitätsentwurf übernommen werden. Alle drei Begriffe werden seit längerem nicht nur von religiösen Akteuren diskutiert, sondern auch von Seiten der Wissenschaft, Medien und Gesellschaft. Es ist daher anzunehmen, dass komplexe Verflechtungen in der diskursiven Aushandlung dieser Begriffe zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen vorliegen. Im narrativen Fluss werden von den Akteuren als Selbstcharakterisierung und als nähere Bestimmung der Weg-Konstruktionen häufig die Begriffe »spirituell« und »Spiritualität« verwendet, wobei diese zunächst ohne weitere Reflexionen eingesetzt werden. So etwa hält Toni Folgendes fest: Toni: [Ich] hab zwei Kinder und wie gesagt, es hat mich schon immer zu so na spirituellen Seite hingezogen, also das gängige, Tarot, Astrologie. Ich hab Dethlefsen/Freitag? also mehr so diese Sachen gelesen.

Durch die anschließende Nennung von den zwei Elementen Tarot und Astrologie macht Toni deutlich, in welcher Richtung sie den Begriff »spirituell« verstanden sehen möchte. Auch Michi verwendet den Begriff im narrativen Fluss zunächst ohne weitere Erläuterung, charakterisiert jedoch die Richtung, in der sie ihn sieht, anhand eines Beispiels: Michi: Und so spirituelle Sachen und da hatte ich früher nichts mit am Hut. Dann hab ich dieses Engelbuch da genommen, aufgeschlagen, dann hab ich’s gleich wieder zugeklappt, weil ich gedacht hab, oje, wo biste hier hin geraten.

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Durch den Verweis auf die Engelthematik macht Michi klar, dass sie diese in den Bereich »spirituell« einordnet. Neben dem nicht weiter reflektierten Gebrauch des Begriffs finden sich jedoch auch Passagen, in denen zusätzlich zum Gebrauch von »Spiritualität« weitere Begrifflichkeiten zur Selbstcharakterisierung eingeführt werden. Diese werden allerdings primär abgrenzend verwendet. Hier ist zu differenzieren zwischen dem Begriff »Religion/(religiös)«, der oftmals negativ konnotiert ist und »Religiosität«, der als Synonym für »Spiritualität« Verwendung findet. Eine argumentative Entwicklung dieser Abgrenzung ist bei Maxi nachzuvollziehen: Maxi: Ja in der Zeit ist, sag ich mal, hat sich jetzt meine religiösen Vorstellungen, sag ich mal, oder spirituellen Vorstellungen, also ich seh mich eigentlich nicht als einen, sag ma mal, religiösen Menschen, sondern eher als einen spirituellen Menschen, haben sich da dann auch so gefestigt.

In diesem Segment wird deutlich, wie Maxi im Rahmen der Narration erst die für sich passende Bezeichnung bzw. Kategorisierung finden muss. Sie setzt zwar mit dem Adjektiv »religiös« ein, korrigiert sich dann jedoch und entscheidet sich für die Verwendung von »spirituell« als Eigenbezeichnung. Es findet sich an dieser Stelle keine Angabe, wie die Differenzierung zwischen beiden Begriffen aus Akteursperspektive gedacht wird, da keine weitere Ausformulierung vorgenommen wird. Auf eine spätere Nachfrage im Interview, was sie genau unter dem Begriff Religion verstünde, gibt sie an, dass Religion sich immer auf eine Göttlichkeit oder »auf einen oder mehrere Götter« bezöge und dazu diente, die »Rückbindung zu Gott wieder zu finden«. Es folgt eine emische Konstruktion von Religionsgeschichte, in der Maxi deutlich machen möchte, dass in den vielen Religionen, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet haben, oftmals die persönliche Erfahrung verloren gegangen ist. Erst jetzt greift Maxi ihre Differenzierung zwischen spirituell und religiös erneut auf: Maxi: Bin ich auch der Ansicht, können wir auch irgendwo, alle die irgendwo auf der Suche sind, die sich irgendwo mit Religionen beschäftigen, auseinandersetzen, auch zusammenfinden nur und nicht in den einzelnen Hilfsmitteln irgendwo. Und darum ist diese Gotteserfahrung selber zu spüren, ist für mich irgendwo der Weg auch die Religionen irgendwann mal wieder zu vereinen. Denn jeder eigentlich seinen eigenen Weg erkennt und das für sich selber irgendwo ausdrückt dann auch. Und in dem Moment kann ich aber dann irgendwo nicht mehr von Religion sprechen, sondern dann nehm ich, hab ich den Ausdruck Spiritualität dafür für mich entdeckt, weil das etwas ist, wo ich mich eigentlich nicht mehr auf der Suche befinde, sondern wo ich gefunden habe und weiß, dass ich ein-

182 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN gebettet bin in ein größeres göttliches geistiges Ganzes oder so, also das alles einen geistigen Urgrund hat.

Religion wird hier zu etwas, das zwar als »Hilfsmittel« eingesetzt werden kann. Letztlich soll jedoch die individuelle eigene Erfahrung in den Mittelpunkt rücken, die nunmehr mit dem Begriff Spiritualität versehen wird. Hinzu kommt, dass der Begriff Religion in vielen Fällen deutlich mit Kirche assoziiert wird oder teilweise eine Synonymisierung beider Begriffe vorgenommen wird. Wie im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt, wird Kirche als dominante Abgrenzungsfolie zur Selbstpositionierung konstruiert. Findet eine Synonymisierung der Begriffe statt, so werden diese Abgrenzungsmechanismen auch auf den Religionsbegriff übertragen. Eine Reflexion aus emischer Sicht findet sich bei Alex: Alex: Also Religion ist eigentlich für mich, ich nenne es meine Religion, die eigene Einstellung zu Gott, zu Engeln, überhaupt, was ich glaube. Ist egal, ob’s Gott ist oder ein Blumentopf. Wenn jemand sagt, das ist meine Religion, den Blumentopf, dann ist das so. Es hat unheimlich gelitten durch die ganzen Kirchen und die ganzen Verbände. Also Religion ist im Ursprung für was anderes als das, was es für heute für die Öffentlichkeit eigentlich ist. Ich bin der Meinung, Religion war eigentlich früher eben die Glaubensrichtung, so wie ich das jetzt mache, ganz offen, ganz frei hab ich’s mir selbst ausgesucht, das ist meine Religion. Nur der Begriff hat eben einfach gelitten durch die Kirchen, die das auf’s Grausamste ja missbraucht haben, das andere geglaubt haben und deshalb nehm ich gern ein bisschen Abstand von dem Begriff Religion.

Alex unterscheidet zwischen ihrem persönlichen Verständnis des Begriffs Religion und den aus ihrer Sicht dominanten Diskursen, die den Begriff in die Nähe der Kirchen rücken. Einerseits passt dieses Argumentationsmuster in die bereits im Vorkapitel vorgestellten Konstruktionsmechanismen der Abgrenzungsfolie Kirche. Hier kommt erneut die Argumentationswendung zum Tragen, dass von der Kirche ein ursprünglich »Anderes« (vorher eine Urkirche, hier die »eigentliche« Bedeutung des Religionsbegriffs) unterschieden wird. Andererseits scheint eine solche Reflexion über eine Differenzierung zwischen Kirche und Religion eher die Ausnahme zu sein. Bei den meisten hier befragten Akteuren findet eine unreflektierte Synonymisierung der Begriffe statt. Dies zeigte sich besonders deutlich in der zu Beginn der Interviews formulierten narrativen Einstiegsfrage. Zunächst fragte die Interviewerin lediglich nach »religiösen« Elementen in der jeweiligen Biographie und stieß damit auf sofortige Ablehnung. Die beiden interviewten Akteure betonten umgehend, dass sie mit der Kirche nichts zu tun

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hätten. Erst nachdem die Vorgabe der Frage um die Begriffe »Spiritualität« und »Glaube« ergänzt wurde, gelang ein Einstieg in die Narration ohne unmittelbare anti-kirchliche Positionierung der Akteure. Weitere Abgrenzungsprozesse finden sich zwischen den Begriffen Esoterik und Spiritualität. Ähnlich wie oben bei Maxi ist auch bei Andi zu beobachten, wie der Einsatz bestimmter Begriffe erst im narrativen Geschehen entwickelt wird und damit Positionierungen vorgenommen werden. In einer Passage, in der sie den bisherigen Verlauf ihrer Biographie resümiert, findet sich folgender Abschnitt: Andi: Und vom Glauben her, wie gesagt, da hat sich von mir eigentlich nicht viel verändert, also jetzt auch nicht mit der esoterischen Arbeit. Das, Esoterik, ist eigentlich ein Wort, das ich nicht so sehr mag, also für mich ist im Spiritualismus eher oder spirituell das Wort. Esoterik ist so ein Modewort.

Andi qualifiziert Esoterik als »Modewort« und distanziert sich von der Verwendung des Begriffs als Selbstkategorisierung. Für sich persönlich bevorzugt sie »spirituell«, wobei anzumerken ist, dass auch diese Begrifflichkeit erst narrativ entwickelt werden muss, greift sie doch zuvor noch das Wort »Spiritualismus« auf. Was genau sie jedoch unter Esoterik versteht und warum sie den Begriff ablehnt, bleibt an dieser Stelle unklar. Erst später im Interview führt sie weiter aus, dass sie der Meinung ist, dass viele Leute in der »Esoterikszene« primär an Geld interessiert sind und es viele »schwarze Schafe und Menschen« gibt. Diesen Punkt greift auch Sam in einem längeren Erzählabschnitt auf, nachdem sie von der Interviewerin die Rückfrage erhielt, was für sie alles unter den Begriff der Esoterik falle. N.M.: Was fällt denn alles für dich unter Esoterik? Also ist ja n sehr breites, kann ein sehr breites Gebiet sein. Sam: Also Spiritualität ist für mich, wie gesagt, das zu leben, was man ist. Also diesen ganzen Fähigkeiten, die wir haben, einfach freien Lauf zu lassen und sie so zu zeigen. Esoterik ist für mich, die Menschen, die – wie soll ich das sagen – was ist Esoterik? Esoterik sind also, so als Esoterik bezeichne ich die Menschen, die andere mental so, die diese Spiritualität dafür verwenden, andere Leute zu manipulieren oder unter Druck zu setzen oder damit einfach Kohle verdienen. Die daraus ein, etwas machen, was in meinen Augen halt fürchterlich ist, so ungefähr so, wie sich zu verkaufen oder Menschen einzureden, sie müssten, sie bräuchten unbedingt etwas, damit sie überhaupt weiter kommen. Oder sie verkaufen ihnen irgendwelche Rituale, die sie ganz dringend brauchen oder reden den

184 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Menschen irgendwas ein. Arbeiten mit ihnen, so dass sie abhängig werden von ihnen, damit sie immer wieder zu diesen Menschen kommen. Und diese Menschen halt sich dafür auch bezahlen lassen und so weiter. Oder die Menschen einreden, du kannst nur Heilung erlangen oder dir kann es nur richtig gut gehen, wenn du halt ganz bestimmte Dinge machst, die ich dir aber nur zeigen kann so. Und das ist halt grauenvoll. Und das finde ich halt, davon möchte ich mich absolut distanzieren, weil so arbeite ich nicht. Und das ist für so die Esoterik, ist die damit das auf den Markt bringt und das vermarktet. Esoterik ist das, was Showeinlage ist, so ungefähr. Und vor allen Dingen, es ist das, womit diese Menschen arbeiten nicht aus dem reinen Sein heraus und nicht aus der Quelle heraus, weil sie einfach, weil sie einfach nur ihr Ego damit zufrieden stellen wollen und befriedigen wollen. Und das ist für mich Esoterik, das ist für mich absoluter Humbug. Und das ist sogar sehr gefährlich für Menschen, die sich darauf einlassen, weil mit der Seele, mit der Psyche eines Menschen zu spielen, ist nicht schön. Und für mich ist Glaube, ich weiß einfach nicht, was glaube ich, ich weiß, dass es Gott gibt! Ich lebe den Gott. Ich gebe mir Mühe, mein Ziel ist es ihn durch mich zum Ausdruck zu bringen, dass er sich durch mich ausdrücken kann und ich mich durch ihn, in meinen Taten, in meinen Worten, in meinen Handlungen, was auch immer, eins sein mit ihm, immer so. Das ist mein Glaube.

Sam setzt der direkten Frage nach einer Beschreibung von Esoterik zunächst den Begriff Spiritualität entgegen, den sie kurz erläutert. Sie macht weiterhin klar, dass die folgenden Skizzierungen zu Esoterik als Gegensatz zu dem positiv konnotierten und für sich adaptierten Spiritualitätsbegriff stehen. Die folgende Konstruktion der Abgrenzungsfolie Esoterik beinhaltet einige wesentliche Aspekte, die auch in anderen Abgrenzungskonstruktionen von Interviewten zu finden sind. Esoterisch arbeitende Menschen werden als Personen beschrieben, die andere Leute in ein Abhängigkeitsverhältnis bringen, in dem vor allem finanzielle Aspekte im Vordergrund stehen. Dies führt Sam in mehreren Sätzen aus, bevor sie sich selbst positioniert. Die Positionierung wird begründet mit dem Verweis auf ihre Arbeit, ein Punkt, der an dieser Stelle jedoch nicht weiter ausgeführt wird, da Sam die finanziellen Aspekte ihrer eigenen Arbeit bereits früher im Interview besprochen hatte. Verhandelt wird dieses Thema bei ihr unter dem Stichwort »Energieausgleich«, ein Konzept, das bei vielen Akteuren sehr populär ist. Es legitimiert die Entgegennahme von Geld für »spirituelle Dienste«. Da der Klient oder Schüler, so die Argumentation, etwas bekommt, muss dafür ein Ausgleich geleistet werden, damit die Wertigkeit des Austausches für alle beteiligten Parteien honoriert werden kann. Nachdem Sam deutlich gemacht hat, dass sie für sich »esoterisches Handeln« ablehnt, stellt sie einen weiteren Punkt heraus, der eng mit dem finanziellen As-

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pekt verknüpft ist. Sie spricht von »Vermarktung« und weist darauf hin, dass dies nicht in Einklang zu bringen ist mit dem eigenen Anspruch »aus der Quelle« heraus zu arbeiten. Zum Schluss attestiert sie »der Esoterik« sogar eine gewisse Gefährlichkeit, da diese die »Seele« oder »Psyche« von Menschen angreife. Wie in der Schlusspassage des Ausschnitts deutlich wird, benutzt Sam die eben konstruierte Gegenfolie um ihren »Glauben« darzustellen. Dabei verwendet sie einen Gegensatz, der in der Rhetorik des Diskurses sehr verbreitet ist: Glaube versus Wissen. Mit der Zuschreibung der eigenen Religiosität in den Wissensbereich werden alle Unsicherheiten und mögliche Zweifel, die vielleicht von Außenstehenden angebracht werden, zurückgewiesen. In der Narration des eigenen Glaubens liegt ein starkes Changieren vor zwischen Sam als Handelnder und Gott, der sich durch sie ausdrückt. Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass Sam ein Bild von Esoterik zeichnet, das vor allem durch finanzielle und kommerzielle Aspekte bestimmt wird. Nach ihren Angaben führen diese zum Missbrauch von religiösen Themen und werden daher abgelehnt. Diese Konnotation von Esoterik findet sich auch bei weiteren Interviewpartnern. Esoterik wird als »gefährliches Pflaster« beschrieben, auf dem »unheimlich Schindluder«79 betrieben werde, oder »oftmals auch mit Spinnereien, irgendwie dem Okkultismus in Verbindung gebracht«80 werde. Wie Christoph Bochinger in seinem Buch »›New Age‹ und moderne Religion« deutlich macht, wurde Esoterik in Deutschland als eigenständige, vor allem aber populäre Kategorie durch Verlage und Zeitschriften etabliert, bei denen im Gegensatz zum englischsprachigen Kontext der Begriff »New Age« eher eine untergeordnete Rolle spielte. Als Bezeichnungskategorie wurde der EsoterikBegriff später auch von religiösen Akteuren zur Selbstbezeichnung aufgegriffen.81 Seit seiner Popularisierung hat der Begriff allerdings auch kritische Aushandlungen vor allem in öffentlichen Diskursen erfahren.82

79 Interview Alex. 80 Interview Uli. 81 Vgl. Bochinger 1994, 371. 82 Weiterführende Untersuchungen dazu stehen leider noch aus. Vor allen in Printmedien, aber auch in TV Reportagen ist immer wieder zu beobachten, dass bestimmte Elemente des Diskurses herausgegriffen werden und vor dem Hintergrund finanzieller Erwägungen beurteilt werden. So jüngst in der ZDF Sendung »Reporter« zum Thema »Das Geschäft mit der Hoffnung. Geistheiler: Zwischen Skepsis und Hoffnung« (ausgestrahlt am 08.10.2009).

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Die verstärkte kritische Diskussion des Begriffs, vor allem aber die Zuschreibung, dass Esoteriker mit Geldmacherei, Betrug und Ausbeutung assoziiert werden, führen dazu, dass der Begriff bei den religiösen Akteuren immer weniger zur Selbstkategorisierung verwendet wird, sondern vielmehr zur Abgrenzung. Als Nachfolgebegriff nutzen die Akteure nun das Wort »Spiritualität«. Dieser Begriff kann sowohl als Alternative zu Religion als auch zu Esoterik verwendet werden, da er durch bisherige diskursive Aushandlungen noch als weitgehend unbelastet angesehen wird. Dabei deckt Spiritualität vor allem auch die individuelle Erfahrungsdimension ab, die von vielen Akteuren als wichtiger Punkt ihrer Glaubenspraxis hervorgehoben wird. So äußert sich auch Jo: Jo: Spiritualität ist für mich das, was mir immer in der Religion gefehlt hat, also das, diese Beschäftigung mit eben dem mystischen Inhalt von Religion, nämlich diese Gotteserfahrung zu suchen. Das ist für mich spirituell, selbst versuchen, Gott zu erfahren und dazu tun, was eben man glaubt, was richtig ist auf diesem Weg. Denn das ist das, was mir, Spiritualität hat mir in der Kirche sehr gefehlt.

Der Begriff wird von der Erzählerin sowohl im Kontrast zum Ausdruck Religion als auch zur Institution Kirche gesetzt. Hingegen kann sie ihn in Verbindung mit der Weg-Konstruktion bringen und erachtet ihn als geeignet, ihre individuelle religiöse Erfahrung zu bezeichnen. Auch aus anderen Zitaten geht hervor, dass die Akteure den Spiritualitätsbegriff im Kontext ihrer individuellen Religiositätsbeschreibungen bevorzugen. Mit Hilfe dieses Begriffs gelingt es ihnen, sich sowohl außerhalb von Bereichen zu positionieren, die sie selbst als institutionell geprägt erfahren, als auch eine Verortung unter dem mittlerweile als problematisch erachteten Begriff Esoterik zu vermeiden. Mittels des Spiritualitätsbegriffs können sie verdeutlichen, dass es ihnen um die Entwicklung einer individuellen Religiosität geht, die in erster Linie durch eigene Erfahrung realisiert wird. Eine steigende Differenzierung der klassifizierenden Terminologien von Seiten der Akteure wird gegenwärtig ebenfalls von religionswissenschaftlicher Seite verzeichnet. Auch Bochinger, Engelbrecht und Gebhardt bemerken bei den von ihnen untersuchten Akteuren eine explizite »Unterscheidung zwischen ›Religion‹ und ›Spiritualität‹«, die sie in erster Linie auf »ein deutliches Distanzierungsbedürfnis der spirituellen Wanderer gegenüber institutionellen Vorgaben«83 zurückführen. Auch Hubert Knoblauch notiert unter Beachtung erster quantitativer Studien, die zwischen Spiritualität und Religion unterscheiden, dass erstgenannter Begriff »von einer nennenswerten Zahl von Menschen als Selbstbe-

83 Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt 2009, 157.

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zeichnung verwendet«84 wird. Welche Konsequenzen dieser terminologische Wandel insbesondere für zukünftiges religionswissenschaftliches Arbeiten hat, wird derzeit noch diskutiert.

4.4 K ONSTRUKTIONSPROZESSE

RELIGIÖSER I DENTITÄT

In den vorangegangenen Ausführungen wurden bereits einige Punkte deutlich, die an dieser Stelle kurz zusammengefasst und abstrahiert werden. Eine die Akteure leitende Vorstellung ist die des eigenen, ganz persönlichen Lebensweges, der in ihren Fällen eng mit der individuellen Religiosität verknüpft ist. Dieser Weg wird zugleich als Aufgabe und Entwicklungsprozess gesehen, ein Ziel ist nur bei den wenigsten in konkreter Reichweite. Ein solches wird – falls überhaupt – am Ende weiterer Leben gesehen, welche die Akteure im Rahmen der adaptierten Reinkarnationsvorstellung für sich annehmen.85 In den Narrationen wird die Weg-Vorstellung durch verschiedene Elemente umgesetzt, von denen einige dominant hervortreten. In den Interviews, aber auch auf den Homepages finden sich immer wieder Darstellungen besonderer Kindheiten, in denen retrospektiv der eigenen Kinderfigur spezielle spirituelle Fähigkeiten zugeschrieben werden oder die Figur anderweitig als außergewöhnlich bezeichnet wird. Herausragende Schlüsselerlebnisse bilden ein weiteres dieser dominanten Elemente, über welches die Akteure narrativ den Zugang zum Diskurs gegenwärtiger Religiosität gestalten können. Es ist davon auszugehen, dass derartige narrative Muster diskursiv ausgehandelt sind und gleichsam als Vorlagen zur Übernahme bereit stehen. Sie können dabei in hohem Maße an die individuellen biographischen Gegebenheiten der Akteure angepasst werden. Diese Adaptions- und Adoptionsprozesse können im Hinblick auf die Interviews als nicht intentional gesteuert angesehen werden. Gerade die Selbstpräsentation der eigenen besonderen Kindheit wird, obwohl so dominant auch im öffentlichen Diskurs sichtbar, von den Akteuren selbst nicht auf einer Meta-Ebene reflektiert oder kommentiert. Die die biographischen Darstellungen prägenden Muster sind Vorlagen,

84 Knoblauch 2009, 123. 85 Dieses Ergebnis deckt sich mit dem Ergebnis aus der Studie von Bochinger, Engelbrecht & Gebhardt zum »Spirituellen Wanderer«. Auch hier wurde die Konstruktion des eigenen Lebens als Weg als zentrales Merkmal herausgearbeitet. Insofern bestätigen die beiden Ergebnisse die Dominanz des Topos im Diskurs gegenwärtiger Religiosität, obwohl in beiden Untersuchungen unterschiedliche Akteursgruppen im Mittelpunkt standen.

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welche selbst diskursiv produziert und stetig ausgehandelt werden und deren Übernahme für eine erfolgreiche Positionierung innerhalb des Diskurses notwendig ist. Die hohe Affinität der Mediennutzung, hier insbesondere das Internet, führt zu einer fortwährenden Reproduktion dieser narrativen Muster im öffentlichen Raum. Die individuellen Adaptionen der Muster werden beispielsweise über die eigene Homepage wieder aktiv von den Rezipienten bzw. jetzt Produzenten in den Diskurs eingebracht. Bleibt zu fragen, wie es generell zur Ausbildung solch dominanter Vorlagen kommen kann. Von Bedeutung ist hier mit Sicherheit, dass z. B. ein Muster wie das einer besonderen Kindheit bereits seit längerem in den diskursiven Aushandlungen um gegenwärtige Religiosität bekannt ist und hier in erster Linie durch namhafte Bestsellerautoren popularisiert wurde. Diese genießen im Diskurs anerkannte Sprecherpositionen, weshalb ihre Aussagen eine erhöhte Bedeutungszuschreibung erhalten dürften. Auf mögliche Zusammenhänge in diesem Bereich soll jedoch später noch ausführlicher eingegangen werden. Durch die Übernahme dominanter narrativer Muster gelingt den Akteuren ein zweifacher Akt, dessen Teile unabwendbar miteinander in Beziehung stehen. Einerseits können sie eine für sich kohärente Identität konstruieren, die – andererseits – als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für fortwährende Positionierungsprozesse im Diskurs dient. Betrachten wir zunächst den ersten Teil. Sowohl die narrativ-biographischen Muster, an erster Stelle der Weg-Topos, als auch die im Diskurs dominanten inhaltlichen Elemente, hier primär der »alles-ist-eins«Topos, gestatten den Akteuren eine für sie kohärente Identität zu entwerfen, bei der das Zusammenfügen verschiedener religiöser Elemente nahezu problemlos möglich ist. Um dieses Zusammenfügen zu ermöglichen, müssen die religiösen Elemente aus ihren diversen Verankerungen in anderen Diskursen gelöst werden, um sie nun im Diskurs gegenwärtiger Religiosität einsetzen zu können. Dafür sind aus dem Material besonders zwei Strategien erkennbar: Auf dem Hintergrund des »alles-ist-eins«-Topos, der selbst ein dominierendes Diskurselement ist, gelingt den Akteuren eine Bedeutungsneuzuschreibung an die religiösen Elemente. Damit geht oft auch eine weitere Strategie einher. Religiösen Expertenfiguren aus anderen Diskursen wird die Deutungshoheit über bestimmte religiöse Elemente abgesprochen. Die Möglichkeit der Aberkennung ist wiederum durch verschiedene Komponenten bedingt. Einerseits finden sich Vorbildfiguren im Diskurs gegenwärtiger Religiosität, die sich bereits (erfolgreich) gegen andere Experten- und Autoritätsfiguren gewendet haben und dies auch in einem öffentlichen Rahmen kundtun. Willigis Jäger ist hier im deutschsprachigen Raum mit Sicherheit eine der derzeit prominentesten Figuren, der kirchenchristliche Experten und ihrer Deutungshoheit über religiöse Elemente entge-

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gengestellt wird. Andererseits können bestehende Deutungshoheiten auch unter Berufung auf ein weiteres wichtiges Diskurselement gegenwärtiger Religiosität gelingen. Die Akteure betonen eindrücklich den Wert, den die Dimension der eigenen Erfahrung und Erfahrbarkeit für sie hat. Der Einsatz verschiedener Strategien ermöglicht den Akteuren so eine religiöse Identitätsbildung, die sich mit Diversität und Dynamik vereinbaren lässt. Von zentraler Bedeutung in den Narrationen sind auch die Positionierungen, die zum einen direkt vorgenommen werden, wenn sich die Akteure z. B. zu bestimmten Beschreibungskategorien wie religiös, spirituell oder esoterisch äußern. Über die Verwendung bestimmter dominanter narrativer Muster gelingen den Akteuren zum anderen jedoch auch implizit Positionierungen innerhalb des Diskurses. Insgesamt erscheint hier die Konstruktion eines »anderen« als wichtige Abgrenzungsfolie, über die einerseits Differenz zu anderen religiösen Diskursen, andererseits aber auch Äquivalenz zwischen Akteuren gegenwärtiger Religiosität hergestellt wird. Deutlich tritt in den Darstellungen organisierte Religion in Form der christlichen Kirchen als eine solche Abgrenzungsfolie hervor. Positionierungen als wesentliches Werkzeug diskursiver Konstruktionen werden später noch einmal ausführlicher aufzugreifen sein. Sichtbarkeit und Materialität erhalten Diskurse über ihre Praxis. Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ist es vor allem die rituelle Praxis, in der sich – wie zu erwarten ist – der dynamische und flexible Umgang mit religiösen Elementen, bestimmten narrativen Mustern und Positionierungsstrategien fortsetzen. Im folgenden Kapitel soll daher ein Blick auf zwei ausgewählte Ritualpraktiken geworfen werden, um die Diskussionen um die Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität zu ergänzen.

5. Rituelle Praxis – Exemplarische Betrachtungen

Bei der Durchsicht älterer und neuerer Forschungsliteratur zu gegenwärtiger Religiosität stellt man fest, dass Rituale ein Bereich sind, der bislang kaum ausführlich beschrieben wurde. In quantitativen Untersuchungen wurde bisher – falls überhaupt – nach der Regelmäßigkeit der Durchführung von Gebeten und Meditationen gefragt, eine ausdifferenzierte Erhebung liegt bislang jedoch noch nicht vor. Einen Einblick in die Seminar- und Workshopkultur gegenwärtiger Religiosität in den Niederlanden mit einem ersten Versuch der Systematisierung der hier angebotenen »Techniken« und Rituale findet sich bei Anneke H. van Otterloo.1 Sie zeigt u. a. auf, dass Körperarbeit hier eine wichtige Rolle spielt. Die australische Soziologin Catherine Garrett untersucht hingegen in Auswahl die Transzendentale Meditation, Reiki und Yoga als Rituale »östlichen« religiösen Ursprungs, die nach ihrem Urteil »the potential to transform the meaning of suffering« besitzen.2 Dieser, auf die Wirksamkeit gerichtete und in vielen Punkten die religionsgeschichtlichen Kontexte ausblendende Ansatz kann stellvertretend für eine Reihe weiterer Arbeiten gesehen werden, in denen vor allem die »effects« neureligiöser ritueller Praktiken untersucht werden, oftmals von einem klinisch-psychologischen Standpunkt aus.3 Einen anderen Ansatz wählt Olav Hammer mit seiner Rekonstruktion ritueller Erfahrung anhand von Narrationen aus literarischen Bestsellern.4 Er stellt Erzählungen zu Heilungen, Wahrsagen oder Channeling vor, wie sie in verschiedenen Erzählperspektiven in bestehender Bestsellerliteratur zu finden sind. Ritualtheoretische Reflexionen liegen je-

1

Vgl. Otterloo 1999.

2

Garrett 2001, 339.

3

Vgl. Lee, Pittler & Ernst 2008.

4

Vgl. Hammer 2001.

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doch insgesamt bislang kaum vor. Diese Forschungslücke kann in der vorliegenden Arbeit nicht geschlossen werden, eine umfassende Beschreibung und Analyse aller rituellen Angebote und deren Nutzung im Diskurs gegenwärtiger Religiosität würde eindeutig den Rahmen sprengen. Im Anschluss an Hammers Ansatz werden im Folgenden Narrationen über Rituale, aber auch Ritualpräskripte herangezogen, die zumindest in zwei ausgewählten Teilbereichen eine detaillierte Beschreibung, Analyse und ritualtheoretische Reflexion zu rituellen Praktiken erlauben. Zur ersten Einführung in den Bereich der Rituale folgt zunächst ein Überblick über die Rituale, die aktuell besonders in den diskursiven Aushandlungen hervortreten. Im Anschluss werden exemplarisch zwei Ritualgruppen näher vorgestellt: Gebete und Heilrituale. Beide erweisen sich als äußerst bedeutsam im Diskurs gegenwärtiger Religiosität, sowohl im Hinblick auf den Stellenwert, den sie bei den Akteuren einnehmen, als auch im Hinblick auf die analytischen Aussagen, die auf ihrer Basis getroffen werden können. Im Rahmen des hier verfolgten Feldzugangs über Narrationen als Scharnier zwischen subjektiven und diskursiven Perspektiven werden auch die untersuchten Ritualgruppen über diesen Zugang erfasst. Konkret bedeutet dies, dass als Untersuchungsgegenstand nicht Beobachtungen zu tatsächlich durchgeführten Ritualen verwendet werden, sondern vielmehr Erzählungen über deren Performanz, die stellenweise ergänzt werden durch die Darstellung von Ritualpräskripten. Rituale sind ein zentraler Teil diskursiver Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität. In Anlehnung an Foucault können sie als Teil der diskursiven Praxis gefasst werden, in denen Diskurse Sichtbarkeit, materielle Präsenz und Handlungsdynamik erhalten. Gerade wenn diese Rituale kommuniziert oder im Rahmen eines Akteursnetzwerkes praktiziert werden, können sie als Handlungsort gesehen werden, in denen subjektive Aushandlungen um Religiosität eine gewisse Öffentlichkeit erhalten und somit als Anstoß für weitere diskursive Aushandlungen dienen. Wenn man eine konkrete praktische Umsetzung annimmt5, gewähren Erzählungen über Rituale sowie Ritualpräskripte einen Einblick in praktische Diskursdimensionen.

5

Bei einer retrospektiven Erzählung kann die tatsächliche Durchführung des Rituals angenommen werden. Inwieweit z. B. auf Homepages präsentierte Ritualpräskripte umgesetzt werden, lässt sich nicht mit Sicherheit erfassen. Man kann jedoch annehmen, dass zumindest die Person, die das Skript online stellt, entweder selbst eine Durchführung vorgenommen hat oder eine konkrete Performanz anderswo beobachtet und ihre Erfahrungen dann festgehalten hat.

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Doch vor dem Einstieg in den Überblick und in das Material muss zunächst noch geklärt werden, was überhaupt im Untersuchungskontext gegenwärtiger Religiosität unter einem Ritual zu verstehen ist bzw. verstanden werden kann. Die Begriffsproblematik verhält sich ähnlich wie mit dem Religionsbegriff und kann in gleicher Weise angegangen werden. In der Ritualforschung liegt eine Vielzahl unterschiedlichster Bestimmungsversuche vor, angefangen von Emile Durkheims und Marcel Mauss’ funktionalistischer Deutung von Ritualen als Instrument der Herstellung sozialer Integration, über weitere »Klassiker« wie Victor Turner, Stanley Tambiah oder Clifford Geertz, die in unterschiedlicher Manier performative, strukturelle oder kulturspezifische Perspektiven auf Rituale einnehmen6 hin zu neueren Ritualtheorien, in der die Dynamik und Komplexität von Ritualen betont wird.7 Einen Überblick über die generellen Möglichkeiten zur Konstruktion von Ritualdefinitionen gibt Jan Snoek in seinem Artikel »Defining Rituals«, in dem er vor allem auf die Möglichkeiten der Arbeit mit einem polythetischen Ansatz aufmerksam macht.8 Überblickt man gegenwärtige Ansätze zur Bestimmung von Ritualen, so fällt auf, dass ältere Klassifikationsmerkmale wie Stereotypie, eine Gemeinschaftsorientierung, Wiederholbarkeit oder Alltagsentrücktheit zunehmend kritisch hinterfragt werden und zugunsten der Betonung der Dynamik von Ritualkomplexen hintangestellt werden. Dieser Trend in der aktuellen Forschung hat bislang jedoch nur bedingt den Weg in die Aushandlungen ritueller Akteure gefunden. Wie im Folgenden gezeigt wird, werden hier überwiegend noch die älteren Klassifikationsmerkmale vertreten. Einige Beispiele deuten jedoch erste Rezeptionen aktueller wissenschaftlicher Diskussionen durch rituelle Akteure an.9 In Anlehnung an den Religionsbegriff gehe ich im Folgenden davon aus, dass eine letztgültige Definition von Ritual nicht möglich ist, sondern dass der Begriff mit seinen verschiedenen Bedeutungszuschreibungen im Rahmen diskursiver Aushandlungsprozesse stetig durch unterschiedliche Akteure verhandelt wird. Eine genaue Differenzierung zwischen religiöser Handlung bzw. Praxis und Ritual ist zum einen ohne die Festlegung statischer Definitionsmerkmale, die einem diskursiven Ansatz widersprechen, nicht zu leisten, zum anderen wäre eine solche Unterscheidung auch nur bedingt gewinnbringend. Denn die Ritualforschung bietet, unabhängig vom Definitionsproblem, heute ein reiches Spektrum an Untersuchungsinstrumenten, die spannende Perspektiven auf alle Arten

6

Für einen Überblick siehe Belliger & Krieger 2003.

7

Vgl. Michaels 2003, 7-10.

8

Snoek 2006.

9

Vgl. dazu Miczek 2012, 270 (FN 4).

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religiöser und ritueller Praxis eröffnen. In diesem Sinne wird im Anschluss ein weit gefasster Ritualbegriff verwendet, der ein vielfältiges Handlungsspektrum umfasst. Als einziges heuristisches Charakterisierungsmerkmal wird festgehalten, dass »geframte« Handlungen im Zentrum stehen, die von Seiten der Akteure mit einem meist intentional bestimmten Anfangs- und Endpunkt versehen werden. Auf Basis dieses Ansatzes folgt nun zunächst ein Überblick über verschiedene rituelle Praktiken im Diskurs gegenwärtiger Religiosität, bevor die Begriffsbestimmungen durch die Akteure näher beleuchtet werden.

5.1 R ITUALE

IM

D ISKURS GEGENWÄRTIGER R ELIGIOSITÄT

Das Spektrum ritueller Angebote im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ist enorm. Ein Zugang zu dieser Vielfalt kann über verschiedene Medien erschlossen werden. So existiert beispielsweise auf dem Buchmarkt eine breite Auswahl an Titeln zu den unterschiedlichsten Ritualpraktiken: »Himmlische Führung: Kommunikation mit der geistigen Welt«, »Die Heilkraft des Gebets«, »Heilung durch Selbstheilung« oder »Das Praxisbuch des Channelns« sind hier nur exemplarisch für viele weitere hunderte Titel zu nennen. Anleitungen zu Meditationen oder Heilritualen finden sich jedoch auch auf CD, DVD oder sind als Videos online zugänglich. Informationen und Präskripte zu Ritualen sind heute selbstverständlich auch über das Internet erhältlich: auf persönlichen Homepages, in Foren und Blogs werden sie ausgetauscht. Mit Sicherheit jedoch einer der meistgenutzten Aushandlungsorte für das Erlernen und die Anwendung der vielfältigen Rituale sind die Seminar- und Workshop-Angebote, die mittlerweile einen dichten Markt bilden. Auf Basis der Interview- und Internetmaterialien, die im Zuge dieser Untersuchung ausgewertet wurden, wird im Anschluss ein erster Überblick über einige derzeit populäre rituelle Praktiken gegenwärtiger Religiosität gegeben. Hierzu gilt es jedoch zu bemerken, dass dieser Überblick lediglich einen Grundeindruck der gegenwärtigen Situation bieten möchte. Die Forschungslage für den Bereich der rituellen Praxis ist – wie bei vielen Themen gegenwärtiger Religiosität – bislang noch dünn. Bei der Durchsicht älterer und neuerer Forschungsliteratur zum diskursiven Feld stellt man fest, dass Rituale bislang kaum ausführlich beschrieben wurden. Es liegen lediglich Einzel- oder Segmentstudien (z. B. aus dem Wicca-Bereich) vor, von denen Rückschlüsse auf den weiteren Diskurs gegenwärtiger Religiosität gezogen werden können.10 Eine Rekonstruktion ritueller Erfahrung unternahm Olav Hammer anhand von Narra-

10 Vgl. Greenwood 2000; Rensing 2007; Radde-Antweiler 2008a.

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tionen aus literarischen Bestsellern.11 Ritualtheoretische Reflexionen liegen jedoch bislang kaum vor. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Konstruktionen von Ritualen eine wesentliche handlungspragmatische Komponente religiöser Identitätsbildung darstellt. Dabei ist rituelle Praxis nicht nur als bloße Spiegelung der Konstruktion des religiösen Selbstbildes und der eigenen Lebenswelt zu betrachten. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die praktische Umsetzung und Performanz von Ritualen selbst ein wichtiger Teil der Genese bzw. Konstruktion von Identitäten darstellt. Im Ritual treten neben sprachlichen Komponenten, mit Hilfe derer in nicht-rituellen Settings vorwiegend Identitätsarbeit gestaltet wird, noch performative und ästhetische Komponenten hinzu, die den Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont der eigenen Identitätskonstruktion erweitern.12 5.1.1 Die Vielfalt ritueller Praxis: Ein Überblick Ein Segment im Bereich ritueller Praxis lässt sich heuristisch kategorisieren als Rituale der Orts- und Gegenstandsauszeichnung. Im untersuchten Material finden sich z. B. Schutzkreisrituale, Altarweihungen, Space-Clearings oder Räucherungen. Durch diese zeichnen die Akteure einen bestimmten Platz oder Gegenstand aus, wodurch jene entweder selbst Teil eines weiterführenden Rituals werden können oder nach diesem Ritual als rein gelten. Oft werden die Rituale sowohl als eigenständige Handlungen beschrieben, aber auch als Teile von umfassenderen Ritualkomplexen. Viele dieser Framing-Rituale13 weisen Kommunikationsaspekte zu meta-empirischen Wesenheiten auf. In den meisten Fällen werden zur Unterstützung der auszeichnenden Handlung Götter oder »Zwischenwesen« wie z. B. Engel angerufen und aufgefordert, mit ihren Kräften die Wirksamkeit des Rituals zu unterstützen. Auffällig ist, dass viele Rituale der Ortsund Gegenstandsauszeichnung dem rezenten Hexen-Diskurs entlehnt sind.14 Im Zuge einer wachsenden Popularisierung der Idee von guten und modernen Hexen, die auf »altes« Wissen zurückgreifen, ist zu beobachten, dass auch Rituale in diesem Bereich eine herausragende Stellung einnehmen. Diese werden inzwi-

11 Vgl. Hammer 2001. 12 Die bisherige Forschung zum Thema Identität und Ritual beschränkt sich weitgehend auf die Rolle von Ritualen bei identitätsbildenden Prozessen von sozialen oder religiösen Gruppen und ist auf politische Kontexte fokussiert. Zur neueren Forschung siehe Köpping 2006. 13 Zu Rahmungskonzepten generell in der Ritualwissenschaft siehe Krüger 2006. 14 Siehe dazu ausführlich Radde-Antweiler 2008a.

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schen nicht mehr ausschließlich in den einzelnen Covens vermittelt und praktiziert, sondern mit steigender Zahl sogenannter freifliegender Hexen ist eine kontinuierliche Ausdifferenzierung des Ritualangebots zu beobachten. Insbesondere in Printpublikationen aber auch im Medium Internet finden sich Anleitungen zu individuell gestaltbaren Liebeszaubern, Mondritualen oder Weihen.15 Von dort finden viele dieser Ritualentwürfe eine weite Verbreitung bei religiösen Akteuren, die sich selbst nicht als dem Hexen- oder Wicca-Bereich zugehörig beschreiben würden. Am weitesten verbreitet sind hier verschiedenste Versionen von Schutzkreisritualen, die an erster Stelle einen bestimmten Ort rituell rahmen. Dadurch soll sich der Ort zum einen vom umliegenden »normalen« Umfeld unterscheiden und zum anderen einen ausgewiesenen Raum bieten, in dem schließlich weitere Rituale vollzogen werden können. Zu den bekanntesten Ritualen dieser Art gehört das Pentagrammritual, das vorwiegend von Wicca oder freifliegenden Hexen verwendet wird, darüber hinaus aber seinen Weg auch in andere rituelle Praxen gefunden hat.16 Die Ursprünge dieses Rituals werden von den religiösen Akteuren bis zum Hermetic Order of the Golden Dawn bzw. einige Abwandlungen des Rituals auf Aleister Crowley zurückgeführt.17 Das Ritual liegt in zwei Versionen vor, als kleines oder großes Pentagrammritual, wobei sich die Ausformulierungen oftmals von Akteur zu Akteur unterscheiden können.18 Unter den Ritualen, die der Gegenstands- und Ortsauszeichnung dienen, finden sich eine Vielzahl individuell gestalteter Weihungen, Segnungen und Reinigungsrituale. Diese werden oft unter zu Hilfenahme von Räucherwerk oder Kerzen ausgeführt und können z. B. dazu dienen, Wohnräume zu segnen bzw. zu weihen oder Lebensmittel von »fremden« Energien zu reinigen. Meist stehen hier spezifische Vorstellungen von Energien im Hintergrund, von denen die Akteure ihre Umwelt durchdrungen sehen. Jedem Objekt oder Raum wird eine bestimmte energetische Schwingung zugeschrieben, die – je nach Bedarf und Notwendigkeit – von dem religiösen Akteur beeinflusst werden kann. Hierzu wird oftmals die Hilfe von bestimmten meta-empirischen Wesenheiten erbeten, wie

15 Zahlreiche Beispiele finden sich Radde-Antweiler 2008a, 119-180. 16 Siehe z. B. auf den Homepages »Atlantismagie« und »Charu«. Zugriff unter: http:// www.atlantis-magie.de, http://www.charu.de (beide verfügbar am 17.12.11). 17 In den Ritualbüchern A. Crowleys finden sich sowohl das kleine wie das große Pentagrammritual. Vgl. Crowley 1994, 618f. 18 Siehe beispielsweise Homepage »Hexenwelt«: Zugriff unter: http://www.hexenwelt. de /rituale/pentagrammrit.htm (17.12.11).

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z. B. bei den Schutzkreis- oder Reinigungsritualen ersichtlich wird.19 Welche Entität angerufen wird, hängt dabei stark von den persönlichen Vorlieben des jeweiligen Akteurs ab. Ein weiterer Bereich ritueller Praxis im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ist das Kartenlegen. Es existieren hier eine Reihe unterschiedlicher Kartendecks, mit denen die Akteure arbeiten und denen jeweils spezifische Wirkungskontexte zugeschrieben werden. So differenziert Andi im Interview beispielsweise zwischen Lenormand-, Tarot- und Engelkarten. Wie bei ihr ist auch bei vielen anderen Akteuren der parallele Gebrauch verschiedener Kartendecks zu beobachten. Ein vielfältiges Angebot ist über den kommerziellen Handel erhältlich20, aber auch private Anbieter entwerfen inzwischen verstärkt eigene Kartendecks und verkaufen diese privat. Insbesondere das Legen von Tarotkarten21 nannten viele Akteure in den Interviews als einen der ersten Bereiche gegenwärtiger Religiosität, mit dem sie sich initial befasst hatten. Bislang wurden die verschiedenen, aktuell verwendeten Arten des Kartenlegens kaum erforscht, auch Analysen unter der Perspektive »Ritual« sind nicht zu finden. Es sollte jedoch geprüft werden, inwieweit analytische und theoretische Konzepte aus der Ritualwissenschaft auch für diesen Bereich religiöser Praxis angewendet werden können bzw. welchen Mehrwert eine solche Perspektive für das Segment des Kartenlegens hat. Hierzu sind allerdings umfassende Studien erforderlich, die im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden können. Als weitere wichtige Rituale lassen sich Gebete bzw. Anrufungen und Meditationen identifizieren. Beides taucht sowohl in den Narrationen als auch auf den Homepages der befragten Akteure regelmäßig auf, ein Bild, das sich mit einem Durchblick weiterer persönlicher Homepages im Internet deckt. Wie im folgenden Kapitel noch ausführlich erläutert wird, sind insbesondere Gebete oft (noch) stark christlich konnotiert, weisen jedoch auch deutliche Transformationen und dynamische Anpassungen auf. Gebete können als Rituale der Kommunikation betrachtet werden, die sich von der Struktur her meist an eine extern adressierbare Entität richten (Gott, Engel, etc.). Bei Meditationen richtet sich der Aufmerksamkeitsfokus der Akteure hingegen eher nach innen, Selbsterforschung und

19 Siehe beispielsweise den Abschnitt »Ein Zuhause zum Wohlfühlen« auf der Homepage »Licht und Farbenspiel«: Zugriff unter: http://www.lichtundfarbenspiel.at/ Selbsthilfe.htm (17.12.11). 20 Z. B. »Engel-Orakel« von Doreen Virtue mit 44 Karten; »Lenormand Orakelkarten – Blaue Eule« von Marie-Anne A. Lenormand; »Die Heilung des Inneren Kindes – Kartenset« von Susanne Hühn. 21 Siehe einführend Decker& Dummett 2002.

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-entwicklung stehen hier im Vordergrund. Auch der Besuch imaginierter bzw. als nicht physisch präsent gedachter Räume oder Welten kann Ziel dieser Praxis sein. Die Vielfalt der Ausrichtung und der inhaltlichen Varianten ist jedoch unüberschaubar groß. Beide Ritualformen werden – wie vor allem aus den Interviews deutlich wird – primär im Privaten und allein von den Akteuren praktiziert. Die gegenwärtige Praxis der Meditation im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ist geprägt durch verschiedene Entwicklungen seit Beginn des letzten Jahrhunderts. Die Popularisierung des Zen-Buddhismus und dessen ritueller Praxis im Westen22 durch z. B. Daisetz T. Suzuki und Eugen Herrigel wie auch der Import und die Transformation von indischen Meditationstechniken im Zuge der 1970er und 80er Jahre (Yoga, Transzendentale Meditation) trugen wesentlich dazu bei, dass die unterschiedlichsten Meditationsformen gegenwärtig auf dem Markt der Religionen auch im deutschsprachigen Raum zu finden sind.23 Am Beispiel Yoga lässt sich allerdings bemerken, dass die Popularisierung dieser rituellen Techniken auch mit einer religiösen Entkernung einhergehen kann. Die Mehrzahl der Yoga-Praktizierenden im Westen sieht darin heute vielmehr eine sportliche oder der Entspannung dienende Betätigung als eine religiöse Praxis. Eine Systematik in die aktuell in religiösen Kontexten verwendeten Meditationsformen zu bringen, kann an dieser Stelle nicht gelingen. Zu groß ist die Vielfalt individuell entwickelter Ritualskripte.24 Ein weiteres Segment ritueller Praxis im Diskurs gegenwärtiger Religiosität sind Heilrituale und Channelings. Eine wichtige Komponente dieser Rituale ist die Kommunikation bzw. der Kontakt zu meta-empirischen Entitäten und damit

22 Einen Überblick über bestehende Forschungsliteratur zum Thema »Buddhismus im Westen« gibt z. B. Baumann 1997. Siehe dazu einführend auch Coleman 2001. 23 Ein ausführlicher historischer Abriss über Meditationstechniken im Westen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zwar liegen jeweils einzelne Studien zu z. B. gegenwärtiger buddhistischer Meditationspraxis in westlichen Ländern vor, eine zusammenschauende Darstellung, die unterschiedliche Rezeptionsstränge berücksichtigt, steht jedoch noch aus. Vgl. dazu u. a. Prohl 2002, 198ff. 24 Einige Beispiele finden sich auf folgenden Seiten: Homepage »Engelherz«. Zugriff unter: http://www.direkthomepage.de/user/engelherz. Homepage von »Jade«. Zugriff unter: http://magieheim.at/jade/entspannung.html. Forum »Allmystery«. Zugriff unter: http://www.allmystery.de/themen/gw2533. Homepage »Feuersprung«. Zugriff unter: http://www.feuersprung.de/index.php?option=com_content&view=category&layout= blog&id=62&Itemid=95. Homepage »Spiritual Circle«. Zugriff unter: http://www. spiritual-circle.com/content/meditation.html (alle verfügbar am 17.12.11).

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die Übertragung bestimmter Energien. In den unterschiedlichen Ritualen werden von den Akteuren verschiedene Figuren adressiert. Sie sind u. a.: • Gott, verstanden als höchstes, alles durchdringendes, energetisches Prinzip,







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das in Rhetorik und Narration klar von vermeintlich kirchen-christlichen Gottesvorstellungen abgegrenzt wird. Figuren aus dem christlichen Kontext, z. B. Jesus und Maria. Diese werden jedoch ebenfalls in Abgrenzung zu kirchen-christlichen Vorstellungen konzipiert. Engel, in einer fast unüberschaubaren Vielfalt. Zu den namentlich aus biblischen Schriften bekannten Engeln25 kommen eine Vielzahl weiterer Engel hinzu, die vor allem aus jüdischen Schriften des Mittelalters hervorgehen. Eine hierarchische Orientierung erfolgt in den meisten Fällen anhand des Ordnungsschemas des Pseudo-Dionysios Areopagita.26 Aufgestiegene Meister, die als Interaktionspartner bereits aus theosophischen Kontexten bekannt sind, hier »Mahatmas«, »Große Weiße Loge« oder »Bruderschaft von Shambala« genannt werden. weitere Licht-/Energiewesen, zu denen auch Naturwesen wie Elfen und Feen gehören. Verstorbene Personen, die mit ihren »energetischen Spuren« noch als präsent gedacht werden und deren Botschaften daher übermittelt werden können.

Welche meta-empirische Entität im Ritualkontext kontaktiert wird, entscheiden die Akteure meist nach individuellen Vorlieben bzw. nach persönlichem Bedürfnis. Die Ritualdurchführenden nehmen dabei von bestimmten Wesenheiten an, dass sie z. B. eher bei Gesundheitsproblemen oder in Liebesfragen helfen können. Andere sind bei Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen der richtige Ansprechpartner. Auf den Internetseiten der Akteure findet sich eine Vielzahl an Beispielen zu Ritualen, in denen diese Entitäten adressiert werden. Da Heilrituale in einem der folgenden Kapitel noch ausführlich präsentiert werden, soll an dieser Stelle des Überblicks abschließend noch das Channeling vorgestellt werden. Dies ist einer der wenigen Bereiche, zu dem zumindest einige religionswissenschaftlich orientierte Studien vorliegen. Das Thema wurde von Hanegraaff und Hammer aufgegriffen, die beide ihren Erläuterungen voranstellen, dass es in vielen religionsgeschichtlichen Szenarien

25 In der hebräischen Bibel werden erwähnt: Gabriel (Dan 8, 16), Michael (Dan 10,13.21; 12,1) und Raphael (Tob). 26 Vgl. Kap. 4.2.3.

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Mittlerpersonen gab und gibt, die zwischen Menschen und meta-empirischen Entitäten als Vermittler dienten. Dieses »revealed knowledge«27 oder diese »articulated revelation«28 wurde dann je nach historischem und kulturellem Kontext klassifiziert als schamanistische Vision, prophetische Schau, mystische Vision oder eben – im Kontext gegenwärtiger Religiosität – als Channeling. Dabei dürfe man jedoch nicht der umkehrenden Argumentation älterer Autoren wie Jon Klimo folgen, der das Konzept des Channeling in historische Szenarien übertrug und Channeling als »einen wesentlichen Bestandteil der Menschheitsgeschichte« bezeichnet.29 Hanegraaff schafft durch eine Perspektivendifferenzierung in seiner Beschreibung des Phänomens Channeling einen gewissen Kontextbezug: »›Channeling‹ is an emic term used in the New Age context to refer to the general etic category of ›articulared revelations‹«.30 Um diese emische Vorstellung von Channeling näher zu beschreiben, entwirft hingegen Hammer eine Arbeitsdefinition, mit der er sich einer Formulierung von Suzanne Riordan31 anschließt, allerdings unter Ergänzung einer konstruktivistischen Perspektive. Personen, die als Channel fungieren, beschreibt er wie folgt: [C]hannels typically present their messages as if they came from a source separate from theirs ordinary consciousness, and were accessed from these sources in states of trance through the use of ouija boards, by clairvoyant perception, mystical vision, automatic writing and other psychic or paranormal means.32

Unabhängig davon, welcher Definition man folgt, sollte klar sein, dass es sich bei Channeling um ein Phänomen handelt, das vor allem vor dem Hintergrund früherer Entwicklungen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und den gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen in den westlichen Ländern in den letzten Jahrzehnten zu verstehen ist. Bereits im amerikanischen und europäischen Spiritismus33 gelangten Personen in das Rampenlicht der frühen Massenmedien, die angaben, Durchsagen von Verstorbenen weiterzuleiten. Auch in theosophischen und anthroposophischen Kontexten war die Durchgabe von Lehren oder Botschaften nichts Ungewöhnliches, gleichwohl hier nicht mehr Verstorbene als

27 Hammer 2001, 370. 28 Hanegraaff 1998, 24; weiter 24-41. 29 Klimo 1988, 26. Zur Kritik siehe Hanegraaff 1998, 26. 30 Hanegraaff 1998, 27. 31 Vgl. Riordan 1992, 105-126. 32 Hammer 2001, 372 [Herv. i.O.]. 33 Vgl. Sawicki 2000; Maréchal 2011.

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Sender auftraten, sondern Aufgestiegene Meister und andere meta-empirische Wesen.34 Als die direkten Vorläufer heutiger Channelarbeit können jedoch erst die bekannten Medien der 1970er und 80er Jahre gelten. Jane Roberts channelte Seth, Helen Schucmann erhielt von Jesus Christus das rund 1100 Seiten starke Werk »Ein Kurs in Wundern« und J. Z. Knight überbrachte die Botschaften von Ramtha, einem Krieger aus dem »alten Atlantis«. Zu dieser Zeit kamen auch die ersten Handbücher für Interessierte heraus, die eine Anleitung zum Erlernen des Channelns vermittelten. Gegenwärtig ist Channeln in seinen verschiedensten Formen eine der zentralen »diskursiven Strategien«, die vor allem in Authentifizierungs- und Legitimationsnarrativen von religiösen Akteuren eingesetzt wird.35 In der gegenwärtigen Situation ist es für Akteure längst nicht mehr nötig, die Praxis des Channelns mit Hilfe von Do-it-Yourself-Handbüchern zu erlernen oder Seminare zu diesem Thema zu besuchen. Der Popularisierungsprozess dieses Phänomens führte gleichzeitig auch zu dessen Demokratisierung. Heutzutage ist es prinzipiell für jede Person möglich, die verschiedensten Wesenheiten, die im Diskurs gegenwärtiger Religiosität und darüber hinaus bekannt sind, zu channeln. Als Plattform für die Veröffentlichung und Verbreitung dieser Channelings dient in erster Linie das Internet. Bisherige Studien zum Thema Channeling fokussierten primär auf die Inhalte der vermittelten Botschaften (Hanegraaff, Riordan). Gegenstand der Untersuchung waren dabei die Publikationen bekannter Medien der 1970er und 80er Jahre mit einem Schwerpunkt auf dem US-amerikanischen Markt. Weniger stand die tatsächliche Praxis des Channelns im Vordergrund. Klimo ist einer der wenigen, der die unterschiedlichen Modi des Channelns näher beschreibt. In einzelnen Kapiteln erläutert er folgende Modi näher: • • • • • • • • •

Tieftrance Channeling im Schlaf / im Traum Leichte Trance Hellhörendes / hellsehendes Channeln Automatismen Automatisches Schreiben Ourija Brett, Planchette und Pendel Offenes Channeln Physikalisches Channeln36

34 Vgl. Hammer 2001, 380-393. 35 Vgl. ebd., 373. 36 Vgl. Klimo 1988.

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Diese unterschiedlichen Techniken sind vor allem aus der Literatur bekannt. Wie deren konkrete Umsetzung bei rezenten Akteuren aussieht, ist nicht erforscht. Bereits bei einem ersten Überblick über Akteursvorstellungen, die zum Thema Channeling auf persönlichen Homepages präsentiert werden, fällt die Vielfalt unterschiedlicher Definitionen und Begriffserklärungen auf. Die Beschreibungen der konkreten Praxis fallen allerdings im Rahmen der Webpräsenzen sehr kurz aus bzw. werden oftmals nicht näher erwähnt. Im Rahmen des rituellen Dienstleistungsangebots, das viele Akteure auf ihren Homepages präsentieren, werden online überwiegend Angebote unterbreitet, die konkrete Praxis findet offline statt. Abschließend zu dem Überblick über die rituelle Praxis lässt sich festhalten, dass ein reiches Spektrum unterschiedlicher Rituale vorliegt. Wichtig ist jedoch zu betonen, dass die vorgestellten Rituale oft nicht in ihrer beschriebenen Idealform zu finden sind. In eigens gestalteten Ritualkomplexen werden verschiedene Elemente ritueller Praxis miteinander kombiniert. Als ein Beispiel können hier die sogenannten »Engeltage« genannt werden, die von einer Akteurin durchgeführt und online veröffentlicht werden. In diesen Ritualkomplexen verbindet sie Elemente der Meditation, Gebete und Gesang mit Channelings verschiedener Erzengel.37 In diesem und vielen anderen Beispielen zeigt sich insgesamt deutlich eine Dynamik und Vielschichtigkeit, die sich u. a. darin bemerkbar macht, dass viele Akteure verschiedene Ritualformen verwenden und miteinander kombinieren. Akteure haben die Möglichkeit, auf eine Vielzahl religiöser und ritueller Elemente zuzugreifen und diese – teilweise selbstständig, teilweise unter Rückgriff auf bereits vorhandene Vorlagen – im Sinne ihrer individuellen Religiositätskonstruktion in der rituellen Praxis umzusetzen. Bevor nun diese Aushandlungsprozesse anhand der Beispiele näher betrachtet werden, soll im Folgenden noch ein kurzer Blick auf das Selbstverständnis der Akteure bei der Anwendung des Ritualbegriffs geworfen werden. 5.1.2 Was sind Rituale? Akteursvorstellungen Die zahlreichen Verweise auf verschiedene Rituale, die in den Interviewpassagen der vorangegangenen Kapitel erwähnt wurden, deuten bereits darauf hin, welche Bedeutung die rituelle Praxis bei den Akteuren gegenwärtiger Religiosität besitzt. Über die Erfahrungsdimension, die in entsprechenden Narrationen im Zuge der individuellen Identitätsarbeit reflektiert wird, werden bestimmte Muster und Strukturen der eigenen Religiosität gefestigt. Für die religiöse Identitäts-

37 Vgl. Homepage »Ute Prema«. Zugriff unter: http://www.ute-prema.de/ (17.12.11).

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arbeit spielen Rituale insgesamt eine wichtige Rolle. Dabei lassen die Vorstellungen, was genau Rituale sind, eine hohe Variationsbreite und einen unterschiedlichen Grad von Reflektiertheit erwarten. Auffällig ist, dass sowohl in den Interviews als auch auf den Homepages der Befragten zwar eine Vielzahl von Ritualskripten zu finden ist, abstrahierende oder theoretisierende Reflexionen, was genau unter Ritualen zu verstehen ist, sind dabei jedoch äußerst selten. Insgesamt ist bemerkenswert, dass sich die lange im Rahmen ritualwissenschaftlicher Forschung etablierte Vorstellung von Ritualen als wiederkehrender Ausdruck immer gleicher Elemente38 bis heute in den diskursiven Aushandlungen der Akteure behauptet. Die Spannung zwischen dieser Ritualvorstellung und der Dynamik von Ritualen, die insbesondere im Diskurs gegenwärtiger Religiosität sehr präsent ist, ist ein wichtiger Punkt, der in den narrativen Ausformulierungen der Akteure und in der Reflexion der individuellen Ritualpraxis berücksichtigt wird. Entsprechend der eigenen Vorstellungen über das Konzept »Ritual« kann es jedoch auch zur partiellen Verwerfung oder sogar zur vollständigen Ablehnung des Begriffs für die eigene religiöse Praxis kommen. Anhand der folgenden Beispiele können eben angesprochene Punkte erläutert werden. Die Basis dafür bilden sowohl Interviewpassagen, als auch Zitate von persönlichen Homepages. In einem Interviewauszug von Andi lässt sich nachzeichnen, wie sie auf die Frage, was genau für sie ein Ritual ist, eigene Reflexionen dazu entwickelt: Andi: Ein Ritual ist eben, wenn ich eine bestimmte Szene oder ein bestimmtes immer wieder gleich mache, also zum Beispiel eben bei den Hexen ist es sehr viel, da wird sehr viel mit Ritualen gearbeitet. Die machen erst einen Kreis aus Salz oder irgendwie nen Schutzkreis und dann müssen bestimmte Dinge auf diesem Altar stehen. Also ich kenn mich da jetzt nicht so genau aus und oft zieht man ein bestimmtes Ritualgewand an oder ein Gewand an, ein eigenes. Das ist so ein Ritual, wo immer diese gleichen Dinge verwendet werden und immer die gleichen Sachen gemacht werden. Und es gibt eben auch Rituale, wo ma immer zur gleichen Zeit, also jeden Morgen, das sind so Rituale für mich. Und das hab ich jetzt nicht, wo ich, wo ich sag, ich mach jetzt jeden Tag das gleiche oder, wie gesagt, außer den Einweihungen, wo das eben so vorgegeben ist, hab ich jetzt nicht wirklich etwas, wo ich sag, ich hab so richtig Rituale. Also bei mir ist alles ziemlich – ok, das am Abend könnte man sagen, das mach ich täglich, dass ich mich einfach bedank. Aber sonst gibt’s nix, wo ich jetzt sag, ich mach das jeden Tag gleich oder da gibt’s was, was ich da hab, nicht in dem Sinn.

38 Einen Überblick über wissenschaftliche Begriffsdefinitionen gibt Michaels 2003.

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Zunächst ist zu beobachten, dass Andi als Merkmal von Ritualen die Wiederkehr immer gleicher Elemente betrachtet. Am Beispiel von Hexenritualen wird deutlich, dass diese gleichen Elemente sich sowohl auf Handlungen im Ritual, wie auch auf rituelle Gegenstände bzw. auf die rituelle Rahmung beziehen können. Sie gibt jedoch keinen Hinweis, warum sie zur Erläuterung genau den Bereich der Hexen auswählt, hat sie doch, wie sie selbst betont, in diesem Feld keinerlei Erfahrung. Das Merkmal der Wiederholung dehnt sie noch auf die zeitliche Ebene aus. Andi definiert Rituale über »immer die gleichen Sachen« und »immer zur gleichen Zeit«. Wie sich im Folgenden zeigt, kann sie mit dieser Auffassung von Ritualen die eigene religiöse Praxis nur schwer in Bezug setzen. Im einsetzenden Reflexionsprozess findet sie dann aber zwei Dinge, die sie bei sich selbst als Ritual bezeichnen könnte: die (Reiki) Einweihungen und ihre allabendlichen Danksagungen. Betrachtet man jedoch die übrigen Interviewteile, so ist bemerkenswert, dass sie zuvor viel über ihre Heil- und Channelarbeit erzählt hat und den Akt des Gebets als äußerst bedeutsam für ihre religiöse Praxis hervorhebt. All dies kann sie nicht mit ihrer eben entwickelten Ritualvorstellung in Einklang bringen, da das Merkmal der Wiederkehr von immer gleichen Elementen nicht gegeben ist. Die Konsequenz daraus ist, dass aus Perspektive der Akteurin eine Übernahme des abstrakt formulierten Ritualbegriffs nur sehr beschränkt möglich ist und große Teile ihrer religiösen Praxis daher als nicht-rituell gefasst werden. Ein ähnliches Ritualkonzept findet sich z. B. auch bei Michi, die allerdings in der individuellen Reflexion ihrer Ritualpraxis deutliche Veränderungen vornimmt. Michi: Also ein Ritual, ursprünglich hätte ich jetzt gesagt, früher, ein Ritual hat was mit Religion zu tun oder vielleicht Hexen machen noch Rituale oder Zauberer und jetzt spricht man ja schon bei Kindern von Einschlafritualen. Also eine Wiederholung von etwas, immer wieder immer wieder das Gleiche. Das ist ein Ritual, ist bei mir, sind Rituale. Ich bin da jetzt nicht so ein Perfekter, zum Beispiel, wenn ich da diese Kerzen da anzünde, dann sieht das bei mir doch jeden Abend immer wieder anders aus. Ja also so ganz fest mach ich’s auch nicht, immer wieder gleich, aber das ist für mich jetzt zum Beispiel ein Ritual. Oder dieses Beten ist für mich ein Ritual oder dieses, dieses raus gehen an die frische Luft, wenn ich das Gefühl hab, dass ich von schlechten Energien behaftet bin oder dass ich total gestresst bin oder so. Dass ich dann raus geh und mir vorstelle, dass das Licht durch mich durch geht, durch jede Zelle und alles raus bringt, nach unten durch die Fußsohlen, durch die Erde zurück gibt, so ne Art Kreislauf. Das ist für mich ein Ritual, das sind für mich Rituale.

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Bevor Michi auf das ihrer Meinung nach charakterisierende Merkmal von Ritualen, die »Wiederholung« von gleichen Elementen zu sprechen kommt, differenziert sie zunächst die Kontexte. Sie sieht Rituale ursprünglich ausschließlich in religiösen Zusammenhängen verortet. Interessant ist hier, dass sie ebenfalls auf »Hexen« und »Zauberer« als ritualpraktizierende Gruppe zu sprechen kommt. Sie bemerkt, dass es offensichtlich in heutiger Zeit zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Begriffs gekommen sei. Als Beispiel nennt sie aus dem pädagogischen Bereich die »Einschlafrituale«, die auch von einer weiteren Akteurin angeführt werden.39 Michi schließt mit einer implizit idealtypischen Formulierung des Ritualkonzepts an: »eine Wiederholung von etwas immer wieder, immer wieder das gleiche«. Der idealtypische Charakter dieser Formulierung tritt erst durch den folgenden Satz zu Tage, in dem Michi das Konzept für ihre eigenen Handlungen relativiert. Sie selbst sei nicht ein »Perfekter« (Ritualpraktizierender), ein Umstand, den sie im Folgenden anhand von drei kurzen Beispielen erläutert: Kerzen-Wunsch Ritual: Dies hatte Michi bereits in einem vorherigen Interviewteil erläutert. Jeden Abend schreibt sie einen Wunsch auf einen Zettel, den sie für jemand anderen ausspricht und zündet das Papier danach an zwei farbigen Kerzen an, die jeweils einem Erzengel zugeordnet sind. Neben den sich ändernden Wünschen nimmt sie auch eine Veränderung bei den Kerzen vor: »und bei der roten Kerze, des hab ich jetzt bisschen abgeändert, normal müsst se rosa sein, des steht für mich für die Energie vom Erzengel Chamuel und des blaue is vom Erzengel Michael der Schutz«. Woher sie das Ritual übernommen hat und auf welchen »Normalfall« sie sich daher bezieht, bleibt unklar. Gebete: Diese stellen einen wichtigen Bestandteil in Michis religiöser Praxis dar. Die Bandbreite der vollzogenen Gebete reicht dabei von freiformulierten, selbst erdachten Gebeten bis zur Verwendung von traditionellen Gebetstexten wie dem Vater Unser. Reinigungsritual: Bei Michi wird ein Spaziergang in der Natur durch die entsprechende Imaginationsarbeit zu einem rituellen Vorgang, der allerdings jedes Mal anders verläuft und von ihr deshalb als Beispiel für ein nicht-idealtypisch gestaltetes Ritual angeführt wird.

39 Siehe nächstes Beispiel.

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Wie Michis Ausführungen zeigen, werden individuelle Ritualausformungen trotz der Abweichung zu dem idealtypischen Ritualkonzept dennoch als Rituale verstanden. Das Ritualkonzept, das über lange Zeit sowohl in Wissenschaft wie Gesellschaft als dominant verhandelt wurde, kann in individualreligiöser Perspektive auf die eigene rituelle Praxis ausgedehnt werden. Die damit einhergehende Abweichung von dominanten Konzepten, die sich insbesondere durch die Betonung der dynamischen Elemente von Ritualen zeigt, ist für die Akteurin problemlos möglich. Auch auf den Internetpräsenzen finden sich Erläuterungen darüber, was sich die Akteure unter Ritualen vorstellen. Allerdings ist hier zu bemerken, dass abstrakte Reflexionen, die diese Thematik aufgreifen, nicht häufig zu finden sind. Auf der Homepage »Triodion« ist eine dieser Reflexionen zu lesen, in der die Autorin unter dem Punkt »Ceremonia« Folgendes ausführt: [alle Fehler sic!] Auf dieser Seite möchte ich mich mit den Begriffen Ritual und Zeremonie eingehender befassen. Doch zuvor ist es wichtig einige Wort-Erläuterungen in diesem Zusammenhang zu differenzieren. Folgende Begriffe, alphabetisch geordnet, werden im Einzelnen erläutert: Gewohnheit, Handeln, Handlung, Ritual, Tat, Zeremonie. Für jede magische Praxis, sind Handlungen, Rituale und bisweilen Zeremonien etwas Untrennbares, und gehören, von ihrer Wertigkeit, genau wie das theoretische Grundlagen-Wissen zur angewandten Magie. Gewohnheit: Eine Gewohnheit ist eine Verhaltensweise die durch häufiges wiederholen, meist automatisch und unbewusst vollzogen wird. Ihr fehlt meist der Aspekt des Bewussten, besser gesagt des bewussten Handelns. … Ritual: Ein Ritual, ist ein nach genauen Regeln ablaufendes Geschehen. Meist aus mehreren einzelnen Handlungen bestehend. Das Ritual bezieht seine Kraft aus der Wiederholung.… Zeremonie: mt Zeremonie (lat.ceremonia) wird eine feierliche, förmliche Ritual-Abfolge bezeichnet, welche nach esten und traditionellen Regeln abgehalten wird. Jetzt komme ich zu den einzelnen Differenzierungen und Beispielen: … B-Bewusst gestaltete Gewohnheiten (=Handlung), können zu einem Ritual zusammen gefasst werden: as für Kinder so wichtige »zu Bett geh Ritual« z.B. bestehend aus Zähne putzen, Schlafanzug anziehen, ärchen vorgelesen bekommen... ...Schlafen gehen. C-Um eine Gewohnheit bewusst zu gestalten, anders gesagt der Aspekt der Gestaltung selbst, bedarf er konkreten Auseinandersetzung mit Hilfe unserer Kreativität und Phantasie. Phantasie, Kretivität nd konkrete Auseinandersetzung sind die »Rezeptzutaten« aus denen sich eine gestaltete »Gewohnheit« zu einem Ritual entwickelt.

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D-Damit aus einem Ritual eine Zeremonie wird, braucht es den heiligen, feierlichen Moment. Sobald man, beim »zu Bett geh Ritual« auch ein Abend Gebet einfügt, kann es zu einer »Schlafen gehen Zeremonie«werden. Die Übergänge von notwendiger Gewohnheit, Ritual und Zeremonie können fliessend sein.40

Die Abhandlung der verschiedenen Begriffe wird von der Autorin in den Kontext der »angewandten Magie« gestellt, ein Bereich, der sich ihrer Meinung nach besonders durch spezielle Handlungen, nämlich Rituale und Zeremonien, auszeichnet. In der Differenzierung der Begriffe »Gewohnheit«, »Ritual« und »Zeremonie« wird deutlich, dass ersteres sich nach Meinung der Autorin vor allem durch den Grad der Bewusstheit unterscheidet. Als Hauptmerkmal von Ritualen wird, wie in den Beispielen zuvor, der Aspekt der Wiederholung genannt. Des Weiteren kommt ein Element zum Ritualkonzept hinzu, das bei Michi und Andi nicht betont wurde. Während beide auf inhaltlicher und formaler Ebene die stetige Wiederholung immer gleicher Elemente als charakteristisch für Rituale erachteten, wird hier nur die Regelhaftigkeit von Ritualen in den Vordergrund gestellt. Eine Zeremonie wird im Folgenden als eine »förmliche Ritual-Abfolge« gefasst, bei der auch die zu Grunde liegenden Regeln betont werden. Das hier nachgezeichnete Ritualbild ist ebenfalls stark geprägt von Vorstellungen über Rituale, bei denen insbesondere die Statik, Regelhaftigkeit und Repetivität betont werden. In den Beispielen, welche die Seitenbetreiberin im Folgenden anführt, wird allerdings deutlich, dass sie auch kreative Elemente mit Ritualen in Verbindung bringt. So kann eine gewohnheitsmäßige Handlung durch eine bewusste Gestaltung zu einem Ritual gemacht werden. Entscheidend sind hierfür die Aspekte der »Kreativität und Phantasie«, aus denen sich unter Anwendung bestimmter »Rezeptzutaten« bzw. ritueller Bausteine, ein Ritual entwickeln lässt. Rituale sind somit nicht an traditionelle Überlieferungsketten gebunden, sondern können nach Meinung der Autorin – unter den »richtigen Voraussetzungen« – selbst geschaffen werden. Als Beispiel nennt auch sie den Bereich der »ins Bett geh Rituale«, unter die auch die von Michi bereits angeführten »Einschlafrituale« fallen.41 Es wird weiterhin deutlich, dass derart entwickelte Rituale zudem einen

40 Homepage »Triodion«. Zugriff unter: http://triodion.oyla4.de/cgi-bin/hpm_homepage. cgi?skip=27146776|||triodion (10.01.12). 41 Bereits ein Blick auf den Buchpublikationsbereich, aber auch auf aktuelle Diskussionen im Internet zeigt, dass im Gebiet der Kinder- und Jugendpädagogik Rituale ein wichtiges Thema sind. Vgl. exemplarisch Salamander & Kunze 2008; Langlotz & Bingel 2008.

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zeremoniellen Charakter erhalten können, wenn, so die Autorin, ein »heiliger, feierlicher Moment« eingefügt wird. Im Gegensatz zu den zuvor genannten abstrakten Erläuterungen wird in der Formulierung des Beispiels eine Zeremonie zu einer dezidiert religiösen Ritualabfolge. Neben normalen, bewusst gestalteten Handlungen werden dabei auch religiöse Elemente hinzugenommen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass theoretische Reflexionen über Rituale von Seiten der Akteure zwar vorgenommen werden, diese aber in den Interviews ausschließlich auf konkrete Nachfrage erfolgten und sich auch im Internet nur wenige solcher Reflexionen finden. Unter 237 ausgewählten Homepages aus dem deutschsprachigen Bereich gegenwärtiger Religiosität im Internet fanden sich nur auf 7 Seiten Ausformulierungen von religiösen Akteuren. Wie die folgenden Kapitel jedoch zeigen, steht dieser geringen Repräsentanz eine Vielzahl von spezifischen Ritualbeispielen in Form von Präskripten und Beschreibungen gegenüber. In den Ausformulierungen der Akteure zum Thema Rituale wird deutlich, dass hier ein Ritualkonzept vorherrscht, das stark die statischen und repetitiven Elemente von Ritualen betont. Angaben dazu, woher die Akteure dieses Konzept rezipiert haben, finden sich nicht. Es kann jedoch angenommen werden, dass hier auf diskursive Aushandlungen über das Thema Rituale zurückgegriffen wird, wie sie in allgemein gesellschaftlichen Bereichen vorliegen. Wie oben bereits erwähnt, scheint die gesamtgesellschaftliche Aushandlung zum Thema Ritual stark durch Ritualkonzeptionen beeinflusst worden zu sein, die in der wissenschaftlichen Forschung teilweise bis in die jüngste Zeit hinein dominant waren.42 Da das Thema bereits früh von einer Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen bearbeitet wurde, bildeten sich in Bezug auf die Gegenstandsbestimmung bald unterschiedliche Zugänge heraus. Während soziologische Ansätze oft nach der Funktion von Ritualen fragten und als definitorisches Kriterium häufig den gemeinschaftsstiftenden Aspekt von Ritualen in den Vordergrund rückten, ging es in psychologischen Studien vordergründig um die Wirksamkeit von Ritualen im Spiegel der individuellen menschlichen Entwicklung.43 Überblickend kann jedoch festgehalten werden, dass in ethnologischen, soziologischen, theologi-

42 Erst im Zuge zunehmender Reflexionen im Umfeld des sog. postmodernen Denkens (vielfach konstatiert in den sog. »turns«), kommt es in den letzten Jahrzehnten zu einer immer stärkeren Betonung dynamischer Komponenten auch in Ritualen. Diese Entwicklungen schlugen sich schließlich auch in der Gründung eines DFG Sonderforschungsbereichs »Ritualdynamik« nieder, dessen Umfeld die vorliegende Arbeit entstammt. 43 Bellinger & Krieger 2003, 7.

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schen und psychologischen Reflexionen über Rituale besonders deren Repetitivität, Unveränderlichkeit, Formalität und häufig auch der Gruppenbezug in das Zentrum definitorischer Bemühungen gerückt wurde. Wie die kurzen Ausschnitte aus den Interviews und der Webpräsenz zeigen, werden oftmals genau diese Elemente auch von nicht-wissenschaftlichen Akteuren als Grundmerkmale von Ritualen bestimmt. Besonders stark treten die Repetitivität und die Verwendung immer gleicher Elemente hervor. In Spannung tritt diese Konzeption insbesondere dann, wenn die religiösen Akteure ihre individuelle rituelle Praxis hierzu in Bezug setzen. Erst durch die Abkehr vom Begriff Ritual oder dessen Modifikation gelingt es den Akteuren schließlich, ihre religiöse Praxis als rituell zu begreifen. Nachdem aufgezeigt wurde, welche Schwerpunkte akteursgebundene Konstruktionen des Begriffs Ritual aufweisen, gilt es nun diese zum einen mit dem reichen Material zu Ritualen, das sich in den hier verwendeten Quellen findet, in Bezug zu setzen. Zum anderen soll eine Anbindung an wissenschaftliche Ritualreflexionen geschaffen werden. Wenn von Seiten der Forschung ein flexibles und dynamisches Modell von Ritualen entworfen wird, kann es gelingen, eine Vielzahl von Phänomenen unter der »Perspektive Ritual« zu erfassen und auszuwerten. Akteursgebundene Konstruktionen des Begriffs stellen dabei nur einen Untersuchungsbereich dar, der nicht als definitorische Grenze einzusetzen ist, sondern vielmehr durch die vorhandenen Argumentationsstrukturen – was ist ein Ritual, was nicht – Aufschlüsse z. B. über die Rezeption bestimmter dominanter Ritualbilder zu geben vermag. Der hier verwendete Ritualbegriff hingegen kann durch seine Flexibilität den Untersuchungshorizont auch auf Phänomene richten, die durch ein eng gefasstes Ritualraster hindurch fallen würden. Auf theoretischer und analytischer Ebene bietet die »Perspektive Ritual« hilfreiche Applikationen, die eine adäquate Erfassung und Bearbeitung der entsprechenden religiösen Praxis gestatten. Hierzu zählen u. a. Überlegungen zur Rahmung der rituellen Handlung, der Konstruktion von Wirksamkeit, dem Umgang mit veränderten Praxisbedingungen oder der Verhandlung ritueller Autoritätsstrukturen durch die Akteure. Einige dieser Aspekte werden im folgenden Kapitel ausführlicher thematisiert, da sie als Anknüpfungspunkt für die diesen Teil abschließenden Überlegungen zur Verknüpfung von ritueller Praxis, Religiositätskonstruktionen und Diskurs dienen können. 5.1.3 Ritualtheoretische Perspektiven Einer der zentralen Punkte gegenwärtiger Religiosität, der bereits in der Analyse der biographischen Religiositätskonstruktionen deutlich wurde, ist die Möglich-

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keit zur dynamischen Formung von Religiosität. Auf der Basis verschiedenster narrativer Muster und Positionierungsleistungen werden unterschiedliche religiöse Elemente im Rahmen eines biographischen Entwurfs aufgegriffen, integriert und teilweise auch transformiert. Anhand einiger bereits zitierter Beispiele lässt sich als Ausgangspunkt für die folgenden exemplarischen Betrachtungen annehmen, dass sich ähnliche dynamische Prozesse auch im Bereich der rituellen Praxis finden. Der Begriff der Praxis wurde jüngst von Christoph Wulf im Band »Theorizing Rituals« thematisiert. Er bemerkt, dass der Praxis-Begriff noch nicht sehr lange Teil ritualwissenschaftlicher Diskussionen ist. Auf Basis kultur- und kommunikationstheoretisch orientierter Ansätze fand er Eingang bei u. a. Catherine Bell44 und Ronald Grimes, bei weiteren Autoren wie Stanley Tambiah und Richard Schechner wurde er eher unter Berücksichtung performativer Aspekte besprochen.45 Insgesamt weist der Praxisbegriff eine große Nähe zum Begriff der Performanz auf. Seit dem sogenannten performative turn46 ist in Bezug auf dieses Konzept jedoch zu beobachten, dass der Schwerpunkt in der theoretischen Reflexion verstärkt auf ein Performanzverständnis hindeutet, das entscheidend von theater- und sprachwissenschaftlichen Ansätzen geprägt ist.47 Der Praxisbegriff bildet eine umfassende Perspektive, in der performative Aspekte eine wichtige Rolle spielen, jedoch auch andere Punkte Beachtung finden.48 Wulf arbeitet drei Aspekte heraus, die im Zusammenhang mit dem Praxisbegriff besonders wichtig erscheinen: The first relates to the assumption that contemporary ritual praxis can be properly understood only in the context of a rediscovery of the body and the performative turn within cultural science. Here physical movements and gestures play a central role. Secondly, ritual praxis is closely connected to the hierarchies and power constellations of society and is structured in a way similar to habitus. Thirdly, ritual action depends upon practical ritual

44 Siehe auch Bell 1992. In Rekurs auf die Praxeologie Bourdieus legt Bell einen ritualtheoretischen Entwurf vor, in dessen Zentrum sie den Prozess des Ritualisierens stellt. Der Praxisbegriff bezieht sich bei ihr nicht nur auf performative Aspekte, sondern ist viel umfassender zu verstehen. Bell stellt bei der Betrachtung von Ritualisierungsprozessen eine Vielzahl von Akteursperspektiven und Kontexten in den Mittelpunkt. 45 Vgl. Wulf 2006, 396. 46 Vgl. dazu ausführlich Bachmann-Medick 2007, 104-143. 47 Vgl. Wirth 2002, 2-60; Wulf, Göhlich & Zirfas 2001, 9-24. 48 Einer starken Berücksichtigung der Kontexte und Akteursperspektiven im Sinne Bells wird hier zugestimmt.

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knowledge, which is acquired mimetically, involving stereotypical and ludic elements in its performance.49

Körperlichkeit, Hierarchie- und Machtkonstellationen und rituelles Wissen sind die drei wesentlichen Aspekte, die Wulf hier anspricht. Er weist damit implizit auf Rituale als diskursive Praktiken im Sinne Foucaults hin, in denen die Macht der Diskurse Verkörperung, eine materielle Dimension und damit auch Sichtbarkeit erlangen. Der Körper bildet dabei für Rituale eines der wichtigsten Werkzeuge, um die Symboliken und Akte eines Rituals auszudrücken und mit anderen zu kommunizieren. Das wechselseitige Verhältnis von Körper und Ritual drückt Wulf wie folgt aus: »In mastering ritual praxis through bodily movement, the body itself is ›mastered‹ by ritual praxis: it is civilized and cultivated.«50 Ronald Grimes fordert gerade im Hinblick auf die Untersuchung praktischer und performativer Aspekte von Ritualen bei den »observable, physically embodied, social acts«51 zu beginnen. Mit Nachdruck betont er: Whatever else rites are for, they are, first of all, for the doing. Whatever texts prescribe these rites, whatever intentions, feelings, or ideas participants carry into them, whatever meanings are read into them, and whatever consequences ensue from them, the social and physical enactment of rites is my preferred starting point for theorizing rituals.52

Gleichwohl Grimes zuzustimmen ist, dass eine beobachtbare rituelle Performanz mit Sicherheit einer der wichtigsten Ausgangspunkte für ritualanalytische und ritualtheoretische Untersuchungen ist, so ist doch anzumerken, dass eine Erfassung von »purer« Performanz und ritueller Praxis, gleichgültig, ob es sich um ausschließlich körperliche Handlungen oder um Sprechakte handelt, für den Forschenden nicht möglich ist. Die verkörperte rituelle Handlung bedarf zur wissenschaftlichen Erfassung und Analyse immer der medialen Vermittlung.53 Denn entweder spricht oder schreibt der Forschende über die Performanz, die er z. B. im Rahmen einer Feldforschung beobachtet hat, oder die Akteure selbst narrativieren ihre rituelle Praxis. Durch die ergänzende Betrachtung von z. B. Ritu-

49 Wulf 2006, 397. 50 Ebd., 401. 51 Grimes 2006a, 392. 52 Ebd. 53 Grimes erwähnt die Bedeutung der Mediation von Ritualen in seinem Artikel »Performance« (2006a) nur im Ausblick. Ausführlicher behandelt er das Thema in seiner Monographie »Rite out of Place. Ritual, media, and the arts« (2006). Grimes 2006b.

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alskripten kann so ein Bild von ritueller Praxis gezeichnet werden, bei dem jedoch die hierin bereits implizierten Interpretationsprozesse, die zwangsweise durch Versprachlichung einsetzen, mit reflektiert werden müssen. Im Fokus der folgenden Kapitel stehen daher Akteursnarrationen über die Praxis von Gebeten und Heilritualen. Wie an einigen Stellen deutlich wird, ergänzen die Erzähler ihre Schilderungen oft mit dem Vorzeigen bestimmter ritueller Gesten. Zudem wird auf rituelle Texte wie sie z. B. im Internet vorliegen, referiert. Wie im Überblick zu Ritualen gegenwärtiger Religiosität deutlich wurde, ist die Vielfalt insgesamt groß. Bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass hier viele Rituale zu finden sind, die erst in jüngerer Zeit entstanden sind und die teilweise individuell gestaltet werden. In der ritualtheoretischen Diskussion finden Themen wie die Invention und Transformation von Ritualen erst in der jüngeren Forschung verstärkt wissenschaftliche Beachtung. Basis für die anlaufenden Diskussionen war nicht zuletzt die steigende Bereitschaft der Ritualwissenschaft, von einem starren, durch Repetition und Formalität geprägten Ritualbegriff Abstand zu nehmen. Mit einer zunehmend reflexiven Perspektive, in der verstärkt die Dynamik von Ritualen in den Vordergrund trat, wurden von Seiten der Forschung auch Fragen nach Ada(o)ptions-, Transfer-, Transformations- und Inventionsprozessen gestellt. Differenzieren lassen sich diese Prozesse allerdings meist nur auf heuristischer Ebene, in der rituellen Praxis verschwimmen unter Berücksichtigung der Akteursperspektiven die Grenzen der einzelnen Prozesse zueinander. Als Adaptionen bzw. auch Adoptionen können Vorgänge bezeichnet werden, in denen bekannte Rituale aus anderen religiösen Kontexten in Text und Performanz unverändert übernommen bzw. unter mehr oder weniger starken Veränderungen angepasst werden. Zwar kommt es dabei oft zu einer Verschiebung des Interpretationskontextes, aus emischer Perspektive wird das Ritual jedoch nicht als neu wahrgenommen. Im Rahmen von Transfer- und Transformationsprozessen werden bekannte Rituale oder rituelle Elemente aus fremden oder bekannten Kontexten übernommen jedoch in Text und/oder Performanz verändert. Diese Prozesse können einen schwach bis stark innovativen Charakter besitzen und von Seiten der Akteure entsprechend als solche wahrgenommen werden. Unter Inventionen kann hierzu ergänzend der Prozess der Neuschaffung eines vorher in dieser Form noch nicht bekannten Rituals gefasst werden. Meist werden dazu bereits im Rahmen von Ritualen angewendete Elemente zu einem neuen Ritual zusammengesetzt, gänzlich neu geschaffene Rituale sind eher selten zu beobachten. Gerade diese inventiven Prozesse rücken in den letzten Jahren auch im Zuge der Untersuchung gegenwärtiger Religiosität in den Fokus der ritualwissenschaftlichen Diskussion. Thematisiert wird hier u. a. die Frage nach der Wirk-

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samkeit dieser inventiven Rituale. Während die ältere Forschung davon ausging, dass die Wirksamkeit eines Rituals an dessen Formalität und Repetivität gebunden ist und folglich dynamische Prozesse wie Ritualinvention die Wirksamkeit in Frage stellen, ist nach Catherine Bell in jüngerer Zeit ein Umdenken bei diesem Thema zu bemerken: The tendency to think of ritual as essentially unchanging has gone hand in hand with the equally common assumption that effective ritual cannot be invented. Until very recently, most people’s commonsense notion of ritual meant that someone could not simply dream up a rite that would work the way traditional ritual has worked.54

Doch insbesondere in Kontexten der europäischen Gegenwartsreligiosität ist auf Seiten religiöser Akteure in Bezug auf inventive, »designte«55 Rituale seit kurzem eine sich verändernde Praxis zu konstatieren.56 Akteure entwerfen zusammen mit professionellen Ritualdesignern z. B. individuelle Namensgebungsrituale für ihre Kinder, die sie nicht (länger) kirchlich taufen lassen möchten. Eigene Liebeszauber und Hausaltarweihungen werden im rezenten Hexendiskurs ebenso designt wie in eher säkular konnotierten Bereichen Scheidungs- oder Pensionierungsrituale. Die praktizierenden Akteure schreiben diesen Ritualen durchaus eine Wirksamkeit zu, sodass im Anschluss an Bell weiterführend zu fragen ist, ob die Bedenken hinsichtlich eines Zusammenhangs von Wirksamkeit und Inventionen gegenwärtig eher noch auf Seiten der Forscher bestehen als bei den religiösen Akteuren. Auch Bell führt für den gegenwärtigen Kontext einige Beispiele an, an denen sich inventive Prozesse bei Ritualen abzeichnen. Im Rahmen dieser Überlegungen verweist sie auch auf »New Age«. Nach Bell etabliere sich hier derzeit ein »new paradigm of ritual«, bei dem verstärkt der Ausdruck subjektiv-emotionaler Komponenten im Vordergrund stehe.

54 Bell 1997, 223. 55 Siehe dazu einführend Karolewski, Miczek & Zotter 2012. Ritualdesign im rezenten Hexendiskurs untersuchte Radde-Antweiler 2008a. 56 Der Althistoriker Angelos Chaniotis weist darauf hin, dass inventive Prozesse bei Ritualen bereits seit der Antike bekannt sind. Vgl. Chaniotis 2004, 1-5. Insofern wäre generell zu überprüfen, ob quantitativ in jüngster Zeit tatsächlich ein Anstieg von Ritualinventionen zu beobachten ist oder vielmehr diese Prozesse bereits in früheren kulturellen und historischen Kontexten vorlagen. Siehe dazu ebenfalls Karolewski, Miczek & Zotter 2012, 7-28.

214 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN The new paradigm is directed more inward than outward, apt to define community and society in terms of the self rather than the self in terms of the community. Metaphors of wholeness and attainment replace older ones of transcendence and deliverance.57

Nach Bell zieht das verstärkte inventive Vorgehen allerdings auch Änderungen im Hinblick auf die Legitimierungs- und Autoritätsstrukturen nach sich. Die Autorität von rituellen Spezialisten und die damit meist verbundene Einbettung in eine bestimmte religiöse Tradition können von den Akteuren nicht länger als legitimierende Grundlage für das Ritual erachtet werden. Kompensierend sei daher, so Bell, eine steigende Gewichtung der Wirksamkeitskompontenten zu beobachten.58 Inwieweit diese veränderten Zusammenhänge auch in vorliegendem Material nachzuweisen sind, bleibt zu beobachten. Direkt kritisch zu hinterfragen ist dagegen Bells Bestimmung der gegenwärtigen Situation als »neues Paradigma«. Gegenwärtige Entwicklungen im Bereich der Ritualinventionen korrespondieren zwar mit der rezent immer wieder postulierten Selbstermächtigung des religiösen Subjekts, sind jedoch global betrachtet lediglich ein Teil von vielschichtigen religionsgeschichtlichen Ausbildungen. Bei dynamischen Prozessen der Ritualgestaltung – sei es im Zuge von Inventionen oder Transformationen – ist weiterhin zu diskutieren, inwiefern der Pool ritueller Elemente, auf die die Akteure zurückgreifen, tatsächlich unbegrenzt ist und inwiefern diese Gestaltungsprozesse völlig intentional und individuell verlaufen. Betrachtet man exemplarisch die Gestaltung neuer, alternativ-kirchlicher Hochzeiten, so ist bei aller Innovationsfreude zu bemerken, dass auch hier meist Elemente verwendet werden (Ritualgegenstände: Kerzen, Ringe, Rahmung: geschmückter Ort, Handlung: Eheversprechen), die auch in sehr individuell abgewandelten Formen immer noch als Ritualelemente einer Trauung erkennbar sind. Wie in den nachfolgenden Betrachtungen zu Gebeten und Heilritualen deutlich wird, bewegen sich auch hier die Inventions- und Transformationsprozesse in einem – so die Annahme – diskursiv geregelten Rahmen. Für die Untersuchung solcher ritualdynamischer Prozesse ist – wie Bell bereits bemerkte – auch die Kategorie der rituellen Wirksamkeit von Bedeutung, über die den Akteuren vielfach eine Anbindung an Positionierungsleistungen gelingt. Unter Wirksamkeit wird im Folgenden eine akteursgebundene, diskursiv ausgehandelte Zuschreibung verstanden, die auf der Basis von beobachtbaren oder erfahrbaren Wirkungen nach einem rituellen Geschehen geleistet wird. Eine rituelle Handlung ist daher nicht per se wirksam, sondern es ist davon auszuge-

57 Bell 1997, 241. 58 Ebd.

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hen, dass es zur Konstruktion verschiedenster Wirksamkeiten z. B. auf körperlicher, sozialer oder ökonomischer Ebene kommen kann. Hier stellt sich eine Verknüpfung von zwei Punkten ein: Zum einen wird ein Phänomen zur Wirkung des Rituals erklärt. Zum anderen wird diese Wirkung in eine Beziehung zu Intentionen, Erwartungen und/oder zugeschriebenen Funktionen gesetzt. Daraus kann eine Aussage gewonnen werden, inwieweit die tatsächlichen Wirkungen den intendierten, erwarteten und/oder zugeschriebenen entsprechen.59

Wirksamkeit ist eine Größe, die in direkter Abhängigkeit zu den nach dem Ritual beobachteten Wirkungen steht. Allerdings ist hier zu vermerken, dass das Postulieren von Wirksamkeit nicht zwingend an das positive Befinden von Wirkungen gebunden ist. In der Ausdifferenzierung von Wirksamkeit können analytisch verschiedene Ebenen benannt werden, die jeweils unterschiedliche Aspekte von Wirksamkeit thematisieren. Die Autoren Johannes Quack, Paul Töbelmann und Jan Weinhold nennen hier folgende:60 • • • • • •

Wirkungserklärung (warum/wie wirkt das Ritual?) Wirkungssubjekt (wer wirkt im Ritual?) Wirkungsobjekt (auf wen oder was wirkt das Ritual?) Wirkungsebene (wo wirkt das Ritual?) Wirkungsmittel (wodurch wirkt das Ritual?) Wirkungsbedingungen (unter welchen Bedingungen wirkt das Ritual?)

Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass in der Beschreibung von Wirksamkeit viele Komponenten eine wesentliche Rolle spielen. Die Frage nach der leitenden Handlungsmacht (Agency) ist ebenso von Bedeutung wie die entsprechenden Kontexte oder materiellen Aspekte. Eine so verstandene Wirksamkeit ist stark von diskursiven Aushandlungen abhängig. Diese Einführung in Überlegungen zu ritualdynamischen Prozessen dient nun als Ausgangslage für die anschließenden exemplarischen Betrachtungen zu Gebeten und Heilritualen. Aspekte der Transformation, Invention und Wirksamkeit stehen dabei im Mittelpunkt. Bevor jedoch anhand der Interviews und weiterer Internetmaterialien eine Analyse ritualdynamischer Aspekte vorgenommen wird, werden beide Beispielgebiete jeweils überblicksartig eingeführt.

59 Quack, Töbelmann & Weinhold 2006, 2. 60 Ebd., 3f.

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5.2 G EBETE (A NRUFUNGEN ) Gebete und Anrufungen werden in diesem Kapitel zusammengenommen, da es sowohl von Seiten der religiösen Akteure als auch von Seiten der ritualwissenschaftlichen Forschung keine klaren Kriterien gibt, anhand derer Unterschiede zwischen beiden ausgewiesen werden können. Insgesamt sind die rituellen Formen des kommunikativen Kontakts zu meta-empirischen Entitäten nur marginal erforscht. Vielen gilt als Standardwerk zu diesem Thema immer noch Friedrich Heilers Monumentaldissertation »Das Gebet« aus dem Jahr 1918.61 Darin wird, wie in der damaligen phänomenologisch orientierten Religionswissenschaft üblich, das Gebet als eine sich durch alle Religionen dieser Welt hindurch ziehende rituelle Komponente ausgearbeitet. Als Idealtyp und damit Vergleichsstandard gilt das christliche Gebet. Als eigenständiges Thema kommen Gebete und Anrufungen bis heute in der religionswissenschaftlichen und ritualtheoretischen Literatur kaum vor. So ist es auch nicht verwunderlich, dass lexikalische Artikel zu diesem Thema vorwiegend auf ältere Literatur verweisen und konstatieren: »the general study of prayer is [still] undeveloped and naive.«62 Ein religionswissenschaftlicher Diskussionsband zum Thema »Opfer und Gebet« entstand 2005 unter der Herausgabe von Ulrich Berner, Christoph Bochinger und Rainer Flasche. Insbesondere letztgenannter bemüht sich in seinem »Versuch einer Vertiefung« erste, nicht phänomenologisch oder christozentrisch orientierte Überlegungen zu Gebeten anzustellen. Religionswissenschaftlich aber sollten wir Gebet im weitesten Sinne als verbale Kommunikation mit einer wie auch immer gearteten Unverfügbarkeit verstehen. Gebet stellt sich als Interaktionsritual dar, das ein Wünschen und Wollen transferiert und auf Antwort bzw. Erfüllung hofft.63

Zwar fordert er die Entwicklung eines »Fragenkataloges«, der es möglich machen solle, Gebete »ab- und ein[zu]grenzen«64 und das Thema von seiner bislang »ausschließlich christlichen Konnotation«65 frei zu machen. Inwieweit der Entwurf einer Typologie diesem Ziel entsprechen kann, bleibt jedoch fraglich. Einer Reflexion der Problematik des komparatistischen Arbeitens mit dem Gebetsbe-

61 Vgl. Heiler 1918. 62 Gill 2005, 7367. 63 Flasche 2005, 109. 64 Ebd., 108. 65 Ebd.

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griff geht Flasche nicht weiter nach. Auch weiterführende Hinweise zur Fassung von Gebeten unter einer ritualtheoretischen Perspektive stehen bei ihm, aber auch in anderen, aktuellen Diskussionen in der Ritualwissenschaft noch aus. Meist werden Gebete und Anrufungen als selbstverständliche Elemente von größeren Ritualkomplexen angesehen, die nicht weiter reflektiert werden. Wie die performative und präskriptive (falls überhaupt vorhanden) Gestaltung von Gebeten und Anrufungen in der tatsächlichen Praxis religiöser Akteure aussieht, ist bislang insbesondere für den europäischen Raum kaum erfasst. Dieses Defizit kann an dieser Stelle nicht aufgearbeitet werden, doch soll im Rahmen des folgenden Kapitels der Versuch unternommen werden, zunächst anhand von Gebets- und Anrufungstexten bzw. -skripten aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität einen ersten Überblick über Zusammensetzung und Einsatz der Rituale zu bekommen, bevor im Anschluss die im Rahmen der Studie interviewten Personen selbst zu Wort kommen. Die Terminologie »Gebet« und »Anrufung« wird an dieser Stelle trotz ihrer klar christlichen Prägung beibehalten, da die Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität die Begriffe selbst verwenden. Aufgrund ihrer religiösen Sozialisation in einem christlich geprägten Kontext operieren die Akteure mit Gebetsvorstellungen, die spezifisch aus einem europäischen und kirchlich-orientierten Umfeld bekannt sind. 5.2.1 Gebetstexte im Internet Bei der Betrachtung von Gebeten gilt es zunächst zu differenzieren zwischen Gebeten, die in umfassende Ritualkomplexe eingebaut sind, wie z. B. in liturgische Abläufe und die daher stark von den performativen Rahmen des Gesamtkomplexes geprägt sind, und Gebeten, die als allein stehendes Ritual ausgeführt werden. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf letzteren Fall, da die Thematisierung dieser Individualpraxis in der Forschung bislang weitgehend marginalisiert wird. Aus dem vielfältigen Spektrum der Gebete aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität werden für einen ersten Überblick zwei Schwerpunkte ausgewählt: Zunächst wird der Umgang der Akteure mit Gebetstexten vorgestellt, die aus der christlichen Tradition übernommen und teilweise verändert werden.66 Interessant erscheint gerade der Bezug auf den christlichen Diskurs, da die untersuchten Akteure einerseits einen deutlich christlich geprägten Sozialisationshintergrund aufweisen, andererseits – wie in Kapitel 4 gezeigt – das Chris-

66 Es gilt jedoch anzumerken, dass auch aus anderen religiösen Bereichen Texte übernommen werden. Besonders beliebt sind Texte aus dem Sufismus und (vermeintlich) buddhistische und hinduistische Ritualtexte (Mantren).

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tentum bzw. insbesondere die Kirche als wichtige Abgrenzungs- und Positionierungsfolie verwenden. Im Anschluss daran werden exemplarisch einige individuelle Gebetsentwürfe vorgestellt. Zunächst werden einführend einige Beispiele von Akteuren aus dem Internet angeführt, die sich im Diskurs gegenwärtiger Religiosität positionieren, aber gleichzeitig einen starken Rückgriff auf Ritualtexte aus dem (kirchen-) christlichen Diskurs aufweisen. Einige Gebetstexte werden dabei besonders oft eingesetzt, wie z. B. das Vater Unser, aber es finden sich auch ausgewählte Texte wie ein Heilgebet von Franz von Assisi. Interessant ist hier zu beobachten, dass es neben der unveränderten Übernahme der Texte auch zu transformativen Prozessen kommt, die sich später auch in den Interviews noch detaillierter nachvollziehen lassen. Doch zunächst zu den verschiedenen Gebetsversionen im Internet. Bei Akteuren, die sich – in welcher Form auch immer – dem spirituellen Heilen widmen, findet sich das bereits eben erwähnte Heilgebet, das seinen Ursprung in einem Gebet von Franz von Assisi hat. Dies ist z. B. der Fall auf der persönlichen Homepage von Christian Wünstel, der sich selbst als keiner Religion zugehörig beschreibt, in seiner Webpräsenz aber eine deutliche Nähe zu Engel- und Energiearbeit aufweist und ein großes Interesse an »indianischen« Traditionen zeigt. Hier findet sich eine Reihe klassischer christlicher Gebetstexte: Neben dem Heilgebet von Franz von Assisi ist auch das Vater Unser in seiner traditionellen Version67 genannt, Psalm 23 (Der Herr ist mein Hirte) und ein Gebet für die Welt, das auch auf vielen kirchlichen Webpräsenzen verwendet wird.68 Neben der Heil-Version gibt der Akteur auch die Original-Version an. Die beiden Textversionen lauten wie folgt:

»Heiler-Version«

Original-Version Franz von Assisi

Herr,

Herr,

mache mich zum Werkzeug Deines Heils:

Mache mich zum Werkzeug Deines

wo Krankheit ist, lass mich Heilung brin-

Friedens:

gen,

Dass ich Liebe bringe, wo man sich

wo es Verwundungen gibt, Hilfe,

hasst,

wo Traurigkeit herrscht, Trost,

Dass ich Versöhnung bringe, wo man

67 Nach Mt 6, 9-13. 68 Homepage »Christian Wünstel«. Zugriff unter: http://www.christian-wuenstel.de/ Praxis_fuer_Geistiges_Heilen.htm (11.11.09). Seite nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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wo Verzweiflung ist, Hoffnung,

sich kränkt,

wo der Tod ist, Einwilligung und Frieden.

Dass ich Einigkeit bringe, wo Zwie-

Gib, dass ich nicht so sehr danach trachte,

tracht ist,

mich zu rechtfertigen

Dass ich den Glauben bringe, wo Zwei-

als zu trösten,

fel quält,

gehorsam zu finden, als zu begreifen,

Dass ich die Hoffnung bringe, wo Ver-

geehrt zu werden als zu lieben....

zweiflung droht,

Denn dadurch, dass wir uns selber schen-

Dass ich die Freude bringe, wo Traurig-

ken, dadurch bringen

keit ist,

wir Heilung,

Dass ich das Licht bringe, wo Finsternis

dass wir zuhören, bringen wir Trost

waltet.

und durch das Sterben werden wir gebo-

O Göttlicher Meister,

ren zum ewigen Leben.

Hilf mir, dass ich nicht danach verlange

Amen

Getröstet zu werden, sondern zu trösten, Verstanden zu werden, sondern zu verstehen, Geliebt zu werden, sondern zu lieben. Denn: Wer gibt, der empfängt, Wer verzeiht, dem wird verziehen, Wer stirbt, der wird zum Ewigen Leben geboren. Amen

Im Bereich ritueller Dienstleistungen bietet der Akteur neben Rückführungen, Schwitzhüttenzeremonien und Meditationen auch Geistiges Heilen an, ein Kontext, dem das Heilgebet nach Franz von Assisi in diesem Fall durchaus zugeordnet werden kann. Dies zeigt sich auch auf weiteren Webpräsenzen, auf denen das Gebet ebenfalls verwendet wird. Auf der Homepage von »Lady Lurana«, die sich mit Engeln, Feen, Krafttieren und Aufgestiegenen Meistern beschäftigt, findet sich unter der Rubrik »Mediale Hilfe« das Heilgebet mit dem Hinweis: »Ein Gebet, das ich für mich sehr wichtig finde«.69 Ohne Hinweis auf Franz von Assisi thematisiert auch Ulrike Westiner das Gebet beim Thema »Heilende Hände«.70 Sie hat

69 Homepage »Lady Lurana«. Zugriff unter: http://www.lady-lurana.de/40635.html (02.11.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage. 70 Homepage »Weltenbaumleuchten«. Zugriff unter: http://www.weltenbaumleuchten. de/HeilendeHaende.html (10.01.12).

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zudem die Arbeit mit energetischen Heilsystemen, tibetische KlangschalenMassage und Engelseminare im Angebot. Ein Urheber für die Heiler-Version des Gebetstexts von Franz von Assisi lässt sich über die Internetseiten nicht ausmachen. Für Akteure gegenwärtiger Religiosität kann jedoch an diesem Beispiel angedeutet werden, dass die Adaption von Ritualtexten aus dem kirchen-christlichen Diskurs für sie problemlos möglich ist, insofern diese in neue Interpretationshorizonte eingepasst werden können. Für das Heilgebet nach Franz von Assisi bildet das Segment »Spirituelles Heilen« aus emischer Perspektive einen geeigneten Rahmen. Bemerkenswert ist, dass zumindest im Fall des Heilgebets bei allen hier angeführten Beispielen keine signifikanten Begründungsmuster verwendet wurden, um das Gebet für das rituelle Arbeiten der Akteure aufzunehmen. Im Hinblick auf das in den biographischen Narrationen herausgearbeitete Merkmal, dass kirchen-christliche Bezüge allgemein rhetorisch als Abgrenzungsmuster herangezogen werden und christliche Inhalte nur durch massive Reinterpretationsleistungen der Akteure in die narrativen Identitätskonstruktionen aufgenommen werden, ist hier um so erstaunlicher, dass dieses Muster für christliche Ritualtexte nicht zu greifen scheint. Dieses erste Beispiel zeigt, dass im Rahmen der medialen Darstellung von den Akteuren bei der Verwendung explizit christlicher Ritualtexte keine weiteren Begründungs- oder Rechtfertigungsmuster eingesetzt werden. Ob dies die Ausnahme oder den Regelfall darstellt, bleibt für das Medium Internet im Folgenden zu prüfen. Neben dem Argumentationsverhalten bzgl. der generellen Verwendung dieses Ritualtextes ist jedoch auch interessant zu beobachten, wie weitere Transformationen des angeführten Heilgebets vorgenommen werden. Die persönliche Homepage von Martin Sauter lässt anhand der vorhandenen Rubriken erkennen, dass neben Reiki und Engeln vor allem auch »Geistiges Heilen« ein dominierendes Element in der Religiositätskonstruktion ist. Es findet sich ebenfalls sowohl die Heilversion dieses Gebets, als auch eine extrem verkürzte und abgewandelte Version, die nur noch durch die verwendeten Vokabeln der ersten Zeile an die Heilversion erinnern: Gebet – Heilende Invokation: Herr, mach mich zu Deinem heilenden Werkzeug. Erfülle mich ganz mit dem Mitleid für alle, die leiden. Herr, lass Deine heilende und erneuernde Kraft durch diesen Körper strömen. Ich danke Dir und vertraue ganz auf Dich!71

71 Homepage »Ruhe und Stille«. Zugriff unter: http://home.arcor.de/ar0557940135/ Heilgebete/heilgebete.html (30.12.11).

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Die Betitelung des Textes macht klar, dass der religiöse Akteur in diesem Fall von einer Parallelisierung von »Gebet« und »Invokation« (Anrufung) ausgeht. In diesem kurzen Text werden bereits bekannte Ritualelemente aufgegriffen und reformuliert, andere Elemente treten im Rahmen eines individuellen Kompositionsprozesses hinzu. Transformationen und Reinterpretationen christlicher Ritualtexte können noch an einem weiteren Beispiel veranschaulicht werden. Auf Webpräsenzen wird sehr oft das Vater Unser sowohl in seiner klassischen Version, als auch in vielfältigen Abwandlungen präsentiert. Ein Beispiel dazu findet sich auf der Webpräsenz von Gabriele Palm72, die auf ihrem »spirituellen Weg« mit Ideen von Daskalos und Elementen der Neoadvaita arbeitet: Vater unser, (Unsere Quelle, unser Ursprung) Der Du bist im Himmel, (jenseits des Intellekts und der Vernunft) Geheiligt werde Dein Name, (Om) Dein Reich komme, (der Ozean des Friedens und der Liebe jenseits des Intellekts) Dein Wille geschehe, (Ich bin kein Ich, das etwas wollen könnte - ego-los will ich werden) Wie im Himmel (im Nicht-körperlichen, jenseits der Dualität) So auch auf Erden (im Körperlichen, im Reich von Ursache und Wirkung) Unser tägliches Brot gib uns heute, (unsere täglichen Aufgaben) Und vergib uns unsere Schuld, (die Fixierung auf das Ego und dies aus diesem Gedanken selbst produzierten Verhaftungen) Wie auch wir vergeben unser‘n Schuldigern, (wir verzeihen allen, die in unserem Leben Leiden verursacht haben) Und führe uns nicht in Versuchung (die Versuchung, an den Ego-Gedanken zu glauben) Sondern erlöse uns von dem Bösen, (von der Identifikation mit dem Ego und den Gedankenwesen, die an uns hängen)

72 Homepage »Inne Sein«. Zugriff unter: http://www.inne-sein.de/ (30.12.11).

222 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Denn Dein ist das Reich (der Ozean des Friedens und der Liebe jenseits des Intellekts) Und die Kraft ... (du erschaffst, erhältst und zerstörst) ...und die Herrlichkeit (bist Liebe, Frieden, Reinheit, Unschuld) In Ewigkeit. (es gibt keine Zeit) Amen (so sei es)73

Der klassische Gebetstext wird hier zeilenweise mit einer individuellen Interpretation versehen und damit in einen neuen Bedeutungshorizont gerückt. In den individuellen Interpretationen des traditionellen Gebetstextes spiegeln sich einige charakteristische Muster gegenwärtiger Religiosität wider. Es wird z. B. Bezug genommen auf dualistische Vorstellungen oder auf »tägliche Aufgaben«, die auf den Weg-Topos hinweisen. Durch die Reinterpretation des Textes kann das Gebet mit neuen Bedeutungszuschreibungen versehen werden, ohne dass es zu textuellen Verschiebungen kommt. Der Text des Vater Unsers kann jedoch auch als Beispiel für deutliche Transformationsprozesse herangezogen werden, wie die folgenden Fälle des »Neuen« bzw. »Aramäischen Vater Unsers« zeigen. Beide Versionen der folgenden Vater Unser Texte sind ursprünglich in Printpublikationen erschienen, durch transmediale Rezeptionsvorgänge nun aber Element des Internetrezeptionsrepertoires, bei dem (wie so häufig im Internet) in vielen Fällen die Quellenangabe nicht mit überliefert wird. Ursprünglich in dem Buch »Dein Wille geschehe jetzt!« von Susanne Osswald, Susanne Aubry und Karls Schnelting74 veröffentlicht, findet sich das sogenannte »neue« Vater Unser mittlerweile bei religiösen Akteuren im Internet. Das »neue« Vater Unser soll zusammen mit zahlreichen weiteren »Botschaften« von den »Lichtwesen« aus der »geistigen Welt« durchgegeben worden sein.75 Wie auf der Homepage »Lichtseiten« nachzulesen ist, zitiert die Akteurin die Lichtwesen hier indirekt, allerdings findet bei ihr eine Konkretisierung auf »Engel« statt, die bei den Buchautoren nicht explizit erwähnt werden. Diese hätten gesagt, »dass sie [die neuen Gebete, N.M.] eine stärkere Wirkung haben als die Gebete, die wir alle

73 Homepage »Inne Sein«. Zugriff unter: http://www.inne-sein.de/ (30.12.11). 74 Osswald & Schnelting 1999, 101. 75 Vgl. ebd., 9ff.

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kennen. Die Zeit hat sich geändert und diese Gebete entsprechen eher unseren heutigen Schwingungen.«76 Der Text des »Neuen Vater Unsers« lautet wie folgt:

Unser Vater Der Du bist in uns, um uns und überall. Dein Name, der da ist Weisheit, Unendlichkeit und Liebe, werde geheiligt. Dein uns verheißenes Reich komme jetzt. Dein Wille geschehe in allen Universen. Gib uns das neue Brot Für unseren neuen Leib. Verwandle all unsere angesammelte Schuld Durch die Kraft Deiner Gnade, und führe uns durch die Versuchung der Dunkelheit mit Deinem Licht. Denn Dein ist und Dein bleibt Das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit Von Ewigkeit zu Ewigkeit. 77

Amen.

Trotz der gravierenden Modifikationen, die gegenüber dem ursprünglichen Text vorgenommen wurden, bleibt die inhaltliche Grundstruktur des Gebets dennoch klar erkennbar. Die textuellen Modifikationen können dabei als Adaptionen an den Diskurs gegenwärtiger Religiosität gelesen werden. So wird z. B. der Wirkungskreis des Adressierten von »Himmel und Erde« nun auf »alle Universen« ausgedehnt, womit gleichzeitig die Dualität, die dem ursprünglichen Begriffspaar oft zugeschrieben wird, aufgehoben wird.

76 Homepage »Lichtseiten«. Zugriff unter: http://www.lichtseiten.de.vu/ (27.09.07). Version ist nicht mehr online, Archivversion kann angefragt werden. 77 Siehe auch Homepage »Weise Frau«. Zugriff unter: http://www.weise-frau. de/sprueche. Homepage »Esoteria«. Zugriff unter: http://www.solaria-2362.net/ esoteria/gebete.html. Hier findet sich folgende Quellenangabe: »Aus dem Buch ›Dein Wille geschehe jetzt!‹ von Susanne Osswald & K. Schnelting.« (beide verfügbar am 10.01.12).

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Eine weitere abgewandelte Version des klassischen Gebetstextes findet sich in dem Buch »Der neue Himmel und die neue Erde« von Simon Peter Fuller78. Auch diese Version wurde im Rahmen transmedialer Rezeptionsprozesse in das Internet übertragen und ist inzwischen auf einer Vielzahl von persönlichen Homepages zu lesen. So wird der Text auch auf der Homepage »Spiritlight« – dieses Mal unter Angabe der Quelle – wie folgt aufgeführt: Das aramäische Vater Unser: entnommen dem Buch: »Der neue Himmel und die neue Erde« von Simon Peter Fuller (Ch.Falk-Verlag) Oh, gebärender Schöpfer! Vater-Mutter des Kosmos im strahlenden Licht! Quelle des Seins! Atmendes Leben! Ursprung des schimmernden Klangs! Aus heiligem Raum des gereinigten Herzens leuchte Dein Name im Ton der Stille, weise den Pfad uns zu nützlichem Tun! Erschaffe Dein Reich der Einheit Dir jetzt durch unsere flammenden Herzen, und sende Dein Wirken zur Erde herab durch unsere werkenden Hände. Eine den Willen in uns mit dem Deinen sehnen, im Göttlichen Herzen zu sein. Führ’ uns zur Tat, die Himmel und Erde verbindet. Gewähre uns täglich, was wir an Brot und klärenden Einsichten brauchen, um zu erfüllen des Tages Gebot: Eins-sein im Ganzen in Einfachheit. Löse die Bande der Schuld, tilge die Spur unserer Lieblosigkeit, so wie auch wir freigeben die, die uns Kränkung getan. Lass uns nicht in die Irre gehen, durch Macht und Reichtum verlockt, durch Trägheit und Vergessen verleitet, sondern reich uns die Hand zur richtigen Zeit, zur Heimkehr ins Licht und Frohlocken.

78 Fuller, 2001.

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Denn Du bist das Ziel wie auch Fundament allen Seins und des glorreichen Lebens. Du bist die ballende Kraft jeder Form, Lied ewiger Schönheit und Freude. Entformung auch im kosmischen Lauf der Zeitalter Atmen und Kreisen. So ist es und bleibt - die Wahrheit im Wort möge Lebenskraft ihm verleihen. Der Boden sei dies meines Wachsens zu Dir, besiegelt in Liebe und Glauben. Amen79

Es wird deutlich, dass die hier vorgenommenen Modifikationen nahezu einer Reformulierung des ursprünglichen Gebetstextes gleichkommen. Ein Erkennen des traditionellen Textes fällt zunehmend schwer, eindeutig treten allerdings Transformationsprozesse hervor, die eine Einbettung in den Diskurs gegenwärtiger Religiosität verdeutlichen. Um das Bild über die Flexibilität des Ritualtextes des Vater Unsers nun abzuschließen, ist eine weitere Version des Gebets in »aramäischer Originalsprache« anzuführen, dessen Autor sich nicht mehr ausfindig machen lässt, das sich aber wachsender Beliebtheit gerade im Internet erfreut. Der Text lautet wie folgt: VATER UNSER IN ARAMÄISCHER ORIGINALSPRACHE Oh Du, atmendes Leben in Allem. Ursprung des schimmernden Klanges. Du scheinst in uns und um uns. Selbst die Dunkelheit leuchtet, wenn wir uns erinnern. Hilf uns einen heiligen Atemzug zu atmen bei dem wir nur Dich fühlen

79 Homepage »Spiritlight«. Zugriff unter: http://www.spiritlight.de/heilung/Vaterunser. htm. Dieser Gebetstext findet sich außerdem im »Dr Motte Blog«. Zugriff unter: http: //www.drmotte.de/wordpress/2007/08/15/das-aramaische-vaterunser/;

im

Forum

»Esoterik & Spiritualität«. Zugriff unter: http://www.foren4all.de/showthread.php ?t =4607; auf der Homepage »Lichtkrieger«. Zugriff unter: http://www.licht-krieger. at/ 7.html (alle verfügbar am 10.01.12).

226 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN und Dein Klang in uns erklinge und uns reinige. Lass Deinen Rat unser Leben regieren und unsere Absicht klären für die gemeinsame Schöpfung. Möge der brennende Wunsch Deines Herzens Himmel und Erde vereinen durch unsere Harmonie. Gewähre uns täglich, was wir an Brot und Einsicht brauchen: Das Notwendige für den Ruf des wachsenden Lebens. Löse die Stränge der Fehler, die uns binden, wie wir loslassen, was uns bindet an die Schuld anderer. Lass oberflächliche Dinge uns nicht irreführen, sondern befreie uns von dem, was uns zurückhält. Aus Dir kommt der allwirksame Wille, die lebendige Kraft zu handeln, das Lied, das alles verschönert und sich von Zeitalter zu Zeitalter erneuert. Wahrhaftige Lebenskraft diesen Aussagen! Mögen sie der Boden sein, aus dem alle meine Handlungen erwachsen. Besiegelt im Vertrauen und Glauben.80

Wie die Übernahme bestimmter Vokabeln und Formulierungen (unterlegt) zeigt, kann vermutet werden, dass die Autoren dieser Version des Vater Unsers die andere »aramäische« Version von Simon Fuller kannten und diese als eine Quelle der Reformulierung des Textes verwendeten. Insgesamt ist bei der Betrachtung beider Versionen zu bemerken, dass beide als »aramäische« Versionen präsentiert werden. Dies verleiht den Gebetstexten eine besondere Legitimierungs-

80 [Herv. eingefügt, N.M.]. Der Text ist auf einer Reihe von Homepages zu finden. Exemplarisch: Homepage »Seelentau«. Zugriff unter: http://www.seelentau.at/ f%C3%BCr -die-seele/%C3%BCbungen-meditation/; Homepage »Geistheilen Live«. Zugriff unter: http://www.geistheilen-live.de/html/infos.html; Homepage »Panczi«. http://www.panczi-lebensfreude.de/de/zum-nachdenken/seite-2.html.

Homepage

»Lichtkrieger«. Zugriff unter: http://www.licht-krieger.at/7.html (alle verfügbar am 10.02.12). Homepage »Hexengemeinde«. Zugriff unter: http://hexengemeinde.de /viewtopic.php ?t=15937 (28.09.09). Homepage »Martina«. Zugriff unter: http:// www.martina205.de/46320.html?*session*id*key*=*session*id*val* (02.11.09). Homepage »Strahlen des Lichts«. Zugriff unter: http://heilung-geschieht com/html/ gebete.html (02.11.09). Die Seiten sind nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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grundlage, da dem Aramäischen als gesprochene Sprache Jesu81 von Seiten der Akteure eine gewisse Authentizität zugeschrieben wird. Insgesamt wird an den Beispielen des Heilgebets nach Franz von Assisi und dem Vater Unser deutlich, wie flexibel der Umgang mit traditionellen Gebetstexten, die auf eine lange Überlieferungstradition blicken können, im Rahmen gegenwärtiger Religiosität aussehen kann. Das Spektrum der Modifikationen reicht dabei von einer unveränderten Adaption des Ritualtextes bis hin zu deutlichen Reformulierungs- bzw. Transformationsprozessen. Möglich ist dies, da dem rituellen Text »an sich« von den religiösen Akteuren keine eigenständige Autorität zugeschrieben wird. Die Reinterpretationen werden im Rahmen individueller Ritualkonstruktionen vorgenommen und finden schließlich Eingang in mediale Diskurse, wo sie unterschiedlichen Rezeptionsprozessen unterworfen sind. Insgesamt lassen sich sowohl bei der Adaption christlicher Ritualtexte, als auch bei deren Transformation im Medium Internet bislang keine spezifischen Argumentationsstrukturen ausmachen, welche dieses Vorgehen legitimieren. Neben traditionellen Gebetstexten, die transformiert oder unverändert in die rituelle Praxis der Akteure aufgenommen werden, existiert eine Vielzahl weiterer Gebetstexte, die völlig frei und individuell ausgestaltet sind. Die Vielfalt in diesem Bereich ist groß, sowohl was den Adressatenkreis wie auch die Funktionsbestimmung betrifft. Die folgenden Gebete können daher lediglich als Beispiele sowohl für die inhaltliche wie sprachliche Gestaltung dieser Vielfalt an individuellen Ritualtexten gelten. Auf der Homepage »Reich der Lichtwesen« werden neben Themen wie Engel, Reiki, Kundalini oder Tarot auch Gebete vorgestellt. Die Autorin leitet den Abschnitt über Gebete mit folgender, erklärender Erläuterung ein: Gott braucht unsere Gebete nicht, aber ihr Lebenden braucht das Gebet, Gott weiß, was sie nötig haben. Im Gebet versucht ihr, Gottes Willen zu erfahren und euer Leben daraufhin zu ändern.82

81 Neben der Koine (hellenistische Gemeinsprache) gilt das Aramäische als gesprochene Sprache in Israel zur Zeit Jesu. Siehe dazu Meiser u. a. 2000, 31. Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität hat sich die Annahme, Jesus habe Aramäisch gesprochen mit großer Wahrscheinlichkeit durch bestimmte Buchpublikationen (z. B. Douglas-Klotz 1997) verbreitet. 82 Homepage »Reich der Lichtwesen«. Zugriff unter: http://www.reich-der-licht wesen.de/gebete.html (25.07.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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Sie spricht die Leser der Webpräsenz direkt an und erklärt im Weiteren, dass für sie persönlich das »regelmäßige« und »aufrichtige« Gebet von großer Bedeutung ist. Als »Grundgebet« nennt sie an erster Stelle folgenden Ritualtext: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«83 Es folgen das Vater Unser in seiner klassischen Version und ein Text, der mit »Glaube, Liebe, Hoffnung« betitelt ist. Für die Autorin, die sich auf ihrer Homepage primär mit ausgewählten Themen aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität befasst, scheint eine Rückbindung ihrer Gebetssektion an traditionelle christliche Ritualtexte ohne Probleme möglich. Wie bereits zuvor beobachtet, fehlen auch hier die Reinterpretations- bzw. Legitimationsmuster, die bei der Verwendung christlicher Elemente im Rahmen der narrativen Identitätsarbeit häufig zu beobachten waren. Die nun folgenden, individuellen Gebetstexte decken eine große inhaltliche Reichweite ab: • • • • • • • • • • • • • • • • • •

Gebet um einen Seelengefährten Gebet, um ein Kind zu empfangen Gebet, um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu heilen Gebet zur Heilung schwieriger Familienbeziehungen Gebet für eine zu Ende gehende Freundschaft Gebet, um neue Freunde zu finden Gebet um mehr Energie Gebet um Gesundheit und Heilung Gebet um Motivation für eine gesunde Ernährung Gebet für einen gesunden Schlaf Gebet zur Fitnessmotivation Gebet für die Befreiung von Süchten Gebet, um die eigene Lebensaufgabe zu finden Gebet für eine neue Arbeit Gebet für gute geschäftliche Chancen Gebet für finanzielle Sicherheit Gebet zur Heilung für ein Haustier Gebet für Trauernde

Es wird deutlich, dass die Autorin sowohl soziale wie auch körperliche und ökonomische Ebenen mit ihren Texten berührt und sich die Gebetstexte ganz prag-

83 Homepage »Reich der Lichtwesen«. Zugriff unter: http://www.reich-der-licht wesen.de/gebete.html (25.07.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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matisch auf konkrete Situationen des Alltags beziehen. Ausformuliert sieht ein solcher Ritualtext wie folgt aus: Gebet, um eine bestehende Liebesbeziehung zu heilen Lieber Gott, ich bitte dich und die Engel, mir bei der Heilung meines Liebeslebens zu helfen. Ich bin bereit, mich von jedem Groll gegen mich selbst oder meinen Partner (meine Partnerin) zu lösen und vollständig zu vergeben, und ich bitte die Engel, jetzt alle Wut und Verbitterung von mir abzuwaschen. Bitte helft meinem Partner (meiner Partnerin) und mir dabei, dass wir einander ausschließlich im Licht der Liebe sehen. Ich bitte darum, dass alle negativen Auswirkungen unserer Fehler ungesehen gemacht werden, jetzt und für alle Zeit. Bitte arbeitet mit mir und meinem Partner ( meiner Partnerin ), sodass wir Harmonie, Freundschaft, Respekt, Aufrichtigkeit und große Liebe erfahren und mit einander teilen können. Bitte erneuert jetzt unsere Liebe. Danke84

Angesprochen werden Gott und die Engel (diese bleiben unspezifisch), die einerseits gebeten werden, in bestimmte Bereiche direkt handelnd einzugreifen, die andererseits aber auch um Führung bzw. Anleitung zur richtigen Handlung befragt werden. Die Handlungsmacht wird also klar an eine meta-empirische Ebene dirigiert, den erwarteten Handlungsvollzug jedoch teilen sich sowohl der Ritualakteur wie auch die meta-empirischen Entitäten. Im Aufbau folgen alle Gebete auf dieser Webpräsenz dem Schema 1. Ansprache der Adressaten, 2. Formulierung der Bitten, 3. Danksagung und Abschluss. Dass dieses Schema nur eines unter vielen ist, wird z. B. auf der Homepage »Der Weg des Herzens« deutlich. Hier findet sich folgendes, kurzes individuelles Gebet: [Umlautschreibung sic!] Ein taegliches Gebet fuer die Welt Himmlischer Vater, himmlische Mutter, wir fuehlen in uns die starke Liebe fuer alles was lebt und danken dir, dass diese Liebe allen zur Verfuegung steht. Moegen wir Klarheit, Weisheit und die unendliche Liebe der Welt fuehlen, erleben und weitergeben. Amen85

84 Homepage »Reich der Lichtwesen«. Zugriff unter: http://www.reich-der-licht wesen.de/gebete.html (25.07.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage. 85 Homepage »Der Weg des Herzens«. Zugriff unter: http://www.beepworld.de /members39/herz276/ (02.11.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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Den meta-empirischen Adressaten, hier im Bild von himmlischen Eltern dargestellt, wird nach einer Zustandsbeschreibung des Ritualakteurs zunächst gedankt. Im Anschluss daran wird ein Wunsch unter Rückgriff auf das Modalverb »mögen« formuliert, wobei auffällig ist, dass die Adressaten nicht explizit mit der Erfüllung des Wunsches beauftragt werden. Beschlossen wird das Gebet mit dem traditionellen Abschlusspartikel »Amen«. Außerdem kann die ebengenannte Homepage als Beispiel für die transmedialen Rezeptionen weiterer individueller Gebete angeführt werden. Die Autorin der Webpräsenz zitiert namentlich Gebete der Buchautorin Marion Merk86, die diese individuell gestaltet hat. So z. B. eine Gebetsfolge, in welcher der Erzengel Michael um Schutz und Reinigung ersucht wird: [Herv.i.O.] Gebet zum Heiligen Michael um Schutz und Reinigung Schutzgebet Heiliger Erzengel Michael, Du Verteidiger und Beschützer des Glaubens und aller Menschen, in Gottes geheiligtem Namen ICH BIN, rufe ich Dich an und BITTE um Schutz und Hilfe. Danke Heiliger Erzengel Michael, BITTE beschütze und verteidige mich mit Deinem Blauen Flammenschwert vor allen negativen Angriffen der irdischen und geistigen Welt. Danke Heiliger Erzengel Michael, BITTE reinige mit deinem Flammenschwert meine Seele, meinen Geist und meinen Körper und schneide mich frei von allen negativen Bindungen. Danke Heiliger Erzengel Michael, ich BITTE Dich, berühre mein Lichtschwert mit der Klinge Deines Flammenschwertes, damit es gereinigt und erneuert wird. Und alles was geschieht, möge nur gut sein für mich. Danke In Gottes geheiligten Namen ICH BIN BITTE ich Dich um Deine Mithilfe, um .......(Namen der Person oder Deinen Namen) freizuschneiden von allen negativen Bindungen (oder Drogen, Sucht usw.) Danke Heiliger Erzengel Michael, BITTE aktiviere mein blaues Flammenschwert... (Das Ritual dient auch dazu, um andere Menschen frei zu schneiden)87

86 Vgl. Merk 2007. 87 Homepage »Der Weg des Herzens«. Zugriff unter: http://www.beepworld.de/ members39/herz276/ (02.11.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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Die Gebetsfolge behandelt nacheinander verschiedene Punkte, die sich vorwiegend auf die Loslösung bzw. den Schutz vor sogenannten negativen Bindungen oder Energien konzentrieren. Auch diese Gebete folgen dem bereits genannten Dreier-Schema von 1. Ansprache der Adressaten, 2. Formulierung der Bitten und 3. Danksagung und Abschluss. Die Aufnahme dieser Gebetsfolge auf die eigene Homepage zeigt, dass individuell formulierten Ritualtexten von Seiten rezipierender Akteure eine Gültigkeit bzw. Wirksamkeit zugesprochen wird, die durch den inventiven Charakter dieser Texte nicht beeinträchtigt ist. Damit kommt zu der bislang festgestellten enormen inhaltlichen und gestalterischen Flexibilität von Gebetstexten auch eine hohe Rezeptionsreichweite. Dass es im Zuge von medialen Distributionsprozessen einerseits zum Verlust der Quellenangaben zu einem vorformulierten Ritualtext kommt, andererseits aber auch Variationsprozesse auftreten, zeigt folgendes Beispiel der Anrufung des Silbernen Strahls, die zumindest in zwei Versionen ohne expliziten Autorenverweis vorliegt. Anrufung des Silbernen Strahls

Invokation des silbernen Strahls

Ich bitte die Elohim

Ich rufe die Elohim des silbernen Strahls,

des Silbernen Strahls,

damit sich göttliche Gnade in meine

Göttliche Gnade durch meine Körper

Körper ergiessen kann.

fliessen zu lassen. Ich bitte die Elohim des Silbernen Strahls,

Ich rufe die Elohim des silbernen Strahls,

alle karmischen Muster und

damit alle karmischen Muster und unter-

alle Nischen des Grolls aufzulösen,

drückter Groll aufgelöst werden können

damit ich Freude erlebe.

und ich Freude kennen mag.

Ich bitte die Elohim der Gnade,

Ich rufe die Elohim der Gnade,

mich mit Vergebung zu erfüllen,

auf dass mein Wesen mit Vergebung,

mein Leben mit Dankbarkeit zu erfüllen

mein Leben mit Dankbarkeit

und mein Herz frohlocken zu lassen.

und mein Herz mit Feierlichkeit angefüllt wird.

Ich bitte die Elohim des Silbernen Strahls,

Ich rufe die Elohim des silbernen Strahls,

meine unwichtigen Bindungen zu lösen,

damit meine Bindungen von Kleinlich-

meine Fesseln des Hasses zu brechen

keit befreit werden, damit das Joch des

232 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN und meine Seele zu befreien.

Hasses gebrochen und meine Seele befreit wird.89

Ich bitte die Elohim der Gnade, mich mit Lebensfreude zu erfüllen JETZT.88

Als vorläufige Zusammenfassung zu den eben betrachteten Gebets- bzw. Anrufungstexten lässt sich festhalten, dass die Vielfalt der verhandelten Ritualtexte sehr hoch ist. Neben traditionellen, dem christlichen Diskurs zuordbaren Texten, die oftmals ohne weitere Begründungen bzw. Rechtfertigungsargumentationen in den vorgestellten Textkorpus der Homepage aufgenommen werden, finden sich adaptierte und transformierte Versionen dieser Ritualtexte, aber auch völlig individuell gestaltete Gebetstexte. Die Struktur der Texte ist insgesamt genauso vielfältig wie ihre inhaltliche Ausrichtung. Charakteristisch scheinen jedoch zumindest zwei Elemente zu sein: zum einen die Nennung der Adressaten der rituellen Kommunikation zu Beginn des Textes, zum anderen ein Abschlussmarker. In Bezug auf die mediale Repräsentation ist bei Gebeten und Anrufungen zu bemerken, dass zumindest im Internet meist nur Ritualtexte, jedoch keine Präskripte zu finden sind. Es ist anzunehmen, dass die distribuierenden Akteure davon ausgehen, dass die korrekte Ritualpraxis weitgehend bekannt ist und sie daher keine Anleitung zu den Texten mitliefern. Inwieweit sich die inventiven und transformativen Tendenzen auch bei der praktischen Durchführung von Gebeten zeigen, wird nun im folgenden Kapitel anhand von Interviewaussagen nachgezeichnet.

88 Homepage »Hexe Ashira«. Zugriff unter: http://www.hexe-ashira.net/schalter.htm. (30.12.11). Forum »Esoterik & Spiritualität«. Zugriff unter: http://www.foren. cx/board/viewtopic.php?nxu=05507980nx252&t=66&sid=374a4fb72f132a0c9fa0843 b6113a563 (02.11.09). Homepage »Petras Lichtseiten«. Zugriff unter: http://www. petras-lichtseiten.de/anrufung-gnade.htm (24.07.09). Beide Versionen sind nicht mehr online, archivierte Versionen auf Anfrage. 89 Homepage »Licht und Liebe«. Zugriff unter:

http://www.licht-liebe.at/Invokation

en. html#Invokation_des_silbernen_Strahls. Homepage »Kristallheilwissen«. Zugriff unter: http://webpage24.at/kristallheilwissen/invokationen.php (beide verfügbar am 30.12.11).

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5.2.2 Gebete in der Praxis Die bereits angesprochene flexible Handhabung von Gebeten drückt sich konkret in verschiedenen Prozessen aus, die auch in den Narrationen der Akteure nachzuvollziehen sind. Es handelt sich hierbei um Inventions-, Adaptions- und Transformationsprozesse. Dabei gilt zu beachten, dass sich die einzelnen Prozesse zwar charakterisieren lassen, sie in vielen Fällen jedoch nicht klar voneinander abzugrenzen sind. Im Folgenden wird nun untersucht, inwiefern sich die Befunde aus dem Internet auch in den Interviews der Akteure wiederfinden lassen. Hierzu werden einige Passagen angeführt, in denen sich die Akteure teilweise von sich aus, teilweise auf Nachfrage zu Gebeten und ihrer Gebetspraxis äußern. Nicki kommt im Verlauf des zweiten Interviewteils (Leitfragenteil) auf ihre Handhabung von Gebeten zu sprechen. Nicki: Gell, das tun wir gerne, also das Gebet ist für mich schon sehr wichtig, nur tu ich manche Gebete auch verändern zum Beispiel. Und zwar, was ich zum Beispiel überhaupt, da wo mir fast schlecht wird dabei, des ist des, wann’s halt da heißt, wann’s heißt. »Herr ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach« und so. Da denk ich mir immer also des bet ich nicht mit, also des lass ich aus, weil mir sind würdig! Und der Jesus hat ja nicht gesagt, ihr seid unwürdig, sondern, schaun’s ein mal, was der Jesus gesagt hat, der Jesus hat gesagt: »Ihr seid das Licht der Welt«. Der Jesus hat gesagt: »Ihr seid das Licht auf dem Berg, ihr seid die Stadt auf dem Berge.« Also der Jesus hat, du kannst da die Bibel lesen, von hinten nach vorn, der Jesus hat keinen Menschen klein gemacht. Und also, wir sind würdig! Wir sind würdig, dass er eingeht unter unser Dach! Wann er da die Kommunion oder zum Beispiel, was ich zum Beispiel verändert hab, das Gebet, wann’s heißt – jetzt muss ich gschwind nachdenken – ich kann das jetzt nicht sagen – Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, heißt’s. Und wissen’s, was ich sag? Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Kinder! Es gibt das in den Gebeten, es gibt da in den Gebeten so furchtbar negative Sachen immer drinnen. Aber’s Gebet ist an und für sich schon was Schönes, was Wertvolles, was Kräftiges.

In dieser Passage erläutert die Sprecherin, wie und warum sie Veränderungen an traditionell aus dem kirchen-christlichen Diskurs stammenden Gebeten vornimmt. In der vorangehenden, hier nicht zitierten Passage, erzählt Nicki, dass sie im Rahmen von »Besprechungen von Krankheiten«90 durchaus mit traditionellen

90 Zum Thema Besprechen und Gesundbeten liegen nahezu keine neueren wissenschaftlichen Studien vor. Eine religionsgeschichtliche Darstellung versucht Robert Jütte in seiner »Geschichte der alternativen Medizin«. Jütte 1996.

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christlichen Gebetstexten arbeitet, die sie, um deren Wirksamkeit zu gewährleisten, jedoch nicht verändert. Anders ist dies bei den von ihr nun aufgeführten Beispielen. Dabei handelt es sich zum einen um ein kurzes Gebetssegment, das vorwiegend in der katholischen Eucharistieliturgie verwendet wird. Das Gebetssegment »Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund« steht im liturgischen Verlauf im Rahmen der Brotbrechung.91 Wie Nicki deutlich macht, lehnt sie den Teilinhalt des Gebets vehement ab. Als Erklärung dafür führt sie einige Verweise auf Wortzitate von Jesus an, mit deren Hilfe sie klar machen möchte, dass der Gebetsinhalt den Lehren von Jesus entgegenstehe. Die Konsequenz daraus ist jedoch an dieser Stelle nicht, wie angekündigt, eine Veränderung des traditionellen Gebetstextes. Nicki gibt an, dass sie das Gebetssegment aus genannten Gründen ganz streicht. Hier ist impliziert, dass die Akteurin am kirchlichen Ritualgeschehen teilnimmt, jedoch vom vorgegebenen liturgischen Verlauf abweicht, indem sie eigenständig Veränderungen – in diesem Fall eine Auslassung – vornimmt. Die Transformation ist hier also als Elisionsprozess zu fassen. Als Legitimierung dafür führt die Akteurin eine Argumentation an, in der sie sich dezidiert auf neutestamentliche Quellen beruft. So kann sie durch eine angenommene Textautorität die Veränderung im Ritualgeschehen begründen. Der Transformationsprozess scheint insgesamt die Wirksamkeit des Rituals nicht zu beeinträchtigen. In dem zweiten Beispiel, das Nicki anführt, wird hingegen eine klare Transformation des vorgegebenen Ritualtextes durch die Adaption eines neuen Wortelements deutlich, ein Vorgang, der stark inventiven Charakter trägt. Sie zitiert eine Textpassage, die im katholischen Bereich im Rahmen des Rosenkranzgebets gesprochen wird: »Heilige Maria Mutter Gottes, bitte für uns Sünder«. Das letzte Wort ersetzt die Akteurin jedoch durch »Kinder«, womit die in den kirchenchristlichen Traditionen geprägte Vorstellung vom Menschen als Sünder aus dem Text herausgenommen wird.92 Eine Rechtfertigungsargumentation für diese Transformation, die wie oben auf christliche Quelltexte zurückgreift, findet sich an dieser Stelle jedoch nicht mehr. Stattdessen wird die Erzählpassage mit einer Kontrastierung beendet: »negative« Elemente in Ritualtexten sind abzulehnen, da nach Meinung der Akteurin Gebete absolut positiv besetzt sind. Die Autorität, entsprechende Transformationen des Ritualtextes vorzunehmen, schreibt sich die Akteurin teilweise unter Rückgriff auf religiöse Quelltexte

91 Vgl. Bieritz 2004, 535. 92 Je nach Denomination unterscheidet sich das Verständnis darüber, wie Mensch und Sünde im Verhältnis stehen.

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selbst zu und erachtet dies, wie vielleicht in dem sich hier abzeichnenden katholischen Hintergrundfeld zu erwarten wäre, nicht als problematisch. Wie an diesem Beispiel deutlich wird, handelt es sich bei den Perspektiven InventionAdaption-Transformation eher um aufeinander bezogene Interpretationsstufen als um scharf trennbare Terminologien. Auch im nächsten Beispiel geht es um die Transformation von traditionellen Gebetstexten, allerdings stehen hier in der Erläuterung nicht wie eben Differenzen zu theologischen Implikationen der ursprünglichen Texte im Vordergrund, sondern der Aspekt das Ritual interessant zu machen. Michi erzählt auf die Frage hin, woher die Gebetstexte stammen, die sich auf ihrer Homepage finden, von der Rezeption und Distribution der Texte. Im Anschluss daran kommt sie auf das Vater Unser und ihren persönlichen Umgang mit diesem Text zu sprechen. [Nummerierung eingefügt] Michi: Ich hab doch mal an einem Engelseminar teilgenommen und viele Gebete stammen von diesem Engelseminar. Dann hab ich noch einige Gebete, und zwar ist das ein Schweizer, der auch Reiki Ausbildung bei mir gemacht hat und der betet, der hat immer sehr schöne Gebete und der schickt mir ab und zu schöne Gebete, die ich dann auch weiter geben soll zum Benutzen, das ist als erwünscht. Und ich finde diese Gebete einfach toll, weil dieses Vater Unser so das, was schon abgedroschen ist, was man manchmal schon runter rasselt schon und dabei was anderes schon schreiben könnte in der Zeit, weil das schon so intus ist. (I) Und find ich das also, die hab ich dann einfach mal so gesammelt, also für jeden mal ein, für die entsprechende Situation was dabei ist. Ja und ansonsten, ich hab mir jetzt auch früher hab mit meiner Tochter hab ich’s Vater Unser gebetet, jetzt mittlerweile bet ich also das, was mir jetzt grad einfällt und merke, dass ich es dadurch interessanter mach. (II) Weil so was es dann eigentlich immer, sie hat dann da den Fernseher laufen gehabt und hat den Ton abgeschaltet, wenn ich jetzt zum Beispiel, manchmal geh ich früher ins Bett als sie am Wochenende, sie darf dann bis 10 auf bleiben und ich geh dann vielleicht schon früher, will mich schon früher verabschieden, dann macht sie den Ton ab, dreht sie ab und dann macht sie so und guckt gell [Michi demonstriert die Gebetshaltung: aneinander gefaltete Handflächen, N.M.]. Und wir oder ich bet dann das Vater Unser und sie guckt dann und jetzt hab ich also gemerkt, weil ich eigentlich von diesem Vater Unser auch schon ein bisschen abgehe und mich da also nicht so ganz drin wieder finden kann, dass ich was selbst sage und dann merk ich schon, dass sie da schon gespannt ist. Also das ist sie dann schon bei der Sache, sie sagt zwar nichts dazu, aber sie ist wahrscheinlich immer interessiert, was dann heute Abend dran ist gell. (III)

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Die Erzählerin merkt zu Beginn an, dass sie die von einem Bekannten überlieferten Gebetstexte, die sie auf ihre Homepage zur Weitergabe veröffentlich hat, auch deshalb so »toll« findet, da diese für sie im Gegensatz zu dem »abgedroschenen« Vater Unser stehen. Sie kritisiert die oftmals mit der Internalisierung des Vater Unsers verbundene Automatisierung des Gebetsablaufs (I). Die Reaktion auf diese Ablehnung beschreibt sie als einen Veränderungsprozess, der zwei Variationen beinhaltet. Zum einen besteht die Möglichkeit, dass sie individuelle Gebetstexte, wohl relativ spontan, selbst entwickelt (II). Zum anderen erläutert sie anhand des gemeinsamen Abendgebets mit der Tochter, dass es auch vorkommt, dass sie partielle aber individuelle Transformationen des traditionellen Ritualtextes vornimmt oder ganz eigene Texte entwirft (III). Wie genau diese Veränderungen jedoch aussehen, schildert sie nicht. Den Mehrwert dieses Vorgehens lässt die Erzählerin den Hörer anhand der geschilderten Reaktion der Tochter erkennen. Diese sei »gespannt« und »interessiert«, wie genau die vom traditionellen Text abweichende Version des Gebets gestaltet ist. Die Transformation des traditionellen Gebetstextes wird in der gesamten Passage nicht weiter legitimiert, allein die individuellen Bedürfnisse der ausführenden Akteure stehen im Vordergrund und reichen als Motivlage zur Initiierung eines Veränderungsprozesses aus. Zwar führt Michi im Interview nicht weiter aus, wie die Transformationen oder Adaptionen aussehen, die sie bei bereits bestehenden Gebetstexten vornimmt, aber sie erzählt ausführlich von einem Beispiel der Textinvention, das nun vorgestellt wird. Die Akteurin erwähnt im Laufe des Interviews, dass sie ein »Heilgebet« geschrieben habe, welches stark mit sogenannten »Glaubenssätzen« arbeitet. Der Kontext für diese Passage ist eine Erzählung über eine Diskussion, die Michi in einem Internetforum für Hypnose mit anderen Personen zum Thema Heilgebete geführt hat. Hier hatte Michi, nachdem sie die Frage nach bestehenden Erfahrungen mit Heilgebeten gestellt hatte, nach eigenen Angaben eine kontroverse Diskussion ausgelöst, inwieweit sich Hypnosetechniken mit religiösen Techniken vereinbaren ließen. Michi erzählt, dass sie daraufhin auf die Verwendung von Glaubenssätzen im Training für Manager93 hingewiesen habe. Als Referenz nennt sie den Erfolgsautor Joseph Murphy, der über »Die Macht des Unterbewusstseins«94 geschrieben hat. Im weiteren Interviewverlauf stellt Michi das Gebet vor, dessen Text sie vor sich liegen hatte. [gelesene Passagen wurden hervorgehoben, Nummerierung eingefügt]

93 Michi hat eine Ausbildung in Hypnosetechniken erhalten und befasste sich auch stark mit der Vermittlung solcher Techniken an Mitarbeitende im Wirtschaftsbereich. 94 Vgl. Murphy 2000.

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Michi: Soll ich mal vorlesen? N.M.: Ja gerne. Michi: Ja also »Ich verzeihe mir, dass ich negative, zerstörerische Gedanken und Gefühle gegen mich und andere Menschen gehegt hab.« (I) Weil ich weiß ja, dass wenn ich was Negatives denke, dass ich mich zerstöre, wenn ich über mich selber denke und Gefühle gegen andere oder zerstörerische Gefühle und Gedanken. Ich weiß ja, dass meine Gedanken auch wirken. Und was soll ich mich da einmischen, weil ich weiß, wenn ich ganz schlecht an jemanden denke, das wirkt ja. Also ich verzeihe mir das schon mal. »Ich gebe alle diese Menschen frei und wünsche ihnen aufrichtig Gesundheit, Glück, Frieden und sämtliche Wohltaten des Lebens.« (II) Um das natürlich wieder auszugleichen, meine schlechten Gedanken, die ich natürlich auch hab, bin ja ein Mensch gell? »Gegenüber jedem Menschen bekräftige ich: Ich habe dich freigegeben, Gott sei mit dir.« (III) Also die Liebe sei mit dir. »Ich kenne das Gesetz der Liebe, in dem ich anderen vergebe, entziehe ich meinem Innersten den Stachel des Hasses und der Feinseligkeit« (IV) In Amerika gibt’s eine Krebsklinik mit ganz viel Erfolg, die nur auf der Basis arbeiten mit Verzeihen. Weil man sagt, dass Krebs ist eine chronische Erkrankung. Chronische Erkrankungen kommen nur aufgrund von chronisch schlechten Gefühlen, die nicht, nie aufgelöst wurden. Wenn jetzt zum Beispiel einer schlimme Dinge erlebt hat und die nicht verzeiht, sondern die, also verzeihen heißt nicht gut heißen, sondern verzeihen heißt einfach, ich lass es los jetzt, es ist so, wie`s ist. Ich lass jetzt einfach los. Wenn ich mich immer damit beschäftige, dass das Schlimme passiert ist, denk ich da immer dran, fühl ich das immer wieder, das macht mich krank. Und dieses Verzeihen und das ist also eine Klinik mit ganz hohem Erfolg, wo austherapierte Krebspatienten geheilt werden. Also dieses Verzeihen ist wichtig. »Die unendliche Heilgegenwart Gottes durchdringt mich und Gottes Friedensstrom fließt durch mein Inneres. Ich weiß, dass göttliche Liebe mein ganzes Wesen erfüllt und alles auflöst, was ihr nicht gleicht. Das heilende Licht Gottes erhellt jetzt in diesem mir geschenkten großen Augenblick allgegenwärtig die zerstörerischen Kräfte in meinem Inneren. Sie werden aufgelöst durch den Geist der Unversehrtheit, damit diese jedem Gedanken und jeder Zelle inne wohnen kann. Ich danke für die Heilung, die jetzt stattfindet, denn ich weiß, dass jede Heilung vom allerhöchsten kommt.« (V) Und diese Texte, das findet man überall in der Bibel, also eigentlich steht da wirklich schon alles drin.

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Im Gegensatz zu den im vorangegangenen Kapitel vorgestellten individuellen Gebetstexten aus dem Internet ist in diesem nicht die bekannte Struktur von »Anrede des Adressaten«, »Textteil« und »Abschluss« zu erkennen. Auch imperativische Verbformen, die eine Forderung oder Bitte ausdrücken können, finden sich in Michis Gebetstext nicht. In Deklarativsätzen formuliert die Akteurin bestimmte Inhalte, die sie abschnittsweise jeweils für den Hörer erläutert. Abgesehen von der spezifischen Form des Ritualtextes, sind es die Erläuterungen der Akteurin, die im Folgenden näher betrachtet werden, da in ihnen Begründungsstrukturen für die Invention eines Ritualtextes gegeben werden. Im Mittelpunkt des Gebets steht der jeweils ausführende Akteur, eine dialogische Ansprache zu einer meta-empirischen Entität erfolgt zunächst nicht. Die verwendeten Inhalte werden wie folgt begründet: Zu I.+II.) Hier rekurriert die Akteurin auf einen bekannten, derzeit durch Bücher wie »The Secret«95 sehr populären Topos des Diskurses gegenwärtiger Religiosität. Man geht davon aus, dass die eigenen Gedanken die Macht besitzen, Einfluss auf lebensweltliche Geschehnisse zu nehmen. Dabei fördern positive Gedanken positive Erlebnisse und umgekehrt negative Gedanken ziehen negative Ereignisse an. Im Ritualtext wird dies zweifach thematisiert: zum einen, indem bereits getätigte negative Gedanken verziehen werden und zum anderen, indem bewusst positive Gedanken formuliert werden. Zu III.) An dieser Stelle wird zum ersten Mal innerhalb des Gebetsrahmens deutlich, dass ein Bezug zu einer meta-empirischen Größe hergestellt wird, auch wenn diese nicht in direkter Ansprache erfolgt. In der Interpretation, welche die Akteurin mitgibt, werden zwar »Gott« und »Liebe« gleichgesetzt, weitere Erläuterungen dazu finden sich allerdings nicht. Zu IV.) Das hier angesprochene Thema »Verzeihen«, welches in den autoritär erscheinenden Rahmen eines »Gesetzes der Liebe« gestellt wird, erläutert die Erzählerin anhand eines Verweises auf eine »Krebsklinik in Amerika«. Die Wirksamkeit wird so durch den Verweis auf die »erfolgreiche« Anwendung in einem medizinischen Rahmen narrativ bestätigt. Zu V.) In dem längeren, letzten Abschnitt geht es schließlich um den Aspekt der Heilung. Diese wird als eine Art innere Lichtheilung vorgestellt, die von Gott ausgeht. Dennoch liegt die Handlungsmacht im Rahmen des Gebets weiterhin

95 Bryne 2007.

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bei der Sprecherin, nur indirekt wird auf die Handlungskomponente aus dem meta-empirischen Bereich verwiesen (z. B. in »in diesem mir geschenkten großen Augenblick«). Der Heilungsvorgang wird dabei als ein gesichertes Geschehen betrachtet, dessen Erfolg außer Zweifel steht. Diese Betonung des »Wissens« um bestimmte religiöse Aspekte ist ein rhetorisches Muster, das oft von Akteuren verwendet wird. Sie verweisen dabei auf den Unterschied zwischen Glauben und Wissen und ordnen ihren eigenen Status letzterem zu. Damit werden bestimmte religiöse Ansichten aus einem »Glaubensraum«, der nicht belegt und daher angezweifelt werden kann, in einen »Wissensraum« überführt, dessen Gültigkeit postuliert wird. Besonders interessant ist die von der Erzählerin angefügte Erläuterung des Abschnitts. Hier verweist sie auf die »Bibel«, in der »diese Texte« bereits stünden. So kann sie den vorausgegangenen, eigens entworfenen Ritualtext unter Verweis auf christliche Quellenschriften und deren zugeschriebener Autorität, legitimieren. Bei der narrativen Ausgestaltung der Ritualinvention ist zu beobachten, dass Legitimierungsstrategien und Erklärungsmuster eingesetzt werden, die auch im allgemeinen Konstruktionsrahmen von Religiosität (vgl. Kap. 4) zu finden sind. Der Verweis auf anerkannte religiöse Quellenschriften und religiöse Schlüsselfiguren oder die Rückbindung der eigenen Vorstellung an (natur-)wissenschaftliche Diskurse verdeutlicht dies. Im Gegensatz zu den Transformationsprozessen, die Michi bei dem traditionellen Gebetstext vornimmt, führt sie in der Erläuterung des Inventionsprozesses vielschichtige Legitimierungs- und Authentifizierungsmuster an, bei denen vor allem die Berufung auf Textautorität und Expertentum im Vordergrund steht. Wurden die Inventions-, Adaptions- und Transformationsprozesse, die bei Gebetsdarstellungen im Internet zu beobachten sind, insgesamt argumentativ kaum ausgearbeitet, liegen in den Interviews ausführliche Legitimierungsmechanismen gerade für den Bereich der Transformationen und Inventionen vor. Dies ist ein Hinweis darauf, dass die den Gebeten auch von den Akteuren zugeschriebene und pragmatisch umgesetzte Flexibilität und Variabilität der Ritualtexte, medienabhängig gestaltet wird. Veränderungsprozesse, die wie festgestellt wurde, gleichermaßen inventive, adaptive und transformative Aspekte umfassen können, zeigen sich jedoch nicht nur auf der Ebene der Gebetsskripte, sondern auch in deren Praxis. Zum Aspekt der Gebetspraxis findet sich erneut eine Ausführung von Nicki, die zuvor bereits etwas zur Transformation von Gebetstexten erzählt hatte. Zunächst fasst sie kurz und wenig ausführlich ihre Gebetspraxis zusammen. Ihre favorisierte Gebetshaltung schildert sie dann im Anschluss:

240 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Nicki: Aber natürlich nehm ich mir auch oft die Zeit und setz mich einfach hin, zünde mir ein Kerzerl an und tu ein Gebet. Aber was ich sehr gern tu ist, dass ich mir das vergönne, das machen wir gern bei den Seminaren, zum Beispiel das Vater unser, dass wir uns hin stellen und uns wirklich nach oben öffnen. Des sag ich auch zu die Leut allerweil, wann’s ihr betet, ich bitte euch, ge, setzt euch net so her [Nicki demonstriert eine zusammen gekrümmte Körperhaltung, mit vor dem Brustkorb verschränkten Armen]. Ihr verschließt euch ja total. Beim Beten soll man offen sein, man soll geöffnet sein nach vorn, dass das auch fließen kann. Sag ich, aber du setzt dich hin und sagst »Jesus unser tägliches Brot gibt uns heute« und du hältst aber alles so viel zu, damit er da des tägliche Brot gar nicht in deine Hände geben kann. Verstehen’s, was ich mein? N.M.: Ja. Nicki: Sondern einfach, dass er beim Beten einfach so geöffnet ist.

Nicki demonstrierte während ihrer Erzählung die Haltungen. In der »geöffneten« Haltung hob sie beide Arme nach oben über den Kopf, mit den Handflächen ebenfalls nach oben, sodass eine V-förmige Haltung entstand. Die ihrer Meinung nach gegenteilige Haltung demonstrierte sie, indem sie die Handflächen aneinander legte, die Arme vor die Brust nahm und den Oberkörper zusammenkrümmte. Nach Meinung der Akteurin soll die Gebetshaltung den Wirkmechanismen des Rituals entsprechen, denn im Gebet »fließt« etwas, dementsprechend benötige man für eine effiziente Durchführung eine Haltung, die ein Fließen zulässt. Sie erläutert dies unter Rückgriff auf einen traditionellen Gebetstext, das Vater Unser. Indem sie an dieser Stelle auf einen der bekanntesten christlichen Gebetstexte rekurriert, kann sie argumentativ die dieser religiösen Tradition von außen zugeschriebene Legitimität und Authentizität für ihre Ausführungen nutzbar machen. Erwähnenswert erscheint auch, dass Nicki hier als Lehrende auftritt. Die »offene« Gebetshaltung präsentiert sie mit dem Verweis, dass sie diese in ihren Seminaren lehre. Damit schreibt sie sich selbst die Autorität zu, nicht nur die richtige bzw. effiziente Ritualhaltung zu kennen, sondern diese auch vermitteln zu können. Durch die narrative und praktische Entgegensetzung verschiedener Gestiken entwirft Nicki für ihre aktuelle Gebetspraxis ein Bild, das stark inventiven Charakter besitzt. Die traditionell-christliche Gebetshaltung mit aneinander gefalteten Händen vor der Brust wird durch eine Umpositionierung, die entsprechend mit religiösen Bedeutungszuschreibungen aufgeladen ist, zu etwas Neuem transformiert. Der bei Nicki entwickelte Kontrast zwischen neuer, »offener« Ritualhaltung und einer verschlossenen, die in ihrer Beschreibung stark an die in der abendländ-christlichen Tradition ausgebildete Praxis erinnert, findet sich auch bei an-

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deren Akteuren, allerdings in anderer narrativer Ausarbeitung. So schildert auch Chris in einer längeren Passage ihre Auffassung von Gebeten und geht neben performativen Aspekten vor allem auf deren Bedeutung ein. [Nummerierung eingefügt] N.M.: Ja, du hast grade etwas gezögert bei dem Ritualbegriff, was verstehst du denn unter Ritualen? Chris: Ja. ich benutze weder das Wort Rituale noch benutze ich Rituale, weil Rituale, Ritual bedeutet etwas immer wieder auf dieselbe Art machen. (I) Und wenn man solche Rituale benutzt, dann verlieren sie mit der Zeit an Kraft, weil sie sinnentleert werden. Also immer wieder neu, immer wieder ganz vom Ursprung her, sich Gott zuwenden, ich lehre keine Rituale. So ist das Beten auch abgekommen von dieser Haltung [zeigt aneinander gefaltete Hände], die so die katholische Gebetshaltung, sagte ich, die wurde aber andererseits mit auch diese Haltung [zeigt nach oben geöffnete Handflächen], diese Haltung wurde mir auch von der geistigen Führung kurz nach der Erweckung gezeigt (II), als sehr schöne wichtige kraftvolle Arbeitshaltung. Da ist ein Energiekreis geschlossen, wir haben die Hände in der Aura und wenn wir dann in Liebe an irgendeine Ursache denken, dann gehen die, lösen sich die Energien, die dunklen Energien viel schneller. Gehen durch unsere Handwurzeln zu den Fingerspitzen hinaus und dann entlang der Energiemeridiane zu den Fußchakren raus. Und wenn man an etwas außerhalb des eigenen Energiesystems denkt, ich mein, es gibt auch eigentlich kein Außen und Innen, aber das ist jetzt ne andere Sache, zum Beispiel einen anderen Menschen liebt, dann kann man das auch, man hat sehr viel mehr Kraft. Und das, was bei dem anderen Menschen sich zum Beispiel auch das Karma, was ich mit jemandem habe. In Energieform geht das dann zu den Fingerspitzen rein, kommt zu den Handwurzeln raus. Geht auch entlang der Energiemeridiane zu den Fußsohlen raus, da sind die Fußchakren. Und so geht das dann alles ins Licht, weil entweder solange man noch nicht so hohe Schwingungen hat, dass man selber zur Lichtsäule wird, bittet man die Engel um einen Lichtkegel oder eine Lichtsäule, sodass alles Dunkle, was sich löst, dann auch direkt ins Licht geht. Oder nachher geschieht es automatisch bei einem und das geht dann alles ins Licht. Und so ist das eine Reinigung, eine Reinigungshaltung, kein Ritual. Es ist kein Beten, beten kannst du immer, da brauchst du die Hände nicht irgendwie besonders zu halten (III). Aber Gott sagt, da auch man, wenn man zu ihm betet, zur ihr betet, dann dürfen wir die Hände einfach, die Handflächen nach oben, das ist symbolisch für die Hinwendung in die höheren Schwingungsebenen. Und entweder so oder die Hände hochhalten.(lacht) N.M.: Musst du beschreiben (lacht). Chris: Ich hab das auch, ja ich hab das auf den Seiten auch als Bild gezeichnet und unter »Liebe« steht »so sollt ihr jetzt beten«. Das war auch noch nicht so lange her, so haben auch die Menschen in früheren Zeitaltern gebetet. Man kann auch so oder so halten, so

242 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN wie auch das in Ägypten zum Beispiel, hat man ja auch auf den Zeichnungen gesehen. Oder aber einfach die Handflächen nach oben und bequem auf den Knien oder sonst wo. So sollen wir beten oder einfach im Herzen sich Gott hinwenden (IV). Und wir können uns da mit Gott verbinden, aber Rituale in dem Sinne sollte es nicht geben, denn das nimmt die Kraft aus, sagen wir mal, der Verbindung mit Gott oder von dem, was man bezwecken möchte. Je weniger man Wiederholungen macht, sondern immer jedes Hinwenden zu Gott neu erlebt. Das Hinwenden ist einfach, dass man im Herzchakra auch sich Gott zuwendet, das reicht aus, desto kraftvoller ist es auch.

Die Erzählerin setzt auf Nachfrage ein mit einer grundlegenden Erläuterung, was sie genau unter Ritualen versteht (I). Im Vordergrund steht hier vor allem eine postulierte Repetivität von Ritualen. Diese ist jedoch nach Auffassung der Akteurin der Grund dafür, warum Rituale bei längerer Anwendung eher eine degenerierende Kraft entwickeln. Dies ist die Begründung, warum sie für sich postuliert, keine Rituale zu verwenden. In dieses negativ konnotierte Ritualschema möchte sie im Anschluss den Bereich der Gebete nicht einordnen. Wie bereits in Kapitel 5.1.2 gezeigt wurde, kann es aufgrund einer von den Akteuren selbst gesetzten Ritualdefinition dazu kommen, dass in der Akteursperspektive bestimmte rituelle Praktiken von der Kategorie »Ritual« ausgeschlossen werden. Chris führt im Folgenden das Beispiel Gebete an und versucht zu erläutern, warum diese nicht in die Kategorie »Ritual« fallen. Damit geht zunächst einher, dass sie beschreibt, wie sie von der »katholischen Gebetshaltung« abgekommen ist. Dieser, nach dem Verständnis der Akteurin traditionellen christlichen Gebetshaltung, die sie im Interview auch demontiert, setzt sie eine neue Haltung entgegen, deren Hauptmerkmal die nach oben geöffneten Handflächen sind (II). Im Gegensatz zu Nicki, bei der unklar bleibt, woher die neue Gebetshaltung kommt, macht Chris deutlich, dass ihr diese von außerhalb vermittelt wurde. Als leitende und vermittelnde Autorität nennt sie die »geistigen Führer« und legitimiert die »neue« Gebetshaltung somit durch den Verweis auf meta-empirische Entitäten. Im Anschluss erläutert die Erzählerin ausführlich, inwieweit die neue Gebetshaltung auch im Einklang mit den eigenen Energie- und Körperkonzeptionen steht. Vorausgesetzt wird bei ihr das Chakrensystem, mit dem der Mensch auch an außenstehende Energiesysteme angeschlossen ist bzw. durch die Chakren ein Austausch möglich ist. Der Körper mit der entsprechenden Handhaltung wird im Gebet so konzeptioniert, dass man Anschluss an die »Engel« bzw. die »Lichtsäule« erhalten könne und dadurch alles »Dunkle« aus einem herausgezogen werde. Im Hintergrund steht hier ein Modell, in dem sich der Mensch stets zwischen guter Energie, die hohe Schwingungsfrequenzen besitzt, und schlechter Energie mit niedrigen Schwingungsfrequenzen bewegt. Das

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Energiemodell ist dabei keineswegs nur auf einer geistigen Ebene wirksam gedacht, sondern ebenfalls auf körperlicher, da zwischen diesen Ebenen aus Akteurssicht keine strikte Trennung vorgenommen wird. Letztlich geht es der Erzählerin jedoch darum, anhand des Beispiels einer neuen Gebetshaltung zu verdeutlichen, dass Gebete für sie nicht unter die Kategorie »Ritual« fallen. Mit dem Element einer neuen Gebetshaltung ist für sie das frühere repetive Muster von Gebeten und damit einhergehend der Verlust der Wirksamkeit durchbrochen. Sie betont einerseits, dass die Form der rituellen Haltung eigentlich egal sei, da man »die Hände nicht irgendwie besonders zu halten« braucht. Im Folgenden stellt sie jedoch eine Reihe von Legitimationen gerade für »ihre« Gebetshaltung mit »geöffneten« Händen dar. An erster Stelle verweist die Erzählerin direkt auf »Gott«. In indirekter Rede gibt die Akteurin die »Worte Gottes« bzgl. der Gebetshaltung an und legitimiert die neue Ritualhaltung somit durch den Verweis auf die höchste (in Perspektive der Erzählerin) meta-empirische Entität. Eine zweite Legitimation erfolgt durch den Verweis auf das »alte Ägypten«, in dem nach Angaben der Akteurin die Gebetspraxis mit der entsprechenden Handhaltung bereits bekannt war. Das hohe Alter und die den »alten Ägyptern« im Diskurs zugeschriebene Weisheit werden hier als Legitimations- und Authentifizierungsgrundlage für die Ritualhaltung angeführt.96 Gegen Ende des Abschnittes führt Chris erneut aus, dass sie Rituale ablehnt und die Durchführung von Gebeten auch »im Herzen« erfolgen kann (IV). Nach Meinung der Sprecherin kommt es zu einer Steigerung der Wirkkraft des Gebets, wenn jede dieser Handlungen immer wieder »neu erlebt« werde. In Bezug auf diesen Interviewausschnitt lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die Erzählerin ihre individuelle Gebetsperformanz in der Erläuterung zweifach einbettet. Zum einen stellt sie eine Korrespondenz zwischen Ritualhaltung und Wirklichkeitsmodell her, in dem die körperliche Praxis und die Idee eines Chakrenenergiesystems zusammen gebracht werden. Zum anderen erfolgt die Legitimation und Authentifizierung der Gebetshaltung entlang bestimmter Muster, die bereits aus den biographischen Konstruktionsprozessen religiöser Identität bekannt sind. Hier sind einerseits der Verweis auf die Rückbindung der Ritualhaltung an die Aussagen meta-empirischer Entitäten zu nennen, andererseits die Berufung auf eine religiöse Tradition, die im Diskurs gegenwärtiger Religiosität bereits vielfach Mystifizierungsprozesse erfahren hat. Insgesamt kann auch hier der Entwurf einer neuen rituellen Praxis als Transformationsprozess begriffen werden, bei dem unter Rückgriff auf vorhandenes rituelles Wissen und der habituell verinnerlichten Praxis, Veränderungen in der Körperlichkeit vorge-

96 Vgl. dazu Hammer 2001, 109-111.

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nommen werden, die wiederum mit individuell-religiösen Bedeutungszuschreibungen versehen werden. Interessant zu bemerken ist schließlich, dass Chris ihre rituelle Praxis ebenfalls an Dritte vermittelt. Wie Nicki gibt sie Seminare und hält Vorträge, aber auch ihre Internetpräsenz trägt zur Mediation der transformierten rituellen Praxis bei und wird hier in präskriptiven Vorlagen als transformiertes rituelles Wissen vermittelt. Dass die Bandbreite der narrativen Darstellung und Erläuterung ritueller Gebetspraxis damit jedoch noch nicht erschöpft ist, zeigen die folgenden Interviewbeispiele, in denen Uli, Andi und Kim von ihrer Gebetspraxis erzählen. In den drei Interviewsequenzen werden neben den bereits angesprochenen Aspekten der Legitimierung und Authentifizierung nun auch Fragen der rituellen Rahmung und des Lernens von Ritualen thematisiert. Uli wurde im Interview die Frage gestellt, wie sie betet, wenn sie alleine ist. Konkretisiert wurde die Frage, in dem ihr exemplarisch die Möglichkeiten »laut oder leise« und »im Liegen oder Sitzen« angeboten wurden. Die Erzählerin antwortete: Uli: Manchmal mach ich das wirklich so wie irgendwie als Kind. Da hab ich mich vor’s Bett gekniet und hab die Hände gefaltet und dann gebetet. Manchmal mach ich das im Meditationssitz, im Schneidersitz, so wirklich grade und bete dann für mich. Also ich mach’s meistens leise, leise in mich hinein, auch oder morgens auch manchmal kurz fünf Minuten Meditation. Das ist auch aus dem Reiki, in dem man auch in einer Gebetshaltung ist und dann Energie fließen lässt.

Die Erzählerin beschreibt hier verschiedene Ritualhaltungen. Die erste könnte man als eine der traditionell-christlichen Haltungen bezeichnen, kniend und mit gefalteten Händen. Uli macht deutlich, dass es sich hierbei um eine im Rahmen der Erziehung erlernte Gebetshaltung handelt. Zu Beginn des Interviews hatte Uli von ihrer stark katholisch geprägten Erziehung berichtet und wie sie im Laufe ihrer Jugend immer stärker weg von der Kirche hin zur »Spiritualität« gekommen sei. Während sie heute viele christliche Inhalte ablehnt, zeigt diese Passage, dass die Übernahme einer christlichen Ritualhaltung für sie nicht problematisch scheint. Dies wird insbesondere durch das Fehlen jeglicher Legitimierungsmuster an dieser Stelle verdeutlicht. Die Ausbildung eines rituellen Wissensfundus während der Kindheit und Jugend dürfte vorwiegend in mimetischen Prozessen erfolgt sein.97 Unter Rückgriff auf ihr aktuelles rituelles Wissen gelingt es der Akteurin dann, ihre gegenwärtige rituelle Praxis zu gestalten. In die-

97 Vgl. Wulf 2005.

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ser gibt es neben der zuerst genannten, knienden Körperhaltung noch andere Möglichkeiten zu beten. Uli adaptiert weitere körperliche Haltungen aus einer anderen rituellen Praxis, der Meditation. Die von vielen Meditationspraktizierenden im Westen genutzte körperliche Haltung des Schneidersitzes (als bequemere Variante des Lotussitzes) kann Uli auch als Basis für ihr Gebet dienen, welches sie »leise« durchführt. Eine weitere Bedeutung schreibt sie der Stimme in diesem Ausschnitt nicht zu. Als konkretes Beispiel für eine rituelle Praxis, in die ein Gebet integriert werden kann, nennt die Erzählerin zudem eine ReikiMeditation. Wie bereits bei Nicki wird auch hier die Idee genannt, dass im Rahmen von Gebeten etwas »fließt«, konkreter als zuvor wird hier »Energie« genannt. Wie sich bereits bei dieser Erzählsequenz zeigt, ist die praktische Umsetzung von Gebeten für die Akteure sehr flexibel gestaltbar, ohne dass diese Flexibilität besonders begründet werden muss. Im Gegensatz zu Ulis Aufzählung körperlicher Variationen, welche die Gebetsperformanz beinhalten kann, verweist Andi ebenfalls im Rückgriff auf eine erlernte Ritualperformanz auf textuelle Optionen, aus denen sie wählt. Zudem kommen bei ihr Aspekte der rituellen Rahmung zur Sprache: Andi: Also ich versuch mir dann den Raum sehr harmonisch einzurichten. Also es wird immer eine Kerze angezündet und ich atme dann zwei Mal tief durch und versuch eben sehr entspannt zu sein. Und dann bet ich dann [klatscht beide Handflächen vor der Brust zusammen, N.M.], das mach ich so, wie man das eben als Kind gelernt hat. Also wirklich die Hände verschränken und entweder kommt dann ein Gebet, das ich kenne, also Vater Unser oder was auch immer. Und manchmal kommen dann eben auch noch Wünsche von mir dazu.

Bei dieser Erzählerin wird das Gebet als sich von alltäglichen Handlungen abgrenzend konstruiert. Sie erzählt, dass sie »versucht« eine besondere Atmosphäre zu schaffen, indem sie z. B. eine Kerze anzündet. Auch ihr körperlicher Zustand unterscheidet sich vom Befinden außerhalb des Gebets. Sie gibt an mittels der Atmung einen Entspannungszustand zu erzielen, der Voraussetzung für das kommende Gebet ist. Nachdem die Rahmung durchgeführt wurde, nimmt die Akteurin die nach eigenem Verständnis für ein Gebet typische Handhaltung ein. Die Hände werden »verschränkt«, eine Haltung, die sie nach eigenen Angaben in der Kindheit erlernt hat. Wie bereits bei Uli wird auch bei Andi ein Hinweis auf die christlich geprägte Sozialisation gegeben, die auch das Erlernen grundlegender ritueller Praxismuster beinhaltete. Auch hier unterliegt die Verwendung dieser christlichen Praxismuster keinem weiteren Legitimierungsbedürfnis. Dies bildet einen Anhaltspunkt dafür, dass die unveränderte Integration bzw. Weiter-

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verwendung dezidiert christlich konnotierter, ritueller Praxismuster im Gegensatz zur Transformation von christlichen Ritualelementen nicht an ein besonderes Begründungs- oder Argumentationsverhalten in den Narrationen gekoppelt sein muss. Veränderungen in einer vorgegebenen, von anderen Autoritätsstrukturen geprägten rituellen Praxis werden begründet, die unveränderte Übernahme solcher Praxen hingegen nicht. Damit verstärken sich die Hinweise darauf, dass die Akteure zwischen der Übernahme christlich-religiöser Inhalte (z. B. JesusFigur) und der Übernahme christlicher Ritualstrukturen zumindest narrativ differenzieren. Ersteres wird, wie in Kapitel 4 gezeigt, mit deutlichen Legitimierungsstrategien begründet, letzteres hingegen scheint keinem Begründungszwang zu unterliegen. Nach Einnahme der Ritualhaltung berichtet Andi, wie die inhaltliche Gestaltung ihrer Gebete aussieht. Trotz der sehr knappen und kompakten Darstellung lassen sich analytisch zwei prägnante Punkte festhalten. Zum einen ist auch hier erneut erkennbar, dass die inhaltliche Gestaltung von Gebeten höchst flexibel gehandhabt wird. Die Erzählerin verweist auf den bekannten christlichen Ritualtext des Vater Unsers, fügt jedoch hinzu, dass sie zusätzlich auch individuelle Wünsche äußert. Zum anderen ist bemerkenswert, wie die Erzählerin die Verwendung der Gebetsinhalte schildert. Sie selbst tritt dabei in der Narration als handelnder Akteur in den Hintergrund. Das Vater Unser »kommt«, auch die individuellen Wünsche »kommen«, als ob die Handlungsmacht im rituellen Verlauf nicht bei der Erzählerin selbst liegt. Weiterreichende Aussagen über die Akteurskonstruktion von Handlungsmacht zu treffen, ist in diesem Fall jedoch nicht möglich. Dennoch macht die ebengenannte Stelle darauf aufmerksam, die generelle Zuschreibung von Handlungsmacht für die Konstruktion von ritueller Praxis weiter zu beobachten. Kurz und prägnant berichtet schließlich die dritte hier noch anzuführende Akteurin von ihrem Gebetsverhalten. Kim antwortet auf die Fragen: N.M.: Und irgendwelche Gebete oder so? Kim:

Gebete mach ich immer täglich, auch bevor sie gekommen sind. Und ja, durch das Atmen auch also, doch, Gebete sind Begleiter.

N.M.: Und wie genau beten sie denn? Kim:

Verschieden, also oft in freien Worten und laut oder leise und beides.

N.M.: Nur in bestimmten Haltungen? Kim:

Nee, nicht in einer bestimmten Haltung, manchmal im Sitzen, manchmal im Stehen, im Knien kann ich nicht mehr, auch in der Kirche.

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Es wird deutlich, dass die Gebetspraxis keiner festgelegten Struktur folgt. Sowohl die Frequenz der Gebete, als auch die Verwendung von Körper und Stimme werden je nach Bedarf und Situation angepasst. Allein körperliche Einschränkungen verhindern die Nutzung einer bestimmten Gebetspose, dem Knien. Trotz der scheinbaren freien Gestaltbarkeit der rituellen Praxis bewegt sich Kim bei der Auswahl ihrer performativen Muster im Rahmen von bekannten Gebetsstrukturen. Zur Wahl stehen zwei Möglichkeiten des verbalen Ausdrucks, laut und leise, und drei Möglichkeiten des körperlichen Ausdrucks, sitzen, stehen und knien. Damit wählt sie aus einem Repertoire an performativen Ritualaspekten aus, das deutlich von der eigenen christlichen Gebetstradition geprägt ist. Überblickt man die eben aufgeführten Beispiele von ritueller Praxis, so lassen sich auch auf die im ersten Abschnitt dieses Kapitels erörterten Inventions-, Adaptions- und Transformationsprozesse einige Punkte festhalten. Wie die Beispiele gezeigt haben, können ritual-ästhetische Dimensionen – hier insbesondere somatische – als physischer Ausdruck religiöser Identitätsarbeit angesehen werden. Die Positionierung im Diskurs gegenwärtiger Religiosität gelingt den Akteuren gerade auch durch eine flexible Handhabung der rituellen Praxis bzw. der Anwendung von Inventions-, Transformations- und Adaptionsprozessen nicht nur auf Ebenen der Ritualskripte, sondern auch durch die Umsetzung in performativen Vorgängen. Besonders herausgehoben wurde in den Beispielen der Bereich der rituellen Gestik. In der Praxis finden sich sowohl auf performativer wie auch auf textueller Ebene von den Akteuren deutlich herausgehobene Transformationsprozesse, die vor allem den Umgang mit christlichen Ritualmustern betreffen. Werden hier Veränderungen vorgenommen, so kommen ausführliche Legitimations- und Authentifizierungsmuster in der Narration zum Einsatz. Die religiösen und rituellen Wissensstrukturen werden von den Akteuren als Strukturen wahrgenommen, die an bestimmte Interpretations- und Deutungshorizonte gebunden sind, über welche sie nicht verfügen können. Bestimmt von z. B. der katholischen Kirche kann eine solche rituelle Gebetspraxis nicht im Rahmen der individuellen Identitätsarbeit Verwendung finden. Es bedarf daher bestimmter Veränderungsprozesse. Die Vermutung liegt daher nahe, dass es mit ansteigenden Tendenzen zu kollidierenden Bedeutungszuschreibungen an z. B. die Gebetspraxis zu verstärkten Transformationsbemühungen kommt, die entsprechend rhetorisch verankert werden. Bei Gebeten treffen kirchen-christliche und alternative Zuschreibungen aufeinander, die innerdiskursiv oft als nicht miteinander vereinbar angesehen werden. Kollidierende Bedeutungszuschreibungen innerhalb einer diskursiven Aushandlung können daher als Motor für ritual- und religionsdynamische Prozesse angesehen werden.

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Transformationsprozesse, Inventionen und Adaption in rituellen Texten und ritueller Praxis sind aber – so deuten es die Beispiele an – keineswegs der völligen Beliebigkeit ausgesetzt. Eine entscheidende Rolle nimmt dabei das verinnerlichte rituelle Praxiswissen ein. Zunächst soll das Geschehen aus individualbiographischer Perspektive betrachtet werden. Wie einige Interviewbeispiele deutlich machen, kann davon ausgegangen werden, dass die rituelle Praxis in mimetischen Prozessen insbesondere in Kindheit und Jugend geprägt wurde, so jedenfalls die zeitliche Einschätzung der Akteure. Zu mimetischen Prozessen gerade auch in Bezug auf rituelle Praxis bemerkt Wulf, dass es sich hierbei um eine Repetition von vorhergehenden Ritualen handelt, die vor allem unter Rückgriff auf ästhetische Mittel wirkt.98 Es kann daher auch von mimetischem Imprintment gesprochen werden, da durch die praktische Wiederholung rituelles Wissen habituell eingeschrieben wird. Dabei kann in mimetischen Prozessen immer nur rituelles Wissen eingeschrieben werden, das bereits in »ritual worlds already created by people«99 vorhanden ist. Wie in den Beispielen sichtbar wird, sind die Akteure insbesondere von christlichen Gebetstexten, aber auch in ihren körperlichen Haltungen von vorhandenen Ritualstrukturen geprägt. Hier bildete sich eine habituell verankerte Basis rituellen Wissens heraus, welches im Laufe der Biographie auf weiteres rituelles Wissen stößt, teilweise aus anderen religiösen Diskursen. Dieses aktuell zur Verfügung stehende rituelle Wissen als die Summe der für den Akteur zugänglichen Ritualstrukturen (in Theorie und Praxis!) wird nun in komplexen Synchronisationsund Adaptionsprozessen mit dem vorhandenen und verinnerlichten Wissen in der Durchführung der stetigen Identitätsarbeit verarbeitet. Den Rahmen dafür bilden diskursübergreifende Aushandlungen darüber, wie rituelle Strukturen generell zu bestimmen sind. Bei den Transformations- und Inventionsprozessen ist zu erkennen, dass diese übergreifenden Ritualstrukturen auch den Rahmen für die Gestaltbarkeit dieser Prozesse bilden. An dieser Stelle kann noch einmal auf Beispiele der transformierten Gebetsgestik verwiesen werden. Gebetshaltung A (»traditionell-christlich« mit vor dem Körper verschränkten Händen) ist vielen Akteuren durch Sozialisationsprozesse im kirchen-christlichen Diskurs bekannt und wurde durch Vorgänge des mimetischen Imprintments Teil ihres habitualisierten Ritualwissens. Bei der Selbstpositionierung in einem neuen religiösen Diskurs möchten die Akteure nun diese Ritualhaltung den neuen Bedingungen anpassen, um ihre Wirksamkeit auch in diesem Raum zu gewährleisten. Sprachlich kommt es an dieser Stelle zu deutlichen Veränderungen in den Bedeutungs-

98 Vgl. Wulf 2006, 409. 99 Ebd.

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zuschreibungen. Praktisch wird eine neue Gebetshaltung B entworfen (z. B. nach oben ausgestreckte Arme). Dieser Transformationsprozess bleibt jedoch innerhalb eines diskursübergreifenden Rahmens, der die Akteure die neue Gebetshaltung B auch weiterhin als rituelle Gestik erkennen lässt. Ohne eine gleichzeitig diskursübergreifende Umformung rituellen Praxiswissens wäre es daher z. B. undenkbar, Gebetshaltung A durch ein nach vorne ausgestrecktes linkes Bein zu ersetzen und dies zur neuen Gebetshaltung zu erklären. Zum einen würde dies dem verinnerlichten Verständnis von dem widersprechen, was als Gebetshaltung zu fassen ist, zum anderen wäre eine solche Haltung auch für andere nur schwer als Ritualgestik zu erkennen. Wie in einigen Beispielen erkennbar ist, werden transformierte rituelle Praxen auch an Dritte weitergegeben und werden hier in mimetischen Prozessen als rituelles Praxiswissen zur Verfügung gestellt.

5.3 R ITUALE

DER

E NERGIE -

UND

H EILARBEIT

Neben Gebeten findet sich insbesondere bei der Durchsicht aktueller Internetangebote eine Vielfalt von Ritualen, die der sogenannten Heil- und Energiearbeit zugeordnet werden können. Nach der Präsenz im Internet und auf dem Buchmarkt zu schließen, ist hier vor allem Reiki in seinen verschiedensten Variationen eine der populärsten rituellen Anwendungen. Aber auch andere Energie- und Heilsysteme verzeichnen eine wachsende Beliebtheit und werden oftmals mit Reikitechniken kombiniert, sodass eine klare Trennung zwischen den unterschiedlichen Methoden in vielen Fällen nicht möglich ist. Da der gesamte Bereich der Heil- und Energiearbeit bislang religions- und ritualwissenschaftlich so gut wie nicht erfasst ist100, folgt zunächst eine grundlegende Einführung in die Praxis und Methoden verschiedener Systeme, die derzeit populär sind. Der Begriff »System« ist teilweise dem Sprachgebrauch der Akteure entlehnt. Er suggeriert zwar auf den ersten Blick eine klar angeordnete Aufstellung bestimmter Inhalte, doch zeigt sich bei seiner Applikation auf den Energie- und Heilbereich, dass dies nur selten der Fall ist. Unter einem System werden von den Akteuren verschiedene, allerdings durch eine inhaltliche Komponente verbundene rituelle Handlungen und Aspekte betrachtet. So können zu einem Sys-

100 Ein einführender Artikel mit religionsgeschichtlichem Schwerpunkt von Ulrich Dehn liegt zu Reiki vor. Hierin charakterisiert er Reiki als eine »amerikanische Bewegung mit (amerikanisch rezipierten) ostasiatisch-weltanschaulichen Elementen«. Zudem hält er es für gerechtfertigt, von Reiki als einer »religiösen Bewegung« zu sprechen. Dehn 2002, 121.

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tem sowohl die Einweihungsrituale, rituelle Gesten und bestimmte Ritualtexte als auch dazugehörige Heilrituale oder Anrufungen gezählt werden. Als verbindende Komponente wird meist eine bestimmte Energieart identifiziert, die als charakteristisch für das jeweilige System gilt. Einführend wird im Folgenden ein kurzer Überblick in die Praxis und die Geschichte von Reiki als dem bekanntesten dieser Heilsysteme gegeben, um den Lesern einige Grundlagen zu diesem Bereich ritueller Praxis näherzubringen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die folgende Einführung nahezu ausschließlich auf Angaben praktizierender Akteure und Primärliteratur beruht, da sonst noch keine wissenschaftlichen Studien vorliegen. 5.3.1 Einweihungen vor Ort, Fern- und Depoteinweihungen Sowohl für Reiki, als auch für andere Energie- und Heilsysteme spielen Einweihungen eine herausragende Rolle. Allgemeine Erläuterungen dazu werden daher den Ausführungen zu religionsgeschichtlichen Verortungen bzw. aktuellen Ausdifferenzierungen der einzelnen Systeme vorangestellt. In den Einweihungsritualen – so die Akteure – wird der Initiand durch die rituelle Handlung erstmalig in den Kontakt zu einer bestimmten Energie oder meta-empirischen Wesenheit gebracht. Diese »Freischaltung« ermöglicht es dem Akteur nach der Initiation beliebig auf die vermittelten Energien oder das vermittelte Wissen zurückzugreifen und damit seinerseits eigenständig Heilrituale durchzuführen. Unabhängig von der systemgebundenen inhaltlichen Ausgestaltung der Einweihungen, gibt es zwei Grundformen, die sich bei den Akteuren immer wieder finden und die daher vorweg vorgestellt werden. Einweihungen vor Ort Diese Einweihungen werden meist nach einer gewissen Vorbereitungs- und Lernphase des Initianden von einem Lehrenden bzw. dazu Befähigten vorgenommen. Initiationsgeber und -nehmer sind dabei gleichzeitig am selben Ort physisch anwesend. Diese Art von Einweihungen findet oft am Ende von spezifischen Ausbildungsworkshops statt, die sich über ein oder mehrere Tage oder sogar Wochen erstrecken können. Zum genauen Ablauf solcher Einweihungen äußert sich die Primärliteratur nicht sehr detailliert. Für das Usui101 System des Reiki schreibt Oliver Klatt, ein bekannter Buchautor, beispielsweise folgendes:

101 Siehe dazu ausführlich Kapitel 5.3.2.

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Die Einweihung in den ersten Grad umfasst in der Regel vier Zeremonien …, die zusammen als ›Einweihung in den ersten Grad‹ gelten. Diese befähigt den Schüler dazu, die universelle Lebensenergie Reiki per Handauflegen an sich selbst und andere zu übertragen. Die Einweihung in den zweiten Grad umfasst in der Regel eine Zeremonie …. Diese befähigt den Schüler dazu, die drei Symbole des zweiten Grades zur Verstärkung des ReikiFlusses, zur Mentalbehandlung und zur Fernbehandlung anzuwenden. Die Einweihung in den Meistergrad (auch dritter Grad genannt) umfasst in der Regel eine Zeremonie. Diese befähigt den Eingeweihten dazu, wiederum andere in den ersten Grad, den zweiten Grad und den dritten Grad einzuweihen.102

Zwar beschreibt der Autor das grundsätzliche Ziel der verschiedenen Einweihungsstufen, ausführliche Informationen zum Ablauf erhält der Leser hingegen nicht. Diese zurückhaltende Darstellung findet sich allgemein in vielen Buchpublikationen über Reiki. Dies deutet darauf hin, dass einige Akteure die Inhalte und den Ablauf der Einweihungen nicht öffentlich bekannt machen möchten, auch die Initiierten schweigen oftmals über den Akt der Initiation.103 Dennoch gibt es insbesondere im Internet einige Quellen, die diese, von vielen Akteuren als dominant erachtete Richtlinie der Zurückhaltung teilweise oder ganz überschreiten. So finden wir auf der Homepage »Reiki Stern« folgende Erläuterungen zum Akt der Einweihung: Wenn Du Eingeweiht [sic!] wirst in Reiki, so geschieht dies über eine Handlung des Meisters. Meist sitzt Du auf einem Stuhl, hast deine Hände mit den Handflächen aneinandergelegt vor deinem Herzen, so wie bei einem Gebet. Oder die Hände liegen mit den Handflächen nach oben auf deinen Oberschenkeln. Deine Augen sind geschlossen. Meist wird schöne, meditative Musik dabei laufen, und der/die Meister/in werden deine Aura reinigen, oder wie sie sagen die Energie-Kanäle und werden dann u. U. noch einige Symbole in deine Aura malen. – Manchmal werden sie dich anpusten. Du wirst irgendwelche Bewegungen wahrnehmen.104

Diese Beschreibung ist zwar immer noch recht allgemein gehalten, vermittelt aber einen ersten Eindruck von der Einweihungshandlung. Bestimmte Körperhaltungen und Gesten scheinen dabei eine besondere Rolle zu spielen, ebenso wie die Verwendung spezifischer Symbole (Näheres dazu siehe unten).

102 Klatt 2005, 223. 103 So zum Beispiel auch Uli im Interview. 104 Homepage »Reiki Stern«. Zugriff unter: http://www.elfenreich-web.de/ (10.01.12).

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Ferneinweihungen Die in dieser Art der Einweihung übermittelten Inhalte sind im Allgemeinen die gleichen wie bei einer Einweihung vor Ort. Der Unterschied besteht lediglich in der Präsenz der Ritualakteure. Bei einer Ferneinweihung sind, wie der Name schon vermuten lässt, Initiationsgeber und -nehmer nicht am selben Ort und teilweise läuft das Ritual auch zeitversetzt ab. Doch die einzelnen Varianten sollen getrennt betrachtet und dazu Aussagen der Ritualakteure gehört werden. a) Ferneinweihung (synchron): Bei einer synchronen Ferneinweihung sind die beteiligten Personen zwar nicht am gleichen Ort, die Einweihungshandlung findet aber für beide Personen zum gleichen Zeitpunkt statt. Exemplarisch kann hierfür die Erläuterung der Autorin der Webseite »Reiki Stern« angeführt werden, aus der Begründungsmuster für das Funktionieren dieser Einweihungsart hervorgehen. [alle Fehler sic!] Das Besondere an einer Ferneinweihung ist, daß Du nicht direkt mit dem Meister zusammen bist in einem Raum. Ja Dein Meister könnte rein theoretisch auch auf dem Mond oder in Australien sitzen, und doch funktioniert die Einweihung! Warum? Der »Träger« der Einweihung ist die universelle Energie im Universum. – Ein ReikiMeister kann die Entfernung über Zeit und Raum mit dem Verbindungssymbol, daß man schon im 2ten Grad erlernt überbrücken. Wenn Du zu der miteinander verabredeten Zeit bereit bist, - Dir Dein Raum für eine Einweihung harmonisch hergerichtet hast. – Dein höheres Selbst angesprochen hast, daß es die Einweihung annehmen möchte, dann wird diese Einweihung wunderbar funktionieren. So als wäre Dein Reiki-Meister anwesend. – Ich z.B. mache die Ferneinweihungen zeitgleich …. Ich weihe jeden einzeln ein. Also nicht mehrere Menschen gleichzeitig. In der Regel sind Ferneinweihungen ein deut intensiver als direkt vor Ort ausgeführte. Dies macht Ferneinweihungen nicht besser oder schlechter. – Sie werden nur anders empfunden. Generell ist der Ablauf der gleiche, wie bei einer herkömmlichen Vor-Ort-Einweihung. – Der Nachteil liegt auf der Hand. Vor Ort sind Fragen sofort zu klären. – Und eine Ferneinweihung beinhaltet, daß man sehr viel aus gelesenem Material erlernen muß, was man in Seminaren sonst direkt und u.U. leichter lernt. Natürlich stehe ich Dir, wenn du Dich für eine Ferneinweihung bei mir entschieden hast auch anschließend zur Verfügung, wenn du Fragen hast.105

105 Homepage »Reiki Stern«. Zugriff unter: http://www.elfenreich-web.de/ (10.01.12).

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Interessant ist in dieser Darstellung vor allem die Erklärung darüber, warum diese Art der Einweihung ebenso uneingeschränkt funktioniert wie das Ritual vor Ort. Basis für die Einweihung (egal ob Fern- oder vor Ort) ist die Übermittlung von »universeller Energie«. Diese ist nach Vorstellung der Akteure weder ortsnoch personengebunden und kann, unter zu Hilfenahme von bestimmten Symbolen auch über große Entfernungen hinweg übermittelt werden. Um eine Repräsentanz des Initianden während des Rituals trotz der physischen Abwesenheit zu gewährleisten, arbeiten viele Initiationsgeber mit rituellen Stellvertreterobjekten (Fotos106, Puppen107 oder sonstiges). So beschreibt die Leiterin des SanspiritZentrums auf ihrer Homepage den Ablauf von Ferneinweihungen wie folgt: Wenn du dich für die Ferneinweihung entschlossen hast, vereinbaren wir zuerst einen Termin, der dir und mir passt. Darauf hin sende ich dir ein Mail mit dem Anmeldeformular, in das Du deine (unverwechselbaren) Daten wie Name, Wohnort, Geburtsdatum, ev. Geburtsort etc. eintragen kannst. Gleichzeitig teile ich dir meine Bankverbindung für die Überweisung der Einweihungsgebühr mit. Sobald ich das Formular und die Überweisung erhalten habe, werde ich dir deine Unterlagen und das Zertifikat senden. Im Idealfall erhältst du beides ungefähr zum Zeitpunkt der Einweihung. Ca. 10 Minuten vor der eigentlichen Einweihung begebe ich mich in eine meditative Stimmung (Ruhe, ein paar Kerzen, Meditationsmusik). Dies empfehle ich dir auch (ist aber nicht Bedingung). Die Ferneinweihung läuft fast genauso ab, wie eine Einweihung, die ich an der physischen Person durchführe. Bei einer physischen Einweihung sitzt die Person auf einem Stuhl. Bei einer Ferneinweihung platziere ich dein Anmeldeformular auf dem Stuhl und stelle mir vor, dass du auf dem Stuhl sitzt. So führe ich dann die Ferneinweihung an deiner imaginären Person durch - genauso wie ich sie an einer physisch präsenten Person ausführen würde. Der eigentliche Einweihungsprozess dauert lediglich 30 bis 45 Minuten.108

Aus der Beschreibung geht hervor, dass sich die Ritualpartizipanten zu einem vorher vereinbarten Zeitpunkt durch eine gewisse Rahmung (nicht zwingend erforderlich) in das Ritualgeschehen begeben, wobei als Stellvertreter in diesem Fall das Anmeldeformular des Initianden verwendet wird. Damit dieses Ritual

106 Homepage »Ceteem«. Zugriff unter: http://www.ceteem.info/reiki/ (10.01.12). 107 Homepage »Reiki Lehrer«. Zugriff unter: http://reiki-reikilehrer.pytalhost. eu/ html/ reiki_fern_einweihung.html (05.03.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage. 108 Homepage »Sanspirit Zentrum«. Zugriff unter: http://www.sanspirit.de/11.html (05.03.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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überhaupt zustande kommt, müssen vorher allerdings alle formellen und finanziellen Aspekte zwischen den Teilnehmern geklärt werden. b) Ferneinweihung (asynchron): Als Variante der Ferneinweihung existiert die sogenannte Depot-Einweihung. Bei dieser Form befinden sich die Teilnehmer weder am gleichen Ort, wenn die Einweihung stattfindet, noch wird die Einweihung von den Akteuren zur gleichen Zeit vollzogen. Der Initiationsgeber führt die Einweihung durch und speichert diese in einem sogenannten Depot, eine Art gedachter Aufbewahrungsraum, von dem aus der Initiationsnehmer die Einweihung zu einem festgesetzten oder auch beliebigen Zeitpunkt abrufen kann. Die Beschreibungen zu dieser Depot-Einweihung sind divergent. In manchen Fällen wird zum Abrufen der Einweihung eine Art Schlüssel oder Passwort benötigt, welches zuvor zwischen Initiationsgeber und -nehmer vereinbart wurde. Bei anderen Depot-Einweihungen scheint dies nicht Voraussetzung zu sein. Auf der Homepage von »ReikiReikilehrer« findet sich folgende Differenzierung: [Herv.i.O.] Die Ferneinweihung per Schlüssel Abruf Der Lehrer bereitet die Einweihung mit dem Einverständnis der ursprünglichen Quelle (Gott) und dem Höheren Selbst vor. Der Einzuweihende kann diese Einweihung mit einem sogenannten Schlüssel - wann er möchte - abrufen und wiederholen. Die Ferneinweihung per Depot oder Chi Ball Hierbei muss die Einweihung gewissenhaft vorbereitet und sehr genau auf die dort gespeicherte Energie geachtet werden. Auch diese Einweihung erfolgt per Abruf oder entlädt sich zur vereinbarten Zeit.109

Auf der bereits zitierten Webpräsenz von »Reiki Stern« ist folgende Erläuterung dieser Einweihungsart zu lesen: Ich bereite dir ein sogenanntes Depot vor mit der Einwehung [sic!], die du dir mit einem von mir »programmierten Schlüsselsatz« abrufst, wann du selber bereit bist die Weihe zu empfangen. Vorteil: Man kann sie sogar mehrmals abrufen.110

109 Homepage »Reiki Lehrer«. Zugriff unter: http://reiki-reikilehrer.pytalhost.eu/ html/reiki_fern_einweihung.html (05.03.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage. 110 Homepage »Reiki Stern«. Zugriff unter: http://www.elfenreich-web.de/ (10.01.12).

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Auf der Homepage »Soraja-Reiki« hingegen findet sich eine Beschreibung von Depot-Einweihungen, bei der kein Schlüssel benötigt wird: [alle Fehler sic!] Wenn mit dem Einweihungsdepot gearbeitet wird, hat es zudem noch den zweiten Vorteil, dass der Einzuweihende sich innerhalb des verabredeten Zeitraumes sich die Einweihung abholen kann, wenn es für ihn am besten paßt. Z.B.: Das Depot wird an einem Tag von morgens 8.00 Uhr bis nachmittags 16.00 eingerichtet. Es kann aber auch für immer eingerichtet werden. Dann ist die Einweihungsenergie ein Lebenlang und immer wieder abrufbar. So muß der Einzuweihende nicht ständig auf die Uhr schauen und eine Menge Druck wird genommen. Jeder kann sich die Zeit zur Vorbereitung nehmen die er benötigt und ist optimal für die Energien breit. Ich habe bei den Ferneinweihungen die Energien immer viel stärker spühren können, war in meiner gewohnten Umgebung, kannte die Geräuschkulisse und war so viel entspannter.111

Insgesamt wird immer wieder betont, dass jegliche Form der Ferneinweihung genauso, wenn nicht sogar stärker, wirksam ist wie eine Einweihung vor Ort. Es ist davon auszugehen, dass diese beiden Grundformen der Einweihung vor allem im Zuge der Popularisierung von Reiki entwickelt und von hieraus auch für andere Energie- und Heilsysteme adaptiert wurden. 5.3.2 Reiki und weitere Heilsysteme Die historischen Entwicklung von Reiki und die Mechanismen der Vervielfältigung der Reiki-Systeme sind bislang noch nicht systematisch aufgearbeitet worden. Es soll daher ein kurzer historischer Abriss vorgenommen werden. In den Geschichtskonstruktionen der religiösen Akteure wird das Heilsystem des Reiki auf einen Mann namens Mikao Usui zurückgeführt, der von 1865-1921 in Japan gelebt haben soll. Über die »Entdeckung« der heilenden Energie (japanisch Rei = Kosmos und Ki = Energie) existieren mehrere Varianten einer Legende112, in der Usui mal als christlicher Mönch, mal als japanischer Gelehrter auftritt. Hauptmotive der christlich orientierten Variante der Legende sind: Der junge Usui versucht zu verstehen, wie Jesus Kranke heilen konnte. Nach einem Studium christlicher Schriften an der Universität von Chicago und bud-

111 Homepage »Soraja Reiki«. Zugriff unter: http://www.soraja-reiki.com/3.html (03. 11.09). Webpräsenz ist inzwischen überarbeitet. Die archivierte Version inkl. des zitierten Textes kann angefragt werden. 112 Siehe dazu Dehn 2001, 383; Dehn 2002, 111ff.

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dhistischer Schriften in Japan entschließt sich Usui zu einer 21-tägigen Fastenund Meditationsperiode auf dem Berg Kurama. Am 21. Tag trifft ihn ein Lichtstrahl in der Mitte der Stirn, der ihn in einen anderen Geisteszustand versetzt. Auf dem Rückweg von dem Berg stürzt Usui, hält aber umgehend die Hand über die Wunde und es hört auf zu bluten. Damit entdeckt er die Möglichkeit, eine heilende Kraft durch Handauflegen weiterzugeben. In neuerer Zeit ist zu beobachten, dass diese traditionell überlieferte Entstehungsgeschichte von Reiki von Seiten der Praktizierenden selbst hinterfragt wird. Federführend in den Bemühungen auf der Suche nach der historisch »korrekten« Biographie Usuis ist derzeit der Deutsche Reikilehrer und Buchautor Frank A. Petter. Laut seinen Recherchen, die er direkt in Japan durchgeführt hat, war Usui ein gebildeter japanischer Geschäftsmann mit buddhistischem Hintergrund, der unter nicht genau geklärten Umständen Reiki entwickelte und erste Schüler ausbildete. Derzeit ist zu beobachten, dass die kritische Revision der christlichen Variante der Usui Biographie vermehrt Anklang bei einer Vielzahl von Reiki-Praktizierenden findet. Wie sich diese emischen Geschichtsschreibungsprozesse weiterentwickeln, bleibt aus religionswissenschaftlicher Sicht noch abzuwarten. Die christlich orientierte Legende von Usui wurde von der Frau gelehrt, die Reiki ab den 1950er Jahren im Westen maßgeblich verbreitet haben soll.113 Hawayo Takata, eine Hawaianerin mit japanischen Wurzeln, gab von sich an, die einzige, nicht in Japan lebende Person zu sein, die von Dr. Chujiro Hayashi in Reiki initiiert wurde. Hayashi gilt als einer der wenigen Personen, der den höchsten Grad der Initiation von Usui selbst erfahren habe. Von Takata wird berichtet, dass sie zu Lebzeiten nur 22 Personen in den höchsten Grad initiierte, die nach ihrem Tod im Jahr 1980 das Erbe von Takata weiterführen sollten. Dabei kam es zur Aufspaltung in zunächst zwei Hauptlinien. In der »Reiki Alliance«, bei deren Gründung im Jahr 1983 neun Mitglieder des höchsten Einweihungsgrades anwesend waren, entschloss man sich Phyllis Furumoto, die Enkelin von Takata, offiziell als Nachfolgerin und Linienhalterin anzuerkennen. Der »Reiki Association« (heute: »The Radiance Technique International Association«) steht Dr. Barbara Ray vor, die ihrerseits der Überzeugung war, von Takata als Nachfolgerin ausgewählt worden zu sein. Soweit es sich aus der Quellliteratur nach-

113 Zu folgenden Ausführungen siehe Klatt 2005. Klatt, selbst Reiki-Praktizierender, versucht in diesem Band soweit wie möglich die Geschichte von Reiki zu rekonstruieren. Als Versuch einer emischen Geschichtskonstruktion liefert Klatt einen detaillierten, teilweise auch kritischen Einblick in die Entwicklungen. Eine religionswissenschaftliche Bearbeitung des Themas liegt bislang noch nicht vor.

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vollziehen lässt, kam es bald nach dem Tod Takatas zu ersten Weiterentwicklungen des ursprünglichen Reikisystems in unterschiedliche Subsysteme, die sich vor allem in der Frequenz und Qualität der verwendeten Heilenergie unterscheiden.114 Während Hammer im seiner Monographie aus dem Jahr 2001 bereits 30 verschiedene Varianten zählen konnte115, hat sich die Zahl bis heute nahezu verdreifacht.116 Nach diesem kurzen historischen Abriss soll nun ein grundlegender Einblick in die Einweihungs- und die daran anschließende Heilarbeit unternommen werden, die sich an den Publikationen von bekannten deutschsprachigen ReikiAutoren117 orientiert. Grundlegend für die folgenden Beschreibungen ist vor allem die Reiki-Praxis, welche durch Hawayo Takata auf Mikao Usui zurückgeführt wird und die den größten Verbreitungsgrad im deutschsprachigen Raum genießt. Das Reiki-System gliedert sich grundlegend in drei Grade, denen jeweils auch eine Einweihung entspricht. Diese können, wie im vorangehenden Kapitel dargestellt, vor Ort oder als Ferneinweihungen vorgenommen werden. Basis für das System ist die Arbeit mit der »universellen Lebensenergie«, die nach der Vorstellung der Akteure grundsätzlich jedem Menschen zur Verwendung offen steht, der sich für diese Energie öffnet. Dies geschieht in Einweihungen, häufig auch »Einstimmungen« genannt. Die Ausbildung im ersten Reiki-Grad sollte laut einem der leitenden Handbücher zum Thema Reiki, dem »Reiki-Kompendium« von Walter Lübeck, Frank A. Petter und William L. Rand mindestens folgende Themen beinhalten:118 • • • • •

Geschichte des Reiki Was ist Reiki und wie funktioniert es Die fünf Reiki-Prinzipien Die Einstimmung zu Reiki 1 … Demonstration und praktische Übungen in vollständiger Reiki-Behandlung: die Eigenbehandlung und die Behandlung anderer Personen

114 Verschiedene Systeme werden angesprochen bei Klatt 2005. 115 Hammer 2001, 378. 116 Allein bei der Durchsicht der für diese Studie ausgewählten 237 Homepages konnten ca. 80 verschiedene Reiki-Systeme identifiziert werden. 117 Hier sind in erster Linie Walter Lübeck und Frank Petter zu nennen. 118 Lübeck, Petter & Rand 2005.

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Nach Angabe der Autoren schließen einige Reiki-Lehrer auch japanische ReikiTechniken mit ein, wie die Gassho-Meditation, Joshin Kokyuu-Ho, Reiji, Kenyoku und Byosen-Scanning. Zusätzliche Übungen oder Meditationen können nach persönlichem Ermessen des jeweiligen Lehrers mit aufgenommen werden.119 Nach Durchlaufen dieser Ausbildung und dem Erhalt der ersten Einweihung sind die Akteure befähigt, eigene Reiki-Behandlungen durchzuführen. Der Ablauf dieser Heilbehandlungen kann in der Praxis individuell sehr variabel gestaltet werden. Nach der entsprechenden Vorbereitung des Heilraumes bereitet sich der Reiki-Geber auf die bevorstehende Behandlung vor, indem er/sie sich »einstimmt«, d. h. sich den Kontakt zu der universellen Lebensenergie bewusst macht. Die eigentliche Behandlung erfolgt durch direktes Handauflegen bzw. Halten der Hände in einem geringen Abstand über bestimmten Körperstellen. Häufig wird am Kopf begonnen über den Torso bis hin zu den Extremitäten. Auch werden oft zusätzlich Reinigungen der Aura oder Behandlungen der Chakren vorgenommen. Hierfür ist aber teilweise bereits der nächste Ausbildungsgrad erforderlich. Im zweiten Ausbildungsgrad von Reiki stehen vor allem drei Symbole im Mittelpunkt. Die Schüler lernen neben der Bedeutung und dem Aussehen der Symbole auch die jeweils zugehörigen »Mantren«.120 Auch die praktische Anwendung der Symbole im Rahmen von Behandlungen wird geübt. Die Symbole sollen den Anwender dazu befähigen, Reiki über zeitliche und räumliche Begrenzungen hinweg zu übermitteln. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die oben genannten Ferneinweihungen. Bei den Symbolen handelt es sich um:121 • Das transpersonale Kontaktsymbol »HS«: Durch dieses Symbol soll die Ver-

bindung zum höheren Selbst hergestellt werden, das sich außerhalb von Raum und Zeit befindet und welches daher die Aussendung und den Empfang von Reiki über diese Grenzen hinweg ermöglicht. • Das Symbol der Freiheit »SHK«: Dieses Symbol findet hauptsächlich Einsatz in der mentalen Behandlung, um hier Blockaden, sogenannte »alte« Muster oder Disharmonien aufzulösen. • Das Kraftverstärkungssymbol »CR«: Dieses Symbol dient zur Verstärkung der Reikienergie und ermöglicht es, die Energie auf bestimmte Orte hin zu fokussieren.

119 Lübeck, Petter & Rand 2005, 100. 120 Vgl. ebd., 115ff. 121 Zusammenstellung nach Lübeck, Petter & Rand 2005, 123ff.

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Alle drei Symbole sollen »mit der eingeweihten Hand oder mental gezeichnet«122 werden, wobei gerade das Kraftverstärkungssymbol auch mehrfach oder in Kombination mit den anderen Symbolen verwendet werden kann. In der Ausbildung und Einweihung zum dritten Grad wird gelegentlich zwischen der Einweihung zum Meister und der Ausbildung zum Lehrer differenziert, beide können aber auch zusammen gelehrt werden. Im Mittelpunkt steht die Einweisung bzw. Einübung des Meistersymbols »DKM«, welches es ermöglichen soll »universelle Lebensenergie in größerem Umfang aus den göttlichen Lichtwelten in die materielle Existenzebene«123 zu leiten. Neben der »Einstimmung« auf dieses Symbol wird eine Einweisung in die Bedeutung und praktische Umsetzung der Lehrerposition vermittelt. In diesem Rahmen wird auch die Initiationsbefugnis für alle Grade erteilt. In der religiösen Praxis wird Reiki insbesondere zur Eigen- und Fremdbehandlung eingesetzt. Viele religiöse Akteure sammeln erste Erfahrungen mit Reiki in eigenen Heilbehandlungen, bevor sie nach einer meist mehrjährigen Ausbildung selbst den Weg als Reiki-Ausbilder einschlagen. Mittlerweile wird Reiki nicht nur auf Menschen angewandt, sondern immer mehr Akteure behandeln auch Haustiere damit.124 Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ist Reiki daher mittlerweile zu einem wichtigen ökonomischen Faktor geworden. Die Preise für Behandlung und Ausbildung variieren dabei stark. Gelegentlich wird auch gefordert, insbesondere die Einweihungen kostenlos zu gewähren, mit dem Argument, dass diese Heilenergie jedem zugänglich sein sollte. Gegner erwidern darauf, dass eine gewisse Zugangsbeschränkung zu diesem religiösen Wissen zumindest teilweise eine notwendige Qualitätskontrolle ermögliche. Als Zusammenschluss von Reiki-Praktizierenden und Interessierten ist für Deutschland der Reiki-Verband-Deutschland e.V. zu nennen, der als kompetenter Ansprechpartner zur Verfügung stehen möchte, aber auch eine einheitliche Ausbildungsverordnung anstrebt.125 Wie bereits eben angesprochen, kommt es gerade in den letzten Jahren zu einer verstärkten Ausdifferenzierung von Reiki. Zum »klassischen« Usui Reiki sind mittlerweile eine Vielzahl neuer Subsysteme und Variationen hinzugetreten. Zwar kann eine vollständige Darstellung aktueller Reiki-Systeme aufgrund der

122 Lübeck, Petter & Rand 2005, 122. 123 Ebd., 129. 124 Siehe exemplarisch Homepage »Reiki Tierpraxis«. Zugriff unter: http://www.reikitierpraxis.de/ (10.01.12). 125 Siehe

Homepage

»Reiki

Verband

Deutschland

http://www.reiki-verband-deutschland.de (10.01.12).

e.V.«.

Zugriff

unter:

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unerschlossenen Forschungslage an dieser Stelle nicht geleistet werden. Eine Auflistung der verschiedenen Variationen soll aber zumindest einen Eindruck von deren Vielfalt geben. Diese Liste wurde auf Basis der für diese Studie ausgewählten Homepages erstellt. Usui Reiki Kundalini Reiki Jikiden Reiki Karuna Reiki Violette Flamme Reiki (Violet-Flame) Elemental Reiki Original Seven Degree Reiki Imara Reiki Aurora Reiki Crystal Reiki Delphin Reiki Triologie Drachen Reiki Elnariel Reiki Tantra Reiki Capai Reiki Astro Reiki Belenos Reiki Ancient Egyptian Reiki Tibetan Reiki Sacred Earth Reiki Huna Hawaiian Reiki Kava Reiki Flower Reiki Einhorn Reiki Phoenix Reiki Fairy-Realms Reiki Tachyon Reiki Apretar Reiki Eremias Reiki Jemnar Reiki Arcturus Reili Excalibur Reiki Sirius-Lemuria Reiki Fusion Reiki White Dove Reiki Golden Triangle Reiki

Ingá Reiki Licht Reiki Golden Light Reiki Gendai Reiki Raphael Reiki Psychic Reiki Pax Reiki Lightarina Ki Reiki Karma Reiki Junsui TM Reiki Herz Reiki Rowena Reiki Shing Chi Reiki Spirit Reiki Tera Mai Reiki Tree Reiki Usui Shiki Ryoho Reiki Lotus Petal Reiki Maria El Reiki Medizin Buddha Reiki Shamballa Reiki Shamballa Reiki 1024 Seichem Reiki Ascension Reiki Gold Reiki Lightarian Reiki TM New Usui Reiki Dento Reiki Gtummo Reiki Elmuria Reiki Ma’heo’o Reiki Rainbow Reiki Libertas Reiki Meridian Reiki Vajra Tummo Reiki Celtic Reiki

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Die Systeme wurden in den letzten Jahren überwiegend in den USA und Großbritannien entwickelt, einige stammen originär aber auch aus dem deutschsprachigen Raum.126 Charakteristisch für viele dieser Systeme ist, dass im Gegensatz zum Usui-Reiki andere, spezifische Energien eine tragende Rolle spielen, die oftmals als durch meta-empirische Entitäten vermittelt angesehen werden. Eine bedeutende Stellung nehmen dabei Aufgestiegene Meister ein, aber auch Engel oder Naturwesen werden als Übermittler dieser besonderen Energien verstanden. Auffällig ist, dass bei den meisten Systemen das Einweihungsgeschehen im Vordergrund steht. Die dadurch ermöglichten Heilbehandlungen werden kaum beschrieben und thematisiert. Viele Anbieter von einer oder mehreren Variationen arbeiten in ihrer religiösen Praxis auch mit Usui-Reiki. Von den Erläuterungen auf den Webpräsenzen ausgehend wird deutlich, dass über diese Reiki-Form der Einstieg in die Heilpraxis vollzogen wird und andere Reiki-Arten erst später hinzutreten. Es ist daher anzunehmen, dass die im Usui-Reiki vermittelte Heilpraxis mit den neuen Energiearten der anderen Systeme kombiniert wird und daher keine explizite Thematisierung der Behandlungskomponente mehr stattfindet. Reiki ist im Diskurs gegenwärtiger Religiosität heute mit Sicherheit das bedeutendste Heilsystem, das von den Akteuren dynamisch ausgestaltet wird und das durch seinen Varianzreichtum den religiösen Akteuren erlaubt, individuelle Schwerpunkte zu setzen. Der Pool ritueller Elemente, mit denen die Akteure ihre religiöse Praxis gestalten, umfasst allerdings noch eine Vielzahl anderer Energiebzw. Heilsysteme, die nun kurz thematisiert werden. Weitere Energie- und Heilsysteme Ebenso wie bei Reiki und seinen Variationen sind bei vielen weiteren derzeit populären Energie- und Heilsystemen127 die Einweihung in die jeweilige Energie von großer Bedeutung. Allerdings werden viele der im Folgenden aufgeführten Systeme von den Akteuren explizit nicht zum Bereich Reiki gezählt. Bei einigen hingegen sind die Trennlinien zu Reiki nicht immer eindeutig. Die meisten Systeme zielen auf Aspekte von Heilung ab, verstanden als Behandlung von sowohl körperlichen als auch geistigen Komponenten. Die Informationen, die man zu diesen Systemen im Internet bekommt, beschränken sich meist auf eine Charak-

126 Z. B. das sog. Rainbow-Reiki, entwickelt von Walter Lübeck. Vgl. Lübeck 2002. 127 Bei vielen Systemen handelt es sich um (eingetragene) Marken. Die Abkürzungen, die aus dem amerikanischen Raum stammen, lauten: TM (Trademark) als Marke, die nicht beim amerikanischen Markenamt eingetragen wurde; R® (registered) eingetragen beim Markenamt.

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terisierung der im Mittelpunkt stehenden Energieform. Eine Beschreibung der rituellen Anwendung findet sich hingegen kaum. Aufgrund der Vielfalt der Angebote und der schlechten Forschungslage in diesem Bereich kann nur ein kurzer Überblick über aktuell im Internet verhandelte Systeme gegeben werden. Dabei sollen lediglich Systeme, die eine höhere quantitative Repräsentanz auf den untersuchten Homepages aufweisen, erläutert werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass die folgende Darstellung jeglichem Anspruch auf Vollständigkeit entbehrt, da die Faktoren der Innovation und Kreativität in diesem Bereich so groß sind, dass beinahe wöchentlich neue Systeme entwickelt werden. Engel-Ki Mit Engel-Ki (ursprünglich auch »Zen-Engel-Ki«) wird eine Einweihung in die Energie der Engel angestrebt, die vor allem über die Farben des Regenbogens erfahrbar wird. Die Einweihung in das System sollte laut den Begründern, »einem Team von erfahrenen Reiki-Lehrern des Zen-Reiki-Lehrerrings unter Führung unserer Lehrerin Roswitha Ströbele«128 kostenfrei und ohne sonstige Zugangsbeschränkungen zur Verfügung stehen. Die deutschen Entwickler dieses Systems möchten sich dadurch von einer US-amerikanischen Variante namens »AngelLinksTM« abgrenzen, die zwar ebenfalls eine Einweihung in Engelenergien bietet, hierfür jedoch Geld verlangt.129 Mit Hilfe der Einweihung in die Engelenergien soll es den religiösen Akteuren ermöglicht werden, den bereits bestehenden, »natürlichen« Kontakt zu Engeln zu vertiefen. Engel-Ki kann sowohl in Ergänzung zu Reiki-Systemen als auch als eigenständiges System verwendet werden. Ra-Sheeba® Dieses Energiesystem wurde Anfang der 1980er Jahre von Merilyn Bretherick und Peter Johnson in Australien entwickelt. Nach ihren Angaben ist Ra-Sheeba ein sehr machtvoller Teil der universalen Heilenergie, der das erste Mal im alten Ägypten verwendet wurde und zu dem die Entwickler durch bestimmte Rituale, aber auch durch Channelings von dem ägyptischen Gott Ra Zugang erhalten haben. Die Energie setzt sich nach Angaben der Vermittler zusammen aus Ra, »the source from the centre of the Great Central Sun« und Sheeba, der »sexual, crea-

128 Homepage »Zen Reiki«. Zugriff unter: http://www.zen-reiki.de/ (10.01.12). 129 Homepage »Lightarian Institute«. Zugriff unter: http://www.lightarian.com/angel links.htm (11.01.12).

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tive, joyful expression of LOVE«.130 In der rituellen Arbeit sollen mit Hilfe dieser Energie sowohl die Chakren beeinflusst, als auch Veränderungen der DNS und des elektromagnetischen Feldes von Menschen vorgenommen werden. In der konkreten Einweihungs- und Heilarbeit werden bestimmte Symbole verwendet.131 Akteure, welche die Einweihung in diese Energie im deutschsprachigen Raum weitergeben, betonen die Stärke dieser Energieform und setzen daher für die Einweihung in dieses System häufig Erfahrung mit Energiearbeit voraus.132 WhiteLight Self Empowerment Dieses System wurde von der Deutschen, derzeit in Kanada lebenden, Daniela Hills entwickelt. Im Zentrum steht die Arbeit mit einer »weiß kristallklaren strahlenden Energiekugel«133, die vor allem bei der Arbeit an Chakren eingesetzt wird. Die Anwendung der Energiekugel soll die eigenen Schwingungen so erhöhen, »dass du mit deinem Höheren Selbst, deinen Geistführern und sämtlichen anderen Informationsquellen in Kontakt treten kannst.«134 Das System ist in vier Grade unterteilt:135 • Die Klärung: In dieser ersten Stufe geht es um die Klärung der Chakren. Dazu

wird in der Ausbildung eine Meditation gelehrt, die in täglicher Anwendung den Akteuren helfen soll, die Chakren und die Aura zu reinigen. • Die Heilung: In diesem zweiten Grad folgt eine Erweiterung der Meditation. Selbst- und Fremdbehandlungen werden erlernt und verschiedene Techniken zum Schutz und zur Reinigung (auch von Orten) werden vermittelt.

130 Homepage »Ra Sheeba«. Zugriff unter: http://www.rasheebaofficialsite.com/hi story_of_rasheeba.html (11.01.12). 131 Vgl. Homepage »Ra Sheeba«. Zugriff unter: http://www.rasheebaofficialsite.com/ Manuals.html (11.01.12). 132 Zur Rezeption im deutschsprachigen Raum siehe exemplarisch: Homepage »Reikifriends«. Zugriff unter: http://www.reikifriends.de/reiki/rasheeba.html. Homepage »Meister Reiki«. Zugriff unter: http://www.meister-reiki.de/ra_sheeba_reiki.htm. Homepage »Reikifreundschaft – Die Online Schule«. Zugriff unter: http://www. reikifreundschaft.com/rasheeba.html. Homepage »Reiki Stern«. Zugriff unter: http://www.elfenreich-web.de/aegyptisch.htm (alle verfügbar am 11.01.12). 133 Homepage »White Light Self-Empowerment«. Zugriff unter: http://www. expansionreiki. com/german/Willkommen.html (03.11.09). 134 Ebd. 135 Siehe die einzelnen Beschreibungen zu Grad 1-4 unter: http://www.expansion reiki.com/german/index.html (11.01.12).

264 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN • Die Ausbreitung: Auf dieser Stufe erfolgen eine weitere Öffnung der Chakren

und eine Ausdehnung der eigenen Energie. Themen sind u. a.: Fernarbeiten, Kontakt mit höherem Selbst und spirituellen Führern, ICH BIN Technik und die Vermittlung des Geheimnisses der Verjüngung. • MeisterIn-LehrerIn: Mit diesem letzten Grad erhält der Schüler die Autorisation, nun als Meister selbst Schüler auszubilden und in das System einzuführen. Magnified Healing® Dieses System wurde von den US-Amerikanerinnen Gisèle King und Kathryn Anderson entwickelt, die beide nach eigenen Angaben bereits seit den 1970er Jahren im Bereich alternativen Heilens tätig sind.136 Auf der Webpräsenz der beiden ist nachzulesen, dass diese Heilmethode im Jahre 1983 auf der Erde eingeführt wurde, zuvor sei sie nur dem Gebrauch der Aufgestiegenen Meister in einer höheren Dimension vorbehalten gewesen. Diese »alte« Heilmethode wurde schließlich im Jahr 1992 in erweiteter Form durch Lady Kwan Yin, einer Aufgestiegenen Meisterin, an die Damen King und Anderson übermittelt. Die Heilmethode wird auf der Webpräsenz wie folgt beschrieben: [Herv.i.O.] Magnified Healing® establishes a constant flow of energy from your heart to the Source, the All That Is, the Infinite Mind, the GOD MOST HIGH OF THE UNIVERSE, through all of the Spiritual Centers, down to the Diamond at the Center of the Earth. The link spirals and brings a deep state of grace pulsing forth from the Source, laying the very foundation for the Ascension process.137

In der Anwendungspraxis wird Magnified Healing als »einzigartige Kombination von Atmung, Anrufungen, Bewegungen und Visualisierungen«138 beschrieben. Ritualbeschreibungen oder Präskripte finden sich im Internet allerdings nicht, sodass hier auf weiterführende Beschreibungen verzichtet werden muss. Die Methode des Magnified Healing ist heute weltweit verbreitet, wobei sie insbesondere in den USA und England, aber auch Frankreich, den Niederlanden und dem deutschsprachigen Raum Verwendung findet.

136 Homepage »Magnifed Healing – Official Web Site«. Zugriff unter: http://www. magnifiedhealing.com/mhabout.html (11.01.12). 137 Homepage »Magnifed Healing – Official Web Site«. Zugriff unter: http://www. magnifiedhealing.com/ (11.01.12). 138 Ebd.

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Full Spectrum Healing (FSH) und Full Spectrum Light (FSL) Beide Systeme sollen von Ole Gabrielsen139 gechannelt worden sein, das Verhältnis beider zueinander ist jedoch unklar. Es gibt Vertreter der Ansicht, dass FSL auf FSH aufbaut, andere betrachten beide Systeme als völlig eigenständig. Beim FSH stehen, wie bereits beim Engel Ki, die Energien des Regenbogens im Mittelpunkt, mit denen gleichzeitig auch der Kontakt zu Engeln, denen jeweils eine Farbe des Regenbogens zugeordnet ist, hergestellt wird. Das FSH umfasst zunächst drei Einweihungsgrade, zu denen im FSH II noch drei weitere Grade hinzugetreten sind. Auch bei diesem System wird immer wieder von Seiten der Akteure der Unterschied zu »herkömmlichem« Reiki deutlich gemacht: Zum Vergleich: Usui-Reiki z. B. deckt ›nur‹ den grünen Lichtstrahl ab. Jedes ReikiSystem hat seine Vor- und Nachteile, aber auch Grenzen. Grundsätzlich wird beim Full Spectrum Healing mit Engel-Energien gearbeitet, das heißt: während einer Full Spectrum Healing-Behandlung steht man immer in Verbindung mit den Engeln. Jeder Engel deckt dabei eine Lichtfarbe des Regenbogens ab.140

Im Vergleich mit FSH deckt das zweite System, FSL, noch ein größeres Spektrum ab. Hierzu ist Folgendes zu lesen: Full Spectrum Light (FSL) wird in 13 Chakren eingeweiht und ist von Ole Gabrielsen. Während Full Spectrum Healing ausschließlich mit den Energien der Engel arbeitet und nur in 5 Chakren eingeweiht wird, enthält Full Spectrum Light zusätzlich noch die Energien von: > Saint Germain, Christus und Erzengel Raphael in der 1. Einweihung > Jesus, Melchizedek und Saint Padre Pio in der 2. Einweihung > Sanat Kumara und Erzengel Michael in der 3. Einweihung141

Das FSL kann als Beispiel für die Integration christlicher Figuren in den Kanon von meta-empirischen Entitäten betrachtet werden, die im Diskurs gegenwärtiger Religiosität verwendet werden.

139 Der Däne entwickelte auch das sog. Kundalini Reiki. 140 Homepage »Reiki Paradies«. Zugriff unter: http://www.reikiparadies.com/energieheilsysteme-fsh.html (03.11.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage. 141 Homepage »Reiki Paradies«. Zugriff unter: http://www.reikiparadies.com/y-systemfsl.html (03.11.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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Diese Vorstellung ausgewählter Energie- und Heilsysteme muss an dieser Stelle genügen. Um jedoch einen Eindruck über die Vielfalt in diesem Bereich zu vermitteln, werden abschließend kurz weitere, derzeit populäre Systeme aufgelistet: Viviana Ki Ilahinur Golden Triangle Priest of the order of Melchisedek Amara Spiritual Healing Blue-E-Energie Isis Seichim Crystal Healing Tummo Clearing Huna Clearings Helarias Licht First Serpant Tummo Atlantis Healing System Bakara Heilen Begradigungsenergie Celtic Wisdom Energy Colours of Angels Essential Connection Ethereal Crystal 1-12 Boosters

Indigo Light Empowerment Holy Mother Rays 1-8 Amazon Shamanic Elven Shamanic Karmic Distance Light Dream HealingTM Ki Manna One Spirit Snow White Telos Energie System Trimurti Healing Vision Ki Sacred Breath Shamanic Force Quantum Engel Heilung Elenari Healing System Fylgia Full Spectrum Light Ama Deus Shamanic Healing Royal Healing

Insgesamt wird sowohl bei der Durchsicht der Reiki-Systeme als auch der weiteren Heilsysteme deutlich, dass sich hier ein stetig wachsendes rituelles Feld eröffnet, in dem sich die Akteure bewegen und ihre individuellen religiösen Schwerpunkte umsetzen können. Quantitative Aussagen über die Verbreitung der einzelnen Systeme können an dieser Stelle nicht gemacht werden. In qualitativer Perspektive kann nach Durchsicht der Homepages jedoch festgehalten werden, dass viele Akteure Parallelangebote von »klassischem« Usui-Reiki und ein bis zwei weiteren Systemen auf ihren Webpräsenzen vorstellen. Überblickend gesehen dürften die Heil- und Energiesysteme den bedeutendsten ökonomischen Faktor im Diskurs gegenwärtiger Religiosität darstellen. Sowohl die Initiationen als auch die Heilbehandlungen bilden ein mittlerweile völlig selbstverständlich verhandeltes Gut auf rezenten religiösen Märkten. Genaue Zahlen über Umsatzstärke und Konsumverhalten liegen jedoch auch hier nicht vor. 5.3.3 Heil- und Einweihungserzählungen Die Bandbreite des Angebots kann auf die allen Systemen zugrunde liegende Energie-Idee zurückgeführt werden, die sehr flexibel einsetzbar ist. Akteure kon-

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struieren die Systeme auf Basis bestimmter Energien, die sich letztlich jedoch nur in der Qualität bzw. Schwingungsfrequenz unterscheiden und deren gemeinsamer Ursprung im Bereich von Gott/Göttlichkeit gesehen wird. So gelingt eine immer weiter aufgefächerte Nuancierung von z. B. Engelenergien, bestimmten Reiki-Arten oder Heilungsschwingungen, die offen zu sein scheint für nahezu alle individuellen Vorlieben und Geschmäcker.. Deren Zusammenhang wird jedoch gewährleistet, indem immer wieder auf eine gemeinsame Quelle der Energien rekurriert wird. So werden bestimmte Energien dem »alten Atlantis« zugeschrieben oder aber, je nach individualreligiöser Orientierung, »tibetischen Meistern«, Engeln oder dem »Christusbewusstsein«, ohne dass die Akteure bei gleichzeitiger Nutzung verschiedener Systeme in eine Begründungsnot geraten. Bei der Betrachtung dieses Themas in den Interviews fällt zunächst auf, dass die Vielfalt, die sich bei einer Sondierung des Feldes im Internet zeigt, in den Erzählungen kaum zu finden ist. Von den im Rahmen der Studie interviewten Personen arbeiten acht Akteure mit Reiki und/oder anderen Energie- und Heilsystemen, von denen auf den persönlichen Homepages auch verschiedene Variationen aufgeführt sind. In den Interviews wird auf die Ausdifferenzierung der Ritualsysteme jedoch kaum Bezug genommen. Im Vordergrund stehen hier Erzählsegmente, die sich allgemein mit Reiki befassen, ohne weiter auf die unterschiedlichen Variationen einzugehen. Obwohl nach eigener Auskunft und auch der Repräsentanz auf der jeweiligen Homepage nach zu schließen die unterschiedlichen Heil- und Energierituale insbesondere bei der beruflichen Arbeit im Mittelpunkt stehen, findet dieser Aspekt in den Erzählungen kaum Beachtung. Berichtet wird hingegen die Geschichte, wie die Akteure zu z. B. Reiki gekommen sind, wie die Heil- und Energiesysteme wirken und wie die Einweihungspraxis aussieht. Im Folgenden werden ausschnittweise einige Erzählsegmente näher betrachtet, die sich in Heilungs- und Einweihungserzählungen gliedern lassen. Dabei ist zu beachten, dass in Einweihungserzählungen immer auch Aspekte des Heilens angesprochen werden. Die einzelnen Beispiele wurden stellvertretend ausgewählt, um einige Punkte näher zu beleuchten, die auch bei anderen Interviewsegmenten zu Heil- und Energiearbeit markant hervorgetreten sind. Im Vordergrund stehen zum einen die Erläuterungsschemata der grundlegenden Funktionsweise dieser Rituale, zum anderen Äußerungen der Erzähler, in denen Wirkaspekte thematisiert werden. Beide Aspekte sind oftmals eng miteinander verknüpft. So hängt die Konstruktion von Wirksamkeit aus der Perspektive handelnder Akteure in hohem Maße davon ab, welche strukturellen und funktionalen Elemente ein Ritual beinhalten kann bzw. muss. Anhand von Erzählausschnitten über Heilungen und Einweihungen, in denen die Konstruktion von

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Wirksamkeit thematisiert wird, soll daher auch nach den diskursiven Aushandlungsmechanismen gefragt werden. a) Heilungserzählungen Erzählungen über den Einsatz von Heilbehandlungen durch die Anwendung bestimmter Energiesysteme finden sich in einer Reihe von Interviews. Am prägnantesten lässt sich die Konstruktion von ritueller Wirksamkeit anhand von drei Interviewsegmenten zeigen, die alle von der Interviewperson Sam stammen. Während in anderen Interviews das Thema Heilung zwar angesprochen, oftmals jedoch narrativ nicht so ausführlich ausgestaltet wurde, spricht Sam im Interview viel über Heil- und Energiearbeiten. Sie beschreibt sich als eine Person, die bereits seit frühester Kindheit »spirituell« aktiv ist und hier ihre besondere Sensitivität für den Bereich der Heilung entdeckt hat. Im Rahmen der biographischen Konstruktion wird deutlich, dass sowohl Reikianwendungen als auch die Arbeit mit Engelenergien für sie besonders bedeutsam sind. Ihr Wissen und ihre Fähigkeiten die Heil- und Energiearbeit betreffend, hat sie sich nach eigenen Angaben selbst bzw. über Bücher oder durch die Teilnahme an Seminaren und Ausbildungen angeeignet. Sie ist mittlerweile ausgebildete Reiki-Meisterin und vermittelt ihr Wissen in eigenen Seminaren und Workshops. Damit weist ihre Biographie den charakteristischen Verlauf von einer lernenden zu einer lehrenden Position auf, der, wie bereits gezeigt, typisch für den Diskurs gegenwärtiger Religiosität ist. Sie vermittelt nicht nur ihr religiöses Wissen an andere, sondern führt, meist im beruflichen Rahmen, auch Anwendungen der Heil- und Energiearbeit durch. So auch im folgenden Beispiel, in dem sie von einem Seminar erzählt, dass sie zusammen mit einer befreundeten Person veranstaltet hat. Hier wurde mit den Teilnehmern eine sogenannte »Engelflügelheilung« durchgeführt, die Sam und ihre Bekannte – soweit feststellbar – selbst entwickelten. Sam beschreibt die Heilung wie folgt: [Nummerierung eingefügt] Sam: Wir haben Engelfügelheilungen gemacht, also Flügelheilung für jeden Teilnehmer. N.M.: Wie geht das? Sam: Ja also, das ist so: Du hast ja ein, also dein wahres Selbst ist also dein höheres Selbst, dein spirituelles Selbst, was auch immer der Teil in dir. Oder ich fang anders an. Wir sind alle Engel. Wir sind alle Engel auf Erden (I). Es heißt immer, heißt du bist ein Engel auf Erden, wir sind es wirklich, so. Das mit den Flügeln ist natürlich nur symbolisch (II). Flügel steht ja für Leichtigkeit, für Freude, so, und jeder hat so seine Flügelchen, jeder Mensch hat Flügelchen, so. Und viele wissen gar nicht, es ist einfach nur, also es ist eine Hilfe, damit du dich einfach ausdehnen

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kannst, damit du dir die Erlaubnis gibst, einfach mal dich zu zeigen. Und das nennen wir halt Flügelheilung. Und jeder hat eine andere Flügelfarbe und jeder hat andere Flügel (III). Die einen haben so, die andere ganz wuschig, die anderen haben ganz viele Pärchen Flügelchen. Naja, das ist immer ein sehr schöne, ein, da kommt immer eine ganz eine sehr schöne Energie zusammen. Und das geht im Prinzip geht es nur darum, dass man sich wohl fühlt, dass du es dir erlaubst, in deine Kraft zu gehen (IV). Und die ganzen Energien, die in dir fließen, einfach fließen zu lassen, plus den ganzen Energien, die halt eben da sind, dass man sie besser aufnehmen kann, dass da viel Heilung geschehen kann. Weil Engel heilen, ja, Engelenergien heilen (V). Sind heilend, die Urschöpfer-Energie sowieso, aber es ist wesentlich einfacher dem Menschen halt dieses Ganze über die Engel nahe zu bringen, weil zu Engeln haben wir einen besseren Draht, als wenn wir sagen würden, die Energie direkt aus der Quelle. Da haben ganz viele Menschen eben Angst oder können nichts damit anfangen, aber über die Engel schon.

Die in diesem Abschnitt vorgestellte »Engelflügelheilung« ist in ihrem konkreten Ablauf für den Hörer zunächst nur schwer zu rekonstruieren. Im Zentrum steht das Heilen mit Engelenergien, wie der Heilvorgang jedoch konkret in die Praxis umgesetzt wird, bleibt undeutlich. Dennoch lassen sich aus dem Erzählsegment einige Punkte herausarbeiten, die es erlauben, zum einen spezifisch zum Ritualgeschehen Aussagen zu treffen, zum anderen den Punkt der individuellen und flexiblen Gestaltbarkeit von Ritualen zu verdeutlichen, der bereits bei Gebeten thematisiert wurde. Einleitend setzt die Erzählerin zweifach an. Während sie zunächst den Fokus auf das »wahre Selbst« richtet, das jedem Menschen eigen sei, steigt sie kurz danach ein zweites Mal ein und betont nun, dass alle Menschen Engel seien (I). Erst diese Verschiebung erlaubt es ihr eine Verknüpfung zu den folgenden Ausführungen zum Heilgeschehen zu finden. Sie identifiziert die Menschen mit einem Bild von Engeln, das der traditionellen christlich geprägten Ikonographie entspricht, in der diese Wesen mit Flügeln ausgestattet sind. Die Flügel werden als »Symbol« eingeführt, das für »Leichtigkeit« und »Freude« steht, und deren Vorstellung den Ritualteilnehmern dabei helfen soll »sich auszudehnen« (II). Damit ist zum ersten Mal das Ziel der Heilung angesprochen. Es wird deutlich, dass es hier nicht um eine konkret körperliche Heilung geht, sondern die Ritualteilnehmer vielmehr an Aspekten des Selbst arbeiten sollen. Dazu passt auch die erste Einleitung, in der die Erzählerin vom »wahren« oder »höheren« Selbst gesprochen hat (I). Präzisiert wird das Heilgeschehen erst, nachdem auf die Individualität und Vielfalt der Flügel hingewiesen wurde (III). Damit wird ein Punkt

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aufgegriffen, der bereits vielfach in den Ausführungen zur Konstruktion von individueller Religiosität angesprochen wurde. Die religiösen bzw. rituellen Inhalte werden von den Akteuren stark individualisierbar entworfen. Auch hier liegt die Idee zugrunde, dass letztlich ein Energiesystem als Grundlage dient, welches sich lediglich in unterschiedlichen Formen manifestiert. Ein gemeinsamer Ursprung hält somit die individuell ausgestalteten Vorstellungen aus Sicht der Akteure zusammen. Es folgt eine Präzisierung des Heilgeschehens (IV): Unter zu Hilfenahme des Bildes der eigenen Flügel soll erreicht werden, dass sich der Ritualteilnehmer »wohl« fühlt in »seine Kraft« zu gehen und die »Energie fließen« zu lassen. Somit wird die angestrebte Wirkweise des Rituals benannt, die Wirkungsebene oder der Wirkbereich bleiben unspezifisch. Es lassen sich zwei Komponenten identifizieren, die im Heilgeschehen mitwirken: die eigenen Energien, die in einer Person »fließen« und andere Energien, »die halt eben da sind«, womit die Engelenergien gemeint sein dürften. Somit werden die Wirkkomponenten einerseits in dem Akteur intrinsisch und andererseits als von außen kommend dargestellt. Dabei dürfen beide Perspektiven nicht als konträr betrachtet werden, sondern sind vielmehr als unterschiedliche Aspekte einer Wirkkomponente, der Energie, zu begreifen. Zum Ende des Abschnittes findet schließlich noch eine Qualifizierung der Wirksamkeit der unterschiedlichen Energien statt (V). Die Engelenergien werden dabei als für den Menschen zugänglicher und damit gleichzeitig als besser wirksam vorgestellt. Obwohl die von Sam vorgestellte »Engelflügelheilung« in ihrer konkreten Durchführung für den Hörer nur schwer nachvollziehbar bleibt, lassen sich auf analytischer Ebene einige Punkte festhalten, die insbesondere den narrativen Ausbau der Wirkaspekte des Rituals betreffen. In der Bearbeitung des Materials können heuristisch einige Punkte benannt werden, die in der Heilungsnarration verstärkt thematisiert werden: die Wirkweise, der Wirkbereich und die Wirkkomponenten. Bezeichnend ist, dass in der Erzählung nicht alle Aspekte in gleicher Deutlichkeit ausgearbeitet werden. So bleibt der Wirkbereich in diesem Narrativ sehr unspezifisch. In einer anderen Heilungserzählung von Sam kommen weitere Aspekte zur Sprache, die eine wichtige Rolle in der diskursiven Positionierung der Akteure spielen. Das folgende Erzählsegment kann als eine typische Belegerzählung verstanden werden. Sam: Mit meiner Familie zum Beispiel, ist es ein Tabuthema. Meine Eltern, mein Vater steht hinter mir, obwohl er nie gesagt hat, es ist schade, dass ich an so was nicht glaube, also Reiki. Und weil ich auch Heilungsarbeiten mache und im Sommer ein ganz bestimm-

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tes Ereignis passiert ist, wo ich mein Schwager von – er hatte eine Sehnenscheidenentzündung an beiden Unterschenkeln, beziehungsweise beide Beine. Er war bei Ärzten, Physiotherapeuten, zwei Monate in Behandlung, mit Schmerzmitteln und allem und nichts hat geholfen. Und ich hab so aus Spaß gesagt, wir waren am Strand, hab ich gesagt »vielleicht kann ich dir helfen.« Hat er gesagt »ja mach!« Und nach drei Behandlungen war er schmerzfrei. Und dann hat mein Vater gesagt »du hast ihn geheilt« und dann hab ich gesagt »Nein, ich hab nicht geheilt, ich hab’s durch mich geschehen lassen.« Und dann hat er nur gesagt »Schade, dass ich daran nicht glauben kann, aber ich weiß, dass du es machst.« Hab ich gesagt »ok.«

In dieser Passage wird die Anerkennung der Wirksamkeit ritueller Praxis im sozialen – hier familiären – Umfeld der Akteurin thematisiert. In der vorangehenden Erzählpassage hatte Sam erzählt, wie erfolgreich und gefragt die Seminare sind, in denen sie mit den Teilnehmern unterschiedliche Heil- und Meditationsrituale durchführt. Das sei für sie »gelebte Göttlichkeit«. Im familiären Umfeld jedoch stehen dieser Erfolg und vor allem die Anerkennung für Sam noch aus. Im Zuge der Schilderung dieser Divergenzsituation führt Sam ein Erzählsegment an, in dem die Wirkung ihrer Heilungen durch Dritte belegt wird. Es wird ein konkretes Ereignis angeführt, in dem ein Familienmitglied durch sie geheilt wird. Narrativ wird diese Situation vorbereitet, indem zunächst die schwierige Krankheitssituation genannt wird. Die Krankengeschichte ist geprägt durch erfolglose Bemühungen von Seiten unterschiedlicher Mediziner, aber auch von der Wirkungslosigkeit bestimmte Medikamente. Auf dieser Kontrastfolie schildert Sam nun die Wirksamkeit ihrer Heilung. Das Angebot zur Heilung unterbreitet sie ihrem Schwager zunächst nur »so aus Spaß«, womit sie impliziert, dass sie sich mit ihren Heilangeboten nicht aufdrängt. Der Erfolg der Heilbehandlung wird dann sehr kurz und prägnant wiedergegeben, was den Eindruck der Wirksamkeit beim Hörer noch verstärkt. Im Anschluss daran erfolgt direkt die Auflösung der Konfliktsituation, in der die Erzählerin gleichzeitig den Wirkmechanismus der Heilung anspricht. Dabei stellt sie sich als Heilende eher in den Hintergrund und positioniert sich als Instrument, durch das die Heilung geschieht. Den Urheber nennt sie jedoch nicht. Damit konstruiert sie die Wirksamkeit des Rituals als unabhängig von ihrer Person. Im Fall dieses Erzählsegments wird der Wirkbereich der Heilung klar angesprochen (Körper), die Wirkkomponenten und die Wirkweise hingegen treten in den Hintergrund. Mit der Erzählung belegt Sam nicht nur die Wirksamkeit ihrer Heilung durch eine dritte Person, sondern bestätigt diese auch durch die Schlussaussage des Vaters. Dieser erkennt die Wirksamkeit des Rituals an, auch wenn er weiterhin nicht daran glaubt. Somit authentifiziert die Erzählerin die Passage durch die Aussagen zweier Personen. Die Bestätigung

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der Wirksamkeit durch das Heranziehen von Belegaussagen Dritter ist ein weit verbreiteter Topos, der zwar insbesondere bei Heilerzählungen häufig zu finden ist, aber auch bei anderen Ritualen belegt ist.142 Die Zuschreibung ritueller Wirksamkeit steht somit auch im Fokus unterschiedlicher Positionierungsleistungen, die von den Ritualakteuren vorgenommen werden. Abschließend wird noch eine dritte Interviewpassage von Sam angeführt, in der sie erklärt, wie das Heilgeschehen, das sie durchführt, funktioniert. N.M.: Du hast vorhin schon öfters erwähnt, dass du auch sehr viel mit Heilung machst. Gibt es da bestimmte Heilungsarten oder also, wie kann ich mir das vorstellen? Sam: Es ist, es funktioniert tatsächlich durch Energie, Heilungsarten, ja, wie soll man das sagen… Es ist so, die Menschen, die zu mir kommen, um meine Hilfe, also wenn jemand zu mir kommt und mich fragt, ob ich ihm helfen kann, in dem Augenblick weiß ich, was ich für diesen Menschen tun kann. Und in diesem Augenblick werden ganz bestimmte Energien freigesetzt, die derjenige in dieser Zeit, in diesem Augenblick braucht, um Heilung zu erfahren, die ihm gut tut oder das in ihm freizusetzen, was gerade, also, es passt. Er bekommt das, was er in dem Augenblick braucht, sei es in Form von Energie, sei es in Form von Worten, sei es in Form von einem Karten Reading oder eine Kombination von dem Ganzen. Oder vielleicht ist es einfach nur ihm gegenüber sitzen und nichts zu sagen, weil manchmal ist nichts sagen genauso heilend, wie sagen. Also es passiert einfach, ich lasse mich auf den Menschen ein und wenn der Mensch meine Hilfe braucht, in dem Augenblick kommt es.

Die Erzählerin schildert hier auf Nachfrage, wie die Wirkprinzipien der Energieheilung vorstellbar sind und welche Anwendungsmuster den unterschiedlichen Energiearten unterliegen. Initial für die Bestimmung der für die zu heilende Person passenden Energieform ist das erste Aufeinandertreffen zwischen Heilerin und der anderen Person. Sam gibt an, dass das Wissen, welche Energieform sie in der Heilung verwenden soll, »in diesem Augenblick« frei gesetzt wird. Die Entscheidungsgewalt wird somit von ihrer Person weg verschoben, die Quelle dieses Wissens bleibt allerdings unbenannt. Interessant ist, dass hier eine sehr flexible Handhabung der Energien, welche die Grundlage für die Wirkung des Heilgeschehens bilden, forciert wird. Die Energien können individuell angepasst

142 So lässt sich Nicki narrativ durch einen gelehrten Theologen bestätigen, der ihr, obwohl sie im Gegensatz zu ihm nicht studiert habe, herausragende Kenntnisse und Interpretationsfähigkeiten für religiöse Themen bescheinigt. Bei Toni wird der Empfang von gechannelten Botschaften in der Erzählung durch eine Freundin bestätigt, die Zeugin einer nächtlichen Channelinghandlung (automatisches Schreiben) wird.

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werden und sind sogar situativ gebunden. Es werden verschiedene Varianten genannt, die – immer noch im übergeordneten Rahmen »Heilung« – zum Einsatz kommen oder sogar miteinander kombiniert werden können. Hier ist erneut der Praxisgrundsatz zu erkennen, den bereits eine andere Interviewteilnehmerin, Uli, an anderer Stelle so prägnant formuliert hat: Hauptsache es wirkt und tut gut.143 Die konkrete Ritualform wird daher den Bedürfnissen des Akteurs unterstellt und entsprechend angepasst. Erst durch diese gezielte Varianz des Rituals kann dessen Wirksamkeit voll entfaltet werden, da diese in direkter Abhängigkeit zum Ritualakteur gedacht wird. Sam positioniert sich in ihrer Rolle als Heilerin dabei insgesamt eher passiv. Ebenso wie in der zuvor angeführten Belegerzählung tritt sie auch hier als Durchführende auf, die primär das rituelle Geschehen vermittelt. Erneut wird das Wirkziel von Heilungen nicht weiter expliziert. Anhand der drei exemplarisch angeführten Passagen zum Thema Heilung lassen sich einige Aspekte erkennen, die auch für die Betrachtung der folgenden Erzählungen über Einweihungen eine Rolle spielen: Wirkkomponenten, Wirkbereiche, Wirkweisen bzw. -mechanismen. Im Zusammenspiel dieser Elemente wird von den Akteuren unter Rückgriff auf bestimmte Positionierungen und Vorstellungen von Handlungsmacht die Wirksamkeit des Rituals narrativ konstruiert. Dabei werden auch Heilrituale von den Akteuren entsprechend individuellen Bedürfnissen konzipiert bzw. angepasst. Die Betonung der Individualität kann auch über einzelne Ritualkomponenten (z. B. die Engelflügel) erfolgen. So kommt es nicht nur zu einer Personalisierung der religiösen Praxis, sondern die Gestaltung der Rituale wird gleichzeitig flexibel und dynamisch. b) Einweihungserzählungen Im Bereich der Heil- und Energiearbeit stehen Einweihungsrituale vielfach im Mittelpunkt des praktischen Geschehens. Religionsgeschichtlich ist davon auszugehen, dass sich Reiki von Beginn seiner Ausbreitung in Nordamerika und Europa an sowohl als Einweihungs- als auch Heilpraxis festigte. Mit der seit einigen Jahren zu beobachtenden starken Ausdifferenzierung der Heil- und Energiesysteme ist festzustellen, dass Einweihungsrituale, ebenso wie im Reiki, weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen. In den Biographien der Interviewteilnehmer zeigt sich deutlich, dass die dreistufige (Usui-)Reiki-Einweihung für die meisten den Einstieg in den weiten Bereich der Heil- und Energiearbeit war. Die Reiki-Einweihungen wurden von allen Praktizierenden in lokalen Seminaren erlernt, oftmals bei einem bestimmten Lehrer(in). Wie bereits zu Beginn erwähnt,

143 Vgl. Erzählsegment Uli »Hauptsache es funktioniert« in Kap. 4.1.4.

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spiegelt sich auch die Vielfalt der im Internet vorzufindenden Einweihungsarten nicht oder nur marginal in den Interviews wieder. Hauptorientierungslinie in den Narrationen der Akteure ist das Usui-Reiki, andere Reiki-Arten werden erwähnt, jedoch nicht weiter expliziert und andere Heil- und Energiearbeitsarten kommen nicht zur Sprache. Anhand der Erzählungen über Reiki-Einweihungen werden im Folgenden weitere analytisch relevante Aspekte vorgestellt. Eine der ausführlichsten Beschreibungen des Einweihungsgeschehens kommt von Andi. Neben dem »klassischen« Usui-Reiki arbeitet sie mit Kundalini-Reiki und Mala-Reiki (siehe Interviewabschnitt unten). Außerdem verwendet sie auch andere Energiebehandlungen wie das Magnified Healing oder Begradigungsenergie144. Der Schwerpunkt in der narrativen Darstellung liegt allerdings auf Usui-Reiki. Zu Reiki-Einweihungen erläutert sie Folgendes: [Nummerierung und Herv. eingefügt] Andi: Reiki-Einweihungen, das sind eben Rituale, die so vorgegeben wurden und an die ich mich auch so halte. (I) N.M.: Können sie mal eins beschreiben? Andi: Man kann’s nicht wirklich. Also, man verbindet sich mit der Energie, ich bitte dann auch immer alle Engel und Schutzwesen und so dazu, um Hilfe und dass sie uns halt Gesellschaft leisten und eben die Einweihung besonders schön gestalten. (II) Und dann wird ja die Aura geöffnet, indem ich einfach ja mit den Händen die Aura abfahre und dann beginnt man mit den Symbolen, die man im zweiten Grad lernt. Also man bekommt im zweiten Grad drei Symbole und im Meistergrad ein Symbol, also man arbeitet dann mit vier Symbolen. N.M.: Sind das immer die gleichen? Andi: Es sind vier verschiedene aber immer die gleichen ja, es sind immer die gleichen und die Symbole werden halt dann in das Kronenchakra gezeichnet. Und dann stellt man sich vor, also es ist eine sehr starke visuelle Arbeit, du stellst dir dann vor, dass du mit deinem Atem, also die Energie mit deinem Kronenchakra beim Einatmen in dich ziehst und dann, wie sie durch deine Hände durch geht in den Körper, wo du eben erst ma Kronenchakra die Hand auflegst. Dann auf die Schultern und das ist ein immer wiederkehrender Vorgang. Und stellst dir dann eben vor, wie diese Energie durch deinen Körper, durch

144 Diese, auch als »energetische Osteopathie« bezeichnete Methode gibt an, mit der sog. »Christusenergie« Beckenfehlstände zu korrigieren und die Wirbelsäule aufzurichten.

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deine Hände dann eben in den Einzuweihenden übergeht. Wie sie dann eben ins Hara145 geht und wieder hoch kommt und dann eben durch die Hände wieder ausfließt. Und dasselbe dann bei den Füßen und so weiter. also bei jeden Positionen, die man halt hat und so geht eigentlich das ganze Ritual. Also nur geht man dann zu den Füßen, dann geht man vorne zum Herz weiter und das ist eigentlich dieses Ritual. Und dadurch wird eben dieser Kanal gereinigt und geöffnet. Und mit den Symbolen wird die Energie in dir verankert, versiegelt. Also das ist dieses Ritual, das immer gleich ist, im zweiten Grad ändert sich dann nur soviel, dass eben dann die Symbole auch in die Handchakren gezeichnet werden. Beim dritten Grad ist es wieder ähnlich. Also es ist, die Einweihungen sind ziemlich gleich (III). Und dass ist zum Beispiel auch ein, es, man kann nicht wirklich was falsch machen dabei, also es gibt vorgegebene Rituale, die sehen aber bei allen möglichen Menschen anders aus, also hab ich schon gehört. Ich kenn das, nachdem ich eben gelehrt wurde, aber im Prinzip ist es so, dass auch nur die Absicht zählt. Also wenn ich mir jetzt vorstelle, ich möchte dich jetzt einweihen und ich mach das ganz anders, als ich es gelernt hab, würde es genauso funktionieren. Also das sind eben diese Dinge, aber man macht das einfach so. Oft hab ich, manchmal hab ich halt manchmal eine Eingebung, dass ich mir denk, so, ich mach jetzt irgendwas anders oder halt länger hin oder gib ein Symbol mehr dazu oder so (IV). Das kommt dann aber, das ist dann in dem Moment einfach so da, dann mach ich das auch so. Aber so im Grunde läuft jede Einweihung gleich ab.

Die Erzählerin setzt damit ein, dass sie zunächst den Kategorisierungsrahmen für die folgende religiöse Praxis benennt. Einweihungen sind für sie Rituale, da es sich um »vorgegebene« Handlungen handele (I). Hier wird implizit das Ritualverständnis der Akteurin deutlich. Rituale sind prädefiniert und bilden ein Handlungsschema, das zur Einhaltung auffordert. Im Anschluss an diese anfängliche Positionierung des Geschehens folgt eine ausführliche Beschreibung der unterschiedlichen Einweihungsgrade (II). Interessant ist, dass Andi zu Beginn den Kontakt zu meta-empirischen Entitäten sucht, die als eine Art Begleiter das Ritual mitverfolgen sollen und dieses besonders »schön« werden lassen. Diese Einbeziehung von Ritualbegleitern kann als individuell-additives Element gewertet werden, da die Anrufung von Engeln und Schutzwesen nicht Teil des überlieferten und rezipierten Einweihungsrituals nach Takata ist. Mit dem

145 »Hara« stammt aus dem Japanischen und bedeutet »Mitte des Körpers« oder »Bauch«. In der westlichen Rezeption wird der Begriff dem japanischen ZenBuddhismus zugeschrieben, wo er das Energiezentrum des Körpers, gelegen kurz unterhalb des Bauchnabels, bezeichnen soll. Bekannt geworden u. a. durch Karlfried Graf Dürckheim (vlg. Dürckheim 1986).

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Wechsel von »man« zu »ich« macht die Erzählerin die individualisierte Ausgestaltung des Rituals an dieser Stelle auch sprachlich deutlich. Basis für die Einweihung ist die Vorstellung von Energie, welche die körperliche mit der geistigen Ebene des Ritualakteurs verbindet. Wirkkomponenten sind vor allem vier Symbole, die in Visualisierungsprozessen in Verbindung zu entsprechenden Körperstellen gebracht werden. Orientierungspunkte für die Visualisierung bilden die Chakren, ein Konzept, das von der Akteurin völlig selbstverständlich verwendet und als bekannt vorausgesetzt wird. Der Wirkbereich des Rituals bezieht sich auf den gesamten Körper bzw. auf die Energiebahnen des Körpers. Ziel der Einweihung ist eine Reinigung »des Kanals«. Durch das Ritual erhält der Ritualteilnehmer nun die Möglichkeit und gleichzeitig die Befähigung, Energieheilrituale durchzuführen. In den folgenden Einweihungsgraden werden durch Anwendung weiterer Symbole die Wirksamkeit und der Wirkbereich des Rituals gesteigert. Nach der Beschreibung des Einweihungsgeschehens kommt Andi schließlich auf den Umstand zu sprechen, dass das Ritual eigentlich eine vorgegebene Struktur besitzt, es in der religiösen Praxis jedoch immer wieder zu individuellen Transformationen und Anpassungen der Einweihung kommt. Hierdurch könnte die Wirksamkeit in Frage gestellt werden (III). Dies ist jedoch nicht der Fall, da die Wirksamkeit des Rituals als unabhängig von der konkreten Ritualform beschrieben wird. Es zähle schließlich nur die »Absicht«, mit der das Ritual vollzogen werde, Anpassungen oder Veränderungen in der Performanz beeinträchtigten die Wirksamkeit daher nicht. Als Orientierungsmaßstab für die Durchführung der Einweihungen fungiert nach Andis Angaben die rituelle Form, welche die Akteure ihrerseits in der Ausbildung gelernt haben. Am Beispiel ihrer eigenen Ritualpraxis erläutert sie dann jedoch, wie diese erlernten rituellen Muster um individuelle Transformationen erweitert werden können (IV). Als Variationsformen nennt sie Veränderungen des Ritualschemas, die z. B. eine zeitliche Verlängerung bestimmter Passagen oder das Hinzufügen bestimmter Inhalte umfassen können. Diese Variationen stellt sie als spontanes und situativ gebundenes Geschehen dar, das jedoch nichts daran ändert, dass jede Einweihung »im Grunde gleich« abläuft. Der ritualanalytische Aspekt, der in diesem Abschnitt hervorsticht, ist die Konstruktion einer rituellen Wirksamkeit, die losgelöst von der Ritualstruktur gedacht wird. Bei auftretenden dynamischen Veränderungsprozessen im Ritual ist es den Akteuren möglich, eine ungebrochene Wirksamkeit anzunehmen und gleichzeitig individuelle Transformationen des Rituals vorzunehmen. Andi führt in einer anderen Passage des Interviews eine kurze Belegerzählung für die Wirksamkeit der Einweihung an. Bevor sie auf ihr persönliches Er-

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leben eingeht, fasst sie die wesentliche Thematik eines Einweihungsseminars kurz zusammen: [Nummerierung eingefügt] Andi: Aber im Prinzip geht es um diese Energie (I). Und in so einem Seminar zum Beispiel, lernt man eben diese Geschichte über Doktor Usui, macht lernt die Handpositionen, also es gibt verschiedene Hand, man legt die Hände auf und man lernt dann eben verschiedene Handpositionen, wie man eine Behandlung machen kann. An sich selbst und eben auch an anderen. Man lernt halt so Grundkenntnisse über, man hat zum Beispiel nach einer Einweihung eine Reinigungszeit (II). Also weil der Körper entgiftet wird, die Blockaden werden gelöst und beim ersten Grad ist es eine ziemliche körperliche Reinigung, also bei mir war’s zum Beispiel sehr heftig (III). Ich hatte erst nur einen ganz normalen Schnupfen, also eine Verkühlung, das hat sich dann in Angina weiterentwickelt und danach hatte ich eine Lungenentzündung und 40 Grad Fieber. Und damals war es schon so, dass ich mir wirklich gedacht hab, ob das jetzt das Richtige war (IV). Also da beginnt man dann schon auch zu, heute weiß ich, dass es einfach eine extreme Reinigung war.

Zunächst erfolgt ein kurzer Abriss des ersten Reiki-Kurses, das Einweihungsgeschehen selbst wird an dieser Stelle nicht thematisiert (I). Sie erläutert weiter, dass dem Einweihungsgeschehen, in dem – wie bereits in der eben zitierten Interviewpassage deutlich wird – die Reinigung des »Kanals« im Zentrum steht, eine Zeit der Reinigung folgt, in der sich die volle Wirkung des Rituals erst entfaltet (II). Die energetische Ebene der Einweihung wird in direkter Wirkabhängigkeit zur körperlichen Ebene der Akteure gesetzt. Die Erfahrung der Wirkung wird unter Rückgriff auf das eigene Erleben beschrieben (III). In der Konstruktion des Belegabschnitts dienen körperlich (messbare) Symptome als Wirkindikatoren für die Funktion des Rituals. Wie die Steigerung im Geschehen – vom Schnupfen zur Lungenentzündung – deutlich macht, wird die Wirksamkeit des Rituals so dargestellt, dass sie sich direkt in der Veränderung körperlicher Aspekte widerspiegelt. Im letzten Abschnitt der Interviewpassage wird klar, dass die Wirksamkeit des Rituals keineswegs als solche von der Akteurin von Beginn an konstruiert wurde (IV). Vielmehr findet ein interpretativer Umdeutungsprozess zwischen früher und heute statt, in dem die Anerkennung der »korrekten« Wirksamkeit des Rituals erst vollzogen wird. Unter Rückgriff auf zwei Interviewabschnitte von Uli werden nun noch weitere Aspekte von Einweihungsritualen thematisiert. Sie arbeitet neben dem »klassischen« Usui-Reiki auch mit Jikiden- und Karuna-Reiki. Beide Formen werden jedoch lediglich auf der Homepage, nicht aber im Interview ausführlicher erläutert. Uli war die einzige Interviewteilnehmerin, die zu einer detaillierten Beschreibung des eigentlichen Einweihungsgeschehens nicht bereit war. Sie

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ließ anklingen, dass es sich dabei ihrer Meinung nach um Inhalte handele, deren Zugang beschränkt sei. In einer kurzen Erläuterung gab sie schließlich zumindest einen kurzen Einblick in ihre eigenen Empfindungs- und Wahrnehmungsprozesse während der Einweihung (hier als zweites Beispiel angeführt). Zunächst schildert sie allerdings die gleichermaßen idealtypische Struktur eines dreistufigen Einweihungsgeschehens: [Nummerierung und Herv. eingefügt] Uli: Also bei Reiki geht’s ja darum, Energie zu kanalisieren, durch sich. Es ist ja schon immer ne Geschichte, dass Leute mit den Händen heilen oder es ist ja durchgängig, aber viele heilen da mit ihrer eigenen Lebensenergie. Das heißt, wenn sie eine Behandlung gemacht haben, ist, dann sind sie dann zum Schluss total schlapp und kaputt oder kriegen teilweise die Symbole, äh Entschuldigung, die Symptome selber. Und bei Reiki ist das nicht so. Also man hat, da ist der Glaube, man hat einen Energiekanal, der durch sich durch geht quasi an der Wirbelsäule entlang und der wird dadurch gereinigt, durch eine Einweihung. Was auch ein Ritual ist, ein festgelegtes und durch diese Einweihung wird der Kanal gereinigt (I): Und dadurch kannst du dann diese Energie kanalisieren und entweder dir selber oder anderen zugutekommen lassen. Und da gibt halt, gibt’s halt ein bestimmtes System, das nennt sich Usui Shiki Ryoho, wo halt gewisse Handpositionen gelernt werden oder auch Meditationen, wie man jemand anderen behandelt und sich selber behandelt. Und dann pro Grad ist das immer ein bisschen anders. Im zweiten Grad kommen dann noch Symbole dazu (II): Ein Kräftigungssymbol, womit dann die Energie ein bisschen verstärkt wird, ein Symbol, um quasi noch mal auf die Psyche einzuwirken, positiv. Und auch psychische Blockaden zu lösen. Es gibt noch eine Methode, die Mentalbehandlung heißt, um auch wirklich psychische Sachen zu behandeln oder Gewohnheiten noch mal zu verändern, die ähnlich, ein bisschen ähnlich wie beim NLP auch mit einer Art Affirmation, die man dann arbeitet oder bei Autogenem Training werden ja auch Affirmationen benutzt. Und ein drittes Symbol, um quasi Leute, die nicht in dem Raum anwesend sind, auch behandeln zu können. Also als Beispiel, wenn du jetzt in Japan sitzen würdest und ich sitz hier und du sagst »Oh, mir geht’s so schlecht, kannst du mir mal Fernreiki schicken?« dann geht das auch mit diesem Symbol. Und im dritten Grad bekommt man noch mal ein Meistersymbol, was für Einweihungen angewandt wird (III). Um andere Leute halt in Reiki einweihen zu können, also die befähigen zu können, quasi Reiki kanalisieren zu können.

Die Erzählerin leitet die Passage mit einem Hinweis darauf ein, um was es bei Reiki generell geht. Sie betont dabei, dass hier im Gegensatz zu anderen Heilarten nicht die eigene Energie verwendet wird, sondern im Reiki die Person lediglich als Kanal zur Verfügung steht. Im allgemeinen Kontext stellt sie fest, dass Heilen mit Händen ja schon »immer ne Geschichte« war, Reiki jedoch die beste

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Methode auch für den Heiler bedeute. Das Ziel der Einweihung – die als »festgelegtes« Ritual definiert wird – beschreibt sie als eine Reinigung des Energiekanals (I). Im Anschluss daran werden vor allem die Wirkkomponenten und -bereiche expliziert. Nachdem im ersten Grad »Handpositionen« oder »Meditationen« für die Eigen- und Fremdbehandlung erlernt werden, erfolgt mit Erhöhung des Einweihungsgrades eine Erweiterung des Wirkbereiches. Durch zwei Symbole, die man im zweiten Grad erlernt, werden nicht nur psychische Wirkbereiche miteinbezogen, sondern auch die Ortsgebundenheit der Heilrituale wird aufgebrochen (II). Im dritten Grad erfolgt schließlich die Übergabe der Einweihungsbefugnis (III). Das Geschehen während eines Einweihungsrituals beschreibt Uli wie folgt: Uli: Man macht also, ich kann so viel sagen, man macht bestimmte Handhaltungen auch. Die Person sitzt da, in einer empfangenden Position. Hände so oder so, also meistens Hände vor dem Herz auch. Und also ich empfinde das immer so als sehr, also ich bin immer, wenn ich eine Einweihung kriege auch oder so, immer sehr dankbar, das bekommen zu dürfen. Oder auch, wenn ich Einweihungen gebe, sehr dankbar, das machen zu dürfen. Und also ich persönlich fühle dann auch oft anwesende, also ich sag jetzt einfach mal, Meister. Also fühle dann halt eine sehr starke Präsenz auch oder eine sehr starke Lichtenergie. Und da bin ich immer sehr demütig und unheimlich dankbar auch für, dass das durch mich fließen darf.

An dieser Stelle wird deutlich, dass bei der Betrachtung der Wirksamkeit eines Einweihungsrituals nicht ausschließlich der Initiand in den Blick genommen werden darf. Auch bei der Durchführenden ist eine Wirkung zu beobachten, die insgesamt zur Wirksamkeitskonstruktion beiträgt. Auf emotionaler Ebene löst das Ritual bestimmte Empfindungen (Dankbarkeit) aus, auf meta-empirischer Ebene kann Uli Kontakt zu »Meistern« herstellen. Als weiteres Beispiel einer narrativen Ausarbeitung des Einweihungsgeschehens wird nun eine Interviewpassage von Alex angeführt, in der vor allem das Thema der rituellen Autorität hervorgehoben wird. Alex arbeitet in ihrer religiösen Praxis ebenfalls überwiegend mit Usui-Reiki, wendet aber außerdem Engelenergien bei Heilungen an. [Nummerierung eingefügt] N.M.: Du hast vorhin zum Beispiel von Einweihung noch erzählt, von diesen Ferneinweihungen. Alex: Ja, das sind eben diese Energieeinweihungen, dass man die Kanäle im Grunde nur reinigt von Menschen und dass die Energie durch kann, dass sie fließt (I). Dass die negativen Geschichten erstmal weg sind, die bauen sich später wieder auf durch eigenes Verhal-

280 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN ten, aber das kann man dann auch reinigen. Das sind Einweihungen. Die Fähigkeit hat jeder (II). Diese Kanäle hat jeder und das ist keine besondere Gabe, das ist einfach bei jedem so. Und man nennt es einfach Einweihung. Also ich könnte dich jetzt da einweihen, hab aber eigentlich keine wirkliche Funktion, weil ich ein Vermittler bin. Ich bin jetzt nicht dadurch dein Guru. Man sagt zwar ›Reikimeister‹, einfach weil man schon einen gewissen Weg hinter sich hat, aber deshalb ist man nicht auf Lebzeit der Meister der eingeweihten Person. Also klar gibt’s da Rituale (III), auch ich hab da meine Rituale, die ich dann vollziehe, gewissen Bewegungen, gewissen Danksagungen oder Bitten für den anderen Menschen, der diese Energie empfängt. Klar gibt’s überall also von daher, das sind dann die Einweihungen in diese Energie.

Auch sie fasst zu Beginn der Passage das grundlegende Ziel von Reiki bzw. Reikieinweihungen zusammen: die »Kanäle« der Person sollen gereinigt werden, damit durch sie die für die Heilung notwendige Energie fließen kann (I). Im Anschluss daran gibt Alex einen Einblick, wie sie sich das Positions- und Beziehungsgefüge zwischen Initiator und Initianden vorstellt (II). Sie selbst positioniert sich als Vermittlerin, die keine besondere Autorität für sich beansprucht. Nach ihrer Vorstellung zeichnet sie sich lediglich durch ein Mehr an ritueller Erfahrung aus, welche schließlich auch die Begründung für die bestehenden rituellen Hierarchien ist. Die Erzählerin macht deutlich, dass das Ritual nur eine temporäre Bindung zwischen Teilnehmer und Vollziehendem herstellt. Die Wirksamkeit des Rituals wird dadurch nicht beeinträchtigt. Durch die Positionierung als »Vermittler« erscheint die Personengebundenheit des Rituals nicht vorrangig. Auch die Koppelung von Wirkmechanismen und Initiator ist nicht vordergründig bestimmend für das Gelingen des Rituals. Als letztes ordnet Alex das Einweihungsgeschehen in die Terminologie »Ritual« ein. Sie betont, dass sie »ihre« Rituale habe, was auf eine individuelle Ausgestaltung der Einweihungen hindeutet. Leider wird dieser Punkt jedoch nicht weiter expliziert. Drehten sich die eben gehörten Passagen ausschließlich um Face-to-Face Einweihungen, so kann anhand der Äußerungen von Andi, die hier als abschließendes Beispiel vorgestellt werden, auch der Bereich der Ferneinweihungen näher betrachtet werden. Ferneinweihungen werden grundsätzlich von vielen der hier interviewten Personen durchgeführt, auch wenn die individuelle Gestaltung der Rituale variiert. Wie bereits einführend beschrieben, gibt es zwei Formen der Ferneinweihungen: die Echtzeit-Einweihung, bei der die Akteure zwar räumlich getrennt, aber zeitgleich agieren und die Depot-Einweihung, bei der das Einweihungsritual sozusagen gespeichert wird und zu einem späteren, beliebig wählbaren Zeitpunkt abgerufen werden kann. Beide Formen werden von Andi themati-

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siert, wobei die Thematik der Wirksamkeit neben der Erläuterung der Funktionsweise eine wichtige Rolle einnimmt. Andi hat auf ihre Homepage kurze Angebotsbeschreibungen der verschiedenen Einweihungen gestellt, mit dem Vermerk, dass viele auch als Ferneinweihung erhältlich sind. Die Nachfrage der Interviewerin setzt an diesem Punkt ein. [Nummerierung eingefügt] N.M.: Und da steht teilweise drunter, soweit ich mich richtig erinnern kann, ›Ferneinweihung‹. Wie funktioniert das? Also nutzen Sie da das Internet noch? Andi: Nein, es geht nicht über’s Internet, sondern im Prinzip haben wir ja, hab ich ja vorher schon erzählt, dass alles Energie ist ja. Das heißt, diese Einweihung, die ich persönlich mache in einem Seminar, kann ich genauso über die Ferne machen (I), indem ich einfach nur mit der Energie von diesem Klienten, Kunden, Menschen arbeite. Das funktioniert über ein Foto, oft genügt auch, also, man kann auch nur mit dem Namen und der Adresse und dem Geburtsdatum arbeiten. Ich mach’s immer mit Foto, weil ich mich einfach besser auf denjenigen einstellen kann. Und mach im Prinzip das gleiche, was ich eben auch machen würde, wenn er persönlich hier wäre (II). Also ich stell mir vor, er sitzt auf dem Sessel, mach die gleichen Rituale, alles genauso, nur eben über dieses Foto und das funktioniert ganz genauso. Und es ist sogar so, also ich hatte jetzt vor kurzem eine Ferneinweihung bei einem Reikimeister, also der eben schon den dritten Grad hat, aber eben in eine andere Energie, in die Malareiki. Und er hat mir eben gesagt, es war die intensivste Einweihung, die er je hatte (III). Und es ist unterschiedlich, die Wirkung ist gleich. Es ist völlig egal, ob diese Person jetzt wirklich real vor mir sitzt oder ob ich nur mit ihrer Energie arbeite. Die Unterschiede sind, manche fühlen sich einfach wohler, wenn sie angefasst werden (IV). Manche fühlen sich, manche haben auch ein bisschen die Zweifel, dass das mit der Ferneinweihung so funktionieren kann. Also die wollen das alles schön persönlich und manch andere wieder können bei einer Ferneinweihung – also ich zum Beispiel hab auch Ferneinweihungen lieber (V), weil ich mich hinlegen kann. Ich kann mich vorher darauf vorbereiten, indem ich mich eine halbe Stunde eben mir selbst die Hände aufleg oder mir gut tu. Es gibt jetzt auch noch eine andere Art, mir Energie zuzuführen, also indem ich meine Chakren in die richtige Position bring und den Chakren Energie zuführe. Das ist für mich auch eine sehr entspannende Art. Also es gibt da bestimmte Methoden, wo ich mich einfach zur Ruhe bringe und mir ne Kerze anzünd, ein Räucherstäbchen, mir’s total schön mach und mich dann hinleg und dann kann ich diese Einweihung viel besser genießen und empfangen und spüren auch, als wenn ich jetzt eben auf nem (?) sitz ja. Und in einer fremden Umgebung und deswegen tun sich einige leichter mit der Ferneinweihung, also die können das einfach besser genießen.

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Grundvoraussetzung für das Funktionieren der Einweihungen ohne lokale Bindung ist – wie auch Andi betont – die Annahme, dass »alles Energie« ist (I). Dieser dominante Topos im Diskurs gegenwärtiger Religiosität erweist sich damit auch in diesem Kontext als Begründungshorizont für die flexible und dynamische Gestaltung von Ritualen. Wie die Erzählerin erklärt, arbeitet sie bei Ferneinweihungen mit Stellvertreterobjekten des Ritualteilnehmers146 wie z. B. einem Foto oder Namen und Adresse. Sie betont, dass das rituelle Geschehen »das gleiche« ist, wie wenn der Teilnehmer persönlich anwesend wäre (II), nur dass die Einweihung nun über Imaginationsarbeit erfolgt. Die Erzählerin merkt an, dass dadurch die »Funktion« des Rituals und damit auch seine Wirksamkeit in keiner Weise beeinträchtigt werden. Um dies zu bekräftigen, führt sie eine Belegerzählung (III) von einer Erfahrung während einer Einweihung in Mala-Reiki an. Hier lässt sie den Reiki-Meister bestätigen, dass die Wirkung nicht nur äquivalent zur Wirkung der Einweihung vor Ort gesehen wird, sondern sie in diesem Falle die Face-to-Face-Einweihung sogar noch übertrifft. Insgesamt wird die Wirksamkeit des Rituals jedoch unabhängig von der körperlichen Präsenz konstruiert. Nach den Angaben von Andi erfolgt die Auswahl der Ritualform entsprechend persönlicher Vorlieben der Initianden (IV). Dabei merkt sie an, dass auf Seiten der Akteure die Wirksamkeit oftmals eben nicht unabhängig von der körperlichen Präsenz gedacht wird und diese daher »zweifeln«, ob eine Ferneinweihung überhaupt funktionieren kann. Eine Koppelung von Form und Wirksamkeit erscheint daher auch in emischer Perspektive abhängig von den jeweiligen Akteursstandpunkten. Gegen Ende der Passage positioniert sich Andi schließlich als jemand, der insbesondere den Ferneinweihungen zugeneigt ist (V). Sie begründet dies ausführlich, indem sie schildert, wie sie das Ritual für sich individuell rahmt. Zu den Vorbereitungen gehört bei ihr eine »Eigenenergiebehandlung«, Kerzen, Räucherstäbchen und eine entspannte, liegende Position. Dieser Rahmen ermögliche es ihr, das Ritual besser zu »genießen«. An dieser Passage wird deutlich, dass auch auf der Akteursebene zwischen unterschiedlichen Konstruktionen von Wirksamkeit zu differenzieren ist. In diesem Fall geht es um die Frage nach der Abhängigkeit der rituellen Wirksamkeit von der körperlichen Präsenz während des Rituals. Die zur Auswahl stehenden Variationen der Einweihung werden entsprechend der Aussicht auf das bestmögliche Gelingen gewählt. Es ist daher anzunehmen, dass die Selektionsprozesse der Akteure bei einer bestehenden Vielfalt an Ritualangeboten auch in anderen

146 Sprachlich ist an dieser Stelle interessant, wie die Erzählerin den Einweihungsteilnehmer betitelt, vom Klienten zum Kunden zum Menschen.

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Fällen nicht beliebig, sondern entlang bestimmter Erfolgskriterien getroffen werden, zu denen auch die Wirksamkeit eines Rituals gehört. Im letzten Abschnitt der Interviewpassage kommt Andi schließlich noch auf Depot-Einweihungen zu sprechen. Die Passage folgt unmittelbar auf das eben angeführte Zitat zu Ferneinweihungen und ist daher mit fortlaufender Nummerierung versehen. N.M.: Und bei den Ferneinweihungen, ist das dann so, dass es zumindest also zeitlich festgelegt ist, dass man jetzt sagt, 16 Uhr? Andi: Ja, eine, es gibt ja, es gibt auch Depot Einweihungen (VI). Das machen auch einige, wo man wirklich die Ferneinweihung macht und festlegt für 17 Uhr am Samstag. Und das kann man auch machen und derjenige ruft sie, da gibt’s dann einen Satz, den man sich vorher ausmacht, ruft sie dann mit diesem Satz ab. Das gibt es auch, ich arbeite nicht damit (VII), weil da, ich also, ich find es schon persönlicher, wenn ich mir jetzt ne Uhrzeit ausmache, 18 Uhr und ich weiß, er liegt jetzt dort und empfängt die Einweihung und ich sitz da und weihe ihn ein. Also ich mach das immer schon mit Uhrzeit. Es gibt aber zum Beispiel, ich hab schon gehört von Freunden mit dieser Depot-Einweihung zum Beispiel (VIII). Das ist recht angenehm, weil der war in Ägypten und hat in der Pyramide sich über die Depot-Einweihung dann irgendein, es gibt verschiedene Energien eben auch aus Ägypten gibt’s Energien und hat sich da eben eine Einweihung quasi abgeholt vom Depot. Und das geht zum Beispiel nur mit Depot-Einweihungen, so besondere Dinge. Aber das stell ich mir schon sehr schön vor, also wenn ich in Ägypten in der Pyramide sitz und mich dort einweihen lass, muss herrlich sein. Also für bestimmte Sachen ist es sicher positiv oder eben jemand, der Schicht arbeitet, was weiß ich. Oder eben so nicht die Möglichkeit hat unter normalen Zeiten. Der kann sich das auch um drei in der Früh abrufen oder so. Also es kommt auf die Umstände an. Also es ist beides möglich, es ist beides wirkungsvoll, aber für mich, ich mach’s immer noch gern mit Zeit, also mit wirklicher Zeit, wo ich weiß, der andere ist jetzt dort und empfängt jetzt eben quasi (IX).

Andi erklärt zunächst kurz das Prinzip von Depot-Einweihungen: Das bereits durchgeführte Ritual kann, mit Hilfe eines Zugangsschlüssels, zeitunabhängig vom Initianden abgeholt werden (VI). Das Ritual liegt in diesem Fall in energetischer Form vor und wird sozusagen »zwischengespeichert«. Der Ort dafür wird allerdings weder von Andi noch von anderen Studienteilnehmern weiter expliziert. Zu diesen Depot-Einweihungen positioniert sich Andi zunächst in ablehnender Haltung, indem sie betont, sie arbeite lieber mit einer festgelegten Uhrzeit, zu der Initiand und Initiator zeitgleich agieren (VII). Trotz der für sich persönlich ablehnenden Haltung folgt ein Abschnitt, in dem die Erzählerin anhand

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einer Beispielgeschichte die Vorzüge dieser Einweihungsart hervorhebt (VIII). Sie berichtet davon, wie jemand seine deponierte Einweihung während eines Besuchs der ägyptischen Pyramiden abgeholt habe. Ägypten, insbesondere die Pyramiden, gelten bei vielen Akteuren im Diskurs gegenwärtiger Religiosität als besonders »spiritueller« Ort, der sich vor allem durch seine speziellen Energiefrequenzen auszeichnet.147 Dieses Einweihungsszenario bewertet Andi sehr positiv, auch führt sie weitere Vorzüge von Depot-Einweihungen an. Insbesondere der praktische Aspekt für Leute, die beruflich an ungewöhnliche Zeiten gebunden sind, wird von ihr hervorgehoben. Abschließend stellt sie klar, dass beide Einweihungsvarianten »wirkungsvoll« seien, lediglich die »Umstände« oder persönliche Vorlieben würden über den jeweiligen Einsatz entscheiden. Vor dem Hintergrund der eben aufgeführten Beispiele lassen sich einige Punkte festhalten. Generell ist im Ritualgeschehen zwischen unterschiedlichen Wirkungen zu differenzieren, welche die beteiligten Akteure individuell erfahren. Bei der Konstruktion der Wirksamkeit eines Rituals sind diese unterschiedlichen Perspektiven mit zu berücksichtigen. Im Falle von Heilungen oder Einweihungen können z. B. bei der heilenden Person und der Behandelten verschieden erfahrene Wirkungen auftreten, die schließlich die gesamte Wirksamkeit des Rituals ausmachen. Wirkungen werden häufig als konkret erfahrbar beschrieben, wobei emotionale Aspekte ebenso wie somatische im Mittelpunkt stehen. Wirksamkeit kann daher als »embodied cognition«148 beschrieben werden. Die Aushandlung und Bestätigung von Wirksamkeit erfolgt auch in sogenannten Belegerzählungen, in denen dritte Parteien angeführt werden, die den Erfolg des Rituals bestätigen. Des Weiteren kann die Wirksamkeit von Ritualen plausibilisiert werden, indem die Agency an Dritte, in vielen Fällen meta-empirische Entitäten abgegeben wird.149 Indem die Entscheidung über die anzuwendenden Wirkkomponenten bzw. Handlungsmechanismen an meta-empirisch Dritte abgegeben wird, kann das Ritual insgesamt authentifiziert und legitimiert werden. Dabei ist es möglich, dass auch die Wirksamkeit bei der Anwendung einer Vielzahl unterschiedlicher ritueller Kompositionsmuster erhalten bleibt. Es zeigt sich, dass die Transformationen bzw. Inventionen in der Ritualpraxis die angenommene Wirksamkeit nicht beeinträchtigen. Mit dem Hinweis auf meta-empirische Handlungsmächte oder mit dem Verweis auf individuelle Bedürfnisse der teilnehmenden Akteure findet eine (teilweise) Entkoppelung der

147 Zur allgemeinen Konstruktion eines Ägyptenbilds siehe Hammer 2001, 109-111. 148 Sax 2009, 9. 149 Vgl. Sax 2006.

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Ritualstruktur von der Konstruktion der Wirksamkeit statt. Nach dem Leitgedanken »nur die Absicht zählt« können gezielt Variationen des Rituals vorgenommen werden, dessen Wirksamkeit dadurch nicht beschränkt, sondern im Gegenteil sich erst vollkommen entfalten kann. Entscheidend für diese Wirksamkeitskonstruktionen sind an vielen Stellen diskursspezifische, dominante Muster. So gewährleistet z. B. die Referenz auf ein Energiemodell im Anschluss an den »alles-ist-eins«-Topos die Vorstellung einer durchgängigen Wirksamkeit von Heilungen und Einweihungen.

5.4 R ITUELLE K OMPOSITIONSMUSTER Zwar konnte anhand der dargestellten Beispiele – Gebete und Heilrituale – der Bereich der Rituale gegenwärtiger Religiosität nur in ersten Ansätzen beleuchtet werden, dennoch lassen sich einige zentrale Erkenntnisse festhalten. Wie am Material gezeigt wurde, sind Rituale, die von Akteuren gegenwärtiger Religiosität praktiziert werden, weder unveränderbare, statische Gebilde, noch völliger Beliebigkeit unterworfene Handlungen. Als Oberbegriff für die folgenden Ausführungen wird daher von der »Komposition«150 von Ritualen gesprochen, ein Bild, das zunächst unter Rückgriff auf rezente Ritualtheorie erläutert werden soll. Wie Burkhard Gladigow feststellt, können Rituale als mehr oder weniger komplexe Strukturen gefasst werden, die sich unter bestimmten Umständen als sehr variabel und offen für »Improvisationen«151 zeigen. Mit steigender Komplexität entstehen nach Gladigow verstärkt »open spaces«152, die mit entsprechenden Erweiterungen gefüllt werden könnten. Hier kann es zur Adaption der verschiedensten Elemente kommen, ohne dass die Variabilität jedoch grenzenlose Züge annimmt: The limits of complexity can be strained, however, at the point where disparate and dysfunctional components, as well as components with different structures of complexity, are adopted.153

150 Vgl. dazu auch Gladigow 2004. 151 Gladigow 2006, 488. 152 Ebd. 153 Gladigow 2006, 489.

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Gladigow setzt bei diesen Überlegungen grundsätzlich voraus, dass sich Rituale generell in verschiedene Komponenten, an anderer Stelle auch rituelle Elemente oder Riten genannt154, einteilen lassen. In der Ausgestaltung ritueller Komplexität werden diese Elemente schließlich in bestimmter Weise miteinander kombiniert. Leitende Faktoren für diese Kombinationsprozesse sind u. a. die Akteure und ihre jeweilige Bedeutungszuschreibung an das Ritual oder auch ihre Konstruktionen von Wirksamkeit.155 Für die folgenden Überlegungen soll Gladigows Idee von einer mehr oder weniger komplexen Verarbeitung ritueller Komponenten aufgegriffen werden und weiter gefragt werden, welchen Mustern die Kombinations- und Kompositionsprozesse im Einzelnen folgen. Während Gladigows Vorstellungen von rituellen Elementen sich überwiegend an der inhaltlichen Ausrichtung des Rituals orientieren – so benennt er z. B. bestimmte Gesten, Gebete oder kurze Handlungssequenzen als Elemente – sollen die Kompositionsprozesse im Weiteren primär anhand der in den vorangegangenen Kapiteln betrachteten analytischen Aspekte beleuchtet werden. Es geht daher weniger darum, die einzelnen inhaltlichen Elemente in den Kompositionsprozessen zu erfassen, sondern vielmehr verschiedene »Tiefendimensionen« dieser Prozesse näher zu betrachten. Die Betitelung der Prozesse als Kompositionen möchte zwei Punkte betonen. Zum einen wird angenommen, dass es sich bei Ritualen um Konstruktionen handelt, die von verschiedenen Akteuren ausgehandelt werden und die damit im Rahmen diskursiver Gefüge zu verstehen sind. Um die Parallele zur Musik zu ziehen, geht es bei Kompositionen zwar einerseits um die Strukturierung von Elementen, wobei sowohl die Muster für diese Strukturierung als auch die verwendeten Komponenten aus einem bestimmten Repertoire gewählt werden und damit historisch und kulturell gebunden sind. Andererseits sind Kompositionen immer auch als ein kreativer Konstruktionsprozess zu verstehen, in dem sich individuelle Vorlieben oder Ideen widerspiegeln. Im Fall von Ritualen ist dabei ohne Bedeutung, ob die Kompositionsprozesse intentional durchgeführt wurden oder nicht, da in den Narrationen der Akteure höchstens die Prozesse des Nachdenkens über bzw. der Reflexion erfasst werden können. Ein weiterer Aspekt, der das Bild der Komposition für die Übertragung auf den Ritualbereich interessant macht, ist, dass diese im weitesten Sinne hörerorientiert gestaltet werden und immer auch Ausdruck des aktuellen sozio-kulturellen Milieus sind. Aktuelle Geschmäcker und Moden spiegeln sich ebenso in Kompositionen wie Bedürfnisse, sich von eben diesen abzugrenzen und neue Elemente einzuführen.

154 Gladigow 2004, 59. 155 Gladigow 2006, 487f.

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Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität können vielfältige Kompositionsprozesse beobachtet werden. Anhand von Gebeten wurde aufgezeigt, dass die analytischen Differenzierungen zwischen Inventionen, Transformationen und Adaptionen von Ritualen oder rituellen Elementen nicht zu trennscharfen Kategorien auszubauen sind, sondern vielmehr als aufeinander bezogene Interpretationsstufen zu betrachten sind. Das Beispiel der Übernahme christlicher Gebetsskripte machte deutlich, dass diese zwar generell offen sind für Veränderungen, von denen insbesondere die interpretative Einbettung der Rituale in aktuelle Religiositätskonstruktionen der Akteure betroffen ist. Es zeigte sich jedoch auch, dass bestimmte Argumentationen angeführt werden, die solche Veränderungen legitimieren. Die Transformationsprozesse finden im Fall von Gebeten in komparativer Perspektive statt, in der Veränderungen gegenüber rituellen Orthopraxien aus dem kirchen-christlichen Diskurs legitimiert werden müssen. Hierzu findet eine »Entkleidung« der Rituale aus ihren kirchen-christlichen Interpretationshorizonten statt, in denen die Deutungshoheit über das Ritual den theologischen und kirchlichen Experten zugeschrieben wird. Damit werden die Rituale übertragbar in einen neuen diskursiven Rahmen, wo sie von den Akteuren, die sich hier die Deutungshoheit über die Rituale zuschreiben können, in neue interpretative Kontexte gestellt werden. Aus der Sicht der Akteure wird die Wirksamkeit der Rituale durch transformative Prozesse überwiegend nicht beeinträchtigt. Dies trifft jedoch nicht auf alle Fälle zu. Wie die Akteure erwähnen, gibt es auch Rituale, die in ihrer Struktur oder Praxis nicht verändert werden dürfen, da sonst die Wirksamkeit gefährdet wird, z. B. bei bestimmten Heilungs- oder Einweihungsritualen. Auch am Beispiel christlicher Gebete zeigte sich, dass diese auch ohne Veränderungen in den sogenannten »internal dimensions«156 für eine Verwendung im Diskurs gegenwärtiger Religiosität herangezogen werden können. Die Transformation traditionell-christlicher Gebetsstrukturen bei der Übertragung zwischen verschiedenen diskursiven Kontexten kann als Transferprozess gelesen werden. Dazu halten die Autoren Langer, Lüddeckens, Radde und Snoek fest: Such a change of context – whereby the different contextual aspects may influence each other – causes modifications of the internal dimensions of the ritual. … Conversely, when

156 Nach der analytischen Matrix »Ritualtransfer« sind hier z. B. Skript, Performanz, Kommunikation, Interaktion, Medialität, Symbolik und Bedeutungszuschreibung zu nennen. Langer et.al. 2006, 2.

288 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN changes in the internal dimensions of a ritual are found, one should verify if maybe one or more contextual aspects have changed as well, which might be the triggering factor(s).157

Wie die Beispiele gezeigt haben, kann es jedoch trotz veränderter Kontextfaktoren – hier ein anderer diskursiver Kontext – zur unveränderten Beibehaltung der Ritualstrukturen kommen. Auf der Ebene der Bedeutungszuschreibung findet allerdings in vielen Fällen eine Anpassung an neue Interpretationshorizonte statt. Da sich Diskurse jedoch statischen Grenzmarkierungen entziehen, kann statt von Transferprozessen auch von Aktualisierungsprozessen gesprochen werden. Rituale können, entsprechend der Akteurspositionierung in religiösen Diskursen, transformiert und angepasst werden. Rituelles Wissen, das auch habitualisierte Ritualmuster enthält, wird unter Rückgriff auf die in aktuellen diskursiven Kontexten zur Verfügung stehenden Ressourcen aktualisiert. Die Notwendigkeit zur Aktualisierung scheint dabei von der Komparabilität der Interpretations- und Deutungshorizonte abzuhängen, in denen die jeweiligen Rituale verstanden werden. Die Beurteilung dieser Komparabilität hängt dabei wesentlich von aktuellen Identitätskonstruktionen der Akteure ab, die wiederum geprägt sind von ihren jeweiligen Positionierungen. Gerade bei performativen Aspekten zeigte sich, wie die Akteure unter Rückgriff auf aktuell zur Verfügung stehende Ressourcen stetig habituelle Prägungen prüfen und ggf. aktualisieren. Mit dem Begriff des »mimetischen Imprintments« wurde darauf aufmerksam gemacht, dass – folgt man den Akteursaussagen – die nachahmende Wiederholung ritueller Performanz z. B. in der Kindheit sich gleichsam als habituelle Struktur einschreibt, die schließlich für alle späteren Aktualisierungen eine der wesentlichen Vergleichsgrundlagen bildet. Bei den Kompositionsprozessen von Ritualen spielen noch weitere Aspekte eine Rolle. In den Narrationen zeichnete sich ab, dass Emotionen sowohl bei der konkreten Praxis als auch in Kompositionsprozessen eine wichtige Rolle spielen. Vor allem der Wohlfühl-Faktor ist bei der Durchführung von Ritualen ein wichtiges Kriterium, insbesondere bei deren Transformation. Aber auch religiöse Emotionen wie empfundene Glückszustände bei der Verbindung mit »dem Göttlichen«, Engeln oder dem eigenen höheren Selbst stellen wichtige Aspekte dar, die sowohl als Zielpunkt für rituelle Erfahrungen angegeben werden, als auch als Kriterium zur Qualitätsbeurteilung herangezogen werden. Mit der Betonung der eigenen Erfahrung insbesondere auf emotionaler Ebene knüpfen die Akteure an dominante Aushandlungen des Diskurses an, die bereits seit längerem einen

157 Langer u. a. 2006, 7f.

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zentralen Punkt in der rezipierten Literatur darstellen.158 Voraussetzung für ein intensives emotionales Ritualerleben, das gleichzeitig auch einen wichtigen Bewertungsfaktor für das Gelingen eines Rituals ausmacht, stellt die Rahmung dar. Diese kann unterschiedliche Bereiche betreffen, die jedoch eng miteinander verknüpft sind. So können bestimmte performative Aspekte, sprachliche Signale oder Signalwörter, aber auch die Gestaltung der Rituallokalität als Rahmung verstanden werden. Sogenannte ästhetische Cues159 finden sich beispielsweise in Form bestimmter Körperhaltungen, die z. B. beim Beten eingesetzt werden. Aus Perspektive der Akteure kann so das rituelle Geschehen vom Alltagsgeschehen abgehoben werden. Rahmungen werden ebenso wie andere Aspekte in Kompositionsprozessen Veränderungen unterzogen bzw. durchlaufen Aktualisierungen. Sie verschieben sich, werden erweitert oder ganz aufgegeben. Auch hier schreiben sich die Akteure erneut die Verfügungshoheit über diese Vorgänge zu. Am Beispiel der Gebetshaltungen, die als körperlicher Rahmen für das Ritual gesehen werden können, wurde jedoch verdeutlicht, dass auch innovative oder transformative Vorgänge nicht beliebig oder willkürlich gewählt sind. Entsprechend den diskursiv ausgehandelten Vorgaben, bei denen auch entschieden wird, was akzeptiert und anerkannt werden kann und was nicht, orientieren sich diese Vorgänge an normativen Ausrichtungen. So steht für Gebetshaltungen im europäischen Raum ein gewisses Repertoire zur Verfügung, mit dem die Akteure kreativ umgehen können, außerhalb dessen jedoch eine Gebetshaltung für die Akteure nicht mehr als solche erkennbar wäre. Eine Etablierung eines vollkommen neuen Frames ist zwar nicht gänzlich unmöglich, müsste im Diskurs gegenwärtiger Religiosität jedoch zunächst eingeführt werden und zumindest eine lokale Dominanz erreichen, damit die Erkennbarkeit des Elements als Frame gewährleistet ist. Gleiches gilt für die Ausgestaltung lokaler Frames. Räucherkerzen, Duftöl, Edelsteine, tragende Musik sind Elemente, die von den Akteuren zwar individuell kombiniert, eingesetzt und mit bestimmten Deutungen versehen werden. Doch handelt es sich hierbei ebenfalls um Elemente, die sich als Repertoire für die Gestaltung von rituellen Räumen diskursiv durchgesetzt haben. Rahmende Elemente können bei der Durchführung von Ritualen für die Akteure auch die Funktion erfüllen, einen Raum für außergewöhnliches Erleben zu schaffen. Als »Scharnierelemente« zwischen nicht-rituellem und rituellem Kontext können beispielsweise die verschiedenen Gebetshaltungen verstanden werden.

158 Vgl. dazu Hammer 2001, 369-379, Lee 2007. 159 Zum Konzept von »cues« (Hinweisreize) siehe Ambos, Rudolph & Weinhold 2006, 23.

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Ein weiterer Aspekt, der in der Untersuchung herausgehoben wurde, ist die Wirksamkeit von Ritualen. Es wurden Wirkkomponenten bzw. -mittel identifiziert, nach der Wirkweise gefragt und die Umgrenzung von Wirkbereichen beleuchtet. Im Hinblick auf die beteiligten Akteure zeigt sich deutlich, dass bei der Konstruktion der Wirksamkeit eines Rituals alle beteiligten Akteure in den Blick genommen werden müssen, da z. B. bei einem Heilungsgeschehen die Aspekte von Wirksamkeit sowohl an die Wahrnehmungen des Heilers als auch an die des Klienten gekoppelt sind. In religiösen Diskursen sind zudem meta-empirische Entitäten als Wirkakteure mit zu bedenken. Ein weiterer interessanter Punkt ergab sich in Bezug auf die Konstruktion von Wirksamkeiten insbesondere im Hinblick auf die vielfach durchgeführten Kompositionsprozesse. Bei Veränderungen in der Struktur, Performanz oder anderen Ritualelementen laufen die Akteure Gefahr die gesamte Wirksamkeit des Rituals zu gefährden. Die Idee, dass die Wirksamkeit in direkter Abhängigkeit zu einer bestimmten, »korrekten« rituellen Praxis steht, ist vor allem aus diskursiven Aushandlungen religiöser Spezialisten (z. B. christliche Theologen) aber auch von Ritualwissenschaftlern selbst bekannt.160 Diesen Verknüpfungszusammenhang stellen die Akteure bei der individuellen Anpassung eines Heilungsrituals in Frage: Teilweise entkoppeln sie die Wirksamkeit des Rituals von Struktur und Performanz. Als bestimmender Aspekt, der als Kriterium für die Wirksamkeit herangezogen wird, steht ab sofort allein die Akteurswahrnehmung im Vordergrund, die hier überwiegend emotional geleitet ist. Auch transformierte Rituale sind in den Augen der Akteure wirksam, solange sie sich »gut anfühlen« und eine direkte religiöse Erfahrung vermitteln. Es findet sich auch die Aussage, dass die Wirksamkeit ausschließlich von der Intention der Durchführenden abhängt, die Form wird dabei als sekundär betrachtet. Eine besondere Herausforderung für Fragen nach der Wirksamkeit stellen Rituale dar, die nicht an die gleichzeitige körperliche Präsenz der beteiligten Akteure gebunden sind. Hier werden bestimmte Hilfsmittel (Fotos) oder Mechanismen wie ein passwort-geschütztes Depot eingeführt, die bei der Ritualdurchführung unterstützend wirken sollen. Es zeigt sich bereits an den hier vorgestellten Beispielen, dass sich im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ein reiches und vielfältiges Spektrum an Ritualen

160 Einen Einblick in aktuelle Forschungen bietet der Sammelband »Ritual efficacy?« von Sax, Quack & Weinhold 2009. Den Umgang mit Ritualfehlern, in denen sich impliziert ein normierendes Verständnis bzgl. eines »korrekt« durchgeführten Rituals zeigt, wird im Band »When Rituals go wrong. Mistakes, Failure, and the Dynamic of Ritual« von Hüsken 2007 thematisiert.

R ITUELLE PRAXIS

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und rituellen Kompositionsprozessen findet, insbesondere wenn die verschiedenen Akteursperspektiven wahr und ernst genommen werden. Die Prozesse orientieren sich stark an den im Diskurs verhandelten rituellen Ressourcen und Legitimierungs- und Authentifizierungsstrategien. In den Ritualen spiegeln sich aber auch dominante Positionierungsstrategien der Individualität und Selbstermächtigung wider. Daraus ergibt sich für den Beobachter ein breites Spektrum, das nur schwer fassbar scheint. Es gibt nicht die Form eines Gebets, einer Meditation, Heilung oder Einweihung. Individuelle Ausgestaltungen potenzieren die Variationsbreite enorm, dennoch werden im Diskurs Rituale über Ähnlichkeitsstrukturen geclustert. In diskursiven Aushandlungsprozessen bilden sich anerkannte und vielfach akzeptierte Vorstellungen davon heraus, wie z. B. ein Gebet oder eine Einweihung auszusehen hat bzw. welche Elemente notwendig sind, um sie als solche erkennbar zu machen. In den Diskursen entstehen normative oder auch idealtypische Vorlagen für bestimmte Rituale, die jedoch nicht als starr und gefestigt betrachtet werden dürfen. Denn je nachdem, wie und wo Ritualkonstruktionen in den Aushandlungen der beteiligten Akteure positioniert werden, auf welche Ressourcen sie zurückgreifen und welche Aktualisierungen habitueller Strukturen sie vornehmen, verschieben sich auch die normierenden Standards.

6. Gegenwärtige Religiosität und moderne Medien

Auf dem Smart-Phone rasch die eigenen E-Mails einsehen, die neusten Informationen via Twitter versenden, das aktuelle Lieblingsbuch auf den Tablet-PC downloaden oder beliebig im Internet surfen – all dies sind Mediennutzungen, die derzeit mit steigender Selbstverständlichkeit von Menschen verwendet werden.1 Medien strukturieren die Wahrnehmung der Lebenswelt, durch die Selektions- und Aushandlungsmechanismen der beteiligten Akteure stellen sie jedoch gleichzeitig einen entscheidenden Motor für die Generierung dieser Lebenswelt dar. Der Begriff des Mediums2 ist dabei in der derzeitigen Forschungslandschaft ebenso unscharf definiert wie viele andere kulturwissenschaftlich genutzte Terminologien. Der Medienwissenschaftler Mike Sandbothe hält drei dominante Verwendungen des Medienbegriffs fest: Wir verwenden das Wort Medium erstens mit Blick auf sinnliche Wahrnehmungsmedien wie Raum und Zeit; wir beziehen es zweitens auf semiotische Kommunikationsmedien wie Bild, Sprache, Schrift oder Musik; und wir gebrauchen es drittens zur Bezeichnung von technischen Verbreitungs-, Verarbeitungs- und/oder Speichermedien wie Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer oder Internet.3

Kritisch bemerkt er, dass andere »klassische« Mediendefinitionen die Tendenz aufweisen, eine dieser Mediensorten in den Vordergrund zu rücken und entsprechend die anderen zu vernachlässigen. Für eine transdisziplinär ausgerichtete

1

An dieser Stelle muss erneut auf eine Differenzierung dieser Aussage im Hinblick auf

2

Siehe dazu einführend Merten 1999, 132ff.

3

Sandbothe 2003, 3.

Bewohner von Industrie- und Entwicklungsnationen hingewiesen werden.

294 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN

medienwissenschaftliche Forschung schlägt er jedoch vor, dezidiert einen Blick auf die »dynamischen Interferenzen« zu werfen, »die zwischen Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Verbreitungsmedien bestehen.«4 Dies ist sicherlich ein Ansatz, der auch für religionswissenschaftliches Arbeiten fruchtbar zu machen ist, in der Forschungspraxis jedoch scheint in Abhängigkeit vom Umfang der Arbeit eine pragmatische Fokussierung auf eines der drei Felder sinnvoll. Im Blickpunkt dieser Studie stehen daher die technischen Verbreitungs-, Verarbeitungs- und/oder Speichermedien. Denn gerade aufgrund des hier zu beobachtenden rapiden technologischen Fortschritts sind es diese Medien, die immer stärker den Alltag der Menschen beeinflussen. Die mediale Durchdringung sozialer Lebenswelten wird derzeit von kommunikationswissenschaftlicher Seite unter den Begriff der »Mediatisierung« gefasst. Die Entwicklung immer spezialisierterer Medien und deren »Nutzungs- und Rezeptionsformen im Alltag« ist jedoch nach Friedrich Krotz kein Prozess, der erst in der Moderne ansetzt. Er definiert »Mediatisierung« als einen »universellen historischen Prozess«5, in dessen Verlauf immer mehr Kommunikationsmedien entwickelt wurden und auf unterschiedliche Weise Verwendung fanden und finden, wobei alte Medien durch das Hinzukommen neuer sich anders im Alltag der Menschen positionieren und an andere kommunikative Erwartungsbündel geknüpft werden – beispielsweise, wenn das Radio zum »Nebenmedium« wird.6

Prozesse der Mediatisierung, verstanden als stetige Ausdifferenzierung und steigende Vernetzung medialer Strukturen, beeinflussen auch religiöse Lebenswelten.7 Die meisten religiösen Traditionen nutzen heute nicht nur ältere Medien wie Buch, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, sondern haben mittlerweile auch den virtuellen Raum des Internet erschlossen. Dabei ist davon auszugehen, dass die Präsenz in unterschiedlichen Medien nicht nur zur Vermittlung religiöser Strukturen beiträgt, sondern religiöse Inhalte dadurch auch entscheidend mitgeformt werden. Es liegt eine stetige Wechselwirkung zwischen der Nutzung medialer Strukturen und den Gegenstandsformungen durch dieselben vor. Insbe-

4

Sandbothe 2003, 3.

5

Krotz 2008a, 43.

6

Ebd.

7

Siehe dazu ausführlich Krüger 2012. Die Interdependenzen zwischen medialen und religiösen Bereichen zeigen z. B. verschiedene Fallstudien in Hoover & Schofield 2002.

M ODERNE M EDIEN

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sondere mit der Popularisierung des Internets kam es auch im Bereich von Religionen zur Ausbildung neuer, medienspezifischer Strukturen.8 Durch die Sichtbarkeit multipler Akteursperspektiven im Internet9 sehen sich religiöse Institutionen oftmals in ihren Autoritäts- und Normsystemen herausgefordert.10 Durch die Nutzung des Mediums entstanden neue Kommunikationsstrukturen und soziale Netzwerke, die ganz entscheidend die Aushandlung religiöser Inhalte prägen.11 Es ist des Weiteren davon auszugehen, dass ebenso wie z. B. die Einführung des Buchdrucks auch die rasante Verbreitung des Internets neben einer Erhöhung der Zugänglichkeit religiöser Inhalte für die Akteure einen katalysatorischen Effekt12 auslöste: Nicht nur der hohe Repräsentanzfaktor religiöser Inhalte, sondern auch die mediumspezfischen Kommunikationsmöglichkeiten führen dazu, dass religiöse Akteure zum einen verstärkt die Pluralität religiöser Identitätskonstruktionen wahrnehmen und sich zum anderen darüber aktiv verständigen können. Es kommt so zu gesteigerten Austausch- und Dynamisierungsprozessen. Damit besitzt das Internet gerade für kulturwissenschaftliche Forschung ein hohes Interessenpotential. Doch es wäre einseitig, sich ausschließlich auf das Internet zu konzentrieren, denn wie in vielen Beispielen deutlich wird, kommt es keineswegs zur Substitution von alten durch neue Medien.13 Vielmehr ist von einer Parallelität auszugehen, wobei es zu massiven Änderungen in der Nutzung, technischen Einbindung und Zugänglichkeit kommen kann. Das Buch ist mit Sicherheit bis heute eines der wichtigsten Medien moderner Gesellschaften. Seitdem es durch die Einführung moderner Druckverfahren zu einem für viele Menschen zugänglichen Massenmedium (zumindest auf der Rezeptionsseite) geworden ist, behauptet es sich bis heute auf dem Markt, woran auch die Einführung von Fernsehen und Internet nichts ändern konnten. Im Zuge veränderter technischer Möglichkeiten und Umstrukturierungen im wirtschaftlichen Bereich ist jedoch zu beobachten, dass sich in den letzten Jahren die Zugänglichkeit auf distributiver Seite ändert. Kleine Verlage, die um »jedermann« als Autor werben

8

Eine Übersicht zur bestehenden Forschung bietet z. B. Karaflogka 2006, 29-55.

9

Neben persönlichen Homepages oder Foren sind es derzeit vor allem sog. Web2.0 Anwendungen, welche die Internetnutzer aktiv zur Vermittlung von Information und Kommunikation aufrufen.

10 Siehe exemplarisch Ahn 2007c, Jakobsh 2006. 11 Vgl. Ahn 2007c. 12 Vgl. ebd., 199f. 13 Zum Verhältnis von Internet zu anderen Medien siehe z. B. Döring 2003, 118-123.

296 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN

und einer Vielzahl von Akteuren gegen entsprechende Vergütung den Buchmarkt öffnen, sind heute immer mehr im Kommen.14 Durch die Präsenz unterschiedlicher Medien in sozialen und kulturellen Räumen verändern sich daher nicht nur die Strukturen, Nutzungs- und Wirkmechanismen der einzelnen Medien, sondern es kommt verstärkt zu einer immer komplexer werdenden Vernetzung. Der Buchmarkt ist mittlerweile ohne enge Verzahnung mit dem Internet nicht mehr denkbar und auch Inhalte aus Film und Fernsehen sind nicht länger an bestimmte technische Endgeräte gebunden, sondern finden ebenfalls Aufnahme ins Internet und werden somit mobil. Die enge Verzahnung unterschiedlicher Medien lässt so immer mehr ein überspannendes mediales Feld entstehen, das geprägt ist von Vernetzungen und Austauschprozessen.15 Im Zuge religionswissenschaftlicher Forschung ist nun besonders interessant, welche Rezeptions-, Produktions- und Distributionsprozesse für dieses komplexe mediale Feld vorliegen. Aufgrund der Neuheit und der immer noch rasanten Entwicklung des Mediums Internet gilt es dieses besonders zu beachten, ohne jedoch den Blick von den anderen Medien abzuwenden. Wie von kommunikations- und medienwissenschaftlicher Seite seit langem bekannt, transportieren Medien nicht einfach nur Botschaften und Informationen in den jeweiligen kulturellen Kontexten, durch ihren Aufbau und ihre Struktur formen sie diese auch entscheidend mit.16 Dies trifft selbstverständlich auch auf religiöse Inhalte zu. Wie bereits bei der Ausarbeitung der Ritualthematik mehrfach deutlich wurde, unterscheidet sich die Präsentation und Positionierung von religiösen und rituellen Inhalten je nach medialem Äußerungskontext. Im Internet konnte z. B. die Ausbildung einer enormen Vielzahl unterschiedlicher Reiki-Systeme beobachtet werden, die vorwiegend auf persönlichen Homepages zu finden ist. Im persönlichen Interview wurde diese Vielfalt nicht oder nur marginal thematisiert. Dies ist ebenfalls bei den Begründungsschemata für Transformationsprozesse kirchenchristlicher Ritualskripte zu beobachten. Im Internet findet sich eine ganze Reihe von traditionellen Gebetstexten wie dem Vater Unser, die – wie das Skript online deutlich macht – transformiert und in einen neuen Interpretationsrahmen gestellt werden. Rechtfertigende Argumentationen dafür werden auf den Homepages

14 Auch unter den hier befragten Akteuren nutzen zwei Personen solche Kleinverlage zur Publikation ihrer religiösen Vorstellungen. 15 Zur aktuellen Diskussion siehe Krotz 2008b, Hepp 2008. 16 Als einer der ersten hat der medienwissenschaftliche Pionier Marshall McLuhan auf diese Zusammenhänge hingewiesen. Vgl. McLuhan 2003.

M ODERNE M EDIEN

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nicht vermittelt. In den Interviews hingegen finden sich weiterführende Erläuterungen der neuen Interpretationen und Gebetselemente. Eine allgemeine Aufarbeitung der Rolle medialer Präsenzen in diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität ist eine Aufgabe, die deutlich den Rahmen der vorliegenden Studie überschreiten würde. Zwar ist insbesondere der Buchmarkt bis ca. Anfang der 1990er Jahre zumindest für sogenannte Bestseller bereits gut erfasst, zur gegenwärtigen Situation liegen jedoch keine Studien vor. Einen erster Einblick in aktuelle Entwicklungen des Zeitschriftenmarkts zeigt eine Tendenz zur fortlaufenden Ausdifferenzierung thematisch fokussierter Titel.17 Studien zur Lage für den Bereich Film und Fernsehen sind derzeit nicht bekannt.18 Um trotz der Größe des medialen Markts und der partiell schlechten Forschungslage eine Bearbeitung des Schwerpunkts »Medien« im Rahmen dieser Arbeit zu ermöglichen, sollen primär die im Zuge der Untersuchung befragten Akteure zu Wort kommen. Wie bereits im Methodenkapitel erwähnt, wurde im Interview ein Teil der Leitfragen explizit dem medialen Nutzungs-, Produktions- und Distributionsverhalten gewidmet. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse bilden im Weiteren die Materialgrundlage. Direkte Verweise auf die persönlichen Homepages oder auch eigene Publikationen der Akteure können aus bereits genannten Gründen der Anonymisierung nicht gegeben werden.

6.1 V ON B ESTSELLERN

UND EIGENEN

B ÜCHERN

Buchpublikationen nehmen in den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität bei aller medialen Konkurrenz immer noch einen breiten Raum ein, wenn es um die Rezeption und Distribution religiöser Inhalte geht. Die Zahl der Verlage19, die derartige Bücher im Programm haben, ist auf den ersten Blick nicht zu überschauen. Die meisten Buchhandlungen haben eigene Rubriken eingerichtet, die heute oftmals unter den Namen »Spiritualität«, »Neues Leben« etc. laufen. Eine quantitativ verlässliche Aussage zu treffen, wie viele Bücher zu den vielfältigen Themen des Diskurses derzeit auf dem Markt sind, ist schlichtweg unmöglich. Dies ist jedoch nicht nur aufgrund fehlender Erhebungen zu diesem

17 Vgl. Krüger 2012, 227-229. 18 Die Nutzung des Rundfunks als Distributionsplattform spielt für Akteure gegenwärtiger Religiosität derzeit kaum eine Rolle und wird daher auch im Weiteren nicht berücksichtigt. 19 Zur Rolle der deutschen Verlagslandschaft siehe Bochinger 1994, 138ff. Für den englischsprachigen Bereich siehe Puttnick 2005.

298 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN

Thema der Fall, sondern vielmehr da sich die Komplexität des diskursiven Feldes auch auf dem Buchmarkt widerspiegelt. Quellenschriften verschiedener religiöser Traditionen (z. B. die Bibel) werden von den Akteuren ebenso rezipiert wie ein breites Spektrum moderner Primärliteratur der unterschiedlichsten Genres. Eine genaue Erfassung und Beschreibung des Markes fällt daher sehr schwer. Um jedoch einen Eindruck von der Auswahl der rezipierten Werke zu bekommen, wird im Folgenden exemplarisch ein Bild der Mediennutzung gezeichnet, indem die Aussagen der im Rahmen dieser Studie interviewten Personen herangezogen werden. Leitend werden dabei folgende Fragen sein: Was wird aus der Vielzahl der Buchpublikationen ausgewählt? Zu welchen Zeitpunkten in der biographischen Narration finden sich Verweise auf Buchrezeptionen? Wie sehen die Adaptions- und Begründungsstrukturen für Rezeptionen aus? 6.1.1 Die Vielfalt der Quellen Um einen Überblick über die Vielfalt der in den Interviews genannten Bücher zu bekommen, wird eine schematische Darstellung der von den Akteuren gelesenen Autoren bzw. Bücher vorgestellt. Stellvertretend wurden für die tabellarische Auflistung Andi und Jo ausgewählt. Dabei ist zu beachten, dass es sich hierbei nicht um eine vollständige Auflistung aller Werke handelt, welche die Akteure im Zuge ihres Interesses an religiösen Themen je gelesen haben. Die meisten gaben in den Interviews an, im Laufe der Zeit eine Vielzahl an unterschiedlichen Büchern gelesen zu haben, die sie jedoch unmöglich alle aufzählen könnten. Sie wurden daher gebeten, die Publikationen zu nennen, die sie für sich selbst als einflussreich und wichtig einstufen würden. Diese Werke wurden teilweise bereits im narrativen Interviewteil selbstständig, d. h. ohne explizite Nachfrage vorgestellt. Die Angaben werden durch Büchernennungen ergänzt, die auf den Homepages der Befragten zu finden sind. IP

Buchtitel bzw. Autoren, Themen

Erläuterung

der Bücher Jo

• Idries Shah

• Autor (1926-1996) zahlreicher Bücher über Sufismus, er prägte vor allem die Ausbildung eines westlichen Sufismus.

• Hazrat Inayat Khan

• Indischer Sufi (1882-1927), der als Wegbereiter sufistischer Organisationen im Westen gilt.

• Karlfried Graf Dürckheim

• Deutscher Psychotherapeut und Zen-

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Lehrer (1896-1988), er prägte entscheidend die Formung des westlichen Zen-Buddhismus.

• Frédéric Lionel • Dr. Stylianos Atteshlis

• Französischer Esoteriker (1902-1999) • Griechischer Mystiker (1912-1995)

(Daskalos)

• Sri Nisargadatta Maharaj: Ich bin

• Indischer »Meister« (1897-1981), dessen Lehre auf dem Advaita Vedanta basiert. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.20

• Swami Vivekananda: BhaktiYoga und Karma-Yoga

• Indischer Gelehrter (1863-1902), der maßgeblich für die Formung des Hinduismus-Bildes insbesondere auch im Westen verantwortlich war.21

• Eckhart Tolle: Jetzt – die Kraft der Gegenwart

• Byron Katie / (Stephen Mit-

• Deutscher Bestsellerautor (derzeit in Kanada lebend)

• US-amerikanische Bestellerautorin

chell): Eintausend Namen für

im Bereich Ratgeberliteratur. Sie

Freude

wurde bekannt durch die von ihr entwickelte Methode »The Work«, die der Stressbewältigung dienen soll. Sie ist verheiratet mit Autor Stephan Mitchell.

• Hermann R. Lehner: Flieg – du bist schon frei. Nisarga: Das

• Deutscher Buchautor und Schüler von Sri Nisargadatta Maharaj

Erkennen deines natürlichen, spontanen Zustands

• Felix Gronau: Grenzenlose Er-

• Seminarleiter und Autor eines Buches

leichterung, bewusst und glücklich sein

• John de Ruiter: Die Entschleierung der Wirklichkeit

• Kanadischer religiöser Lehrer, der vor allem für seine »Integrated Philosophy« bekannt ist.

• Gopi Krishna: Kundalini – Erweckung der geistigen Kraft im

20 Vgl. Heehs 2002, 549f. 21 Vgl. Neubert 2005.

• Indischer »Mystiker« (1914-1984), dessen zahlreiche Schriften sich mit

300 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Menschen

der »evolutionary importance of Kundalini«22 befassen.

Andi

• • • •

Walter Lübeck Frank Arjava Petter Bücher über Bachblüten Sabrina Fox

• • • •

Deutscher Autor mit Fokus auf Reiki Deutscher Autor mit Fokus auf Reiki Deutsche Bestsellerautorin, die überwiegend zum Thema Engel schreibt.

• Doreen Virtue

• US-amerikanische Bestsellerautorin, die überwiegend zum Thema Engel schreibt.

• Lee Caroll

• US-amerikanischer Autor, der zahlreiche Bücher mit Channelings der Wesenheit Kryon publizierte.

• Michael J. Roads:

• In Australien lebender Buchautor

Im Reich des Pan

• Vicky Gabriel: Der alte Pfad • Vicky Gabriel und William

• Deutsche Buchautorin mit Fokus auf Schamanismus

Anderson: Wege zu den alten Göttern

• Ted Andrews:

• US-amerikanischer Buchautor

Zauber des Feenreichs

• Wolf-Dieter Storl: Pflanzendevas, Ich bin ein Teil

• Deutschstämmiger »Kulturanthropologe und Ethnobotaniker«

des Waldes

• Neale Donald Walsch: Gespräche mit Gott

• US-amerikanischer Bestsellerautor, der mit seiner Reihe »Gespräche mit Gott« lange Zeit weltweit die Bestsellerlisten anführte.

• Barbara Ann Brennan: Licht Arbeit, Licht Heilung

• US-amerikanische Buchautorin, die mit ihren Werken zu geistigem Heilen international sehr erfolgreich ist.

• Ein Kurs in Wundern

• »Klassiker« des New Age. Ein von der Autorin Helen Schucman (19091981) gechanneltes, rund 1000seitiges Werk, das nach ihren Angaben von Jesus durchgegeben wurde.

• Ella Kensington: Mary, Die

22 Heehs 2002, 565.

• Bei Ella Kensington handelt es sich

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| 301

sieben Botschaften unserer

um ein Pseudonym einer ganzen Au-

Seele

toren- und Seminarveranstaltergruppe, die ihren Geschäftssitz in der Schweiz hat.

• Ilona Maria Hilliges:

• Deutsche Buchautorin

Die weiße Hexe

• Lynn Andrews: Die Medizinfrau

• Bekannte US-amerikanische Autorin, die in ihrem Bestseller »Die Medizinfrau« vor allem indianischschamanistische Bereiche anspricht.

• Marlo Morgan: Traumfänger

• Internationaler Bestseller der USamerikanischen Autorin. Der Roman erzählt von der Begegnung mit einem Aborigine-Stamm und führt in deren (fiktive) spirituelle Welt ein.

• Florinda Donner-Grau: Shabono

• Frau von Carlos Castaneda. Im Bestseller »Shabono« thematisiert sie die »Spiritualität« eines Indianerstammes am Amazonas.

• Alberto Villoldo: Seelenrückholung, Das geheime Wissen

• US-amerikanischer Autor mit Fokus auf Schamanismus

der Schamanen

• Rhonda Byrne: The Secret – Das Geheimnis

• US-amerikanische Autorin. »The Secret« führte im Jahr 2006 international die Bestsellerlisten an. Im Buch und gleichnamigen Film geht es um das »Gesetz der Anziehung«, dem zur Folge die Menschen ihr eigenes Glück oder auch Unglück selbst anziehen.

• Esther & Jerry Hicks: The Law of Attraction

• Esther Hick war ursprünglich am Filmprojekt von »The Secret« beteiligt, aufgrund von Differenzen verließ sie das Projekt jedoch und verfasste gemeinsam mit Ehemann Jerry

302 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN ein eigenes Buch, das inhaltlich die »The Secret« Thematik aufgreift.23

• Drunvalo Melchizedek: Aus dem Herzen leben

• Paramahansa Yogananda: Autobiographie eines Yogi

• US-amerikanischer Buchautor und spiritueller Lehrer

• Indischer Yogi und Buchautor (18931952), trug wesentlich zur Verbreitung indischer religiöser Techniken (Kriya Yoga) im Westen bei.

• Sharron Rose: Der Weg der Priesterin

• Buch über den »uralten Weg der Priesterin für die Frau von heute« (Klappentext)

Die Darstellung verdeutlicht trotz ihres schlaglichtartigen Charakters, welche Bereiche des Buchmarktes besonders stark im Rezeptionsinteresse stehen. Vor allem anhand der Verkaufsränge aber auch des Alters der Publikationen lassen sich entsprechende Einteilungen vornehmen. Deutlich ist die Dominanz verkaufsstarker US-amerikanischer Bücher auf dem deutschsprachigen Markt zu spüren. Hierunter sind neben Verfassern von aktuellen Bestsellern wie James Redfield, Doreen Virtue, Eckard Tolle oder Rhonda Bryne auch Autoren zu finden, deren Werke bereits um 1970 entstanden. Hierzu zählen z. B. Jane Roberts (Gespräche mit Seth) oder Helen Schucmann (Ein Kurs in Wundern). Insgesamt dominieren in der Gruppe der Bestseller Publikationen, die als Erfahrungsberichte oder Lehr- bzw. Ratgeberbücher verfasst werden. Außerdem wird eine Reihe von Romanen genannt, deren fiktiver Charakter von den Akteuren jedoch oftmals nur am Rande wahrgenommen wird.24 Dabei steht James Redfield mit seinem Abenteuerroman »Die Prophezeiungen von Celestine« klar an der Spitze der Nennungen. Aber auch ältere Romane wie Marion Zimmer Bradley’s »Die Nebel von Avalon« oder Marlo Morgan’s »Traumfänger« sind von einigen befragten Personen genannt worden. Wie anhand des Überblicks weiterhin deutlich wird, lesen die Akteure darüber hinaus auch internationale Autoren, die religionsgeschichtlich noch früher anzusetzen sind und die oftmals erst im Zuge einsetzender Rezeptionsprozesse Teil der diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität wurden, so z. B.

23 Dies ist jedenfalls diversen Internetquellen zu entnehmen, z. B. einem Artikel von Richard Guilliatt in The Australian vom 23. August 2008. Zugriff unter: http://www.theaustralian.com.au/news/features/the-secret-of-rhondas-success/storye6frg8h6-1111117271174 (10.01.12). 24 Ein Interviewbeispiel dazu siehe in folgendem Abschnitt unter b).

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| 303

Yogananda, Idris Shah, Vivekananda, Aleister Crowley, Rudolf Steiner. Das Spektrum der religiösen Kontexte ist weit gefasst und umschließt neben (neo-) indischen und islamischen zum Beispiel auch anthroposophische Kontexte. Auffällig ist hier das Fehlen jeglicher Nennungen von theosophischen Autoren wie H. P. Blavatsky oder A. Bailey. Neben diesem breiten Spektrum sehr bekannter Autoren werden von den Akteuren aber auch Bücher rezipiert, die in kleiner Auflage und von weniger bekannten Autoren verfasst wurden. Soweit ersichtlich handelt es sich hierbei meist um spezifischere Themen oder Interessengebiete wie z. B. bestimmte rituelle Techniken oder Informationen zum Reinkarnationsgeschehen. Man kann feststellen, dass die Akteure Literatur aus der gesamten Bandbreite des Marktes lesen und dabei eine vielfältige Mischung aus bekannten und weniger bekannten Autoren rezipieren. Betrachtet man insgesamt die Vielfalt der unterschiedlichen Themengebiete wird klar, dass die Komplexität des Diskurses sich einerseits in diesen Prozessen spiegelt, andererseits aber auch dadurch geformt wird. Bücher über Engel und Schamanismus dienen den Akteuren ebenso als Quelle wie Abhandlungen über Ufos, biographische Beschreibungen religiöser »Meister« oder gechannelte Botschaften bestimmter »Lichtwesen«. Bei der Rezeption älterer Literatur ist davon auszugehen, dass die Inhalte im Zuge des Rezeptionsprozesses an aktuelle diskursspezifische Aushandlungen adaptiert werden bzw. auf deren Hintergrund interpretiert werden. Texte etwa von Rudolf Steiner oder Vivekananda werden auf Basis gegenwärtiger Aushandlungen rezipiert und in diesem Deutungshorizont von den Akteuren interpretiert. Insgesamt sind bei der Vielfalt der gelesenen Bücher meist keine spezifischen Rezeptionslinien bestimmter religiöser oder ritueller Konzepte nachvollziehbar. Es kommt vielmehr zu einer Vermischung der im Laufe der Zeit gelesenen Buchinhalte, die in integrativen Prozessen in die persönliche Religiositätskonstruktion aufgenommen werden. Ausnahmen bilden hier Publikationen, die von den Akteuren als so ertragreich für die individuelle Identitätsarbeit bestimmt werden, dass diese konkret benannt werden können. So zum Beispiel bei Michi, die im Interview bei der Beschreibung ihrer Vorstellungen von postmortalen Geschehnissen konkret auf Bücher von Michael Newton (Die Reisen der Seelen, die Abenteuer der Seelen) verweist, die sie als Quelle ihrer eigenen Vorstellungen ansieht. 6.1.2 Rezeptionsprozesse in narrativer Gestaltung Neben der Frage, welche Bücher bzw. welche Themen durch Bücher von den Akteuren aufgegriffen werden, ist bislang auch unklar, wie die Rezeptionen im

304 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN

narrativen Geschehen dargestellt werden: Welchen Stellenwert bekommen Buchinhalte zugewiesen? Wie sieht der Umgang mit ihnen in argumentativen Prozessen aus? Ein wichtiger Punkt dazu wurde bereits deutlich. Im narrativen Geschehen werden Verweise auf Autoren oder bestimmte Buchinhalte immer wieder als Mittel zur Legitimation der eigenen Position herangezogen. Dabei wird z. B. die Autorität eines Textes – betont durch ein vermeintlich hohes Alter oder einen exotischen Entstehungskontext – herangezogen, um bestimmte Elemente in der Konstruktion der eigenen Religiosität zu rechtfertigen. Da dieser Verweis auf Buchinhalte bzw. deren Autoren bereits vielfach angesprochen wurde, soll die Aufmerksamkeit auf andere Prozesse gerichtet werden, die im Rahmen der Frage, wie Rezeptionsprozesse von den Akteuren thematisiert werden, bislang noch nicht beachtet wurden. Es ist davon auszugehen, dass im Zuge von Rezeptionsvorgängen starke Selektions- bzw. Interpretationsprozesse stattfinden. Diese lassen sich exemplarisch am Beispiel einer etwas längeren Interviewpassage von Sam aufzeigen. Sam: Ich weiß noch ganz genau, also ich weiß von einem Buch, das hab ich gelesen als ich, damals mit 15, wo diese Phase begann mit dieser Esoterik. Weiß ich genau, da hab ich ein Buch gelesen, was mich sehr geprägt hat im Nachhinein immer. Und das war »In Harmonie mit der Unendlichkeit/ mit dem Unendlichen«. Ich weiß leider nicht mehr von wem das ist. Aber das war genau meins, weil ich wusste, wenn ich in Harmonie mit dem Unendlichen bin, als mit dem lieben Gott bin, dann funktioniert alles andere, dann ist alles andere egal. Oh und ich weiß leider nicht mehr von welchem Autor das ist, aber dieses Buch hat mir zum Beispiel sehr geholfen. Sehr geholfen hat mir auch, da haben mir auch die Engelkarten geholfen von Doreen Virtue. Die hab ich mir als erstes gekauft und auch ein Buch »Das Heilorakel der Engel«, das hat mir auch, das hat mich auch sehr unterstützt. Bücher, ich hab sehr viele Bücher gelesen, aber die mich jetzt so richtig geprägt haben, ähm, ja könnte ich sagen, aber das, was für mich selber prägend ist, es muss ja nicht für andere sein. Ich kann dir sagen, ich hab viele verschiedene Richtungen, sag ich mal, gelesen, also von Menschen, die nen ganz anderen Zugang als ich zu der Spiritualität haben. N.M.: Zum Beispiel? Sam: Zum Beispiel Menschen, die so gechannelte Bücher zum Beispiel, von Leuten halt, weiß ich hab Bücher gelesen, gechannelte Bücher von Außerirdischen sag ich mal ganz platt bis zu sehr gläubigen Menschen, die letztlich durch eine Begegnung der dritten Art oder der unfassbaren Art eben ihren Glauben völlig umgestellt haben und dann alles aus einer anderen Perspektive gesehen haben. Aber die Bücher, die mir am meisten geholfen haben, das waren also hauptsächlich keine Bücher, sondern Karten. Ein Buch, was sehr schön war, oder was mich, weil es sehr humorvoll auch geschrieben ist und das ist von

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Kryon, die Bücher von Kryon, von dieser Begebenheit, eine Engelswesenheit. Schreibt man mit y und k, Kryon ist zum Beispiel, den fand ich schon immer sehr gut, weil er so Tatsachen spricht, die fand ich sehr bezeichnend. Dann hab ich auch eine Tendenz zur Ägyptologie, ganz ganz starken Draht zu Ägypten und zu allem. Zu einer Wesenheit, die heißt Thot. »Projekt Menschheit« fand ich auch gut, aber ich muss sagen, ich aus jedem einzelnen, also ich ziehe das für mich raus, was für mich stimmig ist. Ich lese Bücher mit dem Herzen und das, was für mich stimmig ist, ist ok. Und alles andere, das ist irrelevant, diese Sachen. Und deswegen ist es ganz schwierig, da jetzt auf Anhieb wüsste ich jetzt keins, was mich so [geprägt hat, N.M.].

Insgesamt kann Sam drei Bücher und ein Kartenset nennen, denen sie selbst eine besondere Bedeutung in den Gestaltungsprozessen ihrer Religiosität zuschreibt. Welche Inhalte oder Themen es allerdings waren, die sie als »prägend« bezeichnet oder die ihr »geholfen« haben, bleibt weitgehend unklar. In der einsetzenden narrativen Reflexion über das Thema »Rezeption aus Büchern« ist bei Sam ein deutliches Positionierungsgeschehen in Abgrenzung zu anderen Diskursteilnehmern zu beobachten. Exemplarisch führt sie hier Personen an, die Bücher mit Erlebnisberichten mit außerirdischen Wesen lesen. Anhand dieses Beispiels erläutert sie ihre Aussage, dass es von Person zu Person zu verschiedenen Bedeutungszuschreibungen an rezipierter Literatur kommen kann (»aber das, was für mich selber prägend ist, es muss ja nicht für andere sein«). Diese Argumentation verläuft allerdings durchaus im Rahmen der Rhetorik der Toleranz. Sie selbst beschreibt sich als Akteurin, die offen ist für eine Vielzahl von Buchthemen. Die Rezeptionsprozesse stellt sie jedoch als selektives Geschehen dar, das entlang des individuellen Kriteriums der »Stimmigkeit« verläuft. Die Übernahme von Ideen oder Konzepten aus der Literatur wird somit zu einem komparativen Passungsprozess, in dem stetig bereits bestehende religiöse Vorstellungen mit literarischen Konzepten abgeglichen werden und unter Rückgriff auf individuelle Akzeptanzkriterien adaptiert und integriert werden. Das Spektrum der Akteurspositionen zu Rezeptionsvorgängen in Bezug auf Bücher lässt sich noch erweitern. So finden sich z. B. zwei prägnante Muster, wenn es in den Erzählungen darum geht, den Stellenwert von Buchinhalten bzw. deren »Wirkkraft« zu beschreiben. Einerseits werden die in Büchern thematisierten Inhalte als Kontextwissen eingeführt, dem das persönliche Erleben bzw. die individuelle Erkenntnis voran steht. Die rezipierten Inhalte können jedoch auch als Biographie verändernd in ihrer Wirkkraft dargestellt werden. Zu betonen ist jedoch, dass sich beide Muster im Erzählgeschehen nicht gegenseitig ausschließen. Beide Muster sollen nun unter Rückgriff auf Textpassagen kurz veranschaulicht werden.

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Eigenes Wissen vor Buchwissen Im Umgang mit Büchern zeigt sich bei den Akteuren ein Argumentationsmuster, in dem das eigene Wissen den Inhalten aus den Büchern vorangestellt wird. Eindrücklich veranschaulichen dies folgende Interviewpersonen: Maxi: Und hab mich dann ja angefangen mehr mit Esoterik zu beschäftigen, auch mal’n paar Bücher gelesen und musste aber dann irgendwo feststellen, dass das, was ich dann in esoterischen Büchern gelesen hatte, dass das eigentlich dann so Wahrheiten waren, die ich ein paar Jahre vorher eigentlich mir in dieser Zeit mir schon selber so überlegt hatte. Also irgendwo bin ich da wo ich dann viel über die Welt, über mich und so nachgedacht habe, bin ich dann schon da hin gekommen irgendwo oder ich hab das einfach wieder gefunden und fühlte mich dann natürlich irgendwo bestätigt und hab da auch weitergemacht dann. Luca: Aber ich hab mich nie so gekümmert, dass ich so der Mensch gewesen bin, ich guck jetzt in ein Buch und find da was, sondern es war immer umgekehrt. Ich hab was selbst erlebt, hab dann das Buch genommen und dann die Bestätigung in dem Buch gefunden. Das war immer mein Weg. Chris: Und der heutige Zustand ist ohne das Wissen um Reinkarnation überhaupt nicht erklärbar. Und ich habe dann auch so für mich auch in der Literatur die Bestätigung gefunden, das auch Jesus diese Reinkarnation unterrichtet und eben auch diese bedingungslose Liebe und diese Lichtarbeit.

In allen drei Interviewausschnitten wird deutlich, dass die Akteure den Umgang mit vermittelten Buchinhalten nicht im Sinne eines Rezeptionsvorgangs verstehen. In der Erzähllinie der Akteure ist das religiöse Wissen bereits bei ihnen vorhanden und wurde hier originär persönlich erfahren. In den Büchern finden sie schließlich »nur« noch die Bestätigung, dass dieses in Prozessen der Selbsterkenntnis und der Selbsterfahrung entstandene Wissen legitim und gültig ist. Diese Argumentationsstruktur hat zum einen für die Akteure und zum anderen für das Medium Buch bzw. die hier vermittelten Inhalte Folgen. Die Akteure positionieren sich als Personen, deren religiöses Wissen authentisch ist, da es eigenständig erschlossen bzw. erfahren wurde. Gleichzeitig wird damit das in Büchern vermittelte Wissen als sekundär eingestuft. Das selbst entwickelte und erfahrene religiöse Wissen bzw. die religiöse Erkenntnis erscheint im narrativen Geschehen als Eigenleistung der Akteure. Bei Maxi liegen zwischen der eigenen Erkenntnis und der Bestätigung in Büchern sogar mehrere Jahre. Luca betont, dass diese Reihenfolge von Erkenntnis und Bestätigung »immer« schon bei ihr zu finden war und ordnet dieses Muster in den Rahmen des Weg-Topos ein.

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Chris führt in ihren Ausführungen über Reinkarnation die Figur Jesu an, der bereits Reinkarnation gelehrt habe und als Lichtarbeiter tätig gewesen sei. Dieses Wissen ist jedoch bei Chris bereits vorhanden. Auch sie findet in der Literatur, die hier wie in den anderen Beispielen sehr unspezifisch bleibt, die Bestätigung für eigenes Wissen. Anhand der Buchinhalte kann zwar eine Legitimation der eigenen Erfahrung bzw. des Wissens vorgenommen werden, von vorrangiger Bedeutung ist jedoch das eigene Erleben. Dieser Befund korreliert mit den bereits in den vorangegangenen Kapiteln angesprochenen Vorstellungen von Handlungsmacht und der Idee des eigenen Weges. In den Erzählungen beschreiben sich die Akteure als Personen, für die das persönliche Erleben religiöser Vorstellungen von herausragender Bedeutung ist. Dabei kommt es verstärkt zu Selbstzuschreibungen von Handlungsmacht, die sich insbesondere auch im rituellen Geschehen zeigt. Neben diesem Argumentationsmuster finden sich in den Interviews auch Erzählabschnitte, in denen das Lesen von Büchern als einschneidender Erkenntnispunkt dargestellt wird, dessen Wirkung sich teilweise in praktischen Veränderungen im Verhalten der Akteure zeigt. Buchinhalte als Erkenntnispunkt In den Beschreibungen findet sich ein ganzes Spektrum von Gewichtungen, welche die Erzähler der Bedeutung von bestimmten Buchinhalten für die Entwicklung ihrer religiösen Vorstellungen zuweisen. Zu bemerken ist außerdem, dass es sich bei den rezipierten Büchern sowohl um religiöse Quellenschriften wie z. B. der Bibel handelt, aber auch um aktuelle Primärliteratur in verschiedenen Gattungen (Romane, Biographien, Erlebnisberichte etc.). Inwiefern von Seiten der Akteure eine Differenzierung der unterschiedlichen Typen vorgenommen wird, soll nach Durchsicht der Interviewpassagen thematisiert werden. Zunächst wird eine Interviewpassage von Chris angeführt, die zeigt, dass auch sie in Literatur bereits vorhandenes Wissen bestätigt findet. Wie nun deutlich wird, ist dieser Mechanismus nicht exklusiv zu verstehen, denn durch die Lektüre religiöser Schriften ist bei ihr ebenfalls ein Prozess des Erkenntnisgewinns nachvollziehbar. Chris: Ja, ich hatte dann auch einige Erfahrungen, also als ich in Chicago lebte und die Kinder waren ja da noch ganz klein, da hab ich eben, weil ich Interesse hatte, hab ich mir da mal ne Bibel gekauft. Hatten wir zu Hause nicht mehr und die hab ich – auf Englisch hörte sich das nicht so verstaubt an – die hab ich dann zwei Mal durchgelesen, also von vorne bis hinten, einmal aus archäologischem Interesse, hat mich schon immer interessiert, so Archäologie und dann auch aus spirituellem Interesse. Und als ich da dann im

308 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN Neuen Testament las, also die Worte von Jesus »Bittet, so wird euch gegeben, klopfet an, so wird euch aufgetan« da hat plötzlich eine ganz unwahrscheinlich große Freude mein Herz erfüllt. So was kannte ich überhaupt nie und heute weiß ich, dass mir da ins Herz Wahrheit vermittelt wurde.

Diese Passage steht im biographischen Erzählgeschehen bei Chris am Anfang. Mit ihr wird für den Abschnitt ihres Erwachsenenlebens erstmals eine explizite Hinwendung zu religiösen Themen initiiert. In der Narration werden als Begründung für die erstmalige Beschäftigung mit einer religiösen Quellenschrift zwei Interessenslagen angeführt. Mit der Betonung eines »archäologischen« und »spirituellen« Interesses und der Versicherung einer äußerst gründlichen Lektüre (»zwei Mal durchgelesen, also von vorne bis hinten«) erfährt die Erzählerin nach eigenen Angaben einen Prozess der Erkenntnis, der für sie – wie der weitere Interviewverlauf zeigt – eine erste Hinwendung zu religiösen Themen zur Folge hat. Im wörtlichen Zitat aus Matthäus 7,7 gibt sie die zentrale Stelle der Lektüre an, bei dem der entscheidende Moment der Erkenntnis für sie einsetzt. Die religiöse Erkenntnis wird hier als »Wahrheit« bezeichnet, die ihr von unbenannter Seite »vermittelt« wurde. Der Quellentext wird im wörtlichen Sinne als Medium aufgefasst. Als weiteres Beispiel für eine Bedeutungszuschreibung an die Lektüre eines Buches kann eine Interviewpassage von Michi angeführt werden. Bei ihr ist es allerdings kein religiöser Quellentext, dem eine herausragende Bedeutung zugeschrieben wird, sondern der bekannte Roman »Traumfänger« von Marlo Morgan. Hierin wird die Geschichte einer amerikanischen Ärztin erzählt, die eine Zeit lang bei australischen Ureinwohnern lebt. Sie verliert dabei zunächst allen persönlichen Besitz und alle Errungenschaften der sogenannten Zivilisation. Nach einem Reinigungsritual erlangt sie Einblicke in das Leben der Ureinwohner, in ihre religiöse Praxis, aber auch in deren indigenes Heilwissen. Darauf nimmt Michi im Interview Bezug. Aus Gründen der verbesserten Lesbarkeit wurde diese recht lange Interviewpassage an einigen Stellen gekürzt. Michi: Also ich hab ein Buch gelesen, das war sehr, da hab ich also mein Leben richtig umgestellt kann man sagen. Das hieß Traumfänger. …. Das ist von einer Amerikanerin. Also die hat das Buch geschrieben, das war also eine wahre Begebenheit und die hat nachher das Buch umgeschrieben, also die hat einen Zusatz gemacht, dass es fiktiv war, weil sie über die Aborigines geschrieben hat und die sollten sich dann, die waren ja nicht gemeldet. Die hatten ja keinen Ausweis und nix und garnix. Und die Regierung dort wollte dann die Aborigines dann natürlich sesshaft machen und das wollte sie nicht. Sie war ja Freund von denen und hat dann gesagt, das ist fiktiv, sie weiß nicht, wo die waren. Also

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des war so, sie ist amerikanische Ärztin, hat ein Angebot von Australien bekommen, um über Gesundheitsprävention zu reden, Vorträge zu halten, damit die gesünder leben, das Volk. Und sie war also so ne Blondine, geschminkt, gefärbt und alles Mögliche, lange Fingernägel, Schmuck und ne Villa hatte sie daheim. [Es folgt eine ausführliche Wiedergabe des Buchinhaltes] Naja, wie ich mit dem Buch fertig war, hab ich gedacht, wenn ich mir vorstelle, wenn jetzt jemand her geht und meine ganzen Dinge, die ich schon Jahre lange mit mir rum schlepp, die mir so wichtig sind – also ich hab damals, wie ich vor zwölf Jahren da weg bin [sie hat ihren Mann verlassen, N.M.], da hab ich Fotos mitgenommen. Ich hatte immer solche Kalender hier immer geführt, da hab ich dann rein geschrieben, wenn ich mal ein Tag da hin gefahren bin, auch wichtige Termine und so. Wenn jetzt einer zu mir gesagt hätte, was hast du vor fünf Jahren an dem und dem Tag gemacht, da hab ich nur nachschlagen brauchen … und das war mir immer so wichtig. Und lauter so Sachen hatte ich. Und damals zu dem Zeitpunkt hatte ich so Extentions, also so Haarsträhnen, so lange drin, dann hatte ich Fingernägel, solche künstlichen, was das so gibt gell. Und da hab ich gedacht, wie würde es mir gehen, wenn ich keine Extensions mehr, wenn ich jetzt irgendwo hinkommen würde, wo ich mir meine Haare nicht mehr machen könnte, wo mir keiner mehr die Nägel auffüllt, wo, wenn ich jetzt gehen müsste und müsste alles da lassen, ich wäre kein Mensch mehr, ich wäre unglücklich, ich könnte nicht mehr auf der Straße gehen. Und da hab ich mir also ganz ganz viel Gedanken darüber gemacht, wer bin ich denn überhaupt, bin ich jetzt meine Fingernägel, meine Haare, bin ich meine Notizbücher, meine Fotos, was macht mich denn aus? Da bin ich dann am nächsten Tag zum Friseur, hab ich gesagt »Strähnen raus!« Die konnten das gar nicht glauben. »Ja wollen wir nicht erstmal zwanzig raus machen, damit der Übergang nicht so schlimm ist?« Ich hab da gesessen »Alles raus!«. Und ich sah immer schlimmer aus, immer schlimmer, immer schlimmer. Hätte ich das vor dem Buchlesen, hey, ich wäre da, ich hätte mich erstmal vier Wochen krank schreiben lassen, ich wäre da nicht mehr auf die Arbeit gegangen. Also dieses Selbstwertgefühl, also des war damals ein Buch, wo ich wirklich sagen kann, also das hat viel bei mir bewirkt.

In der Einleitung der Erzählpassage kommt es Michi vor allem darauf an zu betonen, dass es sich bei dem Buch zwar um einen Roman handelt, dieser jedoch auf einer wahren Begebenheit beruht. Die Autorin des Buches hatte dies im Zuge der Veröffentlichung zunächst tatsächlich behauptet, musste ihre Aussage kurze Zeit später jedoch widerrufen. Michi geht aber weiterhin von einem Tatsachenbericht aus, den sie detailliert wiedergeben kann. Den Prozess der Rezeption beschreibt Michi im Anschluss an die Inhaltsangabe schließlich ausführlich. In einem Gedankenexperiment überträgt sie die materiellen Verluste, welche der Romanfigur zu Beginn der Geschichte widerfahren (Verlust der Handtasche inkl.

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Papiere, Fotos etc.) auf Dinge, denen sie in ihrem Leben bislang eine große Bedeutung zuschreibt. Hier nennt sie vorrangig ihre Kalender, die Michi gleichsam als Gedächtnisstütze für Ereignisse ihres Lebens dienen. Im Fokus steht außerdem ihr Äußeres. Im Roman verwandelt sich die Hauptfigur gleich zu Beginn von einer erfolgreichen und gepflegten Karrierefrau zu einer Person, die Stück für Stück zur Natur zurückkehrt. Michi identifiziert sich auch hier gedanklich mit der Hauptfigur, wie sie zu Beginn des Romans geschildert wird. Die Entwicklungen im Roman veranlassen Michi, ihr eigenes Leben kritisch zu beleuchten. Sie stellt sich die Frage nach der eigenen Identität. Ihren Reflexionen folgt im narrativen Geschehen die Schilderung von praktischen Konsequenzen, die Michi aus der Buchlektüre und dem Vergleich des eigenen Lebens mit dem der Hauptfigur zieht. Bei der Schilderung der Herausnahme ihrer Haarextensions fällt auf, dass sie stark betont, mit welcher Entschlossenheit sie bei der Umsetzung der Erkenntnisse aus der Lektüre des Buches vorgeht. Abschließend nimmt Michi eine kurze evaluative Einschätzung des Buches vor. Insgesamt wird anhand dieser Erzählpassage deutlich, welche Wirksamkeit die Rezeption medialer Inhalte für die Akteure entfalten kann. Dem Inhalt des Buches wird von Seiten der Akteurin ein besonderer Stellenwert zugeschrieben. 6.1.3 Bücher und rituelle Praxis Auch in Bezug auf die rituelle Praxis der Akteure nehmen Bücher eine wichtige Position ein. Sie können dabei sowohl als Einstieg in die rituelle Praxis dienen, als auch als Leitfaden für eine, aus Sicht der Akteure, korrekte Durchführung von Ritualen herangezogen werden. Hierzu sollen zunächst zwei Beispiele aus den Interviews angeführt werden: Luca: [Als ich] alle möglichen Sachen zusammengetragen hatte, dann auch das Buch mit der Silver Ravenwolf gefunden, die mich sehr begeistert vom rituellen Arbeiten her, »Die schützende Kraft der Engel« heißt das. Und da hab ich dann gelernt, da hab ich mir meine eigenen Konzepte gestaltet, wie man ein Ritual aufbaut. Jo: Also Zen-Meditation, ich hatte dann einen Freund, der hatte das auch gemacht, wir haben dann für uns zu Hause meditiert und das geübt. Mir haben immer viele Bücher gekauft und mich danach gerichtet.

Beide Erzählerinnen ziehen, wenn es um die Durchführung von Ritualen geht, Bücher zu Rate, die sie als Anleitung zu einer korrekten Praxis verstehen. Beide Aussagen können auch in Kontexten des Erlernens von Ritualen gedeutet wer-

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den. Rituelles Wissen wird durch das Medium Buch von den Akteuren angeeignet und in die eigene religiöse Praxis integriert. Luca greift dabei auf ein Buch der bekannten US-amerikanischen Wicca- und Esoterik-Autorin Silver Ravenwolf zurück, die hierin (aber auch in zahlreichen anderen Werken) nicht nur Ritualpräskripte vermittelt, sondern die Leser gezielt dazu auffordert, unter Rückgriff auf die Präskripte eigene Rituale zu entwickeln. Somit wird auch der Design-Aspekt von Ritualen zu einer medial erlernten Komponente. Die Beschreibung von Jo bleibt hingegen sehr unspezifisch, sie spricht von einer Vielzahl von Büchern, ohne jedoch konkret Titel oder Autoren zu nennen. Doch Bücher dienen den Akteuren nicht nur als Lerngrundlage und Anleitung für Rituale, sondern durch die Lektüre können sich Akteure auch erstmals überhaupt zur Durchführung von bestimmter ritueller Praxis entschließen. Die folgende Interviewpassage macht dies deutlich: Andi: Ja und dann bekam ich eben dieses Kribbeln [im Nacken, dessen Ursache sich Andi nicht erklären konnte, N.M.] und dann hab ich mich eben informiert und bin ja da aufmerksam geworden und dann hab ich zwei oder drei Bücher gelesen und da wusste ich einfach, das ist es also. N.M.: Was haben Sie da gelesen? Andi: Die gibt es heute nicht mehr, also ein Reiki Buch, das eben, da wird eigentlich nur von, also da erzählen einfach nur Menschen mit ihren Erfahrungen über die Reiki, also über Reiki. Das hat mich damals sehr dazu bewogen. Und dann hab ich noch ein zweites Buch, und das ist ne Geschichte von einer Frau, die eigentlich ihr Leben mehr oder weniger erzählt, in dem sie durch die Welt reist. Und nebenbei hat sie auch einen guten Freund, der an Aids erkrankt ist und dem hilft sie. Also sie kann ihn jetzt nicht heilen, aber sie kann das Sterben erleichtern und eben ihre Erfahrungen damit. Und ja und diese zwei Bücher waren dann ausschlaggebend, dass ich mir eben eine Reiki Lehrerin gesucht hab und mich einfach einweihen ließ.

Dieser Interviewausschnitt von Andi zeigt eine Rezeptionsgeschichte, die als Ergebnis die Aneignung einer neuen rituellen Praxis zur Folge hat. In Andis Fall geben die medial vermittelten Informationen den Anstoß dazu, sich einer neuen rituellen Praxis zuzuwenden. Neben der Hinwendung zu neuen rituellen Praktiken finden Akteure in Büchern auch die Bestätigung, dass ihre aktuelle Praxis legitim ist. So ist z. B. in Nickis Argumentation ersichtlich, dass sie sich implizit von der Vorstellung distanziert, dass Segnungen ausschließlich von kirchlichen Experten vorgenommen werden dürfen. In einem Buch findet sie die grundlegende Rechtfertigung, dass

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der herausragende Stellenwert, den die Praxis des Segnens bei ihr einnimmt, durchaus gerechtfertigt ist. Nicki: Das [gemeint ist ein Buch, N.M.] ist mir zufällig mal unter die Hände gekommen und das Buch ist mir wie aus dem Herzen gesprochen. Und dann denk ich mir, das ist so ein gescheiter Mann, ist irgendwie theologisch, glaube studiert und das Buch heißt, Büchlein heißt »Segnen bringt Segen« und da steht dann drinnen, dass ein jeder segnen darf. Und wann der Jesus sagt »Geht hinaus in die Welt und gleiches und mehr«, dann darf man segnen, dann darf man den Leuten die Hände auflegen, dann darf man das alles. Und wenn ich so ein Seminar mache, ein Ritual vor dem Seminar ist zum Beispiel, dass ich den Menschen sag – das ist meistens in der ersten Stunde dann – wie wichtig das Segnen ist und das Segnen Segen bringt.

In diesem Beispiel wird – für den Bereich der Rituale und eher implizit – der Zeitpunkt thematisiert, an dem die Akteurin zu Büchern als Informationsquelle greift. Dieser Punkt soll nun in einem folgenden Kapitel ausführlicher behandelt werden. 6.1.4 Die »richtige« Zeit für Bücher In der Untersuchung über das Mediennutzungsverhalten der hier befragten Akteure ergaben sich in Bezug auf die Thematisierung des Zeitpunktes der Nutzung interessante Perspektiven, die in allgemeinen quantitativen aber auch qualitativen Studien zu diesem Thema25 sonst kaum erhoben werden. Bei den hier befragten Akteuren ist deutlich zu erkennen, dass sie auch diesen Bereich der Mediennutzung vor dem Hintergrund ihrer religiösen Identitätskonstruktionen einbetten. So erzählt z. B. Michi vom Zeitpunkt der Mediennutzung Folgendes: Michi: Und so mach ich es auch mit den Büchern. Ich hab Bücher, die hab ich schon fünf Jahre im Regal und les sie nicht und ich weiß, in dem Moment, wo ich da mal nach dem Buch greife, dann wird mir dieses Buch auch in der Situation, wo ich grade bin, wieder weiter helfen. Und es ist einfach das Herz oder die Seele oder wie man das bezeichnen will, das ist, man ist sowieso immer nur auf dem Weg.

Resümierend dazu sagt Michi im weiteren Interviewverlauf:

25 Siehe exemplarisch Treumann 2007.

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Michi: Und ich hab dann auch immer im richtigen Moment die entsprechende Lektüre gehabt, die mir wieder ein Stückchen weitergeholfen hat.

Das Muster, dass je nach Situation das passende Buch »gefunden« wird, findet sich auch bei anderen Akteuren und passt in die Konstruktion des eigenen Lebensverlaufes als Weg, der zwar eigenständig beschritten, jedoch unter Führung Dritter begangen wird. Bücher werden von Michi als Hilfs- bzw. auch Lehrmittel erachtet, die sie auf ihrem persönlichen Weg weiterbringen. Die Rezeptionsprozesse werden damit von dem Deutungshintergrund einer Zufälligkeit gelöst. Dies trifft ebenso auf Prozesse zu, die aus Sicht der Akteure nicht als Rezeptionen gedeutet werden. Auch wenn durch Bücher aus emischer Perspektive lediglich bereits vorhandenes Wissen bestätigt wird, so verläuft diese Bestätigung doch im Rahmen des Konstruktionsschemas der eigenen Biographie als einem vorgezeichneten Weg. Um diese Thematik zu vertiefen, werden zwei weitere Interviewpassagen angeführt, von denen die erste erneut die Frage nach dem Mediennutzungszeitpunkt aufgreift, die zweite hingegen den Umstand erläutert, dass eine Nutzung von Büchern zu bestimmten Zeitpunkten zwar sinnvoll, jedoch insgesamt aus Sicht des Erzählers von temporärem Nutzen ist. Zunächst jedoch erzählt Uli: Uli: Also ich glaub, ich hab das schon seit acht Jahren oder so [sie spricht von dem Buch »Ein Kurs in Wundern«, N.M.], ich les immer mal oder schlag mal ne Seite auf und das ist ganz schön. Dann muss ich überlegen, hab so viel zwischenzeitlich gelesen. Also das war wirklich so eins, wo ich sage, das werde ich nie irgendwie weggeben oder so, auch wenn ich es mal durch habe. Ansonsten hab ich es eh schwer mit Büchern weggeben. Also es war dann immer nur, also hauptsächlich für die Situation. Also wenn ich mich für bestimmte Themen interessier, dann gibt es Bücher, die für bestimmte Themen total super sind und total toll sind und die mich dann in der Situation unheimlich was gebracht haben, aber nichts, was mich dann so, dann war das Thema quasi abgehakt irgendwann oder aufgearbeitet oder bearbeitet und dann braucht ich das nicht mehr. Ich hab das nicht mehr, ich hab die Bücher zwar immer noch alle, aber es ist nicht so, wo ich sage, das ist jetzt so eines, was mich durch mein ganzes bisheriges spirituelles Leben irgendwie begleitet hat. Es gibt viele Bücher für die jeweilige Situation, die grade jetzt richtig sind und dann rückblickend denkst du vielleicht, naja, für damals war es gut, aber heute biste anderer Ansicht.

Bei Uli wird im Gegensatz zum vorangehenden Zitat von Michi nicht so deutlich die außerhalb der Person liegende Handlungsmacht betont, die dafür sorgt, dass die Akteurin das passende Buch zum richtigen Zeitpunkt findet. Aber auch Uli hebt hervor, dass sie Bücher als Hilfs- bzw. Lehrmittel betrachtet. Stärker jedoch

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als Michi wird bei ihr klar, dass der Gebrauch von bestimmten, situativ als nützlich erachteten Büchern einem temporären Wandel unterliegt. Bücher bilden gleichsam ein Durchgangsstadium, denn wenn die darin enthaltenen Themen »aufgearbeitet« bzw. »bearbeitet« sind, können die Bücher »abgehakt« werden. Im letzten Satz wird schließlich deutlich, dass die Bedeutungszuschreibung an die Buchinhalte von der jeweiligen kontextgebundenen Interpretation abhängt. Entsprechend der eigenen, meist als fortschreitend gedachten religiösen Entwicklung können sich Interpretationshorizonte verschieben, ein Prozess, der zumindest von Uli auch wahrgenommen wird. Abschließend wird nun noch eine Interviewpassage von Maxi vorgestellt, in der explizit das Ende der Mediennutzung thematisiert wird. Maxi: Irgendwann hat man auch mal, wenn man ein paar esoterische, spirituelle Bücher gelesen hat, dann hat man einfach irgendwo alles mal gelesen. Und wenn man es verinnerlicht hat, dann braucht man es irgendwo nicht mehr. Also das ist auch so ne Tendenz, die sich so dann ergeben hat, dass ich in den letzten Jahren mir kaum noch Bücher gekauft hab, weil ich gemerkt habe, dass da für mich nichts Neues mehr drinsteht.

Maxi setzt den Nutzungszeitpunkt in Abhängigkeit zu dem erfahrenen, persönlichen Gewinn, der durch das Lesen von Büchern eintreten sollte. Pauschalisierend nennt sie hier »esoterische, spirituelle« Bücher, deren Inhalt zwar interessant ist, doch nur so lange bis man ihn »verinnerlicht« hat. Ist das Rezeptionsgeschehen im Zuge der religiösen Identitätsarbeit abgeschlossen, werden Bücher nicht länger benötigt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es in Bezug auf den Zeitpunkt der Buchnutzungen die Tendenz gibt, diesen auf dem Hintergrund des Weg-Topos zu beschreiben. Begrenzt wird die Mediennutzung durch den individuellen Nutzen, den die Akteure den rezipierten Inhalten zuschreiben. Sind diese nicht mehr neu oder bereits ausreichend adaptiert, werden entsprechende Bücher nicht länger als Rezeptionsquelle angenommen. 6.1.5 Das eigene Buch Eine wichtige Rolle bei der Mediennutzung der religiösen Akteure spielt nicht nur die Rezeption von Buchinhalten, sondern in steigendem Maße auch die Publikation eigener Bücher. Bevor jedoch die Buchpublikationen der hier untersuchten Akteure näher in den Blick genommen werden, soll zuvor ein kurzer Blick auf die Situation des Marktes bzw. deren »Gatekeeper«, die Verlage, geworfen

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werden. Erst durch sie wird es Akteuren überhaupt ermöglicht, durch eine eigene Publikation am Distributionsgeschehen zu partizipieren. Christoph Bochinger bietet in seiner 1994 erschienenen Monographie »›New Age‹ und moderne Religion: religionswissenschaftliche Analysen« einen ersten Überblick über die Situation des Verlagswesens in Deutschland. Ausführlich beschreibt er neben einem der Marktführer, dem Goldmann Verlag, vor allem den Otto-Wilhelm Barth Verlag und den Dianus-Trikont Verlag26, beides Vorreiter in der Aufnahme esoterischer Literatur in das Vertriebsprogramm und deren erfolgreicher Vermarktung für ein breit gefächertes Publikum.27 In Bezug auf sogenannte Kleinverlage nennt Bochinger in seinen Ausführungen u. a. den Aurum Verlag, Hugendubel, Ansata und den Aquamarin-Verlag. Zu diesen hält er zusammenfassend fest, dass sie »ihren Schwerpunkt zumeist im Bereich westlicher Esoterik«28 gesetzt haben. Bei den ausführlicher dargestellten Verlagen gibt der Autor zwar an, welche deren bekannteste Autoren sind, über Aufnahmekriterien bislang nicht bekannter Autoren findet sich jedoch nichts. Es ist davon auszugehen, dass damals wie heute die Zugangskriterien der größeren Verlagshäuser äußerst eng gesteckt sind. Denn mit einer Popularisierung des Diskurses gegenwärtiger Religiosität kam es nicht nur zu einem stetigen Anstieg der rezipierenden Diskursteilnehmer, sondern auch zu einer wachsenden Zahl von Akteuren, die nun ihrerseits als Produzenten in diesem Mediensegment mitwirken wollen. Zu beachten ist dabei die zeitlich parallel verlaufende Popularisierung des noch jungen Mediums Internet, das den Akteuren ganz andere Partizipationsmöglichkeiten zur Informations- und Wissensvermittlung bietet als der Buchmarkt. Gleichzeitig stellt das Internet jedoch auch eine der größten Herausforderungen an die traditionellen Printmedien dar. Veränderte Absatz- und Vermarktungsbedingungen und steigende Konkurrenz durch freizugängliche Onlinetextinhalte sind hier nur als Beispiele zu nennen. Neben großen und mittelgroßen Verlagsverbünden existiert heute eine Vielzahl von Klein- und Kleinstverlagen. Diese haben teilweise nur wenige Autoren unter Vertrag und scheinen oftmals aus ehemaligen Selbstverlagen hervorgegangen zu sein. Einige dieser Verlage bieten den Druck und Vertrieb von Büchern auch als Dienstleistung an, die, unabhängig von der Bewertung durch den Ver-

26 Dieser musste 1986 Konkurs anmelden, die meisten Bücher wurden von anderen Verlagen übernommen. Vgl. Bochinger 1994, 164. 27 Siehe zu beiden Verlagen ausführlich Bochinger 1994, 143-170. 28 Ebd., 177.

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lag, von den Autoren eingekauft werden kann.29 In solchen Kleinverlagen haben nun auch zwei der im Rahmen dieser Studie befragten Akteure einen Ort für die Publikation ihrer Bücher gefunden. Da beide Verlage nur wenige Bücher im Programm haben, können sie aus Gründen der Anonymisierung an dieser Stelle nicht namentlich genannt werden. Eine kurze Beschreibung der Publikationen kann jedoch angeführt werden. Toni hat in den Jahren 2006 und 2007 je eine Monografie publiziert. Hierin vermittelt sie gechannelte Botschaften von Engeln, Maria und anderen Figuren. Außer Toni hat auch Jo im Jahr 2009 ein Buch auf den Markt gebracht. Hierin thematisiert sie ihren individuellen Weg, der sie nach eigener Aussage mittlerweile zum »Erwachen« geführt hat. Beide Akteure sprechen nicht über die Gründe, die sie zu einer Publikation auch auf dem Buchmarkt bewogen haben. Lediglich Jo deutete in dem Gespräch nach dem Interview an, dass sich die Suche nach einem Verlag schwierig gestalte (sie war damals noch im Schreibprozess). Betrachtet man jedoch die Vielzahl von kleinen und mittelgroßen Verlagen, die inzwischen Titel von nicht-hauptberuflichen Autoren führen, verdichtet sich die Annahme, dass der Buchmarkt trotz der starken Konkurrenz des Mediums Internet im Produktionsgeschehen für Akteure gegenwärtiger Religiosität immer noch eine bedeutende Rolle spielt.

6.2 V ON TV-S ERIEN

UND

F ILMEN

Betrachtet man die Rolle, die Film und Fernsehen bei den befragten Akteuren spielt, so fällt auf, dass beide Mediensparten in den selbstständigen Erzählabschnitten kaum erwähnt werden (im Gegensatz z. B. zu Büchern). Aus den vorliegenden Daten der Interviews und im Rückgriff auf die Webpräsenzen der befragten Akteure lassen sich jedoch einige Punkte zu dieser Thematik rekonstruieren. Interesse an Filmen zeigen Maxi und Chris, letztere erwähnt sie nur auf ihrer Homepage. Maxi hingegen kommentiert ihr Interesse an Filmen darüber hinaus auch im Interview. Sie präsentiert auf ihrer Webseite eine Liste von »spirituellen« Filmen, die ihrer Meinung nach eine bestimmte »Botschaft« vermitteln wollen. Sie fasst die Inhalte der Filme kurz zusammen und gibt dann eine Interpretation der Botschaften der Filme. Auf Rückfrage sagt sie dazu im Interview:

29 Siehe exemplarisch Homepage des Kleinverlages »Lulu«. Zugriff unter: http:// www.lulu.com (12.01.12).

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Maxi: Gut ich gucke zwar so ganz gerne auch, auch früher immer ganz gerne so Filme geguckt, Kinofilme. Wesentlicher ist mir eigentlich, weil diese Filme, die ich da aufgelistet habe, also aus meiner Sicht ne Botschaft haben und dann aufzuzeigen, dass in diesen Filmen halt diese Botschaft drin ist. Das ist das, was mir in dem Moment dann, ja dazu geführt hat dann, diesen Bereich dann aufzubauen eben. Weil man in Filmen kann man bestimmte Dinge auch mal ganz gut erklären und Filme, bestimmte Filme, die kennt halt jeder. Dann kann man sagen, darum geht’s und so und schon weiß derjenige Bescheid, kann er irgendwo besser nachvollziehen vielleicht.

Die nach Maxis Meinung den Filmen inhärenten Botschaften lassen sich in ihren Augen insbesondere deshalb gut an andere Personen vermitteln, weil der Bekanntheitsgrad der Filme sehr hoch ist. Auch Chris bespricht auf ihrer Homepage bestimmte Filme, allerdings geht sie weniger von einer den Filmen innewohnenden Bedeutung aus, sondern beleuchtet diese vielmehr kritisch auf dem Hintergrund ihrer individuellen religiösen Vorstellungen. Dem folgt schließlich eine positive oder negative Bewertung. So kann man bei Maxi von einer eher rezeptiv ausgerichteten Haltung gegenüber Filmen sprechen, Chris nähert sich hingegen unter analytischer und evaluativer Perspektive diesen medialen Inhalten. Eine distributive Nutzung des Mediums Film ist bei keinem der hier untersuchten Fälle zu finden. Dies liegt in erster Linie an der sehr hoch gelegten Schwelle, die den Zugang zu diesem Medium auf distributiver Seite reglementiert. Eine Filmproduktion für TV oder Kino ist in der Regel nicht nur mit enormen Kosten verbunden, sondern erfordert auch eine professionelle Ausbildung und meist eine gewisse Anzahl von weiteren Mitwirkenden. Allerdings ist auch in diesem Bereich seit der Etablierung des Internets ein Wandel zu beobachten. Es entsteht verstärkt eine Vielzahl von Kurzfilmproduktionen, die teilweise mit einfachsten Mitteln und von einer Person allein hergestellt werden. Vermittelt werden diese nicht über TV und Kino, sondern finden sich eingebettet in das Internet. Neben den mittlerweile unzähligen Videos auf Plattformen wie Youtube, gibt es aber gerade im Diskurs gegenwärtiger Religiosität erste Versuche, das neue Medium als Vermittlungsplattform für Filme zu verwenden, die bisher sowohl zugangswie distributionsbeschränkt waren. Ein Beispiel dafür ist »Spirit-TV«30. Auf dieser Webpräsenz werden Kurzfilme verschiedener Autoren zu Themen wie Klangheilung, Channeling, Kristalle, Lichtkörper, Aura, Tarot für ein breites Publikum zugänglich gemacht. Die Betreiber der Plattform, Dr. Holger Berger (Facharzt für allg. Medizin), Holger Petersen (Journalist) und Konstantin Knape

30 Homepage »Spirit TV«. Zugriff unter: http://www.spirit-tv.de/ (16.02.12).

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(Kameramann und TV-Produzent) bieten für ein Entgelt von 250 Euro an, »filmische Selbstdarstellungen« zu produzieren, die im Anschluss auf der Spirit-TV veröffentlicht werden können.31 In Bezug auf die im Rahmen der Studie befragten Personen kann festgehalten werden, dass diese bislang von den neuen filmischen Möglichkeiten der Produktion und Distribution keinen Gebrauch machen. Chris und Maxi nutzen das Internet lediglich zur Veröffentlichung ihrer Analysen bzw. Rezeptionen von Filmen. Auch zu TV-Serien finden sich im untersuchten Material nur wenige Aussagen. Lediglich Alex thematisiert zwei aktuelle US-amerikanische Serien, in denen es im weitesten Sinne um eine religiöse Praxis aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität geht, dem Channeln. Protagonistin der US-amerikanischen TVSerie »Ghostwisperer – Stimmen aus dem Jenseits«, die seit 2006 auch in Deutschland ausgestrahlt wird, ist eine junge Frau, welche die Fähigkeit besitzt, Verstorbene zu sehen und mit ihnen zu kommunizieren. In den einzelnen Folgen geht es größtenteils darum, dass der Hauptcharakter Melinda Gordon (gespielt von Jennifer Love Hewitt), den »Geistern« hilft, ins »Jenseits« hinüber zu treten, wobei meist noch Verstrickungen zu Lebenden zu lösen sind. Am gleichen Sendetag (im Jahr 2009) wurde im Anschluss an Ghostwisperer eine weitere Serie ausgestrahlt, die ebenfalls in den angesprochenen Themenbereich fällt. Im Mittelpunkt der Serie »Medium – Nichts bleibt verborgen« steht Allison Dubois (gespielt von Patricia Arquette), eine Mutter von drei Kindern, die sich durch ihre übernatürlichen Fähigkeiten auszeichnet. Sie kann nicht nur in Kontakt mit Verstorbenen treten, sondern gelegentlich auch in die Zukunft blicken. Unter Rückgriff auf ihre besonderen Fähigkeiten klärt die Hauptfigur in der Serie Verbrechen auf. Nachdem Alex im Interview von ihren Fähigkeiten erzählt hat, mit »Seelen« in Kontakt zu treten, die sie »ins Licht« schickt, thematisiert sie die erwähnten Serien: Alex: Ich muss auch sagen, ich guck’s mir zwar sehr gerne an, aber ich finde diese Serien im Fernsehen zur Zeit nicht so schön. Diese, wie heißt die eine mit der Dunkelhaarigen, einmal »Medium« und einmal…, davor kommt immer, auch die sieht auch Seelen [sie meint Ghostwisperer, N.M.], also im Grunde genauso wie ich’s grad beschrieben hab. … Das sorgt dafür, dass wir nicht ernst genommen werden, sorgt im Grunde dafür, dass Leute wie wir erstmal den Vorwurf um die Ohren kriegen »Naja, guckst ein bisschen viel Fernsehen«. Und deshalb finde ich diese Serien, ich guck sie mir zwar super gerne an, ich

31 Siehe Homepage »Spirit TV«. Zugriff unter: http://www.spirit-tv.de/mitmachen.php (16.02.12).

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find sie aber eigentlich nicht gut, weil sie uns in den Rücken fallen, weil es ist überraschend authentisch, diese Serien. Also muss ich wirklich sagen, oft sag ich, meine Güte, genauso erleb ich das mitunter auch, nur das fördert natürlich noch den Eindruck von anderen »Die guckt zu viel Fernsehen, die hat doch nen Schatten, jetzt klinkt sie sich da ein und jetzt ist sie eine von den Verrückten, die meint, sie ist auch so«. Ich hab das schon so lange, da gab es solche Serien noch gar nicht, da hab ich das schon ganz normal mit gelebt.

In diesem Erzählabschnitt wird deutlich, dass die Akteurin ein eher ambivalentes Verhältnis zu den Serien hat. Einerseits sieht sie darin eine durchaus realitätsnahe Darstellung ihrer eigenen Erfahrungen, betont jedoch gleichzeitig, dass diese Erfahrungen zeitlich vor der Ausstrahlung der TV-Serien liegen. Die Authentizität ihrer medialen Arbeit wird somit nicht in Frage gestellt. Aus Akteurssicht liegt auch in diesem Fall keine Rezeptionsperspektive vor, sondern, wie zuvor bereits bei Büchern thematisiert, die Medieninhalte spiegeln lediglich die eigene, bereits vorliegende religiöse Erfahrung wider. Der zweite Aspekt, den Alex in diesem Zusammenhang thematisiert und welchen sie durchaus kritisch reflektiert, sind die Auswirkungen der medialen Präsentation von Channeling vor einem breiten Publikum. Ihrer Ansicht nach nimmt das gesellschaftliche Umfeld die massenmedial vorgestellte religiöse Praxis als fiktiv wahr, da auch die Serien einen fiktiven Kontext erkennen lassen. Die hierauf von Alex beschriebenen Positionierungen lehnt sie ab. So weist sie die Einordnung als »verrückt«, die aus einem nicht näher spezifizierten sozialen Umfeld kommt, zurück. In diesem kurzen Interviewausschnitt wird deutlich, dass massenmedial vermittelte Konstruktionen von religiösen Inhalten oder ritueller Praxis in ihren diskursspezifischen Aushandlungsprozessen durchaus zu Konflikten führen können. Interpretationen, die im Verlauf von Rezeptionsprozessen von verschiedenen Akteuren entwickelt werden, kollidieren miteinander. Die Zahl der TV-Serien, die sich mit Themen gegenwärtiger Religiosität beschäftigen, ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Am populärsten sind hier vor allem Serien wie »Charmed – Zauberhafte Hexen« oder »Buffy – Im Bann der Dämonen«, die sich mit Magie und Hexerei befassen. Bislang liegen jedoch kaum Untersuchungen dazu vor, wie die Serien von religiösen Akteuren aufgenommen und bewertet werden.32 Neben den eben betrachteten Mediensparten Film und Fernsehen sind abschließend kurz noch weitere, von den Akteuren sowohl in Rezeption wie auch Produktion und Distribution verwendete Medien zu nennen. An erster Stelle ste-

32 Vgl. dazu Mutzl 2005.

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hen hier Tonträger. Soweit aus dem Datenmaterial ersichtlich, nutzen die Akteure sowohl Musik- als auch Sprach33-CDs für ihre religiöse Praxis. Im Rahmen von Ritualen wird verstärkt auf den Gebrauch von ruhiger, instrumentaler Musik verwiesen, weitergehende Aussagen zur Art der Musik und deren Rezeption können jedoch an dieser Stelle nicht gemacht werden.34

6.3 M EDIALE P RÄSENTATIONEN

IM I NTERNET

Die Präsentation des eigenen biographischen Profils, der eigenen religiösen Vorstellungen und rituellen Tätigkeiten im Medium Internet wird, wie schon mehrfach angesprochen, immer mehr und öfters zu einem Ausgangspunkt der Selbstpräsentation und Kommunikation von Akteuren gegenwärtiger Religiosität.35 Im vorangegangenen Biographie-Kapitel wurde anhand einzelner Verweise bereits deutlich gemacht, dass insbesondere dominante Topoi und narrative Muster wie z. B. die Weg-Konstruktion mit der Darstellung einer besonderen Kindheit Elemente sind, die sich auch im Medium Internet durchgesetzt haben. Hier tragen sie zu einer für die Akteure erfolgreichen Positionierung in den diskursiven Aushandlungen um gegenwärtige Religiosität bei. Neben der öffentlich zugänglichen und für eine Analyse rasch zu erschließenden Seite von Webpräsenzen kann jedoch noch ein weiterer Fokus an mediale derartige Präsentationen angelegt werden. Zu fragen ist hier, wie die Akteure die Auswahl des Mediums als Präsentations- und Kommunikationsplattform darstellen und nach welchen Maßstäben sie ihr Profil gestalten. Angaben dazu müssen bei den Akteuren selbst erhoben werden, wie in diesem Fall im Rahmen von Interviews. Eine solche, qualitativorientierte Perspektive auf die Gestaltung von persönlichen Homepages zählt derzeit noch zu einem in der Forschung unterrepräsentierten Zugang. Im Folgen-

33 Z. B. in Form von Meditations-CDs, auf denen eine meist musikalisch untermalte, gesprochene Ritualanleitung vermittelt wird. 34 In einer Fallstudie zu gegenwärtiger Religiosität in Glastonbury geht Isabel Laack den Verbindungen zwischen der Konstruktion religiöser Identitäten und Musik nach. Laack 2011. 35 Zur Thematik »Religion im Internet« liegt inzwischen eine reiche Forschungsliteratur vor. Während in frühen Publikationen noch strikter differenziert wurde zwischen Religionen online und offline (vgl. O’Leary 1996; Schroeder & Heather & Lee 1998; Helland 2000; 2005) geht die heutige Forschung immer mehr dazu über, die gesamte Einbindung religiöser Akteure in die Netzwerke neuer Medien zu betrachten (vgl. Campbell 2010; 2012).

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den geht es zunächst darum, in den narrativen Konstruktionen der Akteure nach den Gründen für die Wahl des Mediums Internet als Plattform für Präsentation und Kommunikation zu fragen. Im Anschluss daran wird in einigen Details beleuchtet, wie die Akteure ihr eigene Webpräsenz gestaltet haben und welche Bedeutung sie insbesondere graphischen Besonderheiten zuschreiben. Für den in dieser Arbeit verfolgten Ansatz Diskurs, Biographie und Narration zusammenzubringen ist eine solche Perspektive interessant, da in den Erzählungen der Akteure ersichtlich wird, wie die Nutzung und Gestaltung von medialen Präsentationen einerseits insbesondere durch religiöse diskursive Formationen geprägt sind. Die Mediennutzung, die im Diskurs die bedeutende Plattform für öffentliche Aushandlungen und Positionierungen darstellt, ist andererseits auch durch gesellschaftliche Technisierungsdiskurse geprägt, die die Praxis der Akteure wesentlich mitsteuern. Um einen ersten Einblick in die narrative Einbindung der Mediennutzung in die Konstruktion der eigenen Religiosität zu bieten, wird zunächst beleuchtet, wie die Akteure ihren Weg ins Medium Internet beschreiben. Da das Internet als Massenmedium noch recht jung ist36, ergibt es sich, dass viele Akteure noch wissen, wie ihre persönliche Geschichte der Mediennutzung begonnen hat. Im Anschluss daran wird anhand verschiedener Faktoren dargestellt, wie die Akteure ihre eigene persönliche Homepage gestalten. Ein Blick auf die sozialen Interaktions- und Aushandlungsprozesse, die sich an die Mediennutzung anschließen, wird dann in einem abschließenden Teilkapitel geworfen. 6.3.1 »Mein Weg ins Netz« Die interviewten Personen gaben insgesamt an, ungefähr ab der Jahrtausendwende ihre ersten Schritte in das neue Medium gemacht zu haben. Typisch scheint hier ein Verlauf, nach dem zunächst E-Mails und Suchmaschinen genutzt wurden. Mit steigender Sicherheit im Umgang mit der neuen Technik wurde dann eine erste eigene Homepage erstellt. Diese Entwicklung findet sich zum Beispiel in den Erzählungen von Uli und Sam wieder, aber auch bei Nicki, Michi und Kim. Wichtig für den Zugang zum Medium sind für viele Akteure Familienmitglieder oder Freunde, die bereits über Basiswissen zum Internet verfügten und dieses an die Befragten weitergaben. So lernte Andi bei ihrem Sohn, Kim wurde durch ihren Bruder eingewiesen und Luca nahm die Hilfe eines Freundes

36 Seinen Siegeszug trat das Internet mit der Entwicklung der Grundlagen des World Wide Web durch Tim Berners-Lee um 1990 und der Veröffentlichung des ersten graphikfähigen Browsers namens »Mosaic« im Jahre 1993 an.

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in Anspruch. Zur Verdeutlichung sind im Folgenden zwei Textpassagen angeführt: Uli: Mein Vater hatte eine Werbeagentur bei uns im Keller und er hatte auch einmal Internet. Und die ersten Schritte hab ich, war ja quasi schon mit spirituellen Themen in Verbindung gekommen und hab dann viele Sachen erstmal in der Suchmaschine gesucht und dann hat man Seiten gefunden und zuerst, als erstes war ich mal in einem Hexenchat – in der Zeit hab ich mich für Hexen interessiert – war in einem Hexenchat, der war grün [Bezug unklar, N.M.] und da waren viele Jugendliche auch da. Und ich hab mich mit denen dann unterhalten und auch gut verstanden. Und bin dann darüber hab ich auch mal, bin ich auch mal zu jemanden nach G-Stadt damals gefahren, hab mich der getroffen, ausgetauscht über so Sachen. Und ja, irgendwann war mir das zu albern, die waren dann auch teilweise recht albern. Und dann, ich weiß gar nicht, ich hab sämtliche Sachen mal durchgesucht im Internet und mir eine E-Mail-Adresse angelegt oder hab einfach so mal gesucht. Und ich bin ziemlich schnell dann zu diesem Reikiforum gekommen. Sam: Das war mehr ja E-Mail, E-Mail, ich hab mit E-Mail angefangen und E-Mail Programm war ja immer wichtig, Kommunikation, ja ich hab mit E-Mail angefangen und dann hab ich mich halt. Und dann hab ich mich halt, in der Phase, in der es mich halt ein bisschen mehr interessiert hat, mit halt, mit so, mit surfen angefangen, zu suchen, halt eben nach Seiten, die mich vielleicht eventuell unterstützen könnten in diesem Prozess der Suche.

Bei beiden Zitaten ist zu beobachten, dass das neue Medium von Beginn an als ein Ort wahrgenommen wird, der zur Informationsgewinnung und zum Austausch über religiöse Themen benutzt wird. Bei Uli führten die frühen OnlineKontakte sogar zu einem ersten Offline-Treffen, ein erster Hinweis darauf, wie eng Offline- und Online-Bereiche miteinander verbunden sind. Bei Sam, besonders aber auch bei Uli, zeigt sich in den Interviewpassagen, dass das Mediennutzungsverhalten mit den persönlichen Vorstellungen der Konstruktion religiöser Identität im Bild eines »Weges« oder einer »Suche« korrespondiert, bei der sich die Akteure stets weiterentwickeln. Interessiert sich Uli zu Beginn der Mediennutzung noch für das Thema Hexen, so wechselt ihr Fokus bald auf das Thema Reiki, was sich schließlich auch in ihrer Partizipation an einem Forum niederschlägt. Ähnliches ist ebenfalls bei der hier nicht zitierten Kim zu beobachten. Auch sie interessiert sich zu Anfang im Internet für »Hexen«-Themen, entsprechend ihrer Biographie, die sie selbst als Entwicklung wahrnimmt, ist ihr Interesse inzwischen zu Engeln und Tarot gewechselt. In den meisten Interviews wird von den Erzählern keine spezielle Motivation angeführt, warum sie sich mit

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dem damals neuen Medium Internet auseinandersetzten und sich einarbeiteten. Teilweise werden Impulse aus dem sozialen oder familiären Umfeld erwähnt, sonst geht die Initiative oftmals auch primär von den erzählenden Akteuren aus. In zwei Interviews finden sich jedoch auch Hinweise darauf, dass auch die Motivation der erstmaligen Mediennutzung in den Kontext der individuellen Religiositätskonstruktionen gestellt wird. So geben Chris und Luca an, dass ihr Weg ins Internet auf das Drängen meta-empirischer Entitäten zurückzuführen ist. Zunächst ist der Interviewausschnitt von Luca anzuführen: Luca: Und dann kam die Phase, wo ich dachte, ich müsste irgendwie mal irgendwas machen und die Engel haben irgendwann zu mir gesagt, sie wollen ins Internet. … Und ich hab gesagt: »Supergeil! Ich hab keine Ahnung von PCs und vor allem hab ich keine Ahnung wie das geht! Wie komm ich jetzt an nen PC ran?« Dann hab ich einem Freund gesagt, hab zu einem Freund gesagt: »Die Engel wollen ins Internet, ich brauch glaub ich nen PC.« »Ja, muss man gucken, was man da machen kann.« Ne Woche später hatte ich ne komplette Anlage hier stehen, ….

In der Erzählung von Luca wird deutlich, dass der Handlungsimpuls zur Beschäftigung mit dem neuen Medium und zum Aufbau einer eigenen Webpräsenz auf den Einfluss von Engeln zurückgeführt wird. Sie setzt daraufhin alles Notwendige in Bewegung, um die Anweisung der Engel umzusetzen. Hierzu greift auch sie auf eine Person aus dem sozialen Umfeld zurück, die bereits über einiges Fachwissen im Umgang mit Computern und dem Internet verfügt. Mit Hilfe dieses Freundes kann sie am Ende des Jahres ihre erste eigene Homepage veröffentlichen. Die Nutzung der neuen Technik wird in diesem Beispiel zweifach eingebettet: Als impulsgebend werden dominante Figuren aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität – in diesem Fall Engel – angeführt. Sie werden als Referenz für die Mediennutzung eingesetzt. Auf der anderen Seite greift die Akteurin auf bereits in ihrem sozialen Umfeld vorhandenes technisches Wissen zurück und beginnt so ihren Lernprozess im Umgang mit dem neuen Medium. Auch bei Chris findet sich das Erzählmuster, in dem eine meta-empirische Figur sie zur Nutzung des neuen Mediums aufruft. Interessant ist hier allerdings auch die vorgenommene Parallelisierung von medialen und religiösen Strukturen. Chris: Und dann beim Anfang 2000 wurde mir denn auch ganz kurz und knapp gesagt und ich wusste, die Quelle ist rein: »Geh ins Internet!« Nun, ich hatte vom Internet absolut keine Ahnung und ich habe mich auch immer gefreut, dass dieser Kelch an mir vorbei gegangen ist. … Und dann hab ich zwei verschiedene, zwei unterschiedliche Freundinnen

324 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN gefragt, ob sie bereit wären, für mich so was [sie meint eine Homepage, N.M.] zu machen und beide haben abgelehnt. So im Nachhinein wusste ich, ging auch gar nicht anders, so was kann man nur selber machen. … Und so wurde da in mein Büro ein PC gestellt mit der Auflage, mehrere Grundkurse zu besuchen und das hab ich dann gemacht und habe gemerkt, dass das großen Spaß macht und gleich in der Mittagspause – war in der Verwaltungsakademie C-Stadt – da wurde mir die innere Übereinstimmung zwischen der Informationstechnik und der geistigen Welt vermittelt. [Auslassung aus Anonymisierungsgründen]. Also die Informationstechnik entspricht in gewisser Weise der geistigen Welt, also dass man an alle Informationen heran kommt, wie das Internet auch ist.

Von einer nicht näher bestimmten Handlungsmacht wird Chris dazu aufgefordert, das neue Medium Internet zu nutzen. Im Gegensatz zu bereits genannten Beispielen erfährt sie trotz Nachfrage keine Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld, ein Umstand, der von der Erzählerin retrospektiv jedoch positiv gedeutet wird. Ihr Wissen zum Umgang mit dem Internet erwirbt sie schließlich in einer Fortbildungsmaßnahme ihres Arbeitgebers. Zur weiteren Begründung des Mediengebrauchs wird von Chris eine Parallelisierung zwischen dem Internet und ihren religiösen Strukturen gezogen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Wege ins Internet in den einzelnen Erzählungen durch das soziale Milieu unterstützt werden und deutlich auf die Beschäftigung mit religiösen Themen ausgerichtet sind. Legitimierend wird als Initiativimpuls auf die Autorität meta-empirischer Größen verwiesen, wodurch die gesamte mediale Präsenz in die Konstruktion eines religiösen Raumes einbettet wird. Die Mediennutzung erscheint eingebunden in bestimmte diskursive Strategien37, die von den Akteuren zur Begründung der Nutzung des Mediums für religiöse Zwecke angeführt werden. Einmal den medialen Zugang erarbeitet, entschlossen sich alle hier befragten Akteure eine eigene Webpräsenz zu erstellen. Im folgenden Kapitel soll es daher in erster Linie um Fragen rund um die Entstehung, aber auch die Veränderungen der Homepages gehen. Weiterhin ist der Aspekt der medienspezifischen Präsentation und Aushandlung religiöser Identitäten zu erörtern.

37 Vgl. dazu auch Campbell 2005, 9ff. In einer Untersuchung zur Begründung der Internetnutzung von religiösen Gruppen identifiziert sie vier diskursive Strategien: Das Internet wird gesehen als »a spiritual medium facilitating religious experience, a sacramental space, suitable for religious use, a tool promoting religion or religious practice and a technology for affirming religious life« (ebd.).

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6.3.2 Die eigene Webpräsenz Von den insgesamt zwölf persönlichen Homepages der interviewten Akteure sind inzwischen nur noch acht unter ihrer ursprünglichen Adresse zu erreichen. Uli hat ihre Seite unter einem neuen Domainnamen und stark verändert wiederaufgebaut. Sam hat ihre persönliche Homepage zugunsten einer Gemeinschaftsseite über ihre neusten Seminarprojekte, die sie mit einer Bekannten betreibt, aufgegeben. Nickis Seite ist zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes (Sommer 2011) seit ca. eindreiviertel Jahren »Under Construction«, die ehemaligen Inhalte der Seite sind nur noch über Archivierungen zugänglich. Auch die Seite von Michi ist nicht länger zugänglich. Im Auswertungsprozess der Interviews ergaben sich in Bezug auf die jeweilige persönliche Homepage fünf Themenfelder, die für eine nähere Betrachtung ergiebig erscheinen: • Motivation und Zweck: Hier geben die Akteure an, warum sie sich zur Erstel-









lung einer eigenen Webpräsenz entschlossen haben. Damit einhergehend wird in einigen Fällen auch das Ziel bzw. der Zweck der Seite thematisiert. Veränderungen: Alle der von den Akteuren aktuell noch betriebenen Seiten haben im Untersuchungszeitraum von 2005-2009 mehr oder weniger starke Veränderungen erfahren. Teilweise wurde die komplette Präsenz überarbeitet, teilweise wurden nur kleinere Ergänzungen oder Veränderungen angefügt. Diese Veränderungsprozesse werden von den Akteuren in den Interviews angesprochen. Design: Insbesondere die Farb- und Schriftgestaltung vieler Homepages lässt den Betrachter vermuten, dass diese gezielt auf Grundlage spezifischer Bedeutungszuschreibungen gewählt wurden. Durch Nachfrage ergaben sich zu dieser Thematik interessante Einblicke. Name der Homepage: Die meisten der untersuchten persönlichen Homepages tragen Namen, die darauf schließen lassen, dass sich die Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität positionieren möchten. Wie die Akteure auf diese Namen kamen und was mit ihnen intendiert wird, wurde in den Interviews erfragt. Feedback: In diesem Themenfeld wurden die Akteure nach Kommentaren und Meinungen gefragt, die sie in Bezug auf ihre Webpräsenz von anderen Internetusern erhalten. Dieses Feedback wird in den meisten Fällen über ein Gästebuch abgegeben.

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a) Motiv und Zweck Die Bandbreite der Motive für das Erstellen einer eigenen Webpräsenz reicht in den Interviewpassagen von sehr unbestimmten Äußerungen, die keinen klaren Grund erkennen lassen, bis hin zu einem Begründungsmuster, das bereits aus dem vorhergehenden Kapitel bekannt ist. Auch hier werden mehr oder weniger bestimmbare »dritte« Handlungsmächte als Initiatoren für eine Begründung herangezogen. So spricht z. B. Sam von einem »inneren Impuls«, der sie dazu geleitet habe, eine eigene Homepage zu erstellen: N.M.: Und wie kamst du dann auf die Idee, da ne eigene Seite zu machen? Sam: Ja, das kam nicht mir, das war ein innerer Impuls. Das war ein innerer Impuls, der ganz klar gesagt hat: »mach deine eigene Internetseite!« Und dann hab ich gesagt: »Nö! Mach ich nicht!«, weil ich nicht wusste, was. Und das kam halt immer wieder und das war ein Gefühl, das war ein Gefühl mit einem Impuls mit ganz viel Freude, aber ich wusste nicht, wie ich das umsetzen soll und dann hab ich gesagt: »Lieber Gott, wenn ich das irgendwas machen soll, dann bitte gib mir Eingebung.« Ja und dann war aber dieses Ding »Mach es, bitte bitte, mach es und tu’s« so groß, dass ich gesagt hab, ok, ich übergebe mich, ich ergebe mich, ich tu’s. Ja und dann hatte ich auch ganz viel Freude und ganz viel Spaß, weil ich sollte, so hat’s ja angefangen in mir auch zu brodeln, also ich hab innerhalb von drei Tagen, an einem Tag hab ich die Seite gefunden, also das Portal, was ich wollte, das hat ja auch ein bisschen gedauert, den Anbieter, das und das.

Sam beschreibt ihren Weg zu einer eigenen Homepage als ein Hin- und Hergerissensein zwischen einem »inneren Impuls«, der sie anweist, eine Seite zu erstellen und ihrer eigenen Meinung. Als hindernde Faktoren nennt sie fehlende Ideen für die inhaltliche Gestaltung, aber auch Bedenken gegenüber der (technischen) Umsetzung. Mit der kommunikativen Hinwendung zu »Gott« macht Sam klar, dass sie das gesamte Anfangsgeschehen dezidiert vor dem Hintergrund ihrer Religiositätskonstruktionen interpretiert. Die Entwicklung ihrer eigenen Homepage stellt sie als einen, von dritter Autorität vorgegeben Weg dar, dem sie nach einigem Zögern letztlich nachgeht. Sobald die Annahme erfolgt ist, stellt sich Sam wieder als handlungsmächtige Person dar, die sich nun auf die Suche nach einem passenden Anbieter für Websites begibt. Während bei Sam eine nähere Charakterisierung des »inneren Impulses« ausbleibt und es unklar ist, ob bereits dieser Impuls vor einem religiösen Bedeutungshorizont zu fassen ist, wird Toni in einem Interviewausschnitt deutlicher. Toni: Der Grund, warum ich das [ihr religiöses Wissen, N.M.] auch ins Internet gebe, weil dieses Lichtwesen, was mich da lehrt, des hat gesagt: »Verbreite es über die Kommunika-

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tionsmittel, die euch auf eurer Erde gegeben sind, damit Menschen, die Hilfe brauchen und Kraft suchen, da auch die Möglichkeit haben«. Und ich mein, früher war des ja immer alles nur im begrenzten Raum, es gab schon immer Menschen, die diese Fähigkeiten hatten, es verstärkt sich im Moment immer mehr.

Toni gibt im Interview an, dass die initiative Anweisung für die Nutzung des Internets und damit auch der Erstellung einer eigenen Webpräsenz von einem »Lichtwesen« kommt. Die Mediennutzung wird auch hier explizit in einen religiösen Interpretationshorizont gestellt. In ihren Äußerungen klingt an, dass sie durch ihre Webpräsenz vor allem auch religiöse Botschaften an eine breite Leserschaft vermitteln möchte. Ein Blick auf ihre Homepage bestätigt das. Hier findet sich eine Reihe von Channelings, die sie im Laufe der letzten Jahre von Engeln und Aufgestiegenen Meistern erhalten hat. Bereits im vorangegangenen Kapitel, in dem die Akteure zu ihrem generellen Zugang zum Medium Internet befragt wurden, fand sich eine Äußerung von Chris, dass ihr von dritter, jedoch nicht näher bezeichneter Seite gesagt wurde, dass sie das neue Medium nutzen solle. Auf die Frage, seit wann sie ihre Homepage besitzt, erzählt sie nun: Chris: Also ich wurde gebeten Anfang 2001, die genauen Daten hab ich im Internet, weil ich nämlich mir auch immer alles notiere oder weitgehend und dann geh ich von meinen Aufzeichnungen aus, damit ich so exakt wie möglich das auch schreibe und in meiner eigenen Erinnerung verwischt das aber manchmal, deshalb verweise ich darauf, da steht es genauer. Ich fing also Anfang 2001 an mit Computerlehrgängen, den Grundseminaren und dann habe ich im Laufe des Jahres mit Hilfe meines damaligen Schwiegersohnes und meiner Tochter, die ja auch beruflich mit Computerdingen zu tun hat, also mit deren Hilfe hab ich mir dann, und diesen Grundseminaren, das Wissen angeeignet und dann auch die Hardware besorgt und dann da rum probiert. N.M.: War das ein längeres Probieren? Chris: Ja, es war ein längeres Probieren und ich hab auch oftmals die ganze Nacht an einem kleinen Problem gearbeitet und im September, der genaue Tag steht eben in der Seite, im September 2001 hatte ich so die erste, zweite Seite dann schon da drin zu stehen. Ich musste ja auch erstmal lernen, Graphiken zu machen oder Bilder zu scannen und so. Und das sollte auch alles die reinste Freude und der reinste Spaß sein, nicht? Und auch, dass mir das nie zu viel wurde und dass ich mich nie geärgert habe dabei. Nur so haben die Seiten eben hohe Schwingungen und auch weil sie Wahrheit enthalten. Und diese hohen Schwingungen transportieren sie auch zu jedem, der sie anklickt und darum können sie auch helfen, weil die Menschen merken, ich hab da auch ganz viel Feedback über E-Mails bekommen.

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Zu Beginn ihrer Antwort erwähnt Chris in passiver Ausdrucksweise, dass sie »gebeten« wurde, eine eigene Webpräsenz zu erstellen, verweist dann jedoch auf einen Text auf ihrer Homepage, in dem sie den genauen Hergang der Ereignisse festgehalten hat. Die Homepage funktioniert in diesem Falle nicht nur als Plattform der Selbstdarstellung, sondern auch als Erinnerungsbrücke für die Akteurin. Liest man auf der Seite nach, so stellt sich heraus, dass Chris hier von Gott spricht, der sie um das Erstellen einer Homepage gebeten hat und dessen Führung sie sich schließlich »überlässt«. Die Einrichtung der Webpräsenz war Chris’ Angaben zufolge ein Lernprozess, der für sie selbst durchweg positiv besetzt sein musste. Der Grund hierfür liegt im Zweck, den die Akteurin mit ihrer Homepage intendiert. Die Homepage erhält durch ihre Art der Entstehung und die Inhalte »hohe Schwingungen«, die durch das Medium Internet an die Leser vermittelt werden können. Die Zuschreibung eines herausgehobenen qualitativreligiösen Status an Webseiten selbst ist im Vergleich mit anderen Interviewaussagen mit Sicherheit als sehr individuell zu bezeichnen. In den Interviews finden sich noch weitere Äußerungen zum Motiv der Erstellung und Zweck einer Homepage. Maxi: Ja zu dem Zeitpunkt hatte ich mich damit [gemeint sind »spirituelle« Themen, N.M.] ja auch schon ein paar Jahre beschäftigt und war für mich eigentlich in dem Moment klar, sobald ich ins, wo ich dann auch den Zugang hatte und dann die ersten Tage, Wochen, da hineingegangen bin und geguckt habe, da war für mich irgendwo auch in dem Moment klar, ich brauch eine Webseite.

Aus diesem Zitat erschließt sich nur indirekt, was Maxis Motiv für das Erstellen einer eigenen Webpräsenz war. Der Entschluss scheint ihr gekommen zu sein, als sie in einer Phase der ersten Orientierung im Internet die bereits vorhandenen Angebote gesichtet hat. Warum dann allerdings speziell eine Homepage als Repräsentationsplattform gewählt wurde, wird nicht klar. In ihren weiteren Ausführungen wird jedoch deutlich, wo der Schwerpunkt ihrer Internetarbeit liegt und welcher Zweck für sie im Vordergrund steht. Maxi: Hab dann Anfang 97 angefangen mit einer Webseite und sind dann auch immer mehr Webseiten geworden, immer größer alles. Und habe auch, von Anfang an war’s auch eigentlich so, dass ich immer irgendwo andere Interessierte so um mich herum gesammelt habe. Also wenn ich dann, ich hab dann irgendwelche Informationen bekommen, Texte und so, hab die dann gleich weitergeleitet, hab die auf die Webseite geladen und hatte dann E-Mail Adressen gesammelt und hab da so angefangen, mir so’n Newsverteiler, EMailverteiler aufzubauen, wo’s mittlerweile ein Verteiler mit 1200 Adressen geworden ist.

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Die Seite wird von bis zu 4000 Besuchern im Monat angeklickt. Und ja also immer mehr irgendwo Erfolg gehabt, immer mehr Menschen begegnet und ich hab das einfach als auch so als meine Erfüllung gesehen. Ich hab mich dann auch in der Zeit sehr intensiv grade über das Internet damit mit den Themen beschäftigt und hab also Stunden lang damit verbracht, die Seite zu erweitern und Texte zu schreiben und dann E-Mails zu beantworten und ja, das ging die ganzen Jahre über irgendwo so.

Maxi schildert zu Beginn der Passage, dass der Fokus ihrer Webpräsenz darauf lag, Informationen an andere weiterzugeben und mit Hilfe eines E-Mail Verteilers ein Netzwerk mit Personen aufzubauen, die sich für die gleichen Themen wie sie selbst interessieren. Sie sieht diese Aufgabe als »Erfüllung« an. Die Verbreitung von Informationen über die eigene Homepage nennt auch Alex als Motiv für ihren Internetauftritt, auch wenn sie im Gegensatz zu Maxi nicht primär auf eine Vernetzung mit anderen hinarbeitet: N.M.: Wie kam das dann mit deiner Homepage, also wie bist du auf die Idee gekommen oder, warum hast du die gemacht? Alex: Weiß ich nicht, war einfach so’n Punkt, wo ich gesagt hab, ich mach jetzt ne Homepage, ich hab viel zu erzählen, fang ich einfach mal an. Ich hatte ja ein Thema, die Esoterik oder Spiritualität, wie immer du’s nennen willst, und dann hab ich einfach mal damit angefangen, die Dinge, die ich so für mich zusammengesammelt hatte, da eben zu veröffentlichen.

Alex fokussiert ihren Webauftritt von Beginn an auf religiöse Themen und möchte den virtuellen Raum nutzen, um bereits vorhandene Informationen an andere weiterzugeben. Die potentielle Zielgruppe wird an dieser Stelle nicht konkret benannt. Auch ein kommunikativer Austausch wird im Gegensatz zu Maxi nicht erwähnt. Insgesamt ist zu bemerken, dass die Akteure klar erkennen lassen, dass ihre Präsentation über eine persönliche Homepage im Rahmen ihrer individuellen Religiositätskonstruktion eingebettet ist. Erzählsegmente, in denen eine metaempirische Entität als Initiativgeber genannt wird, verstärken diesen Eindruck. Die Akteure verstehen ihre Homepages als Ort bzw. Raum, in dem sie nun zusätzlich zum Offline-Bereich die Schwerpunkte ihrer Religiosität darstellen können. Dabei geht es primär um religiöse Inhalte und Informationen, die für andere zugänglich gemacht werden sollen. Als öffentlich zugänglicher Raum bieten die Webpräsenzen sowohl die Möglichkeit der Selbstdarstellung und -positionierung, als auch der Kommunikation und Reflexion über aktuelle Religiositäts-

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konstruktionen. Diese Aushandlungen bilden somit einen Teil des medialen Segments im Diskurs gegenwärtiger Religiosität. b) Veränderungen Webpräsenzen zeigen sich insgesamt als virtueller Raum, der flexibel gestaltet werden kann und der temporären Veränderungen unterworfen ist. Im Untersuchungszeitraum dieser Studie wurden nahezu alle (Ausnahme: Luca) Homepages der interviewten Personen verändert. Teilweise wurde die Gesamtstruktur und ein großer Teil der Inhalte (Texte und Bilder) bearbeitet (z. B. bei Uli), auf anderen Seiten wurden lediglich Inhalte ergänzt oder gekürzt. Geht man von dem Modell einer sich ständig wandelnden Identitätskonstruktion aus, die in Prozessen der (Re-)Positionierungen und kommunikativen Aushandlung mit anderen Personen stetig neu erarbeitet wird, so ist zu erwarten, dass sich diese Prozesse auch im medialen Umfeld des Internets zeigen. Hier ist zu fragen, wie die Akteure die zu beobachtenden Veränderungen ihrer Selbstdarstellungen thematisieren. Wie die folgenden Interviewpassagen zeigen, wurde dieser Punkt teilweise selbstständig angesprochen, teilweise wurde gezielt eine Frage gestellt. Das erste Zitat von Maxi zeigt deutlich, welche Veränderungen an der Homepage im Laufe der Zeit vorgenommen wurden und vor welchem Deutungshorizont diese von der Akteurin selbst wahrgenommen werden. Maxi: Und ja eigentlich, meine Webseite ist eigentlich dahingehend auch geprägt und das erlebt man im Internet, glaub ich, nicht so häufig, dass bestimmte Entwicklungsschritte, die ich gegangen bin für mich, dass ich die dann irgendwo in dem Moment dann auch gleich inhaltlich ausgedrückt habe und die dann auch ins Internet gebracht habe und dass andere dann diesen Weg in dem Moment mitgehen können dann. Und so fing das dann mit dem »Weg des Herzens«38 [an]. Das war eigentlich der erste, das war eigentlich war das meine eigene Webseite, die damals entstanden ist, also neben »Aufgang ins Licht«39 gab es die zweite Seite »Weg des Herzens« und die dritte Seite war dann halt »Innerer Jesus«40. Das waren so alles, womit ich mich dann in dem Moment beschäftigt habe. Und wo ich dann irgendwo weitergekommen bin und irgendwann hat ich dann fünf, sechs verschiedene Webseiten und habe dann, hab auch wieder die »Filme des Lichts« zum Beispiel, war auch mal wieder ein Teilprojekt, sag ich mal. Und bin dann irgendwann hingegangen und hab das alles eigentlich zusammengefasst zu einer Webseite dann. Ja auch im Bereich Heilung und Meditation zum Beispiel. Da sind

38 Name aus Gründen der Anonymisierung geändert. 39 Name aus Gründen der Anonymisierung geändert. 40 Name aus Gründen der Anonymisierung geändert.

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dann viele persönliche Texte oder, wo’s um Heilung geht, wo ich mich in dem Moment mit beschäftigt habe und wo ich das dann bearbeitet habe und daraus dann halt einen Text gemacht habe und das dann auf die Webseite gebracht habe, was mir immer ein Bedürfnis gewesen ist.

Maxi gibt hier an, dass die aktuellen Inhalte der Seite immer ihren derzeitigen »Entwicklungsschritten« entsprechen. Die Veränderungen auf der Homepage werden als eine Realisation der gegenwärtigen individuellen Religiositätskonstruktion erachtet, die sich bei Maxi zunächst in unterschiedlich betitelten Homepages ausdrückt, die schließlich zu einer Seite zusammengeführt werden. Im Vordergrund steht hier erneut das Ziel, die eigenen religiösen »Erkenntnisse« an andere zu vermitteln. Dieser Aspekt wurde bei Maxi bereits als Motiv für die Aufsetzung einer Homepage stark betont (vgl. a.). An die Passage von Maxi lassen sich Interviewausschnitte von Michi und Sam anschließen, deren Erklärung für die Veränderungen der Homepage in die gleiche Richtung laufen. Sam: Ich muss allerdings dazu sagen, die Homepage ist, seitdem ich diese Homepage gemacht habe, bis zum heutigen Tag hat sich natürlich immer ne, bin ich ja weiter, hab ich mich ja sozusagen weiterentwickelt und der Grund ist, also die Basis bleibt natürlich selbstverständlich immer dieselbe, das ist klar, das ist das eine und das andere ist, dass sich natürlich, man ne, up to date, also je nachdem, was grade so, dass man sich da auch weiter entwickelt und weiter lernt durch Herausforderungen und das hab ich aber durch das Forum sehr gut kompensiert. Michi: Und dann hab ich, so wie ich mich entwickelt habe, hab ich immer wieder was dazu geschrieben. Und die Seite gibt’s glaub ich auch seit 2000 oder 2001, Ende 2001 so was gibt’s die Seite und dann ist immer wieder mehr dazugekommen, je nachdem, was grad war. Hab ich dann mal [ein] Engelseminar mitgemacht, hab dann mit den also Engeln, Engel erlebt, einfach hingegangen aus Neugierde und hab dann wirklich super tolle Dinge erlebt, schöne Tage verlebt, nette Leute kennen gelernt, hab vieles nur einmal mitgemacht oder hab gesagt, ok, war toll, ist aber nichts für mich, aber ich kann darüber schreiben und hab das dann auch auf meine Seite immer gebracht, Stück für Stück, wurde dann immer mehr. Was auch ein sehr gutes Buch war, ist auch drin jetzt auf meiner Seite, von Celestine, Prophezeiung von Celestine.

Auch hier steht der Gedanke einer Spiegelung der individuellen »Entwicklung« der Religiosität in den Homepageinhalten im Vordergrund. Die Akteure beschreiben die Seiten als ein Abbild der stetig wechselnden religiösen Elemente,

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die ihnen im Laufe ihrer Biographie begegnen und die sie partiell oder vollständig in ihre religiösen Identitätskonstruktionen adaptieren. Konkret nennt Michi das Thema Engel, auf das sie zunächst im Offline-Bereich in Rahmen eines Seminars gestoßen ist. Sie schildert ihr positives Erleben der Veranstaltung, betont die Erfahrungskomponente, gibt jedoch auch an, dass sie nicht alle Inhalte für sich übernehmen konnte. Die Inhalte des Seminars bzw. ihre Erfahrungen bringt sie dann auf ihre Homepage. Ähnlich verfährt sie mit dem Buch »Die Prophezeiungen von Celestine«, das ihr so gut gefallen habe, dass sie darüber auch auf ihrer Homepage geschrieben hat. Auf der Webpräsenz findet sich neben einer kurzen Zusammenfassung des Inhalts die Erläuterung von Michi, dass ihr das Buch von einer Reiki-Meisterin empfohlen wurde. Zudem gibt sie an, dass sie das Buch genau zur richtigen Zeit in ihrer persönlichen Entwicklung gelesen habe. Es folgt eine Wiedergabe der »neun Erkenntnisse«, welche die Grundthesen des Buches bilden.41 Die Erzählung von Michi kann auch als Beispiel dafür angeführt werden, wie es zu transmedialen Verknüpfungen kommt, indem z. B. durch Bücher vermittelte Inhalte ihren Weg auf persönliche Homepages finden, wo sie – kontextualisiert und interpretiert durch den einzelnen Akteur – als Empfehlung für andere bereit stehen. Bei Jo, die nach ihren Schilderungen bereits das »Erwachen« erlebt hat und ihre religiöse Entwicklung damit als vollständig und abgeschlossen ansieht, findet sich zum Thema Veränderungen auf der Homepage folgende Aussage: Jo: Also nach dem Erwachen, da hab ich die Texte total verändert, ja ich hab dann aktualisiert, also ich hab auch, ich hatte ja auch vorher schon ne spirituelle Homepage, die hieß damals schon [NAME DER HP]. Die war da grad ein halbes Jahr alt, als das passierte und dann hab ich alle Inhalte noch mal neu geschrieben, komplett umgeschrieben. Das ist dann zwar alles so ein bisschen so ähnlich wie vorher, aber doch ganz anders.

Auch hier gibt die Akteurin an, dass sich ihre religiöse Erfahrung direkt auf der Homepage – in diesem Fall als radikale Veränderung der Inhalte – widerspiegelt. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die mediale Präsenz in enger Wechselwirkung zu den temporär gültigen Religiositätskonstruktionen der Akteure steht. Dieses interdependente Verhältnis wird auch von den Akteuren in ihren Narrationen als solches dargestellt. Bei Durchsicht der Homepages und ihrer Veränderungen fallen dabei zwei grundsätzliche Vorgehensweisen auf, die sich auch in den Interviews wieder finden. Zum einen gibt es Seiten, auf denen Inhalte stets additiv hinzugefügt werden und sich somit im Laufe der Zeit eine um-

41 Vgl. Redfield 2004.

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fangreiche Webpräsenz ergibt. Diese beinhaltet dann alle Themen, mit denen sich die Akteure im Laufe des religiösen Konstruktionsprozesses beschäftigt haben. Die Homepages von Michi, Andi und Kim sind hierfür Beispiele. Bei Michi finden sich insgesamt 49 verschiedene religiöse Themenfelder, die von Heilsteinen, Reiki, Sufismus, Schamanismus bis zu Engeln reichen. Andi hat allein im letzten Jahr zwei Themenpunkte auf ihrer Homepage hinzugefügt, die nun insgesamt 18 umfasst. Anders gehen z. B. Maxi und Uli vor. Viele Inhalte werden hier substituiert durch neue Themen, oder es werden Zusammenfassungen geschrieben. Die Webpräsenz umfasst bei dieser zweiten Vorgehensweise dann primär die aktuell im Rahmen der Identitätsarbeit verwendeten religiösen Elemente. c) Design Die gestalterische Umsetzung von Homepageinhalten ist ein Bereich, der ohne Rückfrage an die Macher der Webpräsenz nicht adäquat zu bearbeiten ist. Haben etwa bestimmte Farben eine spezielle Bedeutung? Warum wurden gerade diese ausgewählt? Was bedeuten Auffälligkeiten im Schriftbild? Handelt es sich um zufällige Schreibfehler oder eine intendierte Veränderung? Die Thematisierung der visuell-ästhetischen Dimensionen von medialen Präsenzen lässt sich in zweifacher Perspektive angehen. Auf Seiten der Homepagegestalter kann gefragt werden, mit welchen Bedeutungszuschreibungen die gestalterische Umsetzung religiöser Themen von ihnen intendiert wurde. Bei den Rezipienten lässt sich im Rahmen einer Wirkungsforschung die Wahrnehmung und Interpretation bestimmter Designstrategien erfragen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich ausschließlich auf die Seite der Homepagegestalter. Im Mittelpunkt stehen hier in erster Linie die Farb- und Schriftgestaltungen, die – wie sich zeigen wird – in weiten Bereichen vor dem Hintergrund der individuellen Religiositätskonstruktionen ausgewählt und mit entsprechenden Bedeutungen von den Akteuren versehen werden. Chris hatte im Verlauf des Interviews erzählt, dass sie bestimmte Worte wie z. B. Weg, Kraft, Gott, Engel in Großbuchstaben schreibt. Diese inhaltlichen Elemente besitzen für sie im Rahmen ihrer Religiosität eine herausragende Bedeutung. Visuell drückt sie diese Besonderheit durch die Großschreibung der jeweiligen Worte aus. Referierend auf dieses Vorgehen fragt nun die Interviewerin weiter nach der Bedeutung der unterschiedlichen Farben (überwiegend rot, blau und violett), in denen die Texte ihrer Homepage dargestellt werden. N.M.: Du hast vorhin erwähnt schon, dass du die Großschreibung auf deinen Internetseiten nutzt um Wörter, die du sonst normal nicht ausdrücken kannst, eben die sozusagen zu

334 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN kennzeichnen. Du benutzt auch bei den Texten unterschiedliche Farben, hat das was zu bedeuten? Chris: Ja, das hat natürlich was zu bedeuten. Ich möchte auf keinen Fall in schwarzer Schrift das haben, weil Schwarz ist lichtlos, also das Schwarz, was nicht in der Natur vorkommt, weil in der Natur gibt es kein Schwarz, sondern das von Menschen geschaffene Schwarz und dazu gehört auch die Farbe, es ist ja keine Farbe, für mich ist Schwarz eben ein Zustand wie auch Weiß der Lichtlosigkeit oder der Lichtfülle bei Weiß. Und wenn man Schwarz benutzt, dann werden die Schwingungen sofort gesenkt. Und so benutze ich Farben und da ist auch ne große Freude mit bei. Ich spiel auch mit den Farben und ich stelle auch die Farben oftmals ab auf die Grafiken, die dabei verwendet werden.

Die Erzählerin interpretiert die Farben Schwarz und Weiß im Sinne einer Polarität zwischen Licht und Dunkel in Verbindung mit einem Energiemodell, in dem »Schwingungen« eine wichtige Rolle einnehmen. Bei ihr besitzen daher sowohl Farbgebung als auch Schriftgestaltung einen zugewiesenen Bedeutungsrahmen, der sich vor dem Interpretationshintergrund ihrer individuellen Religiositätskonstruktionen eröffnet. Auch bei Nicki findet sich eine Farb- und Schriftgestaltung, denen von Seiten der Akteurin bestimmte Bedeutungen zugewiesen werden, auch wenn dies zunächst verneint wird. N.M.: Haben die Farben was zu bedeuten? Nicki: Eigentlich nicht, ich hab immer mir früher schon gewünscht, falls ich mal ne Homepage mach, dann soll sie dunkelblau gelb sein. Also dunkelblau steht für mich für das All, für den Kosmos, das Dunkelblaue und das Gelbe steht für mich für die Sterne, für die Sonne, für das Licht, so rum hab ich mir das gedacht.

In Bezug auf die Schriftgebung auf ihrer Homepage erklärt sie weiter: Nicki: Und vielleicht ist es ihnen bei meiner Homepage aufgefallen, wenn es oft Worte gibt, wie z.B. Vertrauen und so, dass ich das immer dieses R oft groß schreib. Ich weiß nicht, vielleicht haben Sie sich gedacht, das ist immer ein Tippfehler oder sonst irgendwas. N.M.: Danach wollte ich Sie noch fragen. Nicki: Da mach ich immer »ER«, dieses »ER« also »ER« ist das für mich, verstehen sie mich, Jesus. N.M.: Ja Nicki: »ER« N.M.: Ja

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Nicki: Also ich schreib jetzt »vERtrauen« und das »ER« groß. Also da ist »ER« drinnen, »ER« dieser Jesus von Nazareth, der für uns am Kreuz gestorben ist, weil er uns so liebt und weil er uns sagen wollte, die Liebe ist alles. Und drum ist das für mich so und Worte, die einem oft ganz wichtig sind, wenn auch zum Beispiel jetzt sagen wir, ja wissen’s, ja wie’s in meiner Homepage oft steht, mir fällt’s nicht ein, wenn ich oft was sage, mitten im Wort was groß schreibe, dann will ich dem auch eine besondere Bedeutung zugeben.

Ebenso wie Chris setzt Nicki auf ihrer Homepage das Bedürfnis um, Wörter, die für sie vor dem Hintergrund ihrer Religiositätskonstruktion eine herausragende Bedeutung haben, visuell besonders hervorzuheben. Auch in weiteren Zitaten zeigt sich, dass die Farbgebung auf den Homepages stark von Interpretationsmustern abhängt, welche die verschiedenen Farben in diskursiven Bedeutungszuweisungen im Rahmen gegenwärtiger Religiosität erhalten. In den folgenden Beispielen werden zwei der dominantesten Rahmen genannt, in denen es zu vielfältigen Parallelisierungsprozessen kommt: Engel und Chakren. Beiden werden vor einem Bedeutungshorizont gegenwärtiger Religiosität nicht nur bestimmte Farben, sondern auch Eigenschaften, Körperregionen, Edelmetalle, Pflanzen etc. zugeordnet. Eine Zuordnung von Farben, die den Interpretationsrahmen für die Farbgebung auf den Homepages bildet, findet sich bei zwei Akteuren. Zunächst ein Zitat von Toni: N.M.: Haben die Farben, die Sie haben, eine bestimmte Bedeutung? Toni: Ja, das sind natürlich, man sagt ja diese Engel, die haben, diese sieben Erzengel, die haben sieben Farben zugeordnet, ne. Man sagt ja Archetypen und zum Beispiel diese Türkisfarben sind ja die alten Farben von Atlantis, Türkis auch dieses Rosa und Beige.

Maxi gibt bzgl. der Farbgestaltung auf Nachfrage folgende Antwort: N.M.: Die Farben, die sie rausgesucht haben, die meiste Schrift ist blau und violett, haben die was zu bedeuten? Maxi: Violett ist einfach, ja das sind so meine Lieblingsfarben, also blau war’s schon immer so, und Violett ist eigentlich die, ja die Farbe, die ist dann später hinzugekommen eigentlich, weil sie für mich die, mit einer Farbe in der alle anderen Farben enthalten sind. Also violett ist ja die Farbe auch des Kronenchakras, weiß und violett. Und wenn man die drei Grundfarben nimmt oder wenn man jetzt sag’n wir mal, wie war denn das, wenn man jetzt Lichtstrahlen nimmt, in den drei Grundfarben und bündelt die über-aufeinander, dann entsteht die Farbe violett so. Ist als so ja eigentlich die höchste spirituelle Farbe, kann man doch so sagen.

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Die Farbgestaltung, insbesondere aber auch die Schriftwahl und andere gestalterische Aspekte lassen sich auf selbst erstellten Webseiten – unter der Voraussetzung das notwendige fachliche Wissen ist vorhanden – höchst individuell und im Rahmen der individualreligiösen Interpretationshorizonte auswählen und anpassen. Deutlichen Einschränkungen sind im Bereich Design vor allem Akteure unterworfen, die auf die bereits erwähnten »Kostenlosanbieter« von Homepages wie Beepworld oder Geocities zurückgreifen. Die hier vorhandenen Designvorlagen können zwar durch das Einfügen von Bildern und Texten individuell gestaltet werden, bleiben jedoch insgesamt in ihrem Gestaltungsraum begrenzt. Das folgende Zitat von Alex thematisiert den Umgang mit den sogenannten Baukastensystemen, aus denen die Designvorlagen gewählt werden können: N.M.: Hast du die [Homepage, N.M.] bei so einem Anbieter, der auch so ein Baukastensystem anbietet oder hast du das selber gemacht alles? Alex: Nee, also das ist, die Seiten sind im Grunde schon da. Man muss nur was drauf schreiben, und man kann sich ein Design aussuchen, fertig. Als das ist, war ganz leicht, ganz einfach, also so die Seiten mit Fotos und so allem Schnick Schnack, hab ich schon selbst gemacht. Aber die Homepage im Grunde war schon da, er hat sie mir nur frei geschaltet.

Zwar ist man durch die vorgegebenen Vorlagen in dem gestalterischen Freiraum eingeschränkt, doch Alex deutet dies positiv, indem sie betont, wie »leicht« und »einfach« insgesamt das Erstellen einer Webpräsenz ist. Dass auch mit den bereits vorhandenen Vorlagen Entsprechungen für persönliche Wünsche gefunden bzw. ausprobiert werden können, zeigt das nächste Zitat von Uli: N.M.: Hast du denn jetzt irgendwas verändert an der Homepage an deinem Design? Ich meine nämlich in Erinnerung zu haben, dass die damals noch anders aussah. Uli: Ja, die, das sind immer diese vorgefertigten Designs von Beepworld und ich hatte das schon mal irgendwie. Aber dann hat das nicht ganz gepasst und dann hab ich wieder das andere mit so ganz rosa genommen und das. Ich versuch immer mal was zu verändern, aber das zeigt auch, dass mir irgendwie nicht gefällt und nicht das ist, irgendwie, was so ich im Endeffekt haben will.

Dass es trotz der beschränkten Auswahl der Designvorlagen zumindest in den Narrationen der religiösen Akteure zu »Einbettungen« dieser Vorlagen in religiöse Deutungshorizonte kommt, zeigt das folgende Beispiel von Sam:

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N.M.: Weil du grad das Layout angesprochen hast, die [Homepage, N.M.] ist ja so in Beige-/Brauntönen mit einem Mond und so eine, ich weiß nicht, ob es eine KirchenSilhouette ist, so im Hintergrund. Das ist auch von der Vorlage gewesen? Sam: Ja, das war in der Vorlage drin. Das hab ich ein Tag vorher, hab ich davon, also ich hab gesagt, gut, wenn ich die Website, ich hab keine Ahnung, wie sie aussehen soll, diese Website, die ich machen soll. Und dann hab ich geträumt von einer Seite, ich wusst nicht, wie sie aussieht, mit einer, ich hatte die ganze Zeit eine Pergamentrolle an der Seite. Ich bin aufgewacht mit dem Gedanken, er hat gesagt Pergamentrolle. Und ich wusste, ja das hört sich gut an, das ist es! Und dann sich aber vor dem Internet zu stellen und zu setzen und zu sagen, wo finde ich jetzt diese Seite, wie bau ich sie mir denn zusammen? Und dann, mit ja, intuitiv oder mit großer Hilfe. Ich hab gesagt, warte, inspiriert mich, bin ich dann auf Strato gelandet. Und als ich diese Seite gesehen hab, hat mich der Schlag getroffen, hab ich gesagt: »Das ist sie! Ja!« Und dann hatte ich sie, dann war mir klar und dann ist alles total schnell gelaufen, das ist dann alles total schnell passiert, ging alles gut, ging alles schnell, ging alles super.

Das Design der Seite wird als eine im Traum erfahrene Vorgabe dargestellt, in dem »er« sie eine »Pergamentrolle« sehen lässt. Leider bleibt an dieser Stelle unklar, wen sie als diese außenstehende Handlungsmacht bezeichnet. Im Teilkapitel über die Motivation eine Homepage zu erstellen, verweist Sam auf einen »inneren Impuls«, der ihr die Erstellung einer Webpräsenz nahe legte. Ein Bezug kann an dieser Stelle zwar vermutet, aber nicht eindeutig festgehalten werden. Auch das Auffinden von »Strato« als einem Anbieter, der bei seinen Vorlagen genau das Pergamentrollendesign bietet, von dem Sam geträumt hat, stellt die Erzählerin in einen Rahmen, der von dritten Handlungsmächten geleitet ist. Sie fordert sie auf »inspiriert mich!«. Unklar bleibt jedoch auch hier, wen genau sie anspricht. Auch hier werden zum Schluss der Passage die Vorteile eines solchen Baukastensystems hervorgehoben, in dem »alles gut, alles schnell und alles super« funktioniert. Im Bereich Design bleibt insgesamt festzuhalten, dass auch die Gestaltung der Homepages von vielen Akteuren vor dem Hintergrund ihrer individuellen Religiositätskonstruktion vorgenommen wird, in denen vor allem dominante Interpretationsmuster aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität eine wichtige Rolle spielen. Engel, Chakren, Polaritäten und Schwingungsmodelle bilden den Rahmen, in dem die Bedeutungszuweisungen durch die Akteure erfolgen. Inwieweit die intendierten Bedeutungszuweisungen für die Rezipienten nachvollziehbar sind, wird von den Homepagebesitzern nicht thematisiert und scheint nicht weiter im Interesse der Akteure zu liegen. Durch die Rückfragen an die

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Homepagegestalter wird deutlich, wie dominante diskursive Aushandlungen aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität die materielle bzw. virtuelle Praxis der Akteure prägten. d) Name der Homepage Persönliche Homepages aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität tragen oftmals klangvolle Namen, die es dem Besucher ermöglichen, die Seite bereits entsprechend zu verorten. Es werden im Folgenden einige Beispiele zur Illustration angeführt, wobei zu beachten ist, dass die genannten Namen nicht die Namen der Homepages der hier interviewten Personen sind: 42 • • • • • •

Esoteria Mystische Oase Atlantismagie Seelenflügel Engelherz Energien der neuen Zeit

Im Rahmen einer Untersuchung von persönlichen Homepages ist zu fragen, was die Homepagebesitzer mit den Namen verbinden, warum diese ausgewählt wurden und welche Veränderungen eventuell vorgenommen wurden. In direkten Bezügen zu den Homepages der Interviewten kann dieses Thema aus Gründen der Anonymisierung nicht dargestellt werden. Dennoch finden sich im vorliegenden Interviewmaterial einige Zitate, die genannt werden können. Die bei Michi und Uli angeführten Homepagenamen wurden etwas verändert, um eine Auffindbarkeit über Suchmaschinen zu umgehen. Zunächst ist zu bemerken, dass zwei grundlegende Tendenzen im vorliegenden Interviewmaterial erkennbar sind. Einerseits geben die Akteure an, die Namen ihrer Homepage sorgfältig überlegt zu haben, teilweise in einem längeren Reflexionsprozess. Die ausgewählten Namen stehen dann in engem Zusammen-

42 Homepage »Esoteria«. Zugriff unter: http://www.solaria-2362.net/esoteria/index.html. Homepage »Atlantismagie«. Zugriff unter: http://www.atlantis-magie.de/index.html. Homepage »Seelenflügel«. Zugriff unter: http://www.seelenfluegel.de/. Homepage »Engelherz«: Zugriff unter. http://www.direkthomepage.de/user/engelherz Homepage »Energien der neuen Zeit«. Zugriff unter: http://www.energien-der-neuen-zeit.at/ (alle verfügbar am 16.02.12). Homepage »Mystische Oase«. Zugriff unter: http://www. mystische-oase.de.vu/ (05.11.09). Version ist nicht mehr online, archivierte Version auf Anfrage.

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hang mit individuellen Schwerpunktsetzungen im religiösen Bereich. So erwähnt Michi in Bezug auf den Namen ihrer Homepage Folgendes: Michi: »Pfad im Herzen«43, ja, weil das ein Weg ist, den ich gegangen bin, nicht weil ich jetzt nur mich’s nur interessiert hat oder weil ich eine Ausbildung machen wollte oder so.

Die bereits aus vorangegangenen Kapiteln bekannte Weg-Konstruktion findet sich hier im Titel der Homepage wieder. Michi betont damit den Entwicklungsund Fortschrittsgedanken in ihrer religiösen Identitätsarbeit. Auch bei Maxi sind Korrespondenzen zwischen Homepagenamen und der religiösen Identitätsarbeit erkennbar: Maxi: Also die Webseite damals hieß noch nicht [NAME DER HP], sondern »Aufstieg ins Licht«. Und irgendwann, so um 2000 / 2001 wurde mir dann bewusst, dass das für mich nicht mehr diese Bedeutung des Aufstieg, das man irgendwo nach oben hin steigt, sondern dann das ja ein Weg nach Innen ist, im Wesentlichen und darum hab ich mir dann auch einen anderen Namen gesucht.

Der Name der Homepage wird entsprechend den eigenen religiösen Erkenntnisprozessen angepasst mit dem Ziel, das aktuelle religiöse Wissen auch nach Außen hin widerzuspiegeln. Damit kann Maxi sich zugleich neu im medialen Feld positionieren. Die zweite Tendenz, die im Interviewmaterial zu finden ist, deutet darauf hin, dass die Namen keinen besonderen Bezug zur eigenen Religiositätskonstruktion aufweisen und eher aus pragmatischen Gründen gewählt wurden. Vor allem bei Gratishomepageanbietern wird der Gestalter im Rahmen der Erstellung von dem Programm dazu aufgefordert, einen Homepagenamen zu wählen, der dann – wie das folgende Zitat zeigt – relativ spontan gewählt wird. Uli: Den Domain Namen gibt’s halt seit der Zeit auch schon, diese »Lichtseite«44. N.M.: Warum hast du den genommen? Uli: Mir fiel nix Besseres ein, mir fiel grad nur das ein. Ich musste, da stand, ich musste irgendwie einen Namen eingeben, den ich haben will und keine Ahnung…mir fiel nix ein und dann hab ich den genommen. Der war aber irgendwie ganz passend, auch für die spirituellen esoterischen Sachen. Esoterische Sachen gab’s noch nicht so und dann hab ich den genommen und dann bin ich irgendwann zu Beepworld gegangen.

43 Name aus Gründen der Anonymisierung verändert. 44 Name aus Gründen der Anonymisierung verändert.

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Die angesprochenen Beispiele verdeutlichen die Spannweite der Bedeutungszuweisungen, die die Homepagenamen durch die Akteure erhalten. Die jeweiligen Namen zeigen sich insgesamt in einer Bandbreite von spontan überlegt bis wohl durchdacht. Dieser Befund sollte zum Anlass genommen werden, von einer Überinterpretation dieser Namen abzusehen, insofern keine Befragung der Seitenersteller vorgenommen wurde. Zwar sind auch die spontan gewählten Homepagetitel terminologisch gängigem Diskursvokabular entlehnt, eine reflektierte Verwendung liegt jedoch meist nicht vor. e) Feedback Einmal publiziert, stehen die Webpräsenzen einem weiten Publikum offen. Welche Rückmeldungen erhalten die Akteure daher auf ihre Selbstdarstellungen im Internet? Zur Erhebung dieser Thematik wurde in den Interviews sehr allgemein nach dem Feedback gefragt, welches die Akteure auf ihre Webpräsenzen erhalten. Neben Gästebüchern und Foren sind hier auch direkt an die Homepagebesitzerin gerichtete E-Mails von Bedeutung. Insgesamt zeigt sich, dass die Reaktionen auf die Selbstdarstellungen gemischt sind. Während einige Akteure von durchweg positiven Reaktionen berichten, sehen sich andere mit kritischen Stimmen oder sogar viralen Attacken konfrontiert.45 In den Interviewausschnitten wird vor allem darauf zu achten sein, wie die Akteure mit dem Feedback umgehen bzw. ob sich Reflexionsprozesse erkennen lassen, die sich im Rahmen der Identitätsarbeit auswirken können. Auf Nachfrage zu diesem Thema antwortet Toni folgendes: N.M.: Noch mal zu ihrer Homepage zurück, haben Sie da irgendwie mal außergewöhnlich positives oder negatives Feedback bekommen? Toni: Also eigentlich nur positives. Ich hab ja ne Gäste, ne Gäste, ich muss sagen, ich bin da selber sehr erstaunt. Es gibt in den Jahren, wo ich’s jetzt habe, gibt’s vielleicht zwei oder drei, wo mal was spinnertes steht. N.M.: Was heißt spinnertes? Toni: Ja, bescheuert oder blöd oder von dunklen Kräften manipuliert und so. Aber ich kann das wirklich sagen, also wenn’s fünf sind in all den Jahren. Das meiste ist unheimlich positiv.

Die Erzählerin gibt in dieser Passage an, dass die Reaktionen auf ihre Selbstdarstellung und die von ihr auf der Homepage präsentierten Themen bei den Rezi-

45 Alex erzählte, dass ihr jemand einen Virus in ihr Gästebuch »eingepflanzt« hätte, worauf hin sie es schließen musste. Zitat siehe unten.

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pienten durchaus positiv ankommen. Zwar gibt es negativ konnotierte Kommentare, diese fallen aber für die Akteurin quantitativ nicht ins Gewicht. Inwieweit für Toni die Kommentare in ihrem Gästebuch von Bedeutung für die Konstruktion ihrer individuellen Religiosität sind, lässt sich aus den Aussagen nicht erkennen. Auch Sam erhält nach eigenen Aussagen überwiegend positives Feedback in ihrem Gästebuch: Sam: Im Gästebuch war das immer also sehr, hab ich sehr schöne Einträge gekriegt, ganz ganz tolle, ganz ganz schöne, sehr mutmachende und nur nur positive Einträge bekommen. Sogar letztens hab ich noch mal reingeguckt, da war ein Eintrag aus Südafrika »Hallo aus Südafrika, schöne Seite!«

Die Erzählerin betont besonders stark, dass sie »schöne, tolle« und »mutmachende« Einträge erhalten habe. Insbesondere das letztgenannte Adjektiv deutet darauf hin, dass das Feedback von der Akteurin durchaus reflektiert wird und von ihr als Bestätigung ihrer bisherigen Präsentation angesehen wird. Gleichzeitig ist hier eine auf die Zukunft ausgerichtete Perspektive zu erkennen. Das positive Feedback scheint Sam zu bestätigen, weiter am Diskurs gegenwärtiger Religiosität zu partizipieren. Auffällig ist zudem, dass sie neben dem generell positiven Charakter des Feedbacks auch die Reichweite ihrer Homepage betont. Mit einer Rezipientin aus Südafrika positioniert sie sich selbst als Person, deren Selbstdarstellung und vermittelte Themen sogar internationale Reichweite haben. Neben dem Gästebuch ist es vor allem auch die Kommunikation über E-Mails, über welche die Akteure Rückmeldung auf ihre Webpräsenzen erhalten. So erzählt Nicki: Nicki: Ich kriege auf diese Dings oft sehr viel E-Mails, da wo oft die Leute schreiben »Liebe Frau [Nachname von Nicki], ich habe vor längerer Zeit in deinem Büchlein eine Kerze angezündet und der Mensch ist wieder gesund oder unsere Eheprobleme haben sich gelöst oder«. Ich kriege ja unendlich viele E-Mails, also ich hab ja, ich brauch ja eigentlich eine Sekretärin, überhaupt jetzt, wo ich nicht schreiben kann. N.M.: Wie viele sind es denn? Nicki: Ja, ich kriege ganz ganz viele E-Mails, ich kriege so sicher am Tag schon, also wo ich sag, es geht um so Homepage Sachen und so, da kann ich schon oft sagen, dass da oft so zwanzig E-Mails sind, da tut sich schon sehr viel.

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Auch Chris erzählt von dem Feedback, das sie per E-Mail erhält. Ebenso wie Nicki betont sie die Anzahl der eingegangenen Mails. Chris: Ja, dass die Menschen merken, da ist Freude, da ist Wahrheit, dass eben die Anleitungen funktionieren und dass sie selber auch, es sind ganz viele, die auf diese Weise schon in die Liebe gekommen sind. Ich habe auch ganz viel Feedback bekommen und dass man sich eben auch befreien konnte, so wie ich das ja auch kenne von Krankheiten und so. Nur diese E-Mail Flut ist für mich nicht mehr zu bewältigen gewesen N.M.: Wie viele sind das ungefähr? Chris: Ich hatte nachher also hunderte. N.M.: Pro Tag oder pro Woche? Chris: Teilweise pro Tag und ich hab dann nachher so, sag ma mal, 500 vor mir her geschoben, es ging nicht. Ich hab zwar die Nacht über gearbeitet aber es ging nicht mehr mit dem, was ich auch sonst machte und den Wochenenden, die dann weg sind durch die Seminare. Und so hab ich dann angefangen also nach Wegen gesucht, wie ich das anders machen kann und die Schwingungen bleiben.

Beide Akteure betonten neben den quantitativen Aspekten des Feedbacks vor allem auch die Bestätigung der Wirksamkeit. Chris weist darauf hin, dass ihre »Anleitungen« – sie bietet auf ihrer Seite eine Reihe von Ritualpräskripten an – von den Akteuren angenommen, durchgeführt und als wirksam bestätigt werden. Beide werden sowohl durch die Anzahl der erhaltenen E-Mails als auch durch die vermittelten Inhalte darin bestärkt, dass ihre Selbstdarstellungen im Internet von anderen akzeptiert werden. Wie unterschiedlich die Einstufung der Anzahl erhaltener E-Mails ist, zeigt sich deutlich am nächsten Beispiel. Auch Maxi bestätigt in dieser Erzählpassage die Wirksamkeit ihrer online geleisteten Hilfestellungen. Maxi: In Bezug auf die Webseite sagen wir mal im Wesentlichen eigentlich positiv, dass ich viele E-Mails bekomme. N.M.: Was heißt viele? Maxi: Jetzt als Beispiel zwei bis drei pro Woche, wo Menschen mir schreiben, dass bestimmte Texte die auch ihnen sehr geholfen haben. Das sieht man auch im Gästebuch zum Beispiel, dass da ja sehr viele positive Einträge sind. Und jetzt mal in letzter Zeit kamen jetzt auch mal zwei drei E-Mails, wo ich, wo mir jemand vor nem Jahr oder so was mal geschrieben hatte und irgendein Problem geschildert hat und dann hab ich ihm ne Antwort gegeben und jetzt, nach längerer Zeit, schreibt die Person mir »Ja und du hattest mir damals das und das da geantwortet und geholfen und da dank ich dir noch mal und so.« Oh-

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ne, dass ich jetzt irgendwann noch mal weiß, wer das damals gewesen ist oder so. Und das sind also, so positives Feedback.

Ob sich Maxi durch die positiven Rückmeldungen in ihrem Internetauftritt bestätigt sieht, thematisiert sie nicht explizit. Bei den kritischen Rückmeldungen, die sie ebenfalls erhält, lassen sich hingegen Reflexionsprozesse nachvollziehen. Maxi: Was sich jetzt in den letzten ein zwei Jahren ist das so, so bisschen zeigt, dass sind Menschen, die sehr kirchlich orientiert sind, dass, die auch immer mit einer gewissen Dogmatik denken, dass die auch irgendwo auf meine Seite finden. Und da natürlich dann einen entsprechenden Kommentar da reinsetzen. Also von denen kommt dann negatives Feedback oder auch im Gästebuch gibt’s dann auch wieder verstärkte Beispiele oder dass einer sich mal so als Luzifer dann darstellt oder schreibt, dass wir da Spinner sind, weil wir uns mit diesen Themen beschäftigen. Oder grad war, jetzt vorgestern glaub ich war das, da auch noch mal wieder eine E-Mail von jemandem, der halt sehr kirchlich orientiert ist und der halt dann mit der Art und Weise, wie ich jetzt mit Christus umgehe, überhaupt nicht klar kommt. Nur weil Christus für mich ein Bewusstseinsaspekt ist. … Und ja und da gibt es also, ist das in letzter Zeit wird’s tendenziell immer mehr, dass solche Leute auf meine Webseite kommen, vielleicht durch die Suchmaschinen. … Aber das ist etwas, was mich dann jetzt nicht auch irgendwo belastet so. Also ich reagiere da meistens dann gar nicht. Es gab jetzt eine Person, da hat sich dann auch ein kleiner Austausch mal ergeben. Da hab ich dann etwas von mir geschrieben, da hat sie dann noch mal geantwortet so, also auch auf eine respektvolle Art und Weise dann. Und ich lasse den anderen Menschen dann auch ihren Glauben und ihre Vorstellungen einfach, kann sie ja sowieso nicht ändern.

Kritische Stimmen, die Maxi als Feedback auf ihre Webpräsenz insbesondere von kirchen-christlichen Akteuren bekommt, sind für sie nach eigenen Angaben kein Grund, die eigenen religiösen Ansichten zu überdenken. Zwar erfolgt teilweise ein weiterführender Austausch per Mail – wenn die Tonart »respektvoll« ist – doch für Maxi gilt auch hier die Leitlinie der Toleranz, allerdings weniger aus altruistischen Gründen, sondern aus dem bereits vorhandenen Wissen, dass sie die Kritiker »sowieso nicht ändern« kann. Anders geht Chris mit dem negativen Feedback um, das auch sie per Mail bekommt: Chris: Wenn ich viele E-Mails bekommen habe, es werden ja immer weniger, wo dann Leute ganz empört waren, wie ich so was, ich so einen Unsinn schreiben kann. N.M.: Ja? Chris: Oh ja ja.

344 | B IOGRAPHIE , R ITUAL UND MEDIEN N.M.: Negative E-Mails hast du auch bekommen? Chris: Jaja, selten, aber es waren schon ne ganze Menge so insgesamt und, ja, ich soll mal die Bibel lesen und das steht das alles drin und so. Und ich werde schon sehen, was ich von habe, welche Strafe ich da bekomme und was. Und dann habe ich eben erkannt, dass das auch Menschen waren, mit denen ich Karma haben musste. Und dann hab ich irgendwann mal angefangen von diesen Mail-Schreiben oder auch Anrufen, als das zu lieben, was zwischen uns steht oder stand oder was ich denen mal zufügt habe. Und so wurden es immer weniger und weniger und heute kommt es so gut wie nicht mehr vor. Es war für mich ein Zeichen, da ist bei mir noch was unerlöst.

Die Erzählerin interpretiert das Feedback vor dem Hintergrund ihrer individuellen Glaubensvorstellung, die maßgeblich von der Idee des Karmas geprägt ist. Die Auseinandersetzung mit Kritikern deutet sie als Zeichen für unerlöstes Karma und sieht sich in der Deutungsweise insofern bestätigt, als dass sie, seitdem sie sich bewusst damit befasst, weniger dieser kritischen E-Mails bekommt. Die Aushandlung mit anderen wird in diesem Fall narrativ reflektiert. Durch die Interpretation im Rahmen der eigenen religiösen Vorstellungen geben die kritischen Anmerkungen jedoch keinen Anlass, die eigene religiöse Identitätskonstruktion in Frage zu stellen. Mit Angriffen ganz anderer Art sieht sich Alex konfrontiert. Anhand dieses Beispieles wird abschließend deutlich, wie konfliktreiche Aushandlungen im Diskurs gegenwärtiger Religiosität online von einer Akteurin erlebt werden. N.M.: Hast du irgendwie mit deiner Seite mal besonders positives oder negatives Feedback gekriegt? Du hast glaub ich auch ein Gästebuch drauf oder? Alex: Ja, das muss ich jetzt leider erstmal stilllegen, weil da mir da jemand nettes ein Virus reingesetzt hat. Also, was ich ehrlich sagen muss, unheimlich viele Angriffe kamen aus der Esoterik Szene. Weil da ist zum Beispiel das Problem, die sind so unspirituell teilweise die Leute. Diese Einstellung, ich lasse dich, du lässt mich gilt da nicht. Es wird erstmal jeder zerpflückt, der an die Öffentlichkeit geht und sagt, also das und das hab ich erlebt. Man ist erstmal Betrüger oder will nur den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen und da kommen mitunter schon sehr negative Geschichten.

Neben Problemen technischer Natur hebt Alex vor allem die Auseinandersetzung mit anderen Akteuren hervor. Sie berichtet von Personen, in deren Aushandlungen das dominante diskursive Muster der Toleranz nicht beachtet wird. Folglich kann Alex diese Akteure als »unspirituell« charakterisieren. Laut ihrer Aussage kommt es zu zwei besonders negativ-konnotierten Positionierungen, die gerade »der Esoterik« immer wieder zugeschrieben werden. Betrug und Geld-

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macherei sind Positionen, die Alex in den Feedbackprozessen als Zuschreibungen an ihre Person erlebt, die sie jedoch strikt zurückweist. Sie bemerkt zudem, dass sie diese Positionierungsakte erst durch den Prozess der Veröffentlichung erfährt, scheint jedoch daraus für sich nicht die Möglichkeit zu erwägen, ihre Online-Präsenz aufzugeben. Insgesamt wird deutlich, dass es durch die erhaltenen Rückmeldungen auf die Selbstdarstellungen der Akteure zwar zu Positionierungsprozessen kommt, diese jedoch Positionen verstärken, die sich die Akteure bereits zuvor zugeschrieben haben. In den Erzählungen ist nicht zu erkennen, dass das Feedback anderer Akteure als Ausgangspunkt für eine Überarbeitung der aktuellen Identitätskonstruktion genommen wird. f) Zusammenfassung Die mediale Präsenz im Rahmen einer persönlichen Homepage stellt für die Akteure eine relativ leicht zugängliche und durchaus flexibel gestaltbare Möglichkeit dar, die eigene Person, aber auch die eigenen religiösen Vorstellungen vor einem breiten Publikum zu präsentieren. Die auf den Homepages veröffentlichten Inhalte umfassen die gesamte Vielfalt religiöser Elemente, die aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität (und teilweise darüber hinaus) bekannt sind. Zur Selbstvorstellung greift die Mehrzahl der Akteure auf ein Kurzprofil mit entsprechendem Foto zurück, welches Narrationsmuster aufweist, die bereits aus den Interviews bekannt sind. Eine besondere Kindheit ist ebenso wie religiöse Schlüsselerlebnisse oder eine Darstellung der erhaltenen Ausbildungen im Bereich von z. B. Energiearbeit ein wesentliches Element in der biographischorientierten Selbstpräsentation, wenngleich diese an die medialen Strukturen angepasst ist und daher meist in sehr komprimierter Version dargestellt wird. Für die Analyse von religiösen Identitätskonstruktionsprozessen im Internet kann auf die Aussagen der Akteure selbst zurückgegriffen werden, in denen sie eine Thematisierung und Bedeutungszuweisung der eigenen Homepages vornehmen. Im Rahmen einer solchen, bislang in nur wenigen Studien umgesetzten Perspektive stehen damit weniger die konkreten Inhalte einer Homepage im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Frage, welchen Stellenwert die Akteure ihrer medialen Präsenz zuweisen und in welche Interpretationshorizonte diese gestellt wird. Überblickt man dazu die in den Teilkapiteln a-e vorgestellten Ergebnisse, so lässt sich deutlich erkennen, wie stark nicht nur die Motive, sondern auch die Veränderungs-, Design- und Benennungsprozesse in die Argumentations- und Interpretationsstrukturen der diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität eingebunden sind. Eine persönliche Homepage bietet daher für die Akteure nicht nur eine Plattform für das oftmals geäußerte Bedürfnis, individuell-

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geprägtes religiöses Wissen an andere weiterzugeben, sondern die Webpräsenz spiegelt gleichzeitig für die Akteure auch den sich ständig verändernden Weg einer persönlichen religiösen Entwicklung wider. Die Repräsentation auf der Homepage weist damit eine enge Verknüpfung zu Identitätskonstruktionsprozessen auf, die im Offline-Bereich stattfinden. Die Selbstdarstellungen im Internet werden von den Akteuren als Möglichkeit betrachtet, ihren Repräsentations- und Wirkungskreis zu erweitern, zur Ausformulierung einer distinkten Internetidentität kommt es jedoch aus Perspektive der Akteure nicht. Es ist festzuhalten, dass die Inhalte der persönlichen Homepages zwar stetig an die aktuellen religiösen Vorstellungen der betreffenden Person angepasst werden, durch die verbreitete additive Gestaltungsform der Webpräsenzen geht die temporäre Gebundenheit der einzelnen religiösen Elemente zumindest für den Betrachter verloren. Die in den biographischen Erzählungen stark hervortretenden Selektions-, Adaptionsund Transformationsprozesse, durch welche verschiedene religiöse Elemente für die eigene Identitätskonstruktion fruchtbar gemacht werden, spiegeln sich bei additiv gestalteten Homepages nicht wider. Für die Akteure selbst scheint dies jedoch kein Problem zu sein, denn eine Notwendigkeit zur ausführlichen Begründung oder Legitimation der individuellen Zusammenstellung religiöser und ritueller Elemente ist nicht zu erkennen. Betrachtet man die Ergebnisse, fällt zudem auf, dass die auf den Homepages angebotenen Feedbackmöglichkeiten (Gästebuch, Forum, E-Mail-Kontakt), die dem Besucher eine Rückmeldung zu dem präsentierten Angebot ermöglichen sollen, von den Akteuren zwar aufmerksam beobachtet werden. Die eingegangenen Rückmeldungen geben jedoch kaum Anlass dazu, die eigenen religiösen Vorstellungen oder auch die mediale Selbstdarstellung zu verändern. Positive Rückmeldungen werden gerne angenommen, wie sich in deren Betonung in den Narrationen zeigt. Negative Rückmeldungen hingegen werden registriert, jedoch als nicht relevante Meinungen eingestuft. Sie haben daher keinen Einfluss auf individuelle Reflexionsprozesse – so jedenfalls die Wahrnehmung der Akteure. In den Erzählungen über Rückmeldungen von Homepagebesuchern ist außerdem zu bemerken, dass die Wirksamkeit von Ritualpräskripten oder von online vermittelten Hilfestellungen (E-Mail Beratung) gezielt von den Akteuren hervorgehoben wird. Sowohl die Bestätigung der Wirksamkeiten als auch positive Bemerkungen hinsichtlich der Homepageinhalte werden als Bestätigung der eigenen Arbeit und der eigenen religiösen Vorstellungen gesehen. Wie sich in der Untersuchung weiterhin zeigt, sind die religiösen Akteure nicht nur auf ihren persönlichen Homepages im Internet aktiv. Daher soll im folgenden Kapitel nun der Fokus von den Webpräsenzen hin zu anderen Internetaktivitäten erweitet werden.

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6.3.3 Soziale Interaktions- und Aushandlungsprozesse online Der mediale Raum des Internets wird von einer Vielzahl von Akteuren als Plattform zur sozialen Interaktion und Kommunikation genutzt.46 Dazu bietet das Medium inzwischen ein weites Spektrum unterschiedlicher Kommunikationsmöglichkeiten, die Akteure dazu verwenden können, sowohl Informationen zu vermitteln und auszutauschen als auch diese zu diskutieren. Bei den hier befragten Personen fiel insbesondere ein verstärktes Engagement in verschiedenen Foren auf, jüngere sogenannte Web2.0 Applikationen wie Weblogs oder Dienste wie Twitter werden bislang kaum genutzt. Anhand einzelner Interviewpassagen soll nun thematisiert werden, wie die Akteure die Aushandlungen innerhalb der medialen Umgebung erleben, welche Konfliktlinien aufgezeigt werden und welche Konsequenzen sie aus diesen Aushandlungsprozessen für sich ziehen. Andi, die ihren derzeitigen Lebenspartner über das Internet kennen gelernt hat, berichtet insbesondere die Aktivität in Foren betreffend von unterschiedlichen Erlebnissen. In folgendem Zitat thematisiert sie Probleme mit anderen Personen aus der »Esoterik-Szene« und schildert damit Eindrücke, wie sie in ähnlicher Weise bereits Alex im Rahmen des Feedbacks auf ihre Homepage angesprochen hatte. Andi: Also es ändert sich auch, also am Anfang, am, die Anfangszeit des Forums war eine sehr angenehme Zeit, das ist dann aber so gekommen, es war, dann wurden dann immer mehr Leute und immer mehr Leute und dann hat sich das sehr verändert. Es ist, ja, wie soll ich sagen, genau, gerade in der Szene gibt es sehr viel Hochmut, Besserwisserei. »Ich bin besser als du« oder Streitereien, gerade die Leute, also gerade in der Esoterikszene, ist leider so, ist das sehr, sehr stark. Und das waren dann sehr viele Sachen, wo du, wenn du irgendwas geschrieben hast, sofort angegriffen wurdest, dich ständig verteidigen musstest für deine Meinung oder; und irgendwann hab ich gesagt, das macht mir keinen Spaß mehr, ich möchte einfach schreiben, was ich denk und einfach fühlen, ohne mich tausendmal rechtfertigen zu müssen.

Die Erzählerin charakterisiert den Rahmen des Forums als einen sehr konfliktreichen, in dem geäußerte Meinungen vor anderen Akteuren verteidigt werden müssen. Aus diesem Beispiel geht hervor, dass in den medialen Aushandlungen die sonst – zumindest in den Interviews – so stark betonte Rhetorik der Toleranz von den Akteuren weniger deutlich in der Kommunikation umgesetzt wird. Es ist auch bei Andi der Veröffentlichungsprozess, der den Ausgangspunkt für das

46 Siehe dazu einführend Thimm 2000, 7-17.

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Erleben im konfliktreichen Diskussionsfeld des Forums bildet. Als Konsequenz schränkte sie eine aktive Beteiligung an diesem Forum zunächst ein, bevor sie ihre Teilhabe ganz beendete. Jedoch berichtet sie auch über gegenteilige Erfahrungen in einem Forum. Andi: Ich hab auch viel über die Foren, also ich hab zum Beispiel über’s Esoterik Forum schon einige Freundschaften geschlossen, also wo ich mich dann auch wirklich mit den Leuten getroffen hab. Und auch jetzt wieder hab ich eine Begegnung, die ich jetzt demnächst kennen lernen werde, eine Dame. Also da ist schon sehr viel passiert über’s Internet, muss ich schon sagen, komischerweise eigentlich fast meine ganzen guten Freundschaften, sind fast alle über’s Internet, also sogar meine Liebe, das ist echt, das ist so.

Soziale Kontakte, die online entstanden sind, führen bei Andi zu Begegnungen im Offline-Bereich. Dieses Phänomen findet sich bei anderen hier Befragten. Uli erhielt über ein Reikiforum Kontakt zu zahlreichen Mitgliedern, die inzwischen jährliche Offline-Treffen arrangieren. Maxi organisiert inzwischen regelmäßige Treffen, bei denen sonst nur online vernetzte »Lichtarbeiter« zusammenkommen. Wie ersichtlich wird, sind in religiösen Bereichen soziale Netzwerke, die ursprünglich online gebildet wurden, nicht auf den virtuellen Raum beschränkt, sondern wirken dezidiert auf die sozialen Strukturen im Offline-Bereich zurück. Obwohl die meisten Akteure ihre Sozialkontakte im Internet durchaus positiv bewerten und auch von konfliktfreien Diskussionen und fruchtbaren E-MailKonversationen berichten, finden sich weitere Schilderungen, in denen Konflikte thematisiert werden. So erzählt Nicki von einer Begebenheit in einem Forum, die deutlich macht, wie intermediale Wechselwirkungen Konflikte hervorrufen können. N.M.: Sind Sie auch in Chats unterwegs? Nicki: Nein, überhaupt nicht. N.M.: Oder Foren? Nicki: Ja, wir haben einmal ein Chat, ja, ich hab einmal ein Forum, ich bin mal, bin mal bei zwei Forum gewesen, bei drei N.M.: Welche waren das? [Nicki erinnert sich nach einigem Überlegen an die Namen: Jesus-im-Leben.de, Archeuserpage.de und Ankerplatz, N.M.] Nicki: Und das muss ich ihnen ganz ehrlich sagen, da ist Folgendes passiert: Ich bin dann bei der Arche-Userpage.de, war ich Administrator. Sie wissen, was das ist? N.M.: Ja.

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Nicki: Ja nicht, du tust Antworten geben und so. Und dann haben wir einen Gebetschat gehabt, diesen Gebetschat haben wir immer gehabt an einem Montag, ab acht Uhr. Das kann oft gegangen sein bis Mitternacht, je nachdem, wie viele Leute gekommen sind. Da hab ich immer rein geschrieben ins Internet, die Leute können mir ja ihre Anliegen per EMail schicken und wir werden dann auf der Nacht für die es beten, wenn die vielleicht nicht dabei sein wollen oder. Haben wir einen Gebetschat gehabt, die Leute haben Anliegen geschrieben und ich hab da gebetet und so. Das war ganz eine tolle Sache. Dann hab ich meine Homepage gekriegt. N.M.: Wann war das denn? Nicki: Na das muss gewesen sein, 2004 und dann hab ich meine Homepage gekriegt und dann ist der große Stunk losgegangen. Dann haben sie nämlich gesagt, ich bin eine des Teufels, mit Reiki und mit dem, auf Grund meiner Homepage haben mir diese Christen dort gesagt, wer den christlichen Glauben lebt – ich hab dort den Namen Christusfreundin47 gehabt, so hab ich mich genannt. Ich war die Christusfreundin, so haben’s mich überall genannt. Da hat’s einen ganz großen Krach gegeben aufgrund, und da war ich ganz fertig damals, da war ich komplett fertig. Die haben damals gesagt, ich bin eine, ich hab einen Pakt mit dem Teufel und ich hab mich bei dem Gebetschat, weil die Leute haben ja so gern mit mir, wenn die gewusst haben, dass ich mal nicht kann und das ist, dann hab ich rein geschrieben »Bitte betet heute auf der Nacht mit der Carla48, weil ich nicht kann«, weil das war jeden Montag. Da haben die das gar nicht gemacht, die haben lieber mit mir beten wollen. Aufgrund der Engel und Reiki und das, was ich alles drin hab, haben sie gesagt, ich habe mich so verstellt, ich hab mich so verstellt, weil das, was ich da im Gebetschat geschrieben hab und da ich Jesusverehrerin bin, das stimmt nicht und im Grund bin ich eigentlich eine Sektenanhängerin. Und dann hab ich mich von diesen allen verabschiedet, auf Wiedersehen!

Dieser Interviewausschnitt zeigt anschaulich, dass konfliktreiche Aushandlungen von Identitätskonstruktionen entlang von Positionierungsprozessen verlaufen. Durch ihr Engagement als Administratorin, ihren Nicknamen und ihre aktive Mitarbeit in dem Gebetschat, für die sie nach eigenen Angaben von den Teilnehmern hohe Anerkennung erfahren hat, positioniert sich Nicki in einem kirchen-christlichen Forum als Person, die nach außen hin als jemand identifiziert werden kann, die mit den religiösen Grundsätzen der dominanten christlichtheologischen Positionen übereinstimmt. Intermediale Verschränkungen von persönlicher Homepage und Forenaktivität bilden dann jedoch den Auslöser für einen Konflikt. Die von dritter Seite im Forum an Nicki zugeschriebenen Positi-

47 Name verändert. 48 Name verändert.

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onierungen als konform christlich werden von anderen Forenteilnehmern widerrufen, als diese auf Nickis persönlicher Homepage von deren Einbindung in Themen wie Reiki und Engel erfahren. Es kommt zu Repositionierungsprozessen, bei denen Nicki nun als Sekten- oder sogar Teufelsanhängerin bezeichnet wird. Die Erzählerin reagiert darauf vehement ablehnend. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass die Integration religiöser Elemente aus verschiedenen religiösen Diskursen für die Erzählerin selbst kein Problem darstellt. Erst in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen entsteht daraus ein Konflikt. Es kollidieren unterschiedliche Auffassungen darüber, wie ein ausgewählter religiöser Diskurs zu bestimmen ist bzw. wie die Grenzziehungen zwischen den diskursiven Feldern verlaufen. Die Konsequenz ist, ebenso wie bei Andi, dass auch Nicki das Konfliktfeld verlässt und ihre Aktivitäten in diesem Forum einstellt. Einen Konflikt im Aufeinandertreffen von religiös und nicht-religiös konnotierten Bereichen – aus Perspektive der Akteure – schildert Michi, die im Verlauf der letzten Jahre mehrere Ausbildungen absolviert hat. Michi: Naja und die Ausbildung [zur Hypnosetherapeutin, N.M.] hab ich gemacht und dann biste, hinterher kriegste dann so eine Befähigung, dass du über’s Internet in so’n spezielles Hypnoseforum rein kannst und kannst dir dann deine Fälle besprechen. Online, in so’n Forum. Da wird halt da über alles mögliche dann auch gequatscht und dann war dann irgendwas, achso, da hat einer hat, genau, mein Mann, mein Mann, der hat auch die Ausbildung Hypnose gemacht und der hat also die Frage gestellt, ist das eigentlich möglich in Hypnose, hat da schon jemand Erfahrung mit, dass man da mit Heilgebeten arbeitet. Weil das ist ja dann, müsste doch dann noch toller im Unterbewusstsein verankert werden, hat jemand damit Erfahrung. Gut, dann ging’s dann los, da sind ja so Hypnosecoaches, die so Firmen coachen und so was, also rein richtig materielle Typen. »Ja wo sind wir denn jetzt hier?! Sind wir jetzt, ist das jetzt hier eine Plattform für Religionsverbreitung oder« ich weiß nicht, wie sie das, also wirklich schlimm. Da hab ich gedacht, jetzt muss ich da auch mal was schreiben, dann hab ich geschrieben, Glaubenssätze, Murphy arbeitet auch mit Glaubenssätzen oder mit Gebeten, der Murphy. … Die Macht der Gedanken, die Macht des Unterbewusstseins. Und da gibt’s also richtige Manager Crashkurse mit Murphy. Und warum alle so eine Angst haben, vor Gott, vor Gebeten. Und dann hab ich geschrieben, ich geb euch mal ein Beispiel für ein Heilgebet und für Glaubenssätze.

Auch in dieser Erzählung spiegeln sich Aushandlungsprozesse wider, welche die zugeschriebenen Eigenschaften eines diskursiven Feldes betreffen. Für Michi und ihren Mann scheint es zunächst unproblematisch, über Synergieeffekte von Hypnose und Heilgebeten nachzudenken. Für andere Teilnehmer des Forums ist

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eine Vermischung dieser Bereiche jedoch undenkbar. Michi erarbeitet daraufhin eine Argumentationslinie, in der sie auf den US-amerikanischen Buchautor Joseph Murphy verweist. Mit seinem Bestseller »Die Macht Ihres Unterbewusstseins« (1962) war Murphy einer der populärsten Vertreter der sogenannten Neugeist-Bewegung in den USA, der den Gebrauch von Affirmationen und Autosuggestionen für die Persönlichkeitsentwicklung vorschlug. Diese bezeichnete er auch als »wissenschaftliche Gebete«.49 Unter Rückgriff auf diesen namhaften Autoren sucht Michi nun die Rechtmäßigkeit des Vorschlags ihres Mannes zu stützen. Wie aus den Beispielen deutlich wird, stellt das Internet im Diskurs gegenwärtiger Religiosität einen medialen Raum dar, in dem es zu verschiedensten Aushandlungsprozessen der eigenen Position bzw. der Grenzen zwischen religiösen Diskursen kommt. Wie im Offline-Bereich können diese mehr oder weniger spannungsreich verlaufen, allerdings wäre hier weiterhin zu überprüfen, wie sich die durch einen hohen Grad an Anonymität geprägte Internetkommunikation auf die Intensität von Konflikten auswirkt. Wie die Beispiele weiterhin veranschaulichen, sind die befragten Interviewteilnehmer, die alle eine persönliche Homepage besitzen, keineswegs nur an diese Präsenzform gebunden. Sie beteiligen sich an Foren, sind in Chats zu finden oder tauschen sich per E-Mail mit anderen Akteuren aus. Online-Kontakte bilden sogar den Ausgangspunkt für die Etablierung von sozialen Beziehungen im Offline-Bereich. Dies ist einmal mehr der Hinweis darauf, dass die Inhalte im Internet nicht isoliert betrachtet werden können. Für die Akteure sind ihre medialen Präsenzen nur ein Teil eines komplexen Interaktions- und Kommunikationsnetzwerkes, in dem durch stetige Positionierungs- und Aushandlungsprozesse kontinuierlich Identitätsarbeit betrieben wird.

6.4 R ELIGIÖSE A KTEURE

UND MEDIALE

M ÄRKTE

Akteure bewegen sich in komplexen medialen Feldern, die einerseits als Ressource für die Rezeption religiöser Elemente und/oder ritueller Praktiken genutzt werden und die andererseits aber auch als Produktions-, Aushandlungs- und Distributionsplattform für eigene Religiositätsentwürfe dienen. Neben dem Internet, auf das ein besonderer Schwerpunkt in der Auswahl und Materialerhebung gelegt wurde, zeigten sich auch weitere mediale Märkte als bedeutend. An erster Stelle ist hier der Buchmarkt zu nennen. Sowohl ältere als auch rezente Publika-

49 Vgl. Murphy 2000.

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tionen bilden den Ausgangspunkt für vielfältige Rezeptionen. Diese verlaufen aus der Perspektive der Akteure aber selten spezifisch, d. h. es kann nicht zugeordnet werden, woher bestimmte Ideen oder Elemente der religiösen Praxis stammen. Für die Akteure ist dies jedoch weitgehend ohne Belang. Lediglich in Argumentationen, in denen sie ihre Position legitimieren oder authentifizieren möchten, findet sich ein gewisses »Autoren- oder Titeldropping«. Hier wird unter Berufung auf die Autorität des Autors oder einer postulierten Authentizität des Textes (z. B. religiöse Quellenschriften) die eigene Sichtweise begründet. Die Nutzung von Büchern zeigt sich vom emischen Standpunkt aus gesehen zweifach: zum einen als Wissensquelle, zum anderen als Referenzquelle für bereits vorhandenes Wissen. So steht in vielen Fällen die eigene, subjektive Erfahrung in der Wertigkeit an erster Stelle. Buchinhalte können das Erlebte daher nur bestätigen. Eigenes Wissen und eigene Erfahrung werden narrativ den medial rezipierten Inhalten vorangestellt. Insbesondere bei der rituellen Praxis ist die Tendenz zu vermerken, dass hier in Büchern zu findende Ritualskripte als Anleitungen verwendet werden, d. h. Wissen von außerhalb dem eigenen Wissen voran steht. Weiterhin werden Bücher bzw. bestimmte Inhalte vor dem Hintergrund des Weg-Topos gedeutet. Es existieren »richtige« Zeiten, zu denen man an bestimmte Bücher »geführt« wird bzw. bestimmte Abschnitte des eigenen Weges, zu denen spezielle Buchinhalte »gebraucht« werden. Ob eine langfristige Rezeption bestimmter Inhalte stattfindet, hängt jedoch vom individuellen Nutzen ab, den die Akteure situativ sehen oder eben auch nicht (mehr). Werden Inhalte als veraltet oder nicht mehr ausreichend betrachtet, ziehen die Akteure neue Bücher zur Rezeption heran. Aus den Interviews und von den Inhalten der Homepages wird deutlich, dass ein wichtiger Teil der Verbreitungsprozesse religiösen und rituellen Wissens im Rahmen sozialer Netzwerke – sowohl offline wie online – geschieht. Bücher werden auf Empfehlung von Freunden und Bekannten gelesen oder auf persönlichen Homepages besprochen und können somit als potentielle Rezeptionsquellen von anderen Akteuren wahrgenommen werden. Auf dem Markt kommt es dann dazu, dass bestimmte Titel stärker rezipiert werden als andere. Die Marketingstrategien der Verlage bzw. der Autoren sind hierbei das entscheidende Mittel zur Schaffung von diskursdominanten Sprecherpositionen. Gezielte Werbung (z. B. in einschlägigen Fachzeitschriften), präzise inszenierte Internetauftritte oder gar Verfilmungen werden eingesetzt, um Bestsellerautoren zu kreieren bzw. deren Positionen zu stärken. In diesem Bereich zeigen sich auch deutlich die starken medialen Interdependenzen. Der Buchmarkt mit seinen bekannten Autoren ist längst an das Internet angebunden. Die verstärkt transmediale Ausrichtung der dominanten Sprecherpositionen dürfte langfristig ihr Rezepti-

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onspotential stärken und ihre Dominanz ausbauen. Dies soll kurz an zwei Beispielen verdeutlicht werden. Sabrina Fox, gebürtige Münchnerin, ist seit ihren ersten Bestsellern, die Ende der 1990er Jahre veröffentlicht wurden, zu einer der populärsten Autorinnen im Bereich Engel auf dem deutschsprachigen Markt aufgestiegen. Die Autorin und ihre Bücher präsentieren sich inzwischen auf einer professionell gestalteten Homepage50, die sowohl Informationen über Sabrina Fox, als auch Verlinkungen zur Internetbuchhandlung Amazon enthält. Darüber hinaus kann der Besucher jedoch auch in ihrem persönlichen Blog stöbern, sich Gebetsskripte ansehen oder nachlesen, welche »spirituellen Erlebnisse« der Autorin widerfahren sind. Über Fox wird auch regelmäßig im »Engelmagazin« berichtet, der derzeit führenden Zeitschrift für diesen Bereich. Diese enge Verzahnung von medialen Märkten ist für viele Autoren mittlerweile selbstverständlich.51 Über das Internet können zusätzliche, im Rahmen der Bücher nicht oder nur bedingt einsetzbare Inhalte und Konzepte der Autoren einem breiten Publikum vermittelt werden. Eine ebenfalls professionell gestaltete Homepage besitzt Eckard Tolle, der ebenso wie Sabrina Fox international tätig ist, hier jedoch wesentlich bekannter sein dürfte. Mit seinen Bestsellern »Jetzt – Die Kraft der Gegenwart« und »Die neue Erde«, die auf der deutschsprachigen Homepage direkt verlinkt sind mit dem Online-Shop des Kamphausen Verlags, gelang Tolle auch auf dem USamerikanischen Markt der Durchbruch. Wesentlich trug dazu auch sein Kontakt zu der amerikanischen Talkshowqueen Oprah Winfrey bei, mit der er zusammen sogenannte »live Web classes« abhielt. In einzelnen Sitzungen wurden hier online und live Diskussionen zu Themen aus Tolles Büchern abgehalten, moderiert von Winfrey, zu denen sich auch via Webcam Zuschauer aus der ganzen Welt einschalten und Fragen stellen konnten.52 Durch ihre multimediale Präsenz erhöht sich der Wahrnehmungsfaktor innerhalb der diskursiven Aushandlungen. Mittelfeldakteure rezipieren die von den Autoren vermittelten Inhalte, adaptieren sie individuell und tragen durch z. B. Verweise auf ihren Webpräsenzen wiederum selbst zur weiteren Popularisierung der Autoren bei.

50 Homepage »Sabrina Fox«. Zugriff unter: http://www.sabrinafox.com/de/ (05.11.09). 51 Auch bei Nicht-Bestseller Autoren wie Toni und Jo, die inzwischen ihre eigenen Bücher veröffentlicht haben, sind diese medialen Interdependenzen nachzuweisen. Eine dominante Sprecherposition nehmen die beiden deshalb aber noch nicht ein. 52 Homepage »Oprah Winfrey« Webcast mit Eckhart Tolle. Zugriff unter: http://www. oprah.com/package/oprahsbookclub/anewearth/pkganewearthwebcast/20080130_obc_ webcast_anewearth (22.01.12).

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Obwohl die einflussreichen Bereiche des Buchmarktes mit ihren Autorenpositionen immer noch weitgehend unzugänglich für Mittelfeldakteure sind, ist in letzter Zeit eine einsetzende Veränderung im Hinblick auf die Zugänglichkeit der Distributionsseite zu bemerken. Neue Verlags- und Publikationskonzepte (Kleinverlag, Book-on-demand) machen es möglich, dass auch »normale« Akteure als Autoren auftreten können. Da jedoch der Buchmarkt insgesamt sehr ausdifferenziert ist, gelingt es ihnen nur schwer, sich hier ohne die professionelle Unterstützung, die beispielsweise große Verlagshäuser im Bereich Marketing bieten können, erfolgreich zu positionieren. Neben Büchern spielen auch Fernsehen und Film bei den religiösen Akteuren eine Rolle, auch wenn diese eher als nachrangig bezeichnet werden kann – so jedenfalls der Eindruck aus den Interviews. Wie bereits Untersuchungen im Bereich des Wicca gezeigt haben, werden insbesondere US-amerikanische TVSerien mit entsprechend »spirituellen« Inhalten von den Akteuren aufmerksam verfolgt.53 Zu nennen sind hier Serien wie »Ghostwisperer« oder »Medium«, die in den Erzählungen der Akteure einerseits als Abgrenzungsfolien, andererseits als Referenzen für die eigene rituelle Praxis dienen. Der Zugang zur Distributorenseite ist allerdings in diesem Bereich noch beschränkter als auf dem Buchmarkt und stellt daher für die Akteure keine Möglichkeit dar, aktiv im Aushandlungsgeschehen dieser Medien mitzuwirken. Anders ist dies beim Internet. Wie bereits erwähnt, liegt mit dem Internet erstmals ein Medienverbund vor, in dem die Zugangshürden nicht nur für Rezipienten, sondern auch für Produzenten und Distributoren (mittlerweile54) denkbar klein sind. Die netzartige Struktur des Internets legt sogar in vielen Bereichen nahe, eine Differenzierung zwischen Rezipienten, Produzenten und Distributoren weit weniger stark zu betonen als bei anderen Medien. Dies ist zum einen der Fall, da das Internet stärker denn je von der aktiven Beteiligung der Nutzer lebt, und zum anderen, da vor allem die vielfältigen Kommunikationsangebote online zur Partizipation einladen. Dies zeigt sich auch bei den hier befragten Akteuren. Neben ihren Webpräsenzen ist für einige Akteure die Beteiligung an Foren oder anderen Austauschplattformen mittlerweile völlig selbstverständlich. Für die Aushandlung von Religiosität hat dies weitreichende Folgen. Über ein lokales, offline Sozialnetzwerk hinaus, sind die Akteure angebunden an einen Kommunikationsraum, in dem ihnen eine unüberschaubare Anzahl von anderen Akteuren gegenübersteht. Der Rezipientenkreis ist prinzipiell zunächst nicht be-

53 Vgl. dazu Mutzl 2005. 54 Vor allem technische Zugangsbedingungen müssen dafür erfüllt werden, aber auch das Wissen für eine Bedienung des Mediums muss vorhanden sein.

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grenzt. Die individuellen Konstruktionen zur eigenen Religiosität werden über persönliche Homepages, in Foren oder Blogs für ein weiteres Publikum zugänglich gemacht und bilden damit einen weitaus breiteren Ansatzpunkt für Aushandlungen als im sozialen Raum im Offline-Bereich. Von einer »Entgrenzung«55 von Religion im Sinne von Hubert Knoblauch zu sprechen, wäre allerdings verfehlt, geht doch dieser Gedanke davon aus, dass es im Offline-Bereich generell so etwas wie eine private Religion gegeben hätte. Unter der Annahme, dass Identitätskonstruktionen – auch die religiösen Bereiche betreffend – immer im Rahmen von sozialen Aushandlungsprozessen geschehen, erscheint der Gedanke an eine private Religion, die kontrastiert wird mit Religionen der Öffentlichkeit, nicht plausibel. Über das Medium Internet werden individuelle Religiositätskonstruktionen und deren Aushandlungsprozesse nur zum ersten Mal in einer quantitativ erheblichen Größe für andere sichtbar. Diese Sichtbarkeit und Zugänglichkeit sind die neuen Elemente, nicht die individuellen Religiositätskonstruktionen. Allerdings ist davon auszugehen, dass sich die kommunikativen Strukturen des Internets deutlich auf diese Konstruktionen auswirken und sich dieses Aushandlungsgeschehen von bisherigen Prozessen im Offline-Bereich unterscheidet. Wie an den Beispielen aus den Interviews erkennbar wurde, zieht eine Positionierung z. B. mittels einer persönlichen Homepage verschiedenste Reaktionen nach sich. Das Feedback kommt von einem zunächst nicht begrenzten Kreis an Rezipienten, die Wahl der Leser/Hörerschaft kann – anders als z. B. in der Face-to-face-Kommunikation – nicht von den Akteuren beeinflusst werden. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die Inhalte von persönlichen Homepages, wie die Akteure bzgl. des Feedbacks berichten und wie auch aus den Gästebüchern deutlich wird, von Teilnehmern des spezifischen Diskurses rezipiert und kommentiert werden.56 Daher kann lediglich von einer potentiell weiten Öffentlichkeit der Selbstpräsentationen gesprochen werden, de facto – so jedenfalls die Tendenzen in vorliegendem Material – werden die religiösen Identitätskonstruktionen in Form von Selbstpräsentationen oder auch in Form von Beteiligungen an Chats oder Foren in einem thematisch orientierten sozialen Netzwerk verhandelt, in das Außenstehende lediglich gezielt eingreifen. So z. B. in Form von kritischen Stimmen in den Gästebüchern, die wie Maxi berichtet hatte, von Akteuren aus dem kirchen-christlichen Diskurs stammen.

55 Knoblauch 2009, 50. 56 Dass z. B. kirchen-christliche, muslimische oder buddhistische Akteure über die persönlichen Homepages direkt mit den Akteuren gegenwärtiger Religiosität in Kontakt treten, ist in den hier untersuchten Beispielen eher die Ausnahme.

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Im Hinblick auf die Internetnutzung der Akteure ist weiterhin festzuhalten, dass diese in den narrativen Konstruktionen in den Deutungshorizont des Diskurses eingeordnet wird. Die initiative Handlungsmacht zur Erstellung des Auftritts wird z. B. meta-empirischen Agenten zugeschrieben, im Design spiegeln sich Farbinterpretationsmuster des Diskurses wider und die Namen der Homepages entsprechen dem dominanten Vokabular. Die mediale Präsenz im Internet darf jedoch, wie das vorliegende Material gezeigt hat, nicht dahingehend interpretiert werden, dass dieses junge Medium eine gewisse Dominanz als Aushandlungsraum für religiöse Identitätskonstruktionen einnimmt. Vom Spektrum medialer Angebote ist das Internet nur eine Form, die von den Akteuren genutzt wird. Ältere Massenmedien wie Bücher und TV/Film werden als Rezeptionsquellen ebenso wie Internetinhalte verwendet, als Kommunikations- und Interaktionsplattform nimmt das Internet allerdings durch seine Struktur eine besondere Rolle ein. Als Distributionskanal steht jedoch auch der Buchmarkt als Möglichkeit im Wahrnehmungshorizont der Akteure. Neben der Bedeutung, der den Medien als Rezeptions- und Distributionspool für die religiöse Identitätsarbeit zukommt, aus dem die Akteure stetig auswählen, den sie aber auch immer wieder neu speisen, spielen mediale Räume für die Aushandlung gegenwärtiger Religiosität noch in einer weiteren Hinsicht eine wichtige Rolle: Die ökonomischen Dimensionen des Diskurses, die auf das engste mit der rituellen Praxis verbunden sind, werden durch die medialen Räume in vielfacher Hinsicht katalysiert. Neben der Präsentation der eigenen Person und der individuellen Religiosität, werden persönliche Homepages vor allem auch zur Präsentation des eigenen, meist rituellen Angebots genutzt, das kommerziell vertrieben wird. Die Akteure offerieren hier Therapieangebote wie Reiki, Seminare und Workshops, Kartenlegen, Fernheilungen etc. Die Präsentationen beinhalten meist eine Kurzbeschreibung und den Preis. Außerdem sind an viele Homepages eigene kleine Webshops angegliedert, über die z. B. Essenzen, Bilder oder auch eigene CDs und Bücher verkauft werden. Insgesamt weist der Markt der gegenwärtigen Religiosität im Gegensatz zu anderen religiösen Diskursen eine wichtige Besonderheit auf. Ein Großteil der regulären Diskursteilnehmer wird – wie auch aus den biographischen Konstruktionen sichtbar wird – im Laufe der religiösen Karriere selbst als Anbieter auf dem Markt tätig. Zwar gibt es wenige, in ökonomischer Hinsicht äußerst erfolgreiche Akteure (z. B. Bestsellerautoren, prominente Reiki-System Entwickler wie Walter Lübeck), als ökonomisch aktive Experten tritt jedoch die Mehrheit der Akteure auf. Wie groß und unüberschaubar die Angebotspalette ist, wird insbesondere im Internet deutlich. Als weitgehend freier Markt provoziert die stetig steigende Anbieterzahl eine zunehmende Ausdifferenzierung der Angebote. Die

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Anbieter müssen nach immer neuen Nischen suchen, in denen ihnen eine gute Positionierung auf dem Markt gelingt. Ein wichtiger Faktor bei den derzeit zu beobachtenden Ausdifferenzierungsprozessen ist sicherlich eine weitere Besonderheit: Es existiert eine enge Verzahnung von Ausbildungs- und Therapieangeboten. Dieser Mechanismus dürfte dafür verantwortlich sein, dass sich der Markt immer noch dynamisch entwickelt und eine Sättigung solange nicht in Sicht ist, wie über rituelle Inventions- und Designprozesse57 z. B. neue Reiki-Subsyteme und die dazugehörigen Ausbildungen geschaffen werden. Die mediale Präsentation vor allem im Internet trägt dazu bei, dass auch die Akteure die Vielfalt des Angebotes wahrnehmen und sich entsprechend um eine eigene erfolgreiche Positionierung auf dem Markt bemühen. Weitere Ausführungen dazu werden im abschließenden Folgekapitel noch aufzugreifen sein.

57 Vgl. Miczek 2012.

7. Gegenwärtige Religiosität im Diskurs: Ein Fazit

Zum Ende dieser Studie möchte ich nun den Versuch unternehmen, die in den vorangehenden Teilkapiteln präsentierten Einzelheiten der Untersuchung zusammenzufassen und abschließend zu diskutieren. Dazu sind an dieser Stelle noch mal die Ausgangsfragen der Arbeit zu benennen: Wie gelingt es Akteuren, aus den unterschiedlichen, von ihnen rezipierten religiösen und rituellen Elementen, einen für sich kohärenten Identitätsentwurf zu schaffen? Warum wählen sie bestimmte religiöse Elemente für sich aus und verwerfen gleichzeitig andere? Ist diese Auswahl völlig beliebig oder kann man von übergeordneten Steuerungsmechanismen ausgehen, die hier eingreifen? Welche Rolle spielen bei diesen Prozessen moderne Medien? Kurz gesagt: Warum gestalten Akteure gegenwärtig ihre Religiosität genauso und nicht anders? Wie sich gezeigt hat, gestalten sich die diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität komplex und auf verschiedenen Ebenen. Subjektkonstruktionen sind – die Beispiele haben dies vielfach verdeutlicht – nur im Anschluss an den Diskurs mit seinen Dominanzen und Formationsregeln zu verstehen. Verschiedene »Orte« für diese Konstruktionen wurden in der Studie thematisiert: biographische Konstruktionen, rituelle Praxis und moderne Medien. Sie werden nun im Einzelnen näher betrachtet.

7.1 B IOGRAPHIE : R ELIGIÖSE I DENTITÄTSKONSTRUKTIONEN Die Analyse biographischer Narrationen erwies sich als sehr ergiebig, um Aussagen über die verschiedenen Prozesse der Identitätskonstruktion religiöser Akteure gegenwärtiger Religiosität zu treffen. Die Akteure sind im Diskurs mit ei-

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ner Vielzahl unterschiedlicher religiöser und ritueller Elemente konfrontiert. Diese Elemente sind teilweise mit bestimmten Bedeutungszuschreibungen verknüpft, die einen flexiblen Umgang mit ihnen zunächst erschweren. So können z. B. der Gottesbegriff oder auch bestimmte Gebetstexte noch mit theologischen Deutungszuschreibungen versehen sein, welche die Akteure erst lösen müssen, um die Elemente schließlich für ihre Religiositätskonstruktionen einsetzen zu können. Die Frage ist nun, wie es die Akteure trotz der hohen Diversität im Diskurs schaffen, eine für sich kohärente religiöse Identität1 zu entwerfen und mit dieser erfolgreich als Diskursteilnehmer zu agieren. Es zeichnen sich insbesondere zwei Strategien ab, mit deren Hilfe den Akteuren eine kohärente Identitätskonstruktion gelingt. In den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität werden zum einen verschiedene narrative Muster und Topoi zur Übernahme durch die Akteure verhandelt und bereitgestellt, die eine kohärente Identitätsbildung trotz der Diversität religiöser Elemente und sich teilweise widersprechender Bedeutungszuschreibungen an diese Elemente gewährleisten. Zum anderen werden bestimmte Positionierungsleistungen verwendet, die eine aus emischer Sicht erfolgreiche Diskursteilnahme ermöglichen. Beide Strategien werden im Folgenden zusammenfassend erläutert. Anhand zahlreicher Beispiele aus den Interviews wurde die narrative Konstruktion des eigenen Lebens als stetigem Entwicklungsweg thematisiert. Die Weg-Metapher bildet das Grundgerüst der biographischen Narrationen. Die spezifischen Attribute wie die Rhetorik der Toleranz, der Anspruch auf die Deutungshoheit des eigenen Weges oder die individuelle Gestaltbarkeit bei gleichzeitiger Vorbestimmung ergänzen die Umsetzungen in den Erzählungen. Ein weiterer Topos in den Erzählungen ist die Vorstellung, dass alle religiöse Diversität letztlich auflösbar ist, da alles einen gemeinsamen Nenner hat bzw. auf ein und dieselbe (göttliche) Quelle zurückzuführen ist. Beide narrativen Motive sind in den Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität, aber auch aus anderen religiösen Diskursen bekannt. Bereits in der Theosophie2 wurde pantheistisches Gedankengut formuliert, aber auch neohinduistischen Bewegungen3 ist dieses Muster bekannt. Religion als individueller Erkenntnisweg ist besonders in verschie-

1

Es gilt an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass die Vorstellung einer kohärenten Identität nicht zu verwechseln ist mit der Annahme eines unveränderlichen Identitätskerns. Kohärenz und Kontinuität sind Faktoren, die für die Subjekte die innere Stimmigkeit des eigenen Identitätsbildes gewährleisten und daher ein wichtiger Bestandteil der Identitätsarbeit sind. Vgl. Lucius-Hoene & Deppermann 2004, 48.

2

Vgl. Hammer 2001, 170-172.

3

Z. B. im Sathya Sai Baba Movement. Siehe dazu Srinivas 2008, 157.

F AZIT

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denen christlichen Traditionslinien eine bekannte Vorstellung. In der starken Betonung und in dieser Kombination sind die Motive jedoch charakteristisch für den Diskurs gegenwärtiger Religiosität. In einem Diskursmodell, das vom Ziehen fester Grenzen zwischen religiösen Traditionen absieht und in dem das Augenmerk vor allem auf der Herausbildung dominanter Diskurselemente liegt, löst sich eine vermeintliche Problematik der religionsgeschichtlichen Zuordbarkeit der narrativen Topoi und Muster jedoch wie folgt auf: Als »erfolgreiche« und dominante Elemente sind bestimmte narrative Muster und Topoi aus verschiedenen Diskursen bekannt, ein Umstand, der eine Adaption in andere Diskurse bzw. eine weitere Übernahme beim Fortlauf diskursiver Aushandlungen wahrscheinlich macht. Als Legitimationsgrundlage im Rahmen eines Diskurses, in dem Pluralität und Dynamik bedeutsame Faktoren sind, werden bei Bedarf bereits bekannte Muster und Topoi aufgegriffen und diskursspezifisch angepasst. Gleiches dürfte für die weiteren narrativen Muster gelten, die im Rahmen der Studie vorgestellt wurden. Eine besondere Kindheit oder auch bestimmte Schlüsselerlebnisse sind narrative Folien, die auch aus anderen religiösen Diskursen bekannt sind. Eine besondere Kindheit ist beispielsweise ein gängiges narratives Muster in hagiographischen Lebensläufen ausgezeichneter religiöser Figuren wie Stifterfiguren oder Heilige.4 Als Schlüsselerlebnis sind aus unzähligen Narrationen z. B. Offenbarungsereignisse oder Wendepunkte in religiösen Karrieren bekannt. Im Diskurs gegenwärtiger Religiosität werden diese erfolgreichen Muster ebenfalls eingesetzt und diskursspezifisch angepasst. So zeichnen sich die beschriebenen Kinder z. B. durch ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit und Reflexivität aus bzw. eventuell vorhandene besondere Fähigkeiten richten sich gezielt auf mediale Wahrnehmung und Vermittlung (z. B. von Engeln). Die narrativen Muster und Topoi zeigen sich als dominant im Diskurs und sind eng verknüpft mit hier bekannten Subjekt- und Sprecherpositionen. Beide Positionen zeigen sich ausgestattet mit einer weit reichenden Handlungsmacht in Bezug auf die Gestaltungsprozesse individueller Religiosität. Zudem sind sie verknüpft mit den Ideen von individueller Auszeichnung und Erfahrung, was sich dann in der spezifischen Ausarbeitung der narrativen Muster zeigt. Im Hinblick auf die Frage nach dem Erwerb narrativer Strukturierungsfähigkeiten gibt es derzeit verschiedene Positionen innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion. Sie unterscheiden sich wesentlich darin, ob ihnen ein kognitionswissenschaftlicher oder sozialkonstruktivistischer Ansatz zugrunde liegt.5 Entspre-

4

Stellvertretend für unzählige Beispiele kann hier die Hagiographie Gautama Buddhas

5

Vgl. Polkinghorne 1998, 19f.

genannt werden. Vgl. Michaels 2011, 26-53.

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chend werden die Fähigkeiten einmal als angeboren bzw. in den kognitiven Strukturen der Menschen angelegt betrachtet und einmal als sozio-kulturelle Komponente, die erlernt wird. Auch in Bezug auf die genauen Prozesse der Rezeption, Adaption und individuellen Transformation von narrativen Mustern6 können keine letztgültigen Aussagen getroffen werden. Mit Blick auf die empirische Ebene in den hier verwendeten Interviews kann jedoch festgehalten werden, dass sich keine aktiven Reflexionen über die Aneignungs- und Verarbeitungsprozesse von narrativen Mustern beobachten lassen. Es kann daher angenommen werden, dass die Vorgänge auf Seiten der Akteure nicht gesteuert bzw. intentional kontrolliert verlaufen.7 In (massen-)medial vermittelten Informationen, aber auch in persönlicher Kommunikation werden die Muster narrativ vermittelt, adaptiert und von den Akteuren in weiterer Präsentation oder Kommunikation eingeübt. So z. B. auch, wenn das Muster einer besonderen Kindheit individuell adaptiert und für die Selbstdarstellung auf einer persönlichen Homepage verwendet wird. Anders als bei der Übernahme narrativer Muster und Topoi lassen sich bei den Akteuren im Umgang mit und in Reaktion auf die Vielfalt religiöser und ritueller Elemente durchaus Reflexionsprozesse in den Erzählungen nachweisen. Der »Einbau« dieser Elemente erfolgt dann jedoch unter zu Hilfenahme der eben erwähnten diskursspezifischen Muster. Als Kriterien für eine Auswahl geben die Akteure einerseits individuelle Vorlieben und Geschmäcker an. Andererseits machen sie deutlich, dass die Wahlprozesse vor dem Hintergrund des WegTopos zu verstehen sind. Welches religiöse oder rituelle Element zu welchem Zeitpunkt biographisch verarbeitet wird, gilt aus emischer Sicht als vorbestimmt. Vor dem Hintergrund diskurstheoretischer Überlegungen müssen die Aussagen zu den Steuerungen der Wahlprozesse nach individuellem Belieben jedoch erneut reflektiert werden. Betrachtet man die ausgewählten Elemente, so wird deutlich, dass die Rezeptions- und Auswahlprozesse die Machtaushandlungen des Diskurses widerspiegeln bzw. diesen unterliegen. Ausgewählt werden meist Elemente, die im Diskurs bereits bekannt sind und hier eine gewisse Akzeptanz erfahren haben. Die von den Akteuren angegebenen individuellen Vorlieben und Geschmäcker dürften daher wesentlich vorgeprägt sein durch das Angebot, das der Diskurs bereithält.

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Polkinghorne spricht hier auch von »kulturell verfügbaren Plots«, die »aus einem Re-

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Mit Bezug auf Seymour Epstein verweist Donald E. Polkinghorne mit Blick auf Nar-

pertoire an Geschichten ausgewählt und angepasst« werden. Polkinghorne 1998, 26. rationen darauf, dass sich die »kognitiven Verarbeitungs- und Strukturierungsprozesse im wesentlichen außerhalb des Bewusstseins … vollziehen«. Polkinghorne 1998, 17.

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Da die Anzahl und Vielfalt derartiger Muster und Elemente im Diskurs gegenwärtiger Religiosität jedoch sehr hoch ist, kommen gerade in den Kombinationsprozessen subjektive Momente der Auswahl zum Tragen. Am Beispiel der Rituale wird dies besonders deutlich. So kombiniert Toni ihre Engelchannelings mit Elementen aus dem kirchlichen Abendmahl und der Energie- und Chakrenarbeit, Nicki kann Reiki mit Segnungen zusammenbringen, Uli hingegen legt den Schwerpunkt eher auf eine Kombination von Reiki mit Huna. Grundlage bildet bei allen der diskursive Ressourcenpool, aus dem Elemente rezipiert werden, die sich hier durchgesetzt haben und im Diskurs bekannt und anerkannt sind. Welche Kombinationen jedoch gewählt werden, warum Nicki Segnungen und Reiki, Uli Huna und Reiki wählt, dürfte nicht bzw. nicht ausschließlich von den diskursiven Aushandlungen bestimmt sein. Hier ist im Zuge einer subjektorientierten Perspektive davon auszugehen, dass die Akteure – unter diskursiven Rahmenbedingungen – durchaus als eigenständig handlungs- und entscheidungsfähig angesehen werden können. In den Rezeptions- und Adaptionsprozessen ist zu beobachten, dass sich die Akteure durchaus Gedanken darum machen, ob die verschiedenen verwendeten Elemente zueinander passen. Ist dies nicht der Fall, weil die Elemente eventuell noch mit Bedeutungen versehen sind, die einem Gebrauch im Diskurs gegenwärtiger Religiosität widersprechen, werden vielfach Synchronisationsprozesse vorgenommen. Hier findet die Zuschreibung einer neuen Bedeutung statt. Besonders sichtbar wurde dies bei der Synchronisation von Elementen, die dem kirchen-christlichen Diskurs entstammen. Engelvorstellungen, die Konzeption von Jesus aber auch verschiedene Ritualelemente werden von ihren ehemaligen kirchlichen Deutungshorizonten entkleidet und meist unter Zuhilfenahme dominanter narrativer Muster und Topoi für den Gebrauch im Diskurs gegenwärtiger Religiosität angepasst. Dies kann jedoch nur deshalb so erfolgreich gelingen, weil im Diskurs selbst Subjektpositionen bereitgehalten werden, die mit der notwendigen Handlungsmacht ausgestattet sind. Prinzipiell jeder im Diskurs kann für sich selbst beanspruchen, Bedeutungsneuzuschreibungen an religiöse und rituelle Elemente vorzunehmen. Legitimiert wird dies vor allem durch den Verweis auf die individuelle Erfahrung, aber auch durch die Referenz auf dominante Sprecher des Diskurses (z. B. bekannte Autoren). Diese führen derartige Zuschreibungen in einem öffentlichen Rahmen (z. B. in Büchern oder in Vorträgen) aus und erlangen damit eine Vorbildfunktion für andere Akteure. Die zweite bedeutende Strategie, mit deren Hilfe es den Akteuren gelingt, eine kohärente Identität aufzubauen, ist der Einsatz bestimmter Positionierungen. Diese Prozesse verlaufen gleichsam in verschiedene Richtungen: Zum einen werden sie vorgenommen, um Zugehörigkeit anzuzeigen, zum anderen um Ab-

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grenzungen zu ziehen. Beide bedingen sich unweigerlich, denn die Selbstpositionierungen der Akteure gehen meist einher mit einer Fremdpositionierung, zumindest aber mit dem gleichzeitigen Ausschluss von anderen Positionen in diesem Moment. Identität wird hier im Wechselspiel zwischen der Herstellung von Nähe und Distanz konstruiert oder – um an Laclau und Mouffe anzuschließen – von Äquivalenz und Differenz. Um sich als Diskursteilnehmer zu positionieren, kommen für die Akteure verschiedene Möglichkeiten in Frage. So zeigt die Übernahme bestimmter, im Diskurs bekannter religiöser und ritueller Elemente die Zugehörigkeit der Akteure an. Dies wird z. B. über die eigene Webpräsenz sichtbar gemacht oder fließt in die Kommunikation mit anderen ein. Sie sind nun sowohl für andere Diskursteilnehmer als auch für Außenstehende als Akteure im Diskurs gegenwärtiger Religiosität erkennbar. Wenn sie also mit Engeln kommunizieren, Reiki anbieten oder Karten legen und dies im privaten oder öffentlichen Rahmen kundtun, sind sie für zumindest andere Diskursteilnehmer als Akteure im Diskurs gegenwärtige Religiosität erkennbar. Ob Diskursfremden diese Zuordnung auch gelingt, hängt vom Wissensstand über die Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität ab.8 Aber auch wenn eine Zuordnung von außen nicht eindeutig vorgenommen werden kann, so ist über Ausschlussmechanismen doch klar, dass die Akteure beispielsweise nicht an traditionellen kirchlichen oder islamischen Diskursen partizipieren. Diese passive Positionierung kann ergänzt werden durch eine eher aktive Selbstzuordnung über bestimmte klassifizierende Begrifflichkeiten. Zentral sind hier mit Sicherheit die Begriffe Esoterik und Spiritualität, anhand derer sich allerdings gerade Differenzierungsprozesse innerhalb des Diskurses beobachten lassen. Bei der Konstruktion von Abgrenzungsfolien trat im untersuchten Material deutlich »die Kirche« als Bezugspunkt hervor. Hier ist zu beobachten, dass es bei der Konstruktion des »ganz Anderen« zu Prozessen der Stereotypisierung kommt. Die Kirche verkörpert in den Augen der Akteure all das, was ihre eigene Religiosität auf keinen Fall ist: dogmatisch, an institutionelle Hierarchien gebunden, patriarchalisch und ein falsches Gottesbild propagierend. In der Konstruktion des Anderen spielt dieses Mittel allgemein eine wichtige Rolle, wie z. B. Stuart Hall in seinem Aufsatz »Das Spektakel des Anderen« zeigt. Zu dem Vorgang fasst er zusammen: »Stereotypisierung reduziert, essentialisiert, natura-

8

Allgemein können Positionierungsprozesse auch in unvorhergesehene Richtungen verlaufen, wenn beispielsweise verschiedene Verständniskontexte bei den beteiligten Akteuren vorliegen. Vgl. dazu auch Herman 2009, 56.

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lisiert und fixiert ›Differenz‹«.9 Die Kirche wird dabei auf einige wenige Eigenschaften reduziert, es wird vereinfacht und gleichzeitig übertrieben. Sie wird als das ganz Andere konstruiert, für das unter keinen Umständen Platz ist im eigenen Diskurs. Die Norm, die somit implizit geschaffen wird, erfasst die religiösen Vorstellungen und den entsprechenden Lebensstil der Akteure als regulär und einzig ›vernünftig‹. Ziel ist – aus Sicht der Akteure – eine Entmachtung der kirchlichen Position, der lange eine Diskurshoheit zugesprochen wurde bzw. die diese selbst für sich in Anspruch nahm. Zwei Besonderheiten sind bei der Konstruktion der Abgrenzungsfolie und der damit verbundenen Positionierung jedoch zu beobachten. Aus der Institution Kirche, zu der Differenz geschaffen wird, ziehen die Akteure ein Christentum heraus, das als ein von kirchlichen Einflüssen Befreites dargestellt wird. In ihm kondensieren sich die »wahren« religiösen Aussagen, die durch die Kirche lediglich verfälscht worden seien. In der Konstruktion dieses Wissens um das »wahre Christentum« kommt es zur Machtverschiebung von kirchlichen Institutionen hin zu den einzelnen religiösen Akteuren, die für sich auch den Anspruch vertreten, die einzig authentische und gültige Position zu besitzen. Von den kirchlichen Institutionen, aber auch von wissenschaftlicher Seite wird dieser Anspruch zurückgewiesen, ein Umstand, der die religiösen Akteure jedoch nicht in ihrer Positionsausrichtung beeinflusst. Die zweite Besonderheit, die in der Konstruktion der Differenz zur Kirche zu beobachten ist, liegt in der Ausklammerung des kirchlichen Ritualbereichs. Dieser wird von der Stereotypisierung ausgenommen. Den kirchlichen Institutionen wird mit ihrem reichen Ritualwissen ein Bereich zugeschrieben, den die religiösen Akteure als gesamtgesellschaftlichen Mangelbereich ausweisen. In diesem Fall wird das Expertenwissen kirchlicher Träger anerkannt, ja sogar als ein Bereich beschrieben, mit dem sich die Akteure durchaus (noch) identifizieren können. Die Identitätskonstruktionen der Akteure gegenwärtiger Religiosität zeigen sich insgesamt als kontinuierliches Wechselspiel in der Schaffung von Äquivalenz und Distanz. Die Biographien verdeutlichen, dass es keinen abrupten Wechsel von einem religiösen Diskurs in den anderen gibt. Eine durch die Sozialisierungen bedingte Verortung im christlichen Diskurs wird nicht einfach zugunsten einer ausschließlichen Teilnahme im Diskurs gegenwärtiger Religiosität aufgegeben. Im Gegenteil, durch anhaltende Prozesse der Positionierung und der Syn-

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Hall 2004, 144.

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chronisation schaffen die Akteure einen interdiskursiven Raum10, in dem eine Verortung in beiden Diskursen für die Akteure möglich ist. So gelingt ihnen eine Positionierung als christlich (nicht kirchen-christlich!) und gleichzeitig als spirituell. Verschiedene diskursive Räume zeigen sich in Abhängigkeit von den Akteursperspektiven somit als permeabel. Zwar wurde in dieser Studie verstärkt das Verhältnis von diskursiven Aushandlungen christlicher und gegenwärtiger Religiosität in den Blick genommen, es ist jedoch davon auszugehen, dass derartige Durchdringungsprozesse auch bei weiteren diskursiv-religiösen Räumen zu finden sein dürften. Diese zeigen sich in vielen Fällen aber wohl erst, wenn neben diskursdominierenden Akteurspositionen (sogenannte Oberschichten bestehend z. B. aus theologischen Experten) auch weitere Positionen von z. B. Mittelfeldakteuren wahr- und ernstgenommen werden.

7.2 R ITUALE : K OMPOSITIONSPROZESSE

RELIGIÖSER

P RAXIS

Als Teil diskursiver Praxis sind Rituale von großer Bedeutung. Nach Foucault gelten sie als regulierende Momente bzgl. des Zugangs zu einem Diskurs und spiegeln damit dominante Formationsregeln des Diskurses wider. Zum Ritual als »Einschränkungssystem« fasst er Folgendes zusammen: Das Ritual definiert die Qualifikation, welche die sprechenden Individuen besitzen müssen …; es definiert die Gesten, die Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen, welche den Diskurs begleiten müssen; es fixiert schließlich die vorausgesetzte oder erzwungene Wirksamkeit der Worte, ihre Wirkung auf ihre Adressaten und die Grenzen ihrer zwingenden Kräfte.11

Allerdings dürfen diese einschränkenden und bestimmenden Momente von Ritualen nicht statisch gesehen werden – wie es bei Foucault anklingt. Rituale sind Räume diskursiver Praxis, die durchaus dynamisch zu gestalten sind. Zusammen

10 Der Begriff ist hier lediglich in Anlehnung an Jürgen Links Konzept des Interdiskurses zu sehen. Link differenziert zwischen Inter- und Spezialdiskursen, wobei Interdiskurse eine »Spezialwissen überbrückende, integrative Funktion« (Link 1999, 155) haben. Der Begriff »interdiskursiver Raum« ist hier als Hilfsmittel zur Verdeutlichung der Durchdringung verschiedener Diskurse zu verstehen, die durch die stetigen (Re-) Positionierungsprozesse der Akteure entsteht. 11 Foucault 2003, 27.

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mit sprachlichen Phänomenen bilden Rituale den Ausgangspunkt für die »Praxis der Artikulation als Fixierung/Verlagerung eines Systems von Differenzen«12, über die temporär gültige Identitätsformationen stattfinden. Wie in dieser Studie deutlich wurde, spielen Rituale in den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität eine bedeutende Rolle. Sie können als diskursive Praxis betrachtet werden, in der sich einerseits religiöse Identitätskonstruktionen materiell und körperlich manifestieren, die andererseits durch ihre Performanz oder auch schon in ihrer Präskriptform eine aktive Gestaltungswirkung in identitätsbildenden Prozessen einnehmen. Anhand der Beispiele von Gebeten und Heilritualen wurde deutlich, dass die religiöse Praxis verschiedenen Kompositionsprozessen unterliegt. In ihnen spiegeln sich dominante narrative Muster und Topoi des Diskurses wider. Zur Legitimation ritualdynamischer Prozesse wird – insofern notwendig – auf diese Muster und Topoi verwiesen. Insgesamt korrespondieren sie mit den Prozessen der Identitätsarbeit. Auch hier ist davon auszugehen, dass die Auswahl der verwendeten rituellen Elemente einerseits von den Formationsregeln des Diskurses beeinflusst wird. In den Kompositionsprozessen finden sich aber auch individuelle Momente der Wahl. In den ritualdynamischen Prozessen traten besonders deutlich kreative und innovative Momente hervor, zudem zeichnete sich eine stetige Ausdifferenzierung des Ritualangebots im Diskurs gegenwärtiger Religiosität ab. Es ist daher an dieser Stelle zu diskutieren, inwiefern sich diese Tendenz in Zukunft fortsetzen wird und wie diese Prozesse vor dem Hintergrund postmoderner Theoriekonstrukte zu reflektieren sind. Das derzeit bereits große Spektrum der Ritualangebote wird sich potentiell zukünftig noch ausweiten. Die Möglichkeit, verschiedene rituelle Elemente zu kombinieren oder ganze Ritualkomplexe neu zu schaffen, stellt sich als charakteristischer Zug des Diskurses gegenwärtiger Religiosität dar. Ein Grund dafür sind mit Sicherheit die mit hoher Handlungsmacht ausgestatteten Subjektpositionen, die der Diskurs offeriert. Akteure werden hier nicht nur zu Konstrukteuren ihrer eigenen Religiosität, sondern auch zu Experten und Gestaltern für ihre (eigenen) Rituale. Der Innovationsfaktor ist dabei insgesamt hoch. Eine gewisse Selbstverständlichkeit für die Entwicklung eigener Rituale wird dabei insbesondere auch durch den Buchmarkt vermittelt. So gibt es in zahlreichen Büchern, die im Diskurs gegenwärtiger Religiosität derzeit rezipiert werden, »Do-ityourself«-Anleitungen.13 Es werden beispielsweise Vorlagen geliefert, die dann entsprechend den individuellen Präferenzen ausgestaltet werden können. In der

12 Laclau & Mouffe 2006, 146. 13 Zur Popularisierung des Ritualdiskurses siehe auch Lüddeckens 2004.

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Anleitung zum Bau eines Engelaltars heißt es z. B. in einer Publikation der bekannten Autorin Silver Ravenwolf14: Wenn Sie einer anderen Religion angehören, können Sie eine Statue oder ein Bild Ihres Gottes auf den Altar stellen. Katholiken zum Beispiel könnten dafür die Statue eines Heiligen oder der Jungfrau Maria wählen, Protestanten entscheiden sich vielleicht für ein Bild von Jesus. Wenn Sie glauben, dass die Energie Gottes nicht dargestellt werden kann, werden Sie vermutlich auf Gegenstände dieser Art ganz verzichten.15

Je nach Ausrichtung der individuellen Religiosität ermutigt die Autorin hier die Leser, den Aufbau des rituellen Settings entsprechend anzupassen. In weiteren Passagen, in denen es um das Ritual zur Herstellung von »heiligem Wasser« geht, werden die Leser ebenfalls aufgefordert, Maria, Jesus, Engel oder andere Wesenheiten anzusprechen, je nach persönlicher Präferenz.16 In anderen Publikationen werden den Akteuren Anleitungen zum Channeling, Vorlagen für Gebete oder Heilrituale präsentiert, die als von den Autoren selbst entwickelt dargestellt werden.17 Gleiches gilt in quantitativ potenzierter Hinsicht für das Internet. Auf unzähligen Webseiten finden sich selbst erstellte Meditationsskripte oder Anleitungen für Raumreinigungen u.v.m. Das Kreieren von Ritualen wird als selbstverständliche Handlungsoption im Diskurs von verschiedenen Seiten lanciert. Ein wesentliches Merkmal der Ritualausarbeitungen ist dabei, dass sie individuell gestaltet bzw. angepasst werden können und dass die Akteure selbst die Handlungsmacht zu gestalterischen Prozessen besitzen. Ein wichtiger Antrieb für die ritualdynamischen Prozesse dürfte dabei insgesamt der diskursdominierende Topos des Weges mit seinem Fokus auf eine individuelle Entwicklung sein. Durch den kreativen Umgang mit Ritualen können neue oder stark individualisierte Formen geschaffen werden, die die Individualität der eignen Religiositätskonstruktion unterstreichen. Die Rituale sind dabei so flexibel, dass sie in den dynamischen Prozessen der Identitätsarbeit mithalten können. Bei Bedarf werden sie angepasst oder mit neuen Bedeutungen versehen. Wie Dorothea Lüddeckens in einer Studie zu Ritualen in der populären Ratgeberliteratur zeigt, sind Individualität, Kreativität und institutionelle Unabhän-

14 Ravenwolf ist insbesondere durch ihre Publikationen im rezenten Hexendiskurs bekannt geworden, hat inzwischen ihr Themenspektrum jedoch ausgeweitet. Sie widmet sich nun auch Themen wie Engeln. 15 Ravenwolf 2006, 36. 16 Ebd., 58. 17 Vgl. exemplarisch Roman 2002, Voggenhuber 2012.

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gigkeit gängige Merkmale eines wachsenden populären Ritualdiskurses.18 Michael Stausberg setzt dies in Beziehung zu dem – in der wissenschaftlichen Literatur bereits seit längerem postulierten – Aufkommen des postmodernen Existenzbastlers. »Kennzeichnend für diese Existenzform … ist die einer [sic] bestenfalls mittelfristigen Orientierung bzw. Partizipation an verschiedenen und häufig auch wechselnden Sinnsystemen im Sinne des (Patchwork-) Arrangements eines individuellen Lebensstils.«19 Die zu beobachtende Reflexivität und Dynamik der Ritualgestaltungen sei »paßgenau auf die flexiblen Bedürfnisse der spätmodernen Existenzbastlers abgestimmt.«20 Es kann daher gefragt werden, inwiefern die im Rahmen dieser Untersuchung beobachteten Kompositionsprozesse von Ritualen im Sinne Stausbergs als generelle Ausdrucksform postmoderner Existenzbastler zu verstehen sind und weniger als diskursspezifische Struktur. Eine ganze Reihe theoretischer Ansätze – meist aus der Soziologie – postuliert heute den postmodernen Existenzbastler als vorherrschende Ausdrucksform von Subjekten.21 Auch in der Religionswissenschaft hat diese Annahme dazu geführt, verstärkt auf Patchwork- oder Bastelreligion als Kennzeichen gegenwärtiger Aushandlungen um Religiosität einzugehen. Im Umkehrschluss impliziert dies jedoch ein »vor-postmodernes« Idealbild, in dem Akteure nur innerhalb eines Sinnsystems operierten und hier eine stringente und konstante Identität ausbildeten. Sicherlich ist der Faktor der Individualisierung, der seit der Aufklärung dominierend die Identitätsaushandlungen bestimmt, ein zu reflektierender Punkt, dies bedingt jedoch nicht die Unterstellung eines vor-postmodernen Idealbildes im oben genannten Sinne. Vielmehr ist gerade im Hinblick auf die wichtige Rolle, die Narrationen im Zuge von Identitätsbildungsprozessen darstellen, davon auszugehen, dass Identitätsarbeit in einem gewissen Sinne bereits zuvor narrative Bastelarbeit war. Allein die Zahl der zur Wahl stehenden Referenzsysteme und die mit wesentlich mehr Handlungsmacht ausgestatteten Subjektpositionen – auch in Bezug auf die eigene Identitätsarbeit – haben heute stark zugenommen. Es ist hierbei jedoch nur die Quantität charakteristisch für die gegenwärtigen Identitätsaushandlungen. Daraus ergibt sich dann auch eine erhöhte Zahl ritualdynamischer Prozesse, in denen Akteure zu kreativen Gestaltern der eigenen Rituale werden, die als Ausdrucksform ihrer Identitätsarbeit gesehen werden können. Wie jedoch erste geschichtliche Studien zeigen, sind derartige rituelle

18 Vgl. Lüddeckens 2004, 53. 19 Stausberg 2004, 61. 20 Ebd. 21 Vgl. Kapitel 2.3.2.

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Kompositionsprozesse nicht ausschließlich in der Gegenwart anzutreffen.22 Sicherlich in zahlenmäßig geringerem Maße und meist beschränkt auf gewisse Expertenkreise (z. B. Ritualspezialisten, Regierungsmitglieder etc.), die mit der notwendigen Handlungsmacht ausgestattet waren, finden sich jedoch auch in historischen Szenarien zahlreiche ritualdynamische Prozesse, in denen Innovation und Kreativität zu erkennen sind. Unter dem Gesichtspunkt, dass diese Ritualentwicklungen ein spezifisch postmodernes Phänomen sind, ist Stausberg daher nur bedingt zuzustimmen. Es bleibt zudem zu fragen, inwiefern die Form des Existenzbastlers unbedingt an diese ritualdynamischen Prozesse gebunden ist. Dass heute Menschen ihre eigene Biographie entwerfen, diesen Entwurf stetig hinterfragen und den jeweiligen sozio-kulturellen Einflüssen anpassen, erleben wir in verschiedenen religiösen Diskursen. Doch ist zu beobachten, dass es nur dort, wo es keine traditionell etablierten religiösen Autoritätsstrukturen gibt, zur verstärkten Ausbildung kreativer und inventiver Ritualformungen kommt. Ein weiterer Punkt, der mit der Annahme einer postmodernen Existenzform des Bastlers oder Wanderers implizit oder explizit oft einhergeht, ist die Annahme, dass in Prozessen postmoderner Identitätsarbeit und der damit zusammenhängenden Ritualarbeit eine gewissen Willkür und Beliebigkeit herrscht.23 Wie oben bereits angedeutet, muss dem jedoch entgegen gehalten werden, dass die rituellen Kompositionsprozesse keineswegs völlig beliebig verlaufen, sondern an die Regeln des Diskurses gebunden sind. Welche Rituale Verwendung finden, wie diese gestaltet werden und welche Elemente hier zum Einsatz kommen, entscheidet sich daran, was innerhalb des Diskurses von den Akteuren anerkannt ist, ihnen eine erfolgreiche Positionierung sichert und den dominanten Strukturen des Diskurses entspricht. Am Beispiel der derzeitigen Entwicklungen von ReikiSubsystemen kann dies exemplarisch noch einmal verdeutlicht werden. Basierend auf der Grundstruktur des Usui Reiki mit seinen drei Einweihungsgraden finden sich heute zahlreiche Weiterentwicklungen. Bereits an den Titeln der neuen Systeme ist zu erkennen, dass die Kompositionen innerhalb eines diskursiv bestimmten Rahmens ablaufen: Shambhala Reiki, Kundalini Reiki, Tachyon

22 Vgl. Töbelmann 2012, Mattheis & Witschel 2012. 23 So beschreibt z. B. Engelbrecht den »Wanderer« als Person, der »eklektisch und spielerisch« kombiniert. Vgl. Engelbrecht 2006, 252. Gebhardt verweist hier auf die Akteursaussagen, die als einziges Wahlkriterium den Mehrwert der religiösen und rituellen Elemente für die persönliche Entwicklung in den Vordergrund stellen. Vgl. Gebhardt 2006, 233.

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Reiki oder Einhorn Reiki24 operieren mit Elementen, die im Diskurs gegenwärtiger Religiosität bekannt und anerkannt sind. Shambhala und Kundalini sind als mystifizierte fernöstliche Elemente durch zahlreiche Publikationen im Diskurs popularisiert worden25, Tachyonen gelten als heilkräftige Teilchen in verschiedensten Methoden alternativer Heilung und mit Einhörnen, aber auch Drachen (hier gibt es auch ein neues Reiki System) schließen die Akteure an den Märchen- und Sagenbereich an. Insbesondere die hier verhandelten Symboliken sind oft referierte Deutungsmuster im Diskurs gegenwärtiger Religiosität. In den Kompositionsprozessen neuer Reiki-Systeme wird nun auf derartige Elemente zurückgegriffen, die problemlos an das energetische Wirkkonzept der Rituale angeschlossen werden können. Die Akteure spezifizieren einerseits die zur Heilung verwendete Energie – es wird nun eben mit Shambala oder Kundalini Energie geheilt – andererseits passen sie auch die Einweihungsprozesse an. Meist werden zum Erlernen eines neuen Systems eigene Einweihungen benötigt, manchmal gegliedert in verschiedene Grade. Die ritualdynamischen Entwicklungen, die hier zu beobachten sind, laufen also insgesamt nicht beliebig ab, sondern zeigen sich stark diskursiv geleitet. Wie bereits bei den Erläuterungen zu den Identitätskonstruktionen erwähnt wurde, sind allerdings auch in den Kompositionsprozessen der Rituale individuelle Momente der Wahl, entsprechend persönlicher Vorlieben und Geschmäcker, zu erkennen. Zur Vertiefung der Diskussion müssen nun jedoch noch zwei Faktoren hinzugezogen werden, die für die Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität von entscheidender Bedeutung sind: Medien und Marktstrukturen.

7.3 M EDIEN UND M ARKT : R EZEPTION , K OMMUNIKATION

UND

P OSITIONIERUNG

Die Nutzung verschiedenster Medienformate ist für Akteure gegenwärtiger Religiosität heute selbstverständlich. Ob Bücher, TV und Film oder das Internet – die Brandbreite moderner medialer Kanäle wird sowohl als Informationsquelle, wie auch als Kommunikations- und Darstellungsort genutzt. In dieser Studie wurde nicht nur deutlich, auf welche Medien die Akteure zur Rezeption, Kom-

24 Vgl. z. B. die Darstellungen der einzelnen Systeme auf der Homepage »Energie Reiki«. Zugriff unter: http://www.energie-reiki.de/ (28.01.12). 25 Vgl. zu Kundalini z. B. Melchizedek 2008; Krämer 2008; Brucker 2010; zu Shambhala z. B. Jodorf 2004; Redfield 2004, Trungpa 2012.

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munikation und Selbstpräsentation zurückgreifen, sondern die Interviews erlaubten zudem einen Einblick in die Deutungszuschreibungen der Mediennutzung. In diskurstheoretischer Perspektive lassen sich Medien als Produktions- und Aushandlungsräume für Diskurse begreifen, in denen Akteure fortlaufend um Machtverhältnisse und Wahrheitskonstruktionen ringen.26 Diskurse sind zu ihrer Artikulation auf Medien angewiesen, unterliegen dabei allerdings den diskursiven Eigenlogiken und -regeln dieser Medienformate. Medien vermitteln Subjektpositionen und geben Raum für die Präsenz von Sprecherfiguren. Damit spielen sie eine – wenn nicht die – entscheidende Rolle in diskursiven Aushandlungsprozessen. Dies trifft mit Sicherheit auch auf den Diskurs gegenwärtiger Religiosität zu. Um an dieser Stelle abschließend einige Aspekte festzuhalten, wird im Folgenden zwischen Prozessen der Rezeption bzw. Informationsvermittlung, der Kommunikation und schließlich der Positionierung in den verschiedenen Mediensparten unterschieden. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Differenzierung eine rein heuristische ist und die Prozesse im Diskurs selten bis gar nicht eindeutig voneinander zu unterscheiden sind. War Mitte der 1990er Jahre noch von einem wachsenden Markt für EsoterikBücher die Rede27, so sind die Zahlen heute scheinbar wieder rückläufig.28 Nichtsdestotrotz sind Bücher, wie die vorliegende Studie gezeigt hat, bei den Akteuren immer noch eine der wichtigsten Rezeptionsquellen. Die hier präsentierten Inhalte werden zusammen mit den narrativen Mustern und Topoi, durch welche sie vermittelt werden, von den Akteuren übernommen, gleichwohl in vielen Fällen eine genaue Bestimmung der Rezeptionsquelle nicht mehr möglich und auch nicht mehr wichtig ist. Der Buchmarkt ist, ebenso wie die anderen Mediensparten, nicht nur Zulieferer zum Diskurs, sondern die Regeln des Sagbaren

26 Hier ist an neuere Diskurstheorie in der Fortführung zu Foucault anzuschließen, da dieser insbesondere massenmedialen Formaten wenig Aufmerksamkeit schenkte. Vgl. dazu Karis 2010, 238. 27 Vgl. Spiegel Artikel »Fast Food für die Seele« vom 09.12.1996. Zugriff unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9133453.html (03.02.12). 28 Der deutsche Börsenverein notierte im Oktober 2011 für den Bereich »Spiritualität« ein Umsatzminus von 12,9% im Vergleich zum Vorjahr. Allerdings findet sich für das Jahr 2010 eine andere Kategorisierung: Hier war der Bereich »Psychologie, Esoterik, Spiritualität. Anthroposophie« mit 7,8 % Umsatzzuwachs ausgezeichnet. Im Juli 2011 wird neben »Spiritualität« als separate Kategorie nur der Bereich »Lebenshilfe, Alltag« aufgeführt. Die Zahlen und Zuordnungen sind damit nicht eindeutig. Siehe dazu die

Homepage

des

deutschen

boersenverein.de (03.02.12).

Börsenvereins.

Zugriff

unter:

http://www.

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und die Mechanismen der Macht- und Wahrheitsproduktion des BuchmarktDiskurses bestimmen wesentlich die zur Verfügung gestellten Informationen. Dazu gehört trotz in jüngster Zeit einsetzender Umstrukturierungen29 vor allem die enge Reglementierung der Zugänglichkeit primär durch die großen Verlagshäuser. Wer mit welchen Inhalten zum erfolgreichen Autor wird, hängt von den Auswahl- und Vermarktungsstrategien der Verlage ab. Mit diesen werden zugleich aber auch Maßstäbe für künftige Titel gesetzt. Nicht nur wichtige inhaltliche Konzepte des Diskurses werden über den Buchmarkt vermittelt, sondern einige bekannte Autoren übernehmen auch Vorbildrollen für die Diskursteilnehmer. In den Interviews wurde deutlich, dass z. B. Willigis Jäger als Gallionsfigur angesehen wird, der gegen kirchliche Vorgaben ein anderes, mystisch-geprägtes Christentum vertritt. Für die Rezeptionen im deutschsprachigen Raum sind USamerikanische und hiesige Autoren von Bedeutung. Wie die Bestsellerlisten anzeigen, werden international vor allem diejenigen Titel wahrgenommen, die auch auf dem US-Markt erfolgreich platziert werden konnten. »Gespräche mit Gott« von Neale Donald Walsch, »The Secret« von Rhonda Byrne oder »Die Prophezeiungen von Celestine« von James Redfield sind exemplarisch für diese Sparte zu nennen. Bemerkenswert ist hier jedoch bereits die Transmedialität der Angebote, die ihre dominante Position im Diskurs untermauert. Zu allen drei Titeln liegen inzwischen Verfilmungen vor, durch die nun auch visuelle Rezeptionsvorlagen geliefert werden. Es ist davon auszugehen, dass wenn z. B. der Protagonist in »Die Prophezeiungen von Celestine« nach langer Übung die ätherischen Körper seiner Umwelt wahrnehmen kann, die ästhetisch-filmische Umsetzung als visuelle Vorstellungsfolie rezipiert werden kann. Insgesamt kennzeichnend für den Buchmarkt ist, dass hier eine stetige Reproduktion, spezifische Ausdifferenzierung und Transformation von diskursdominierenden Mustern und Topoi zu beobachten ist. Es scheint, als gäbe es kein Thema gegenwärtiger Religiosität, zu dem es kein Buch gibt. Eine erfolgreiche Positionierung gelingt dabei jedoch nur wenigen. Dies gilt wohl auch für die wachsende Zahl von Publikationen durch Mittelfeldakteure, die diese in Eigenverlagen oder Kleinverlagen platzieren. Hohe Verkaufszahlen dürfte kaum eines dieser Bücher erreichen, gesicherte Zahlen dazu liegen allerdings nicht vor. Neben Büchern spielen im Bereich der Printmedien auch Zeitschriften eine Rolle in den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität. Da die Akteure sowohl auf den Homepages als auch in den Interviews zu dieser Studie Zeitschriften nicht aktiv thematisierten, wurden sie im vorhergehenden Medien-

29 Hier sind in erster Linie die verstärkte Gründung von Selbstverlagen und z. B. Printon-demand Formate zu nennen.

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teil dieser Arbeit ausgespart. In diesem abschließenden Kapitel sollen jedoch einige kurze Bemerkungen dazu gemacht werden. Seit der Zeit, als die »Esotera« die einzig dominierende Zeitschrift für gegenwärtige Religiosität im deutschsprachigen Raum war, hat sich viel verändert.30 In den letzten 10 Jahren war eine verstärkte Ausdifferenzierung des Angebots zu beobachten. An Titeln wie »Visionen. Spiritualität – Bewusstsein – Wellness«, »Das Wesentliche. Spiritualität – Esoterik – New Age – Wissenschaft – Persönlichkeitsentwicklung«, »Wendezeit. Zeitschrift für ganzheitliches Leben und für ein neues Zeitalter mit mehr Geist und Seele« oder »Das Engelmagazin« wird deutlich, dass die Tendenz dahin geht, für bestimmte, diskursiv-dominante Themen nun eigene Magazine zu gründen und damit eine ganz spezifische Leserschaft anzusprechen. Die Ausdifferenzierung im Zeitschriftensektor zeigt sich damit gleichzeitig als Nischenbesetzung, wenn nun einzelnen Themen wie Engel oder Reiki eigene Publikationen gewidmet werden. Ebenso wie der Buchmarkt zeigt sich die mediale Sparte Film und TV stark zugangsbeschränkt. Die Regulierungs- und Produktionsmechanismen sind für Mittelfeldakteure nicht nur wenig zugänglich, sondern auch ohne Fachwissen nicht verständlich. Nach welchen Kriterien TV-Serien zum Thema Channeling gestaltet werden oder wie Dokumentationen über religiöse Phänomene aufgebaut sind, ist für sie meist nicht nachvollziehbar. Sie sind hier in erster Linie als Konsumenten angesprochen, Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung haben sie nicht. Neben der Vermittlung von Narrationen spielt hier – wie eben bereits angedeutet – die ästhetisch-visuelle Umsetzung der Inhalte noch eine zentrale Rolle. Auch dürften die Protagonisten in vielen Fällen als Rollenvorbilder für die rezipierenden Akteure dienen, wie sich in den Interviews andeutete. Aufgrund der vorliegenden Materiallage können hierzu jedoch keine weitreichenden Aussagen getroffen werden. Im Segment der Beratung kann in jüngster Zeit allerdings eine Entwicklung konstatiert werden, die zumindest partiell eine Öffnung dieser Mediensparte anzeigt. Auf Sendern wie »Astro TV« oder »Shiva TV« erhält eine zwar immer noch stark reglementierte Zahl von Mittelfeldakteuren die Möglichkeit, sich und die eigenen Beratungsangebote zu präsentieren. Über die genauen

30 Zur Geschichte der »Esotera« siehe Bochinger 1994, 114 FN 50. Seit der Insolvenz des Hermann Bauer im Jahr 2003 wird die Zeitschrift nur noch in geringer Auflage und in unregelmäßigen Abständen von den neuen Eignern, der PMD Print Medien Dienst GmbH in Berlin, publiziert.

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Zugangsbedingungen ist jedoch nicht viel bekannt.31 Diese TV-Angebote dienen in erster Linie der Angebotspositionierung auf dem Markt der gegenwärtigen Religiosität. Eine Darstellung der eigenen religiösen Konzepte oder eine Weitergabe von rituellem Anwendungswissen wie z. B. auf vielen Homepages steht hier nicht im Vordergrund. Insbesondere durch die hier offensichtliche Verknüpfung zu ökonomischen Aspekten sind diese TV-Produktionen in jüngster Zeit in die Kritik geraten. So wird beispielsweise in Zeitungsartikeln vor der »Abzocke«32 durch die TV-Sender gewarnt und damit gleichzeitig die erstarkende Assoziationskette von Esoterik und (finanzieller) Ausbeutung gestützt. In den Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität ist heute auch das Internet von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu den beiden eben genannten Mediensparten steht hier neben der Rezeption von Inhalten auch die eigene Präsentation und Informationsvermittlung, sowie die Kommunikation im Vordergrund. Es bedient damit eine größere Bandbreite an Aushandlungsmöglichkeiten, zeigt sich jedoch in seiner diskursiv-medialen Struktur auch deutlich komplexer als z. B. der Buchmarkt oder Film und TV. Durch die niedrigen Zugangsbarrieren ermöglicht das Internet einer Vielzahl von Akteuren die aktive und vor allem öffentlich-sichtbare Partizipation am Diskurs. In den interaktiven und intermedialen Strukturen dieses Mediums werden bestimmte Muster des Diskurses gegenwärtiger Religiosität nicht nur reproduziert, sondern auch transformiert oder gefestigt. Wenn bekannte Bestsellerautoren des klassischen Buchmarkts beispielsweise auf persönlichen Homepages zitiert oder in Leselisten empfohlen werden, tragen die Akteure im Internet zur Festigung der Sprecherpositionen dieser Autoren im Diskurs bei und erhöhen damit gleichzeitig deren Rezeptionspotential. Mit den unzähligen individuellen Präsentationen im Internet – sei es auf der eigenen Webpräsenz, in einem Blog oder durch Beiträge in Foren, etc. – speisen die Akteure konstant den Pool für diskursive Aushandlungen. Wie genau jedoch die Rezeptionsprozesse für diese Inhalte ablaufen, konnte bislang noch nicht detailliert nachgezeichnet werden. Aus den Interviews ging hervor, dass die Akteure das Internet durchaus als Informationspool nutzen, aus dem sie Ideen oder auch religiöse Praktiken für den eigenen Gebrauch übernehmen. Wie sich anhand von

31 Mike Shiva (bekannter Schweizer Hellseher und Kartenleger, bürgerlicher Name: Michel Wehner), der Gründer und Betreiber von »Shiva TV« ruft auf der Webseite des Senders zu Bewerbungen auf. Siehe dazu Homepage von »Shiva TV«. Zugriff unter: http://www.shiva.tv/de/team/bewerbung/ (08.02.12). 32 Vgl. exemplarisch den Welt-Online Artikel »So läuft die Abzocke mit der Zukunftsangst«

vom

24.07.2009.

Zugriff

unter:

http://www.welt.de/wirtschaft/article

4179476/So-laeuft-die-Abzocke-mit-der-Zukunftsangst.html (12.02.12).

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den Einträgen in Gästebücher auf persönlichen Homepages vermuten lässt, werden diese Seiten eher zufällig rezipiert.33 Die mediale und öffentliche Präsenz im Internet lässt daher nicht automatisch auf eine Sprachgewalt im Diskurs schließen. Wie aus den Interviews und den untersuchten Homepages hervorging, spiegeln sich sowohl in den Erzählungen über die Nutzung des Internets als auch in den online gestellten Inhalten dominante Muster und Topoi des Diskurses gegenwärtiger Religiosität. Die Wiedergabe religiöser Lebensläufe auf den Webpräsenzen ist nach bestimmten Kriterien gestaltet, die eine Positionierung innerhalb des Diskurses erlauben und auch sichtbar nach außen machen. Die Auszeichnung durch besondere Fähigkeiten, die bereits in der Kindheit auftreten, aber auch die Darstellung der eigenen Ausbildungslaufbahn inkl. Verweise auf Titel und namhafte Ausbilder gehört beispielsweise dazu. In den Darstellungen deutet sich bereits an, wie stark die Positionierungs- und Aushandlungsprozesse des Diskurses auch mit ökonomischen Kriterien der Marktgestaltung verbunden sind. In religionsökonomischer Perspektive untersuchte bereits Markus Hero den Markt gegenwärtiger Religiosität.34 Als Faktoren für die Dynamik des Marktes, die sich insgesamt stark auf die Aushandlungen des Diskurses auswirken, identifiziert er z. B. den Wettbewerb und Konkurrenzdruck der Anbieter untereinander. Verhandelt werden verschiedenste Güter und Dienstleistungen, wobei bei letzteren insbesondere Beratungs- und Heilangebote im Vordergrund stehen. Auffälligstes Merkmal ist die stetige Ausdifferenzierung religiöser und ritueller Angebote auf dem Markt. Diese dürfte auf die komplexe Marktsituation selbst zurückzuführen sein: Unter dem Konkurrenzdruck kommt es offensichtlich zu einer wachsenden Differenzierung und unternehmerischen Orientierung. Der Wettbewerb erzeugt einen Innovationszwang, bei dem unter anderem über den Umweg des Symbolischen versucht wird, die materiellen Kräfteverhältnisse zu transformieren: Die Symbolisierung des eigenen Profils, die Abgrenzung von anderen Einrichtungen und die Werbung für die eigenen Veranstaltungen werden für die neuen Heilsanbieter zunehmend überlebensnotwendig.35

33 Es finden sich häufig Einträge, die so oder so ähnlich lauten: »bin zufällig auf deine Seite gestoßen« oder »bin über deine Homepage gestolpert, sie gefällt mir gut«. 34 Vgl. Hero 2010. Siehe insbesondere 134-200. 35 Ebd., 150-151.

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Insbesondere die Innovationsprozesse im Bereich ritueller Angebote sind von diesen Mechanismen betroffen. So kommt es, wie im entsprechenden Kapitel erwähnt, zu andauernden Ausdifferenzierungsprozessen im Bereich des spirituellen Heilens. Ein abgestuftes Ausbildungssystem schafft dabei zumindest eine temporäre Klientenbindung, denn wie auch aus den Interviews hervorging, ist die Teilnahme am Seminarangebot meist auf einen Kurs bzw. einen Ausbildungsgang beschränkt. Für einen nächsten Kurs kann bereits ein neuer Anbieter gewählt werden. Im Prozess der Abgrenzung und Identitätsbildung der Anbieter ritueller Praktiken ist im Bereich spirituellen Heilens derzeit auch zu beobachten, dass versucht wird, das Heilsystem als eigenständiges, konzeptionell abgeschlossenes Produkt zu präsentieren. Hierzu werden die konkreten Anwendungstechniken, oder auch nur die Namen (marken-)rechtlich geschützt. Mit dem Vermerk »copyright« oder »registerd trademark« versehen finden sich mittlerweile verschiedene Reiki-Subsysteme, die in einigen Fällen so auch eine intensivere Bindung der Klienten, zumindest im Ausbildungssektor, schaffen. So entwickelte der US-Amerikaner William Lee Rand, der u. a. Entwickler des Karuna Reiki ist, im Rahmen seines markenrechtlich geschützten Reiki Programms ein eigenes »Registration Programm«, an dem alle ausgebildeten Lehrer teilnehmen sollen. Dieses umfasst u. a. die Verpflichtung, in den Ausbildungskursen keine kopierten Materialen zu verwenden, sondern diese als offizielle Kopien im OnlineShop des Ausbildungszentrums von Rand zu erwerben.36 Auch in Europa sind erste Bestrebungen zu sehen, einerseits über den Markenschutz eine Abgrenzung und Identifikation einer neuen rituellen Praxis zu schaffen, andererseits gleichzeitig durch die Schaffung eines langfristigen Ausbildungsangebots die Kundenbindung zu erhöhen. Dies zeigt sich am Beispiel von Pascal Voggenhuber. Der Schweizer arbeitet als Medium und Buchautor und hat im Jahr 2010 seine neu entwickelte Behandlungsmethode »Psychic Spine Alignment«37 beim Eidgenössischen Institut für Geistiges Eigentum registrieren lassen.38 Sein Ausbildungskonzept umfasst neben einer Basisausbildung das Absolvieren von insgesamt 150 Übungsstunden (medialer Berater), die in sogenannten Übungszirkeln abgelegt werden können. Damit schafft er einen langen Ausbildungszeitraum, in dem die Klienten sich an ihn binden. Auch in seinem Angebot spiegelt sich das Be-

36 Vgl. dazu die Homepage des »International Center for Reiki Training«. Zugriff unter: http://www.reiki.org/KarunaReiki/KarunaHomepage.html (08.02.12). 37 Siehe Homepage Pascal Voggenhuber. Zugriff unter: http://www.pascal-voggen huber.com/medium/ (15.02.12). 38 Siehe Eintrag Swissreg, Zugriff unter: https://www.swissreg.ch/srclient/de/tm/600334 (15.02.12).

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dürfnis wider, die eigenen Angebote klar von anderen abzugrenzen. Dies dürfte bei den Akteuren gerade im Lichte der Vielfalt des gesamten Angebots, das vor allem durch die sichtbare mediale Präsenz im Internet deutlich wird, vorangetrieben werden. Medien- und Marktstrukturen sind insgesamt als wichtige katalytische Momente in den diskursiven Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität zu erkennen. Doch die Dynamiken, die sich insbesondere im Ritualbereich des Diskurses abzeichnen, ausschließlich auf die Anforderungen des Marktgeschehens zurückzuführen, greift zu kurz. Im Diskurs selbst wird durch das derzeit dominante Konzept des individuell gestaltbaren religiösen Entwicklungsweges eine kontinuierliche Positionierung über individuelle Religiositäts- und Ritualkonstruktionen angestrebt. Dies fördert zusammen mit den Medien- und Marktentwicklungen die stetige Ausdifferenzierung des religiösen und rituellen Angebots. Es bleibt festzuhalten, dass vor allem das mediengeschichtlich noch junge Internet einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Aushandlung gegenwärtiger Religiosität hat. Es dient nicht nur als reicher Rezeptions-, Kommunikations- und Präsentationspool für religiöse Akteure, es lässt auch wie kein anderes Medium zuvor die Pluralität und Dynamik des Diskurses erkennen. Durch seine Inter- und Transmedialität durchdringt es klassische Mediengrenzen und schafft so einen offenen und öffentlichen Raum für die Aushandlung religiöser und ritueller Elemente, der von einer Vielzahl von Akteuren genutzt wird. Es treten dabei deutliche Interdependenzen zu marktökonomischen Strukturen auf. Es ist fraglich, ob der Diskurs gegenwärtiger Religiosität ohne die mediale Sichtbarkeit und die starke Orientierung am Marktgeschehen sich in dem Umfang hätte etablieren können, wie das heute der Fall ist. Denn erst durch die öffentlich sichtbare Nutzung von z. B. medialen Räumen werden die vielfältigen Positionierungen vorgenommen, in denen auch Grenzkonstruktionen zu anderen Diskursen stattfinden.

7.4 D ISKURS UND S UBJEKT : P ERSPEKTIVEN AUF G EGENWÄRTIGE R ELIGIOSITÄT In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, subjekt- und diskursorientierte Perspektiven über Narrationen als Scharnierelement zu verbinden und so einen Zugang zum Phänomen gegenwärtiger Religiosität zu erhalten, der der Dynamik und Komplexität des Untersuchungsfeldes gerecht wird. Wie sich am empirischen Material gezeigt hat, eignen sich gerade biographische Narrationen, diskursive Strukturen auf Subjektebene zu erfassen und darzustellen. Gleichzeitig

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erlaubt eine solche Perspektive, einen Einblick in die transformativen und produktiven Ereignisse auf Seiten der Akteure zu werfen, die die Dynamik des Diskurses letztlich mitspeisen. Als ein Element der Konstituierung von Diskursen wurden immer wieder Positionierungsprozesse seitens der unterschiedlichen Akteure hervorgehoben. Beschränkte sich die bisherige Darstellung vorwiegend auf Positionierungsleistungen von Diskursteilnehmenden, so soll diese Perspektive nun noch erweitert werden. Denn die als dynamisch zu begreifenden Grenzen diskursiver Felder werden – folgt man der Theoriediskussion im Anschluss an Foucault – immer wieder neu ausgehandelt. Dies geschieht vor allem auch in Positionierungsprozessen. Diese werden von einer Vielzahl von Akteuren vorgenommen, die durch Selbst- und Fremdpositionierungen einerseits ihre eigene Diskurszugehörigkeit postulieren, andererseits eine Abgrenzung zu anderen Diskursen vornehmen. Zu den übergeordneten Akteursgruppen, deren Stimmen in den Aushandlungen von Diskursgrenzen meist ein starkes Gewicht besitzen, zählen z. B. Presse und Medien, Politik und Wirtschaft. Im Falle der Formierungsprozesse religiöser Diskurse sind mit Sicherheit andere religiöse Akteure eine zentrale Stimme in diesen Aushandlungen. Da diese Positionierungsprozesse stark mit der Abgrenzung von ›anderen‹ und damit gleichzeitig aber auch mit dem Postulat des Eigenen zu tun haben, ist zu erwarten, dass sie geprägt sind von Wahrheitsansprüchen und Wertigkeitszuschreibungen. In den Aushandlungen der Diskursgrenzen gegenwärtiger Religiosität ist eine Vielzahl außenstehender Akteure beteiligt: kirchliche Akteure, Medienvertreter, Psychologen, Wissenschaftler, Juristen, etc. Eine Diskursanalyse auf dieser eher gesellschaftlich orientierten Ebene sollte diese Akteurspositionen umfassend wahrnehmen. Da in der vorliegenden Studie das Interesse zunächst von Subjekten ausging, soll diese Makroebene nur exemplarisch an zwei Aussagen verdeutlicht werden. In den folgenden Aussagen von evangelischer und katholischer Seite wird eine Fremdpositionierung von »Esoterik« vorgenommen. Damit wird gleichzeitig versucht, die Grenze des diskursiven Feldes abzustecken. Als Beispiele wurden ein Positionspapier des päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog aus dem Jahr 2002 und eine Kurzschrift der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen ausgewählt. Über die Komplexität des Diskurses gegenwärtiger Religiosität – hier mit »Esoterik« betitelt – sind sich dabei beide Positionen bewusst. Aber zumindest in der katholischen Stellungnahme wird diese jedoch temporär reduziert, da auf Grund ihrer »gnostischen Natur« die »Bewegung« nur in ihrer Gesamtheit beurteilt werden könne.39 Grenzziehungen werden von katholischer Seite einerseits

39 Vgl. Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog 2002, 20.

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über religiöse Inhalte, andererseits aber auch über Praktiken vollzogen. Hier wird der personale, trinitäre christliche Schöpfergott dem »ziemlich diffus[en]« New Age-Konzept von Gott gegenübergestellt. Auch die im Diskurs gegenwärtiger Religiosität bekannte Idee, dass Jesus lediglich einer unter vielen ›Eingeweihten‹ ist, wird von kirchlicher Seite als abzulehnende Position begriffen. Der rituellen Praxis gegenwärtiger Religiosität wird weiterhin der Ritualcharakter im Sinne eines Gebets abgesprochen. New-Age-Praktiken sind eigentlich kein Gebet, insofern sie im Allgemeinen eine Frage der Selbstbeobachtung oder des Verschmelzens mit kosmischer Energie sind, ganz im Gegensatz zur doppelten Orientierung des christlichen Gebets, das Selbstbeobachtung einschließt, aber wesentlich auch eine Begegnung mit Gott ist.40

Weitere Punkte der Abgrenzung sind das Menschenbild, postmortale Vorstellungen, Handlungsmacht im »Heilsgeschehen«, der Sündenbegriff und der Bereich des sozialen Engagements. Eine parallele Positionierung sowohl innerhalb des Diskurses gegenwärtiger Religiosität als auch im christlichen Diskurs wird von Seiten der katholischen Kirche vehement abgelehnt. Vom Standpunkt des christlichen Glaubens her ist es nicht möglich, einige Elemente der New-Age-Religiosität als für Christen akzeptabel zu isolieren und gleichzeitig andere abzulehnen. Da die New-Age-Bewegung der Kommunikation mit der Natur und dem Wissen um ein universelles Gutes große Bedeutung beimisst und dabei die offenbarten Inhalte des christlichen Glaubens leugnet, kann sie nicht als positiv oder harmlos angesehen werden. In einer von religiösem Relativismus geprägten kulturellen Umwelt ist es notwendig, vor dem Versuch zu warnen, die Religiosität des New Age auf eine Stufe mit dem christlichen Glauben zu stellen, indem man den Unterschied zwischen Glauben und Anschauung relativ erscheinen lässt und dadurch unter den Unvorsichtigen noch größere Verwirrung stiftet.41

Aus dem Zitat geht deutlich hervor, dass die katholische Kirche klar eine eindeutige Grenzziehung zwischen den Diskursen wünscht. Sie spricht den Akteuren gegenwärtiger Religiosität die Handlungs- und Entscheidungsmacht über die Beurteilung der religiösen Komparabilität ab und weist daher eine wichtige Selbstpositionierungsstrategie dieser Akteure zurück. Wie die Praxis z. B. in Person von Nicki zeigt, werden derartige Vorstellungen zur Abgrenzung der

40 Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog 2002, 22. 41 Ebd., 20.

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Diskurse von Seiten der Akteure entweder nicht wahrgenommen oder schlichtweg nicht beachtet. Nicki bezeichnet sich weiterhin als gläubige Christin (katholisch), kann für sich jedoch Elemente aus dem Diskurs gegenwärtiger Religiosität übernehmen und sich damit »doppelt diskursiv« positionieren. Die Aussagen von evangelischer Seite sind in dem ausgewählten Beispiel etwas anders gewichtet. In dem kurzen Positionspaper der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen wird der Schwerpunkt in der Darstellung auf »Esoterik« als Markt gelegt. Als Aspekte werden folgende Punkte zusammengefasst: • • • • •

Antihaltung gegenüber traditionellen organisierten Formen von Religion Auf der Suche nach dem Überwissen bzw. Ur-Wissen der Menschheit Erlebnisreligiosität All-Einheit als Ausgangspunkt und Ziel (Monismus) Anthropozentrische Weltsicht42

In weiteren Abgrenzungen geht die evangelische Sicht hier wesentlich vorsichtiger als die katholische vor. Sie sieht »Esoterik« als Ausdruck von »tiefen menschliche[n] Sehnsüchte[n] nach Heil und Heilung«, als »Ausdruck des Zeitgeistes: die Suche nach Erlebnissen, außergewöhnlichen Erfahrungen sowie nach unverbindlichen und auf persönliche Bedürfnisse zugeschnittenen Formen von Religiosität.«43 Zwar werden einige Punkte kritisch beleuchtet wie z. B. in Abhängigkeiten zu geraten, zu sehr bestimmten Methoden zu vertrauen und überzogene Heilungsversprechungen zu haben. Eine Grenzziehung im Sinne einer expliziten Ausgrenzung der Akteure aus dem Bereich der Kirche findet jedoch zumindest in diesem Positionspaper nicht statt. Insgesamt macht es die Komplexität und Pluralität des Diskurses gegenwärtiger Religiosität außenstehenden Akteuren nicht leicht, eine eindeutige Fremdpositionierung vorzunehmen und sich selbst damit abzugrenzen. Denn wenn nicht klar ist, was genau gegenwärtige Religiosität umfasst, ist der Aufbau eines Bezugsverhältnisses schwierig. Dies wird u.a. auch deutlich in den Positionierungsprozessen von Akteuren vermeintlicher Subfelder des Diskurses gegenwärtiger Religiosität. Wicca ist hierfür ein gutes Beispiel. Von vielen WiccaPraktizierenden wird ihr diskursives Feld als eigenständig und unabhängig zu dem der gegenwärtigen Religiosität (hier meist mit »Esoterik« betitelt) konstruiert. Vor allem mit dem Hinweis auf religionsgeschichtliche Bindungen, signifi-

42 Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 2009. 43 Ebd.

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kante Organisationsstrukturen (Coven) oder rituelle Praktiken, die eine gewisse Systematisierung und Normierung aufweisen können, werden Differenzen zum »allgemeinen« Bereich gegenwärtiger Religiosität gezogen. Im Hinblick auf bestimmte religiöse Vorstellungen (»alles-ist-eins«-Topos) sieht man jedoch durchaus Korrelationen. Hier wird auch die Rolle wissenschaftlicher Akteure in der Diskussion um Diskursgrenzen deutlich. So wird Wicca von Seiten der Religionswissenschaft und unter religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten einmal als eigenständiger Bereich konstruiert, mal wird es neben z. B. »dem« Schamanismus oder »dem« Neugermanentum44 im übergeordneten Diskurs gegenwärtiger Religiosität verortet.45 Derartige Positionierungen werden von den betroffenen Akteuren teilweise scharf zurückgewiesen. Für all diese und natürlich die unzähligen weiteren Akteure, die in den Positionierungsprozessen um gegenwärtige Religiosität beteiligt sind – z. B. Medien, Politik, Wirtschaft – gilt, dass sie keine monolithischen Blöcke mit entsprechend eindeutig zu identifizierenden Positionen einnehmen, sondern sie vielfach zu differenzieren wären. Auch kulturelle und historische Kontexte prägen die Art und Weise, wie die Grenzziehungen zwischen verschiedenen religiösen Diskursen vollzogen werden. Insgesamt sind die Diskursgrenzen nicht als statische Gebilde zu sehen, sondern werden unter Berücksichtigung aller beteiligten Akteure in einem dynamischen Positionierungsgeschehen stetig neu verhandelt. Diese Dynamik zeigt sich derzeit auch in der bereits angesprochenen Verlagerung zum Begriff Spiritualität. Die Entwicklung von dem früher bevorzugten Begriff Esoterik hin zu Spiritualität lässt sich unter Rückgriff auf das Diskursmodell von Laclau und Mouffe rekonstruieren. Im Zuge der Popularisierung des Diskurses gegenwärtiger Religiosität setzte sich im deutschsprachigen Raum als Selbst- und Fremdbezeichnung zunächst der Begriff Esoterik durch. Neben religiösen Akteuren waren in diesen Prozessen vor allem auch Vertreter der Medien beteiligt.46 Esoterik konnte zumindest temporär als leerer Signifikant dienen, über den Positionierungs- und Identitätsbildungsprozesse möglich waren und der eine antagonistische Grenze nach außen schaffte. Im Laufe der diskursiven Aushandlungsprozesse ist jedoch zu beobachten, dass von Seiten verschiedenster Akteure diesem ehemals leeren Signifikanten verstärkt Bedeutungen zugeschrieben werden, die sich auch in Form bestimmter Assoziationsketten zeigen. So eine typische Kette ist z. B. die Verknüpfung von Esoterik – Markt – finanzielle

44 Siehe dazu Schnurbein 1992, 126ff. 45 Für einen Überblick über die unterschiedlichen Forschungspositionen siehe Rensing 2007, 23ff. 46 Vgl. Bochinger 1994, 138-184.

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Ausbeutung – »unehrliche« Religiosität. Das Zustandekommen derartiger Bedeutungszuschreibungen ist entscheidend auch von den Macht- und Sprecherpositionen der in den Positionierungsaushandlungen beteiligten Akteure abhängig. Warnende Stimmen kirchlicher Sektenexperten, entsprechende Presseberichte in den einschlägigen Wochenzeitschriften besitzen im öffentlichen Raum eine gewisse Sprachgewalt. Nehmen sie Fremdpositionierungen vor und schreiben damit gleichzeitig dem Signifikanten bestimmte Bedeutungen zu, so ist das Rezeptionspotential auch durch Akteure gegenwärtiger Religiosität langfristig wohl relativ hoch. Diese Prozesse spiegeln sich in den Interviews deutlich wider. Eine Identifikation und Abgrenzung über Esoterik ist für viele Beteiligte heute nur noch beschränkt oder gar nicht mehr möglich. Diese Situation begünstigt das Aufkommen eines neuen leeren Signifikanten Spiritualität, über den wieder – zumindest temporär – stabile Äquivalenzzusammenhänge zur Konstituierung des Diskurses hergestellt werden können. Diese Verschiebungsprozesse lassen sich momentan beobachten. Interessant dabei ist, dass Spiritualität als leerer Signifikant derzeit noch diskursübergreifende Grenzen ausbildet. Auf ihn beziehen sich Akteure unterschiedlichster religiöser Diskurse (z. B. Christentum, Islam, Buddhismus), wenn es um die Umsetzung individualreligiöser Komponenten geht. Die eigene religiöse Erfahrung im Gegensatz zu Expertenwissen religiöser Spezialisten und übergreifende religiöse Organisationsstrukturen stehen hier im Mittelpunkt und bilden das abgrenzende Moment. Es bleibt weiterhin zu beobachten, wie sich diese Positionierungsprozesse entwickeln und wie genau es zu Binnendifferenzierungen der verschiedenen religiösen Diskurse kommt – was langfristig zu erwarten ist. Gegenwärtige Religiosität zeigte sich in dieser Studie als Untersuchungsgegenstand, der durch seine offensichtliche Komplexität, Pluralität und Dynamik gerade dazu herausfordert, neue theoretische und analytische Zugänge für religionswissenschaftliches Forschen zu erproben. Die hier vorgeschlagene Verbindung von subjekt- und diskursorientierten Ansätzen ist eine Möglichkeit dafür, die jedoch mit Sicherheit an einigen Stellen noch weiterer Reflexion und theoretischer Einbettung bedarf. Gerade das Einbeziehen der Perspektiven sogenannter Mittelfeldakteure dürfte für zukünftige Untersuchungen zum Thema gegenwärtiger Religiosität immer mehr an Bedeutung gewinnen. Denn hier zeigt sich, dass die bislang in der Forschung primär wahrgenommenen Oberschichtenpositionen nicht stellvertretend für den gesamten Diskurs gesehen werden können. Ein differenzierter Blick auf die Akteursperspektiven religionswissenschaftlicher Untersuchungsräume zeigt vielfach deutlich die Grenzen bisheriger Beschreibungsmodelle auf. Wo früher vielleicht religionsgeschichtliche stringente Entwicklungen festgestellt wurden oder eine Abgrenzung zu anderen religiösen

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Traditionen problemlos möglich schien – orientierte man sich dafür z. B. an dogmatischen Vorgaben eines religiösen Lehrsystems und seiner Experten – erscheint die Situation schlagartig weniger eindeutig und weniger festschreibbar, berücksichtigt man weitere Akteursperspektiven. Zur Beschreibung der Dynamiken religiöser Phänomene müssen daher auch in Zukunft theoretische Überlegungen angestellt werden, wie diese religionswissenschaftlich adäquat erfasst und beschrieben werden können. Das Diskursmodell im Allgemeinen, in der hier vorgestellten spezifischen Kombination mit subjektorientierten Perspektiven im Besonderen, sind erste geeignete Ansätze dazu. Aktuelle Theoriediskussionen im kultur- und geisteswissenschaftlichen Fächerkanon, deren Mitglieder sich ebenfalls mit der wahrnehmbaren Dynamik, Komplexität und vielfach auch Pluralität der untersuchten Phänomene auseinandersetzen müssen, bieten noch eine ganze Reihe weiterer Ansätze, deren Adaption und ggf. Transformation für religionswissenschaftliches Arbeiten zu prüfen wäre. Für den Moment jedoch wird die für diese Studie ausgewählte Foucaultsche Werkzeugkiste wieder geschlossen, in der Hoffnung durch ihren Gebrauch einige spannende und neue Perspektiven auf die Aushandlungen gegenwärtiger Religiosität geworfen zu haben.

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http://www.licht-wege.com/

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http://www.himmelswanderer.de/

http://www.reiki-atlantis.de/

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http://www.elisamara.de/

em-netjeru/index.htm http://www.hexe-ashira.net/

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Danksagung

Dass meine Forschungsarbeit nun in Form dieser Publikation vorliegt, habe ich verschiedenen Personen zu verdanken, die mich auf ihre unterschiedliche, ganz individuelle Weise auf meinem bisherigen Weg begleitet und unterstützt haben. Bei ihnen möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken. Mein Doktorvater Prof. Gregor Ahn eröffnete mir durch die Stelle im Sonderforschungsbereich 619 »Ritualdynamik« nicht nur die Möglichkeit, meine ersten Schritte in der akademischen Laufbahn anzugehen, sondern gab mir damit auch die Chance in einem interdisziplinären Forscherverbund arbeiten zu können. Die Diskussionen mit Mitgliedern des SFBs, die Arbeitskreise und die Tagungen habe ich immer sehr geschätzt. Dem SFB 619 und damit der DFG gilt es zudem für die finanzielle Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes zu danken. Prof. Inken Prohl danke ich sehr für die Begutachtung der Arbeit. Meine Heidelberger Zeit war zudem geprägt durch eine reiche Diskussionskultur und ein freundschaftliches Umfeld am Institut für Religionswissenschaft. Ohne die »weisen Hasen« Gernot Meier, Kerstin Radde-Antweiler und Simone Heidbrink wären die zahlreichen Irrungen und Wirrungen, die dieses Forschungsprojekt für mich bereit gehalten hat, mit Sicherheit nicht zu lösen gewesen. Ihnen gilt zusammen mit Katja Rakow, Ann Laurence Maréchal-Haas, Sebastian Emling und vielen weiteren Heidelberger Kolleginnen und Kollegen mein herzlicher Dank. Die grundsätzliche Durchführung der Studie war außerdem nur möglich, da sich die Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer bereit erklärten mich an ihren Lebensgeschichten teilhaben zu lassen und sich mir gegenüber zu öffnen. Ein großer Dank geht daher an Alex, Andi, Chris, Jo, Kim, Luca, Maxi, Michi, Nicki, Sam, Toni und Uli. Für die Möglichkeit, dieses Buch in der Reihe »Religion und Medien« zu publizieren, danke ich Prof. Oliver Krüger sehr herzlich. Seine wertvollen kriti-

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schen Kommentare waren mir bei der Überarbeitung des Textes eine große Hilfe. Für stets offene Ohren, für notwendige Ablenkungen vom »Diss-Universum« und einfach für eure Unterstützung und Begleitung in den letzten Jahren danke ich zudem Melanie, meinen Münchnern, meinen Karlsruhern, meinen Luzernern und Matthias. Ich widme dieses Buch meinen Eltern Christel und Klaus.

Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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