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German Pages [402] Year 2016
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Schriften des Sigmund-Freud-Instituts
Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Reihe 2 Psychoanalyse im interdisziplinären Dialog Herausgegeben von Marianne Leuzinger-Bohleber und Rolf Haubl Band 21 Verena Neubert Bindung und Risiko
Verena Neubert
Bindung und Risiko Wie weit reicht die protektive Kraft sicherer Bindung?
Vandenhoeck & Ruprecht
Dissertation an der Universität Kassel im Fachbereich 1 Humanwissenschaften Verena Neubert, Disputation am 29.04.2015
Mit 17 Abbildungen und 55 Tabellen Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-45134-3 Umschlagabbildung: © maxim ibragimov/shutterstock.com © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Problemaufriss und Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . 12 1.2 Forschungsstand und Anknüpfungspunkte . . . . . . . . . 15 1.3 Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.4 Gliederung der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Theoretischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Die Bindungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.1.1 Grundlegende Annahmen der Bindungstheorie . . . . 21 2.1.2 Die Ontogenese des Bindungssystems . . . . . . . . . . . . . 22 2.1.2.1 Die Funktion des Bindungsverhaltens . . . . . . . . . . . . . 26 2.1.2.2 Die Aktivierung und Beendigung von Bindungsverhaltensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.1.3 Das innere Arbeitsmodell der Bindung . . . . . . . . . . . . 30 2.1.4 Die empirische Bindungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.4.1 Der sichere Bindungstyp: B . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.1.4.2 Der unsicher-vermeidende Bindungstyp: A . . . . . . . . 37 2.1.4.3 Der unsicher-ambivalente Bindungstyp: C . . . . . . . . . 38 2.1.4.4 Der desorganisierte Bindungstyp: D . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.1.5 Der Zusammenhang zwischen Bindungsmustern und Verhaltensauffälligkeiten in der mittleren Kindheit . 43 2.2 Risikofaktoren und deren Einfluss auf die kindliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.2.1 Risikofaktoren und Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.2.2 Bindung als ein Schutz- bzw. Risikofaktor bei der Entstehung kindlicher Fehlanpassung – eine sichere Bindung als ein protektiver Faktor? . . . . . . . . . . . . . . . 74 2.3 Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
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Inhalt
3 Kontext des Promotionsprojekts: Die EVA-Studie . . . . 83 3.1 Die Frankfurter Präventionsstudie als Vorläufer des EVA-Projekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.2 Zielsetzung und Design der EVA-Studie . . . . . . . . . . . 85 3.2.1 Stichprobengenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 3.2.2 Instrumente und Messzeitpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.2.3 Das Präventionsprogramm FRÜHE SCHRITTE . . . . 90 3.2.4 Das Präventionsprogramm FAUSTLOS . . . . . . . . . . . 94 3.2.5 Erste Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4 Eigenes Promotionsprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.1 Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.2 Rekrutierung der Analysestichprobe und Stichprobenbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.3 Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.3.1 Elterninterview zur Erfassung von Risikofaktoren . . . 104 4.3.1.1 Konstruktion des Elterninterviews . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.3.1.2 Operationalisierung der Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . 114 4.3.1.3 Bildung eines Risikoindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.3.1.4 Unterteilung der Risiken in »Risikobereiche« . . . . . . . 125 4.3.2 Manchester Child Attachment Story Task – MCAST 127 4.3.2.1 Bildung einer dreistufigen ordinalen Bindungsvariablen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4.3.3 Everyday Stressors Index – ESI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.3.4 Strengths and Difficulties Questionnaire – SDQ . . . . 133 4.4 Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4.5 Forschungsfragen und Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.6 Statistische Methoden und Auswertung . . . . . . . . . . . . 140 4.6.1 Überprüfung der Anwendungsvoraussetzungen der statistischen Analysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.6.2 Überprüfung der Vergleichbarkeit von Verhaltens auffälligkeiten und Risikoanzahl in den FAUSTLOSund FRÜHE SCHRITTE- Interventionsgruppen . . . . 142 4.7 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.7.1 Profil der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.7.1.1 Familiäre Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.7.1.2 Migrationsgeschichte der Familien . . . . . . . . . . . . . . . . 150
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4.7.1.3 Familiärer Bildungshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4.7.1.4 Entwicklungsauffälligkeiten und Krankheiten . . . . . . 167 4.7.1.5 Sozioökonomische Faktoren: Wohnsituation, finanzielle Belastung und kulturelles Kapital der Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.7.1.6 Fragebogendaten: Elterliche Stressbelastung und kindliche Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . 171 4.7.1.7 Bindungsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 4.7.2 Beantwortung der Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . 176 4.7.2.1 Verteilung und Korrelation der Risikofaktoren . . . . . 177 4.7.2.2 Zusammenhang von Risikofaktoren und Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.7.2.3 Zusammenhang von Risikofaktoren und Bindung . . . 192 4.7.2.4 Zusammenhang von Bindung und Verhalten . . . . . . . 200 4.7.2.5 Zusammenspiel von Bindung und Verhalten unter Berücksichtigung des Risikostatus . . . . . . . . . . . 203 4.8 Einzelfallstudie Cary: Betrachtung des Zusammenspiels von Risikofaktoren, Bindung und Verhaltensauffälligkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4.8.1 Cary – Wie das Vorliegen und die Kumulierung von Risikofaktoren den Bindungstyp und das Verhalten (mit-)bedingen können . . . . . . . . . . . . . 219 4.8.2 Psychodynamische Sicht auf die äußere und innere Situation eines desorganisiert gebundenen Kindes – verfasst von Marion Hermann . . . . . . . . . . . 226 4.8.2.1 Zusammenfassende psychodynamische Hypothesen 247 4.8.3 Reflexion des Fallmaterials in der Gruppe . . . . . . . . . . 249
5 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 5.1 EVA, eine Studie im Hochrisikomilieu – Besonderheiten der Stichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 5.2 Der Einfluss einer Risikokumulierung auf Verhalten und Bindungsstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 5.2.1 Der Einfluss einer Risikokumulierung auf das Verhalten von Kindern – Diskussion der Hypothese H1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 5.2.2 Die Auswirkungen einer Risikokumulierung auf den Bindungstyp – Diskussion der Hypothese H2 269
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5.3 Der Einfluss familiär/psychosozialer und schichtbezogen/sozioökonomischer Risiken auf Verhalten und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5.3.1 Der Einfluss familiär/psychosozialer und schichtbezogen/sozioökonomischer Faktoren auf Verhalten – Diskussion der Zusatzanalysen . . . . . 273 5.3.2 Der Einfluss familiär/psychosozialer und schichtbezogen/sozioökonomischer Faktoren auf den Bindungstyp – Diskussion der Zusatzanalysen . . . . . . 281 5.4 Die Wirkweise einzelner Risiken auf Verhalten und Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 5.4.1 Der Zusammenhang einzelner Risikofaktoren mit dem Verhalten – Diskussion der Zusatzanalysen . . . . 282 5.4.2 Der Zusammenhang einzelner Risikofaktoren mit der Bindungstypisierung – Diskussion der Hypothese H3 290 5.5 Der Zusammenhang von Bindung und Verhalten – Diskussion der Hypothese H4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 5.6 Die gemeinsame Wirkweise von Risikofaktoren und Bindungsklassifikation für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten – Diskussion der Hypothese H5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 5.7 Abschließende Überlegungen: Resilienz und Risiko – Implikationen für die Frühprävention . . . . . . . . . . . . . 303 5.7.1 Resilienz – ein Begriff aus der empirischen Forschung 304 5.7.2 Implikationen für die Frühprävention in einer Hochrisikostichprobe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
6 Ausblick und Methodenkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 6.1 Einschränkungen der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 6.2 Zukünftige Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
»Wir müssen mehr wissen über individuelle Dispositionen, über die Unterstützungsangebote in der Familie und der Gemeinde, die es […] Kindern ermöglichen, kulturelle Grenzen zu überschreiten und in hoch riskanten Lebenskontexten ihr Leben möglichst effektiv zu gestalten. Wir können viel von diesen Kindern lernen.« Emmy Werner, 2007
1 Einleitung
Das Aufwachsen unter risikobehafteten und entwicklungsgefährdenden Bedingungen, wie einer prekären familiären oder sozioökonomischen Situation, ist in unserer Gesellschaft kein Einzelschicksal. Gerade Kinder, die dieses Schicksal erleiden, sind in vielerlei Hinsicht gesundheitsgefährdet und gehäuft von psychopathologischen Erkrankungen, vor allem der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten, betroffen (vgl. u. a. Laucht, 2012; Merikangas et al., 2010; Hölling, Erhart, Ravens-Sieberer und Schlack, 2007; Hölling und Schlack, 2008; Esser, Laucht und Schmidt, 1995; Sameroff, Seifer, Zax und Barocas, 1987; Rutter, 1979). Um jedoch gezielte Unterstützungs- und Präventionsangebote konzipieren zu können, bedarf es einer genauen Kenntnis der Risiken, denen diese Kinder ausgesetzt sind. Dies betrifft nicht nur die direkten Auswirkungen der Risikofaktoren, sondern auch ihr Zusammenwirken mit protektiven Faktoren wie einer sicheren Bindung. Die vorliegende Arbeit hat sich es sich zum Ziel gesetzt, unter dem Titel »Bindung und Risiko – Wie weit reicht die protektive Kraft sicherer Bindung?« zwei große Forschungstraditionen zu verbinden, die Tradition der Bindungstheorie sowie die Tradition der Risikoforschung. Anknüpfend an eine Forschungsarbeit von Belsky und Fearon (2002), stellt sie die Frage nach der schützenden Wirkung einer sicheren Bindungsbeziehung und wie stark sich diese, auch unter der Belastung mit multiplen Problemlagen, bei Kindern in der mittleren Kindheit (im Alter zwischen sechs und elf Jahren, vgl. Berk und Schönpflug, 2011) auf die Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten auswirken kann. Im Rahmen dieser Forschungsfrage betrachtet sie einerseits die Zusammenhänge zwischen einer Risikokumulierung, verschiedenen Risikobereichen und einzelnen Risikofaktoren mit der Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten. Andererseits untersucht sie, welche Konsequenzen das Zusammen-
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Einleitung
wirken einer sicheren Bindungsbeziehung mit dem Aufwachsen in einem Risikomilieu für das gezeigte Verhalten haben kann. Eingebettet ist die Arbeit in einen größeren Forschungszusammenhang, die EVA-Studie (»Evaluation zweier Frühpräventionsprogramme in Kindergärten mit Hochrisikokindern«). Diese wird vom Sigmund-Freud-Institut, in Kooperation mit dem Anna-FreudInstitut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, gemeinsam durchgeführt. Die EVA-Studie ist in den Kontext des Zentrums für »Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk« (IDeA) integriert, das im Rahmen der »LandesOffensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz« (LOEWE) durch das Land Hessen gefördert wird. Unter dem Dach des IDeA-Zentrums arbeiten die Johann-Wolfgang-Goethe Universität, das Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und das Sigmund-Freud-Institut (SFI) zusammen.
1.1 Problemaufriss und Forschungsfragen Ein Hauptanliegen der empirischen Bindungsforschung in den letzten Jahrzehnten war es, die Zusammenhänge zwischen dem Vorliegen eines bestimmten Bindungstyps und dessen Einfluss auf die Art und Ausprägungsintensität von Verhaltensauffälligkeiten zu erhellen. Diesbezüglich wurden viele Forschungsanstrengungen unternommen und zahlreiche Studien durchgeführt (vgl. u. a. Fearon und Belsky, 2011; Fearon, Bakermans-Kranenburg, van Ijzendoorn, Lapsley und Roisman, 2010; Moss, Bureau, Béliveau, Zdebik und Lépine, 2009; Geddes, 2009; Brisch, 2009; DeKlyen und Greenberg, 2008; Weinfield, Sroufe, Egeland und Carlson, 2008; Munson, McMahon und Spieker, 2001; Weinfield, Sroufe und Egeland, 2000; Warren, Huston, Egeland und Sroufe, 1997; Suess, Grossmann und Sroufe, 1992; Erickson, Sroufe und Egeland, 1985; Bretherton, 1985). Viele dieser Studien untersuchten den Zusammenhang von Bindung und Verhalten in Populationen, die bereits mit Risiken belastet waren, wie beispielsweise einem geringen Einkommen (vgl. Belsky und Fearon, 2002; Erickson et al., 1985). Gerade in diesen »Risikopopulationen« ließen sich die Befunde bestätigen, dass eine sichere Bindung einen protektiven Effekt auf den Ausprägungsgrad von
Problemaufriss und Forschungsfragen
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Problemverhalten ausübt und Kinder, die unsicher oder desorganisiert gebunden sind, stärkere Verhaltensauffälligkeiten ausprägen als sicher gebundene Kinder. So wurden eine sichere Bindung und eine Desorganisation auch als zwei Pole eines Kontinuums, im Hinblick auf die Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten, bezeichnet (Moss et al., 2009). Belsky und Fearon (2002) stellten vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse die Frage, welche Wechselwirkungen zwischen dem kontextualen Risikostatus (der Risikoanzahl, der ein Kind ausgesetzt ist) und dem Bindungstyp bei der Ausprägung verschiedener Entwicklungsergebnisse, unter anderem dem Ausprägungsgrad von Verhaltensauffälligkeiten, bestehen. Die Forschung zu Risikofaktoren entwickelte, begonnen bei der berühmt gewordenen »Isle of Wight«-Studie (Rutter, 1979), einen Ansatz zur Betrachtung von Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung, der häufig unter dem Namen des »cumulative risk model« firmiert (vgl. Evans, Li und Whipple, 2013). Dabei steht nicht die inhaltliche Ausrichtung der Risikofaktoren im Fokus (beispielsweise, ob es sich um psychosoziale oder sozioökonomische Faktoren handelt) oder ihre Gewichtung, sondern die bloße Anzahl der Risiken. Dieser Ansatz ergab sich aus den Ergebnissen zahlreicher Risikostudien (vgl. Rutter, 1979; Sameroff et al., 1987; Esser et al., 1995; Meyer-Probst und Reis, 1999; Laucht, Esser und Schmidt, 2000a; Appleyard, Egeland, van Dulmen und Sroufe, 2005; Sroufe, Coffino und Carlson, 2010). Diese konnten nachweisen, dass nicht so sehr der einzelne Risikofaktor oder die Gewichtung verschiedener Faktoren bei der Ausprägung einer Psychopathologie von Bedeutung sind, sondern die Anzahl der vorliegenden Risiken vielmehr zu einer Potenzierung der Risikoeffekte führt, die in manchen Studien sogar die Aufaddierung der Einzelrisikoeffekte übertraf (Rutter, 1979; Luthar und Cicchetti, 2000). So berichten Rutter et al. (1979) davon, dass das Vorliegen eines einzelnen von ihnen untersuchten Risikofaktors (schwere eheliche Disharmonie, geringer sozioökonomischer Status, große Familiengröße, väterliche Kriminalität, mütterliche Psychopathologie und Pflegeunterbringung des Kindes) keinen signifikanten Einfluss auf die Ausprägung kindlicher Psychopathologie hatte. Das Vorliegen von zwei Risiken führte hingegen zu einem vierfachen Anstieg der Wahrscheinlichkeit, eine psychische Störung zu entwickeln. Das Vorliegen von vier Risiken ergab in ihrer
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Einleitung
Untersuchung sogar eine Verzehnfachung der Erkrankungswahrscheinlichkeit (Rutter, 1979). Das Promotionsprojekt führt diese beiden Forschungsstränge zusammen, indem es im Rahmen der EVA-Studie den Zusammenhang zwischen Risikofaktoren, Bindung und Verhalten untersucht. Im Fokus steht hierbei die Frage, ob für eine sichere Bindung auch unter massivster Risikoeinwirkung (Kumulierung von vielen Risikofaktoren) noch eine protektive Wirkung bezüglich des Auftretens von Verhaltensauffälligkeiten nachgewiesen werden kann. Anhand der Betrachtung der Risikofaktoren und ihrer Auswirkungen sowie ihres Zusammenwirkens mit der Bindung sollen schließlich Überlegungen zur Konzeption präventiver Maßnahmen angestellt werden. Denn, so betonen Hölling und Schlack (2008): »Das Potenzial vorhandener Risiko- und Schutzmaßnahmen mit ihren Entsprechungen und Ergänzungen zu erkennen, ist Voraussetzung für die Ableitung präventiver Maßnahmen zur Vermeidung psychischer Störungen« (Hölling und Schlack, 2008, S. 154). Somit ergeben sich für die hier vorliegende Forschungsarbeit die folgenden, empirisch zu untersuchenden, vier Fragenkomplexe: 1. Wie sind die Zusammenhänge zwischen einer Risikokumulierung und dem Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten? Ist ein kumulativer Effekt der Risikoanzahl beobachtbar? 2. Wie sind die Zusammenhänge zwischen Risikoanzahl und Bindungstyp? Beeinflusst die Anzahl von Risikofaktoren auch den Bindungstyp dahingehend, dass sicher gebundene Kinder weniger belastet sind als unsicher gebundene oder desorganisierte Kinder? 3. Wie sind die Zusammenhänge zwischen Bindung und Verhalten? Finden wir in der untersuchten Stichprobe den protektiven Effekt einer sicheren Bindung? 4. Wie weit reicht die protektive Kraft sicherer Bindung? Kann eine sichere Bindung auch unter hoher Risikoeinwirkung einen Schutzfaktor in Bezug auf die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten darstellen?
Forschungsstand und Anknüpfungspunkte
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1.2 Forschungsstand und Anknüpfungspunkte Eine grundlegende Forschungsarbeit zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen stellt die Arbeit von Belsky und Fearon (2002) dar. Im Rahmen der »NICHD Study of Early Child Care and Youth Development« des »Eunice Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development« untersuchten die Autoren den oben beschriebenen Zusammenhang zwischen Risikokumulierung, Bindung und Verhaltensauffälligkeiten bei Dreijährigen mit erstaunlichen Resultaten. Sie konnten zeigen, dass sich bei dem Vorliegen keines Risikofaktors die Kinder der vier verschiedenen Bindungstypen nicht signifikant hinsichtlich ihrer Verhaltensauffälligkeiten voneinander unterschieden. Mit ansteigender Risikobelastung ergaben sich jedoch verschiedene Entwicklungen bezüglich der Verhaltensauffälligkeiten bei den unterschiedlichen Bindungsgruppen. Erstaunlich war das Ergebnis, dass sich bei dem Vorliegen von drei und mehr Risiken diese Unterschiede nivellierten und die Kinder aller Bindungsgruppen 1) einen Anstieg in dem Level der von ihnen gezeigten Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen und 2) sich untereinander nicht mehr signifikant unterschieden. Sicher gebundene Kinder zeigten also ein genauso hohes Maß an Auffälligkeiten wie desorganisiert gebundene Kinder. Diese Beobachtung veranlasste die Autoren zu der Schlussfolgerung: »Apparently, knowing the ecological conditions under which a young child develops is more informative with respect to that child’s development than knowledge of the security of the infant-mother attachment relationship, although knowing about both is often more informative than knowing about just one« (Belsky und Fearon, 2002, S. 307).
In einer späteren Forschungsarbeit untersuchten die Autoren dieselbe Forschungsfrage erneut innerhalb derselben Population (Fearon und Belsky, 2011), allerdings auf den Zeitraum von der ersten bis zur sechsten Schulklasse bezogen. Für diese Altersspanne legten die Ergebnisse nahe, dass es signifikante Zusammenhänge zwischen dem Bindungstyp der Kinder und dem Ausmaß an externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten gab, die aber entweder unabhängig von dem kontextualen Risikostatus waren (bezogen auf sichere, un-
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Einleitung
sicher-vermeidende und unsicher-ambivalent gebundene Kinder) oder aber mit ihm interagierten (bezogen auf die desorganisierten Kinder). Die Ergebnisse von 2011 stehen somit im Kontrast zu den Ergebnissen der Studie aus 2002. Dies veranlasste die Autoren zu Spekulationen darüber, inwiefern diese Ergebnisse 1) mit dem Alter der Kinder oder 2) mit der relativ niedrigen Risikobelastung in ihrer Stichprobe zusammenhängen könnten oder 3) durch methodische Differenzen zustande gekommen sind1. Die vorliegende Forschungsarbeit möchte an dieser Stelle anknüpfen und untersuchen, inwiefern sich auch in der Stichprobe der EVA-Studie ein derartiger Zusammenhang zwischen Bindung und Risikoeinwirkung bei der Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten in der mittleren Kindheit nachweisen lässt. Da es sich bei EVA um eine Studie in einem Hochrisikomilieu handelt (vgl. Leuzinger-Bohleber, Läzer, Neubert, Pfenning-Meerkötter und Fischmann, 2013; Läzer, Neubert, Hartmann, Fischmann und Leuzinger-Bohleber, 2013; Neubert, Läzer, Hartmann, Fischmann und Leuzinger-Bohleber, 2013), die in sozial benachteiligten Stadtteilen in Frankfurt am Main durchgeführt wird (vgl. auch Kapitel 3.2.1 Stichprobengenerierung), eignet sich die Population gerade aufgrund ihrer hohen Risikobelastung besonders für die Untersuchung der hier aufgeworfenen Forschungsfragen nach der »Reichweite« einer protektiven Kraft der sicheren Bindung.
1.3 Forschungsmethoden Auf der Grundlage einer ausführlichen Literaturrecherche zur Erhebung von Risikofaktoren für die Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten sowie im Rahmen der Entwicklung des »IDeA Social Background Inventory« (ISBI)2 wird ein halbstrukturierter Inter1 In der Studie von 2002 legten Belsky und Fearon das Elternurteil zur Erfassung der Verhaltensauffälligkeiten zugrunde, in ihrer Untersuchung von 2011 jedoch die Lehrereinschätzung. 2 Im Rahmen des IDeA-Projekts »Einflussgrößen der sozialen und ethnischen Herkunft für die individuelle Lernentwicklung und schulische Erfolge« (EMIL) wurde eigens das Erhebungsinstrument »IDeA Social Background Inventory« (ISBI) zusammengestellt (Körner und Betz, 2012). Der Leitfaden für das Eltern-
Gliederung der Arbeit
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viewleitfaden für ein Elterninterview konstruiert (vgl. Neubert und Läzer, 2011). Die Daten zur Risikobelastung werden anhand dieses Gesprächsleitfadens im Rahmen von halbstrukturierten Elterninterviews erhoben. Ebenfalls im Rahmen der Elterngespräche wird die Einschätzung der Verhaltensauffälligkeiten mit der Elternversion des Fragebogens »Strengths and Difficulties Questionnaire« (SDQ) (vgl. Goodman, 1997; Goodman und Scott, 1999; Goodman, 1999; Klasen et al., 2000) erfasst. Die Daten zur Bindung werden mit dem »Manchester Child Attachment Story Task« (MCAST) (vgl. Green, Stanley, Smith und Goldwyn, 2000; Green, Stanley, Goldwyn und Smith, 2008; Barone et al., 2009; Wai Wan und Green, 2010) erhoben, einem Geschichtenergänzungsverfahren, das in der EVA-Studie zum ersten Mal im deutschen Sprachraum zum Einsatz kommt. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Forschungsfragen werden alle Familien der EVA-Stichprobe untersucht, für deren Kinder eine auswertbare Bindungsmessung zum Erhebungszeitpunkt vorliegt (n = 222). Anschließend werden die Ergebnisse statistisch ausgewertet.
1.4 Gliederung der Arbeit Die vorliegende Arbeit ist unterteilt in einen theoretischen Teil (Kapitel 2), einen methodisch-empirischen Teil (Kapitel 3 und 4) sowie die Diskussion und abschließende Reflexion der Ergebnisse und des methodischen Vorgehens (Kapitel 5 und 6). Das 2. Kapitel »Theoretischer Hintergrund« stellt die beiden theoretischen Forschungsstränge, die im Rahmen der Fragestellung der Dissertation miteinander verbunden werden, dar. Zunächst wird eine ausführliche Beschreibung der Bindungstheorie, zurückgehend auf John Bowlby, gegeben. Im Anschluss daran wird die empirische Bindungsforschung, die auf Mary Ainsworth zurückzuführen ist, dargestellt. Neben den Instrumenten der empirischen Bindungsforschung wird auch die Klassifikation der vier Bindungstypen beschrieben, um anschließend empirische Befunde interview wurde zeitgleich für das EVA-Projekt entwickelt, in einem engen Austausch mit der Forschergruppe aus dem IDeA-Zentrum.
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Einleitung
zum Zusammenhang zwischen Bindungstyp und der Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten darlegen zu können. Der zweite, in diesem Kapitel beschriebene, Forschungsstrang widmet sich der Risikofaktorenforschung. Zunächst werden die Auswirkungen von Risikofaktoren auf die Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten, basierend auf empirischen Studien, dargelegt. Anschließend werden die Konstrukte von Bindung, Risikofaktoren und Verhaltensauffälligkeiten zusammengeführt und in ihrer gemeinsamen Wirkweise beschrieben. Kapitel 3 »Kontext des Promotionsprojekts: Die EVA-Studie« stellt den größeren Rahmen vor, in den das Promotionsprojekt eingebettet ist. Hier werden sowohl die theoretischen als auch die methodischen Überlegungen von EVA, die auch für das Promotionsprojekt von Bedeutung sind, vorgestellt. Des Weiteren werden erste Ergebnisse der EVA-Studie berichtet, die auch in der Diskussion der Ergebnisse der Dissertation nochmals aufgegriffen werden und die Vorgehensweise der Untersuchung von Risikofaktoren in der EVAPopulation rechtfertigen. In Kapitel 4 »Eigenes Promotionsprojekt« wird zunächst das methodische Vorgehen der Arbeit beschrieben. Anschließend werden die Durchführung und Auswertung der Daten sowie die gewonnenen Ergebnisse dargelegt. Neben einer Vorstellung der quantitativen Befunde wird auch ein Einzelfall berichtet, der der Illustration und Vertiefung der Ergebnisse dienen soll. Kapitel 5 »Diskussion« dient der Beantwortung der Forschungsfragen und Hypothesen und der Interpretation der erzielten Befunde. Diese erfolgt vor dem Hintergrund der aktuellen Forschungsliteratur. Des Weiteren werden die Ergebnisse in einer abschließenden Bemerkung verdichtet und hinsichtlich ihrer Implikationen für die Entwicklung von Frühpräventionskonzepten reflektiert. Kapitel 6 »Ausblick und Methodenkritik« unterzieht die gesamte Arbeit einer methodenkritischen Reflexion und weist auf ihre Einschränkungen hin. Ferner gibt dieses Kapitel einen Ausblick auf Forschungsfragen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht beantwortet werden konnten und sich aus den hier gewonnenen Erkenntnissen entwickelt haben.
2 Theoretischer Hintergrund
Das nachfolgende Kapitel gibt einen Überblick über die theoretischen Hintergründe, auf denen das Promotionsprojekt3 fußt. Da vor dem Hintergrund der Forschungsfrage »Wie weit reicht die protektive Kraft sicherer Bindung?« zwei verschiedene Forschungstraditionen zusammengeführt und miteinander in Beziehung gesetzt werden, ist auch das Theoriekapitel zweigeteilt. Im ersten Teil, zur Bindungstheorie, werden zunächst die Grundlagen der Bindungstheorie, wie sie von John Bowlby konzipiert wurde, dargelegt. Anschließend werden die Erkenntnisse der empirischen Bindungsforschung beschrieben. In Bezug gesetzt wird insbesondere die Typisierung von Bindungsverhaltensweisen mit empirischen Studien zu ihren Auswirkungen auf Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern in der mittleren Kindheit. Der zweite Teil des Theoriekapitels setzt sich daran anschließend mit Risikofaktoren auseinander, die ebenfalls einen Einfluss auf das kindliche Verhalten nehmen können. Hierzu werden empirische Studien zum Aufwachsen unter risikobehafteten Lebensumständen auf die kindliche sozio-emotionale Entwicklung herangezogen. Schließlich werden beide theoretischen Stränge, die Bindungsforschung sowie die Forschung zu Risikofaktoren und Verhaltensauffälligkeiten, in einem zusammenfassenden Kapitel verdichtet. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Studie der Pioniere auf diesem Gebiet Belsky und Fearon (2002), deren zentrale Ergebnisse dargelegt werden und zu der Hauptfragestellung der Dissertation führen.
3 Für die umfassende Beschreibung der empirischen Studie siehe Kapitel 3 Kontext des Promotionsprojekts: Die EVA-Studie und Kapitel 4 Eigenes Promotionsprojekt.
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Theoretischer Hintergrund
2.1 Die Bindungstheorie In einem Vortrag aus dem Jahre 1989, zur Verleihung seiner Ehrendoktorwürde an der Universität Regensburg, beschreibt John Bowlby, wie er zur Entwicklung der Bindungstheorie kam (Bowlby, 2009b). Er berichtet, dass er sich als Familienpsychologe mit dem Einfluss auseinandergesetzt habe, den die Trennung eines Kindes von seinem Zuhause hat, sowie dem Einfluss der Pflege des Kindes durch Fremde. Dies habe ihn zu der Frage geführt »[…] worin denn die Natur dieses engen Bandes zwischen Mutter und Kind besteht und welchen Ursprungs es sei« (Bowlby, 2009b, S. 19). Bowlby erläutert, dass er damals keine befriedigenden theoretischen Konzepte zur Beantwortung seiner Frage finden konnte. Die Theorie, dass das enge Band zwischen Mutter und Kind dadurch bedingt sei, dass die Mutter das Kind ernähre, genügte ihm nicht. In der von ihm entwickelten Bindungstheorie stützt sich Bowlby auf einen evolutionär-ethologischen Ansatz und erklärt die Bindung zwischen Mutter und Kind instinkttheoretisch (Main, 2002). Einen großen Einfluss auf sein Werk schreibt er den Ethologen Niko Tinbergen und Konrad Lorenz zu (Daudert, 2001). Bowlby beschreibt »das Band zwischen Kind und Mutter als Produkt der Aktivität einer Anzahl von Verhaltenssystemen, deren voraussehbares Ergebnis die Nähe zur Mutter ist« (Bowlby, 2006, S. 177). Diese Verhaltenssysteme entwickeln sich im Kleinkind als das Resultat der Wechselbeziehung mit der Umwelt seiner evolutionären Angepasstheit. Hierbei sei die Wechselwirkung mit der in der Umwelt wichtigsten Person, meist der Mutter, hervorzuheben. Der Nahrung und dem Essen schreibt er nur eine untergeordnete Rolle zu (Bowlby, 2006). Welche Variablen beeinflussen jedoch, dass ein Kind sich an seine Mutter oder eine bestimmte andere Person bindet? Bowlby zeigt in seiner Theorie, dass sich Bindungsverhalten beim Menschen entwickeln kann, ohne dass die Person, an die sich das Kind bindet, automatisch die Belohnungen wie Nahrung oder Wärme bereithält. Am einflussreichsten, so Bowlby, seinen hier die Promptheit und Intensität mit der eine Person auf das Kind einginge (Bowlby, 2006). Inzwischen ist aber ebenfalls gut untersucht, dass auch die Qualität und Sensitivität der (elterlichen) Zuwendung eine wesentliche Rolle spielt (vgl. u. a.
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NICHD Early Child Care Research Network, 2006; Juffer, Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn, 2005; DeWolff und van Ijzendoorn, 1997).
2.1.1 Grundlegende Annahmen der Bindungstheorie Bowlby beschäftigte sich sowohl mit der Entwicklung von Bindungsverhalten im ersten Lebensjahr sowie auch über die gesamte Lebensspanne. Er postuliert enge Bezüge zwischen der Entwicklung von Bindung beim Menschen und der Entwicklung und dem Bestehen von Bindungsverhaltensweisen bei nichthumanen Primaten (Bowlby, 2006). Bowlby betont, dass das menschliche Baby nicht ab seiner Geburt dazu in der Lage sei, Bindungsverhalten zu zeigen, da es noch nicht so weit entwickelt zur Welt komme, wie es bei den Babys mancher Tierarten der Fall sei. Das Menschenbaby werde sich erst sehr langsam seiner Mutter bewusst und könne erst, wenn es selber mobil sei, aktiv ihre Nähe aufsuchen. Da es zu Beginn noch nicht die Kraft habe, sich an sie zu klammern und sich lange allein an ihr festzuhalten, werde die Nähe zwischen Mutter und Kind in den ersten Monaten ausschließlich durch die Aktivitäten der Mutter aufrechterhalten (Bowlby, 2006). Er betont auch, dass die Interaktionsmuster, die sich zwischen dem Baby und der Mutter entwickeln, als Ergebnis von Beiträgen beider Seiten, von Mutter und Kind, zu verstehen seien. Auch die Intensität mit der ein Kind Bindungsverhalten zeigt, könne stark variieren (Bowlby, 2006). Er konzeptionalisiert das Aufrechterhalten von Nähe, als Kernstück der Bindungstheorie, anhand folgender Merkmale (Bowlby, 2009a): 1. Die Besonderheit von Bindungsverhalten, d. h., dass das Bindungsverhalten auf ein spezielles Individuum gerichtet ist oder auch auf mehrere Individuen, die dann aber in einer klaren Hierarchie stehen. 2. Die Dauer von Bindung, d. h., dass Bindung über einen großen Zeitrahmen andauert. Obwohl sich in der Adoleszenz die Bindungen an die Eltern lockern und weitere wichtige Bindungsfiguren wie beispielsweise Gleichaltrige hinzukommen, können Bindungen nicht leichtfertig aufgegeben werden und bestehen oft ein Leben lang.
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3. Die emotionale Anteilnahme, d. h., dass die Ausbildung, die Aufrechterhaltung sowie auch Störungen und Erneuerungen von Bindungsbeziehungen häufig mit sehr intensiven Gefühlen einhergehen. 4. Die individuelle Entwicklung von Bindungsverhalten, d. h., dass sich ein Kind mit großer Wahrscheinlichkeit an eine Person bindet, mit der es die größte Zahl an Interaktionen hat, sodass die primäre Bezugsperson, wer auch immer das sein mag, zur Hauptbindungsperson für das Kind wird. 5. Das Lernen, d. h., dass es als Hauptbestandteil von Bindung angesehen werden kann, dass das Kind lernt, das Vertraute vom Fremden zu unterscheiden. Bestrafung und Belohnung spielen hier nur eine geringe Rolle. 6. Die Organisation von Bindungsverhalten, das zu Beginn noch durch sehr einfache Antwortmuster vermittelt wird, sich im Verlauf aber zu einer komplexen Struktur entwickelt. 7. Die biologische Funktion des Bindungsverhaltens, womit gemeint ist, dass Bindungsverhaltensweisen einen Überlebenswert haben. All diese Überlegungen führen Bowlby zu der Schlussfolgerung, dass »Bindungsverhalten […] verstanden [wird] als eine Klasse von Verhaltensweisen, die sich von nahrungs- und geschlechtsbezogenem Verhalten unterscheiden« (Bowlby, 2009a, S. 25).
2.1.2 Die Ontogenese des Bindungssystems Anhand von Beobachtungen beschreibt Bowlby, dass schon im Alter von vier Monaten das menschliche Baby anders auf die Mutter reagiere als auf andere Personen. Er betont, dies würde aber noch nicht genügen, um von Bindungsverhalten zu sprechen. Es sei neben dem Erkennen der Mutter notwendig, dass das Kind sich auch so verhalte, dass die Nähe zur Mutter aufrechterhalten bleibe. Das Verhalten, dass das Baby zeige um die Nähe aufrechtzuerhalten, könne am besten in Trennungssituationen beobachtet werden. Die Kinder würden dann schreien, nach der Mutter rufen, sich an sie anklammern, versuchen der Mutter nachzufolgen, die Mutter begrüßen, wenn sie zurück komme, sie anlächeln, die Arme ausstrecken und Freu-
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denschreie von sich geben. Weitere Bindungsverhaltensweisen, die zur Herstellung oder Aufrechterhaltung von Nähe führen könnten, seien auch das Babbeln des Kindes sowie das nicht nährende Saugen und der Versuch, die Aufmerksamkeit der Mutter zu fesseln. Bowlby unterscheidet zwei Hauptklassen von spezifischen Bindungsverhaltensweisen: 1) Signalverhalten, das die Wirkung erzielen soll, dass die Mutter zum Kind kommt, sowie 2) Annäherungsverhalten, das die Wirkung hat, dass das Kind zur Mutter kommt (Bowlby, 2006). In einer Beobachtung von Ainsworth seien bei allen Kindern mit sechs Monaten diese Verhaltensweisen vorhanden gewesen, generell gebe es aber im ersten Jahr ein breites Altersspektrum innerhalb dessen Bindungsverhalten das erste Mal auftrete, es reiche von weniger als vier bis hin zu zwölf Monaten. Im Alter von 18 Monaten hätten die meisten Kinder dann eine Bindungsbeziehung zu mindestens einer weiteren Person neben der Mutter. Dies bedeute aber nicht, dass die Bindung an die Mutter bei diesen Kindern weniger intensiv sei als bei Kindern, die nur an ihre Mutter gebunden sind. Die weiteren Bindungsfiguren seien Nebenbindungsfiguren, die sich in ihrer Bedeutung hierarchisch gliedern ließen (Bowlby, 2006). Über den weiteren Verlauf des Bindungsverhaltens in der Entwicklung des Kindes schreibt Bowlby, dass das Kind etwa ab dem dritten Geburtstag eine Entwicklungsschwelle überschreite. Diese komme darin zum Ausdruck, dass das Kind nun besser dazu in der Lage sei, sich bei der Anwesenheit einer Bindungsperson, die in ihrer Bedeutung der Bedeutung der Mutter untergeordnet ist (z. B. bei einer Lehrerin oder Verwandten), sicher zu fühlen. Die Kinder wiesen ab ca. dem dritten Geburtstag auch weniger Bindungsverhalten auf als zuvor, dennoch bleibe es weiterhin Hauptbestandteil ihres Verhaltens. Dies ändere sich auch während der gesamten Latenzzeit des Kindes nicht. In der Adoleszenz werde schließlich die kindliche Bindung an die Eltern abgeschwächt, andere Personen könnten nun die Rolle der Eltern übernehmen. Bei den meisten Jugendlichen aber bleibe eine starke Bindung an die Eltern bestehen, andere Beziehungen seien jedoch auch von großer Wichtigkeit. Auch bis ins Erwachsenenalter hinein bestehe oft eine Bindung zwischen Eltern und Kind. Besonders im Jugend- und Erwachsenenalter sei es auch möglich, dass sich ein Teil des Bindungsverhaltens auf Gruppen und Institutionen richte, die ganz außerhalb des familiären Bereichs angesiedelt
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seien. Bowlby beschreibt schließlich für das Alter, dass es möglich sei, dass sich Bindungsverhalten nun auf die jüngere Generation richte, wenn niemand der älteren oder der eigenen Generation mehr da sei (Bowlby, 2006). Wie kommt es jedoch dazu, dass alle Kinder Bindungsverhaltensweisen entwickeln, und auf welche Art und Weise passiert dies? Bowlby geht davon aus, dass das menschliche Baby bereits ab seiner Geburt mit einer Anzahl sofort aktivierbarer Verhaltenssysteme ausgestattet ist, die »[…] auch jeweils schon so angelegt [sind], dass sie durch Reize eines breiten Spektrums oder mehrerer breiter Spektren aktiviert, durch Reize anderer breiter Spektren beendet und durch wieder andere Reize verstärkt oder geschwächt werden. Unter diesen Systemen finden sich bereits einige Bausteine für die später erfolgende Entwicklung der Bindung« (Bowlby, 2006, S. 256).
Er führt weiter aus, dass diesen primitiven Systemen beispielsweise die Systeme angehörten, die das Schreien, Saugen, Festhalten und Orientieren, wenige Wochen später auch das Lächeln und Babbeln sowie noch einige Zeit später das Kriechen und Gehen vermitteln. Jede dieser Verhaltensweisen sei zu Beginn noch sehr einfach strukturiert und auch die sie auslösenden und beendenden Reize würden nur grob unterschieden. Trotzdem gäbe es schon von Beginn an Unterscheidungen sowie die Tendenz, auf ganz spezifische Weise auf bestimmte Reizarten zu reagieren, die in der Regel von einem Menschen ausgingen: die auditiven Reize der Stimme, die visuellen Reize des Gesichts, die taktilen und kinästhetischen Reize des menschlichen Körpers (Bowlby, 2006). »Aus diesen kleinen Anfängen entwickeln sich all die genau unterschiedenen und verfeinerten Systeme, die später in der Kindheit – und fürs ganze Leben – die Bindung an bestimmte Figuren vermitteln« (Bowlby, 2006, S. 256).
Die so von Bowlby beschriebene Entwicklung teilt er in vier verschiedene Phasen auf, die im Folgenden beschrieben werden (vgl. auch Ainsworth, 2009c). Hervorzuheben ist hierbei, dass es keine
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klare Abgrenzung zwischen den einzelnen Phasen gibt, kein klares Ende der einen und einen eindeutigen Anfang der anderen Phase, sondern ihre Anfangs- und Endpunkte fließend ineinander übergehen. Die erste Phase ist die Phase der »Orientierung und Signale ohne Unterscheidung der Figur« (Bowlby, 2006, S. 257). In dieser Phase hat das Baby noch nicht die Fähigkeit erlangt Personen voneinander zu unterscheiden oder diese Fähigkeit ist nur sehr rudimentär ausgeprägt. Diese Phase erstreckt sich von der Geburt bis über die ersten acht bis zwölf Lebenswochen. Das Baby verhält sich auf eine charakteristische Weise gegenüber Menschen, es orientiert sich auf die Personen in seiner Umwelt hin, verfolgt sie mit den Augen, greift nach etwas, lächelt und babbelt. Wenn es eine Stimme oder ein Gesicht wahrnimmt, kann dies dazu führen, dass es zu schreien aufhört. Durch diese Verhaltensweisen des Babys wird wahrscheinlich die Zeitspanne, die das Kind mit einem Partner aus seiner Umwelt verbringt, verlängert, indem diese Verhaltensweisen das Verhalten des Partners beeinflussen. Nach ca. 12 Wochen nimmt, nach Bowlby, die Intensität der sozialen Reaktionen des Babys zu (Bowlby, 2006). Die zweite Phase in der Entwicklung des Bindungssystems ist die Phase der »Orientierung und Signale, die sich auf eine (oder mehrere) unterschiedene Person (Personen) richten« (Bowlby, 2006, S. 257). In dieser Phase richtet das Baby sein personenbezogenes Verhalten stärker auf die Mutterfigur als auf andere Personen. Diese Phase dauert ca. bis zum Alter von sechs Monaten. Die dritte Phase ist die Phase der »Aufrechterhaltung der Nähe zu einer unterschiedenen Figur durch Fortbewegung und Signale« (Bowlby, 2006, S. 257). Das Baby ist nun wählerischer in der Art und Weise, wie es welche Personen behandelt. Seine Verhaltensweisen sind nun erweitert durch die Fähigkeit des Nachfolgens der weggehenden Mutter, der Begrüßungsreaktion, wenn sie zurückkommt, und auch der Verwendung der Mutter als einer Basis, von der aus die Umwelt erkundet werden kann. Die bisher freundlichen und alle anderen Personen unterschiedslos betreffenden Reaktionen des Babys nehmen ab. Einige Personen werden als der Mutter nachgeordnete Bindungspersonen anerkannt, andere jedoch nicht. Fremden Personen gegenüber lässt das Kind nun Vorsicht walten und reagiert auf sie mit Alarm- oder Rückzugsreaktionen. Einige Verhaltenssysteme sind nun klar auf das Ziel der Herstellung von
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Nähe mit der Mutter bezogen und werden als zielkorrigierte Verhaltenssysteme organisiert (Bowlby, 2006). Die vierte von Bowlby beschriebene Phase ist die Phase der »Bildung einer zielkorrigierten Partnerschaft« (Bowlby, 2006, S. 258). In dieser Phase lernt das Kind, die von der Mutter gesetzten Ziele und ihre Pläne um diese Ziele zu erreichen, kennen. Dies geschieht durch die eingehende Beobachtung des Verhaltens der Mutter durch das Kind. Ab dem Erreichen dieses Entwicklungsstadiums wird das Verhalten des Kindes flexibler, sein Weltbild komplexer und eine Grundlage für eine komplexere Beziehung zwischen Mutter und Kind wird geschaffen. Bowlby spricht in diesem Zusammenhang sogar von dem Begriff der »Partnerschaft« (Bowlby, 2006, S. 258). Diese Phase beginnt in der Regel zwischen dem zweiten und dritten Geburtstag. Zusammenfassend schreibt Bowlby über die Ontogenese des Bindungssystems: »Beim Aufzeichnen dieses Wachstums werden wir ständig auf die […] Prinzipien der Ontogenese verwiesen: a) die Tendenz, dass sich das Spektrum wirksamer Reize einschränkt; b) die Tendenz, dass sich das primitive Verhaltenssystem verfeinert und durch komplizierte Systeme ersetzt wird; c) die Tendenz, dass die Verhaltenssysteme am Anfang nichtfunktional sind und später ins Funktionsganze integriert werden« (Bowlby, 2006, S. 259).
2.1.2.1 Die Funktion des Bindungsverhaltens Da Bowlby sich in der Bindungstheorie auf einen evolutionären Bezugsrahmen stützt, um die Entwicklung des Verhaltenssystems »Bindung« zu erklären, vertritt er die Ansicht, dass das Bindungsverhalten einen Beitrag zur Arterhaltung erfüllen müsse. »Die biologische Funktion […] ist die Konsequenz, die im Lauf der Evolution das betreffende Verhalten der biologischen Ausrüstung einer Art einverleibt hat. Dieses Einverleiben geschieht in Folge eines Vorteils […], den das Verhalten den Individuen verleiht, die es besitzen. Da Individuen, die mit einer guten Fähigkeit zur Entwicklung des fraglichen Verhaltens ausgestattet sind, mehr Nachkommen hinterlassen als andere, denen es fehlt, und da deren Nachkommen durch Vererbung wahrscheinlich
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auch damit ausgestattet sein werden, kommt es mit der Zeit dazu, das praktisch alle Mitglieder der Spezies […] mit der Fähigkeit zur Entwicklung des fraglichen Verhaltens gut ausgestattet sind. Zur Bestimmung der biologischen Funktion dieses Verhaltens muss die Frage beantwortet werden: Welchen genauen Vorteil gibt das fragliche Verhalten den Individuen, die mit der Fähigkeit dazu ausgestattet sind, die sie wiederum dazu führt, größere Zuchterfolge zu erzielen als andere, denen diese Fähigkeit abgeht?« (Bowlby, 2006, S. 219).
Bowlby räumt ein, dass es in Bezug auf die Beantwortung dieser Frage hinsichtlich des Bindungsverhaltens zu wenig Beweismaterial gebe, um sie eindeutig zu beantworten. Er stellt aber die Vermutung an, dass die wahrscheinlichste Funktion des Bindungsverhalten des Kindes, das in der Nähe bleiben bei der Mutter oder aktiv ihre Nähe herstellen, der Schutz vor Raubtieren gewesen sei (Bowlby, 2006). Main (2002), führt dies noch weiter aus, indem sie beschreibt, dass die Nähe zur Pflegeperson ebenfalls dazu beitrage, dass das Kind vor Wind und Wetter sowie gegen die Attacken anderer Menschen geschützt sei, und sie dazu führe, dass das Kind mit der Gruppe Schritt halten könne. Bindung sei im »überlebensrelevanten Verhaltensrepertoire eines Kleinstkindes« unabdingbar (Main, 2002, S. 172). Auch heute diene das Bindungsverhaltenssystem noch dazu die Sicherheit des Kleinkindes zu regulieren, da es dazu führe, dass das Kleinkind »ständig die körperliche und psychologische Verfügbarkeit seiner Bindungsfigur(en)« überwache (Main, 2001, S. 2). 2.1.2.2 Die Aktivierung und Beendigung von Bindungsverhaltensweisen Nach Bowlby gibt es verschiedene Bedingungen, die das Bindungsverhalten des Kindes aktivieren können. Er nennt als Bindungsverhalten auslösende Ereignisse das sich Entfernen der Mutter und das Verstreichen einer gewissen Zeitspanne, womit gemeint ist, dass ein Kind, das zufrieden spielt, sich trotzdem von Zeit zu Zeit vergewissern wird, ob die Mutter noch da ist. Weitere Bedingungen, die Bindungsverhalten auslösen können, unterteilt er in drei Gruppen: 1) Zustand des Kindes, z. B. gekennzeichnet durch Müdigkeit, Hunger, Krankheit, Schmerzen, Frieren, 2) Standort und Verhalten der Mutter, beispielsweise ob die Mutter an- oder abwesend ist, ob
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sie Nähe abwehrt und 3) andere Umweltbedingungen, z. B. ob alarmierende Ereignisse auftreten oder ob das Kind Abwehrhandlungen anderer Erwachsener oder Kinder ausgesetzt ist (Bowlby, 2006). Je nachdem wie stark das Bindungssystem des Kindes aktiviert wurde, variieren auch die Bedingungen, die zur Beendigung des Bindungsverhaltens führen können. Bei einem sehr intensiv aktivierten Bindungssystem ist es nur der Kontakt mit der Mutter, der es beenden kann. Sind die Systeme weniger intensiv aktiviert, genügt vielleicht schon ein Blick auf die Mutter oder das Wahrnehmen eines Geräusches von ihr oder auch die Nähe einer anderen Bindungsperson (Bowlby, 2006). Sobald ein Kind dazu in der Lage ist, sich selbst fortzubewegen, bleibt es nicht die ganze Zeit bei der Mutter, sondern es beginnt sich auch verstärkt für seine Umwelt zu interessieren. »[…] es begibt sich auf kleine Exkursionen von ihr weg, erkundet andere Objekte und Personen und entfernt sich, wenn es ihm erlaubt ist, sogar aus ihrem Blickfeld. Von Zeit zu Zeit jedoch kommt es wieder zu ihr zurück, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da ist« (Bowlby, 2006, S. 205).
Dieses von Bowlby beschriebene explorative Verhalten kann jedoch abrupt beendet werden, wenn sich das Kind erschreckt oder verletzt oder wenn die Mutter den Raum verlässt. Er schreibt hierzu: »Im Beisein der Mutter sind die meisten Kinder sichtlich vertrauensvoller und haben eine größere Erkundungsbereitschaft; in ihrer Abwesenheit sind sie furchtsamer und lassen sich oft von Kummer überwältigen« (Bowlby, 2006, S. 205).
In Situationen, in denen sich das Kind ängstigt oder unter Stress steht, ist das Bindungsverhalten aktiv. Wenn das Kind sich jedoch wohl fühlt, so ist das Verhaltenssystem des Explorationsverhaltens aktiv (Grossmann und Grossmann, 2009; Grossmann und Grossmann, 2012). Bowlby beschreibt aber auch, dass das Bindungsverhalten des Kindes nur eine von vier verschiedenen Verhaltenskategorien sei, die die Nähe zur Mutter regulieren würden. Eine weitere Kategorie kindlichen Verhaltens, die die Regulierung der Mutter-KindDistanz beeinflusst, ist das oben beschriebene explorative Erkun-
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dungs- und Spielverhalten. Nach Bowlby stellt es eine Antithese zum kindlichen Bindungsverhalten dar, da es das Kind von der Mutter entfernt (Bowlby, 2006). Erkundet das Kind seine Umwelt, fungiert die Mutter in diesem Rahmen als »sichere Basis« des Kindes (Bowlby, 2009a, S. 25), die ihm die Möglichkeit bietet, wieder zu ihr zurückzukehren, beispielsweise wenn es ängstlich oder auch müde wird. Bowlby schreibt dazu: »Die Basis, von der aus ein Individuum handelt, ist entweder seine Ursprungsfamilie oder eine neue Basis, die es sich selbst geschaffen hat. Jeder der eine solche Basis nicht hat, ist ohne Wurzeln. […] Besonders wichtig ist das Ausmaß, in dem Eltern den Wunsch eines Kindes nach einer sicheren Basis und sein Bedürfnis danach erkennen und respektieren und ihr Verhalten entsprechend anpassen« (Bowlby, 2009a, S. 25 f.).
Er betont in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung, die die Erfahrungen des Kindes mit seinen Eltern für die spätere affektive Beziehungsgestaltung des Kindes mit anderen Menschen haben4. Ebenso wie es bei dem Kind ein Verhaltenssystem gibt, das die Nähe zur Mutter herstellt (Bindungsverhalten), und eines, das eine Distanz zu ihr schafft (Erkundungs- und Spielverhalten), so gibt es auch bei der Mutter zwei antagonistische Verhaltenssysteme. Das mütterliche Pflegeverhalten ist ein Verhaltenssystem, das die Mutter dazu veranlasst, ihr Baby zu sich zurückzuholen und damit die Distanz zwischen ihm und ihr zu verringern, bis hin zu der Herstellung von physischem Kontakt. Dieses Verhalten erfüllt zweifelsfrei eine schützende Funktion für das Kind und steht somit komplementär zum Bindungsverhaltenssystem des Kindes. Es wird in der Regel durch eine Irritation, ein Ereignis, das bei der Mutter besondere Wachsamkeit auslöst und sie alarmiert, oder Anzeichen 4 Besonders deutlich wird dies beispielsweise bei Eltern, die ihre Kinder körperlich misshandeln. Befragt man diese Eltern zeigt sich häufig, dass sie selbst als Kinder misshandelt und vernachlässigt worden sind, eine unberechenbare oder nicht vorhandene elterliche Fürsorge zu ertragen hatten und häufig Kritik und Schuldzuweisungen innerhalb ihrer Familie erleben mussten. Die Muster von Bindungsverhaltensweisen, die Eltern mit solchen Erfahrungen entwickeln, sind zumeist stark gestört, eben aufgrund des gestörten Musters an Fürsorgeverhalten ihrer eigenen Eltern (Bowlby, 2009d).
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von Verstörung beim Kind ausgelöst. Mütterliches Verhalten, das eine Antithese zum Pflegeverhalten darstellt, sind alle Tätigkeiten, die in einem Widerstreit zum bemutternden Verhalten stehen und mit diesem nicht zu vereinbaren sind. Bowlby nennt hier vor allem die Forderungen anderer Familienmitglieder, vor allem des Mannes und anderer kleiner Kinder (Bowlby, 2006).
2.1.3 Das innere Arbeitsmodell der Bindung Nach Bowlby bilden individuelle Unterschiede zwischen ElternKind-Transaktionsmustern, die in den ersten Lebensmonaten entstehen, die Grundlage für sogenannte innere oder mentale Arbeitsmodelle des Selbst mit der Bindungsperson. Sie dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren sowie Vorhersagen über ihr Verhalten zu treffen. Die inneren Arbeitsmodelle ermöglichen die Regulierung des eigenen Bindungsverhaltens sowie von Gedanken und Gefühlen (Bowlby, 1975). Es ist davon auszugehen, dass sie auch einen Einfluss auf die späteren Beziehungen zu Gleichaltrigen und für das Kind sorgenden Erwachsenen haben (Bretherton, 2002). Bowlby beschreibt, dass Kinder im Alter von ungefähr fünf Jahren »hochentwickelte Arbeitsmodelle von der Mutter oder dem Mutter-Ersatz benutzen, welche Wissen über ihre Interessen, Launen und Absichten umfassen« (Bowlby, 2009c, S. 63). Die vom Kind aufgrund seiner realen Beziehungserfahrungen gebildeten inneren Arbeitsmodelle sind in ständigem Gebrauch und werden ununterbrochen angewandt, »ihr Einfluß auf Gedanken, Gefühle und Verhalten […] ist weitgehend nicht mehr bewußt« (Bowlby, 2009c, S. 63). Jedoch bestehen schon weit vor dem fünften Geburtstag viele verschiedene Interaktionsmuster mit der Mutter, die dazu neigen, bestehen zu bleiben (Bowlby, 2009c). Über den Einfluss der inneren Arbeitsmodelle auf das menschliche Verhalten schreibt Ainsworth: »Da Arbeitsmodelle […] die Art, wie eine Person ihre Erfahrungen gewinnt, und daher auch die Art, wie jemand sich verhält, beeinflussen, können sie als Self-fulfilling Prophecies, als selbsterfüllende Prophezeiungen wirken, und sind damit schwer zu ändern, wenn sie einmal entstanden sind« (Ainsworth, 2009a, S. 383).
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Nach Zeanah und Anders (1987) führen die inneren Arbeitsmodelle dazu, dass das Individuum Erfahrungen in Kongruenz mit der bisher erlebten Beziehungsgeschichte reinszeniere (Zeanah und Anders, 1987). Missbrauchte oder misshandelte Kinder erwarteten, von anderen abweisend und feindselig behandelt zu werden. Häufig verhielten sich diese Kinder dann derart provozierend, dass die Wahrscheinlichkeit ansteige so behandelt zu werden, wie sie es erwarteten (Sroufe, 1983). In Einklang hiermit stehen auch neuere Forschungsergebnisse, wonach Kinder, die eine desorganisierte Bindungsklassifikation aufweisen, häufiger Aggressionen, Dissoziation und Gewalt in Beziehungen zeigen. Die Schwierigkeiten, die solche Kinder in Beziehungen haben, spiegeln, nach Fonagy (2006), ihre Schwierigkeiten mit der Regulierung negativer Emotionen wider. Fonagy subsumiert, eine unsichere Bindung könne eine ursächliche Rolle für eine spätere Fehlanpassung spielen, weil sich in transaktionellen Eltern-Kind-Interaktionen allmählich Arbeitsmodelle herauskristallisierten, die durch Misstrauen, Wut, Unsicherheit und Angst gekennzeichnet seien (Fonagy und Klostermann, 2006).
2.1.4 Die empirische Bindungsforschung Die empirische Bindungsforschung wurde in den 1960er Jahren von Mary Ainsworth begründet. Sie hat im Laufe der Zeit vier verschiedene Bindungsmuster identifizieren können, die sich in Anpassung an das elterliche Verhalten dem Kind gegenüber, bei diesem entwickelt haben (Bowlby, 2009c). Die drei Bindungsmuster sicher (B), unsicher-vermeidend (A) und unsicher-ambivalent (C) gehen auf die Forschungen von Ainsworth und ihrer Arbeitsgruppe zurück, wohingegen die Entdeckung des desorganisierten Bindungsmusters durch Mary Main, einer Schülerin Ainsworths, geschah (siehe auch Kapitel 2.1.4.4 Der desorganisierte Bindungstyp: D). Ainsworth definiert Bindungsverhalten folgendermaßen: »Bindungsverhalten ist ein Verhalten, durch das eine differenzierende, gefühlsmäßige Beziehung mit einer Person oder einem Objekt entsteht; es beginnt damit eine Kette von Interaktionen, die dazu dienen, die gefühlsmäßige Beziehung zu festigen« (Ainsworth, 2009c, S. 102).
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Ainsworth führte erste Studien zur empirischen Überprüfung der Bindungstheorie in Uganda durch, wo sie Babys in der häuslichen Interaktion mit ihren Müttern und anderen Haushaltsangehörigen beobachtete. Dort konnte sie gewisse Regelmäßigkeiten im Verhalten der Babys feststellen und kam über diese Beobachtungen schließlich zu der Einteilung der Bindungsverhaltensweisen der Babys in sicher, unsicher und ungebunden (Ainsworth und Bowlby, 2009). Im Rahmen späterer Untersuchungen in Baltimore entwickelte Ainsworth den Fremde-Situations-Test5 (Ainsworth und Bowlby, 5 Die Fremde Situation (vgl. Ainsworth und Wittig, 2009; Ainsworth und Bell, 2009; Ainsworth, Bell und Stayton, 2009b) besteht aus einer Reihe von acht Beobachtungssequenzen, die in zwei nebeneinander liegenden Räumen, die durch einen Einwegspiegel verbunden sind, durchgeführt werden können. Das Untersuchungszimmer ist neben dem Spiegel mit Mikrophonen ausgestattet und möbliert, aber auf dem Boden befindet sich ein freier Platz, der mit drei Stühlen, in Form eines Dreiecks, bestückt ist. Der Stuhl, der am weitesten vom Spiegel entfernt steht, an der Spitze des Dreiecks, ist ein kleiner Kinderstuhl. Auf und neben ihm liegen Spielzeuge. Die Fremde Situation setzt sich aus den folgenden acht Abschnitten zusammen (Ainsworth und Wittig, 2009): 1) In der ersten Episode werden die Mutter und das Baby durch einen Beobachter in den Untersuchungsraum hineingeführt, wobei die Mutter vorher instruiert wurde, dass sie das Kind auf dem Arm hereintragen soll. Der Beobachter lässt die Mutter und das Kind allein. 2) Die Mutter setzt das Kind auf dem Boden ab, in die Mitte der Stühle, sodass es den Blick auf das Spielzeug hat. Sie selbst setzt sich auf einen Stuhl und darf auf das Kind reagieren, soll aber nicht selbst die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese Episode dauert drei Minuten. 3) Nun kommt die fremde Person hinein, grüßt die Mutter und setzt sich auf den anderen Stuhl. Nach einer Minute beginnt sie sich mit der Mutter zu unterhalten, nach einer weiteren Minute erregt sie die Aufmerksamkeit des Babys, nähert sich ihm und versucht mit ihm zu interagieren. Auch die dritte Episode dauert insgesamt drei Minuten. 4) Nun verlässt die Mutter so unauffällig wie möglich das Zimmer, lässt aber ihre Handtasche auf dem Stuhl zurück. Ist die Mutter gegangen, beendet die fremde Person die aktive Interaktion mit dem Kind, sitzt ruhig auf ihrem Stuhl, aber reagiert noch auf das Baby, wenn es Kontakt zu ihr aufnimmt. Wenn das Baby sich durch die Abwesenheit der Mutter sehr traurig zeigt, versucht sie es zu trösten und die Aufmerksamkeit wieder auf die Spielsachen zu lenken. Diese Episode dauert insgesamt drei Minuten. Wenn das Kind jedoch nicht zu beruhigen ist, kann sie eher abgebrochen werden. 5) Die Mutter steht vor der verschlossenen Tür des Untersuchungszimmers und spricht so laut, dass das Kind sie im Zimmer hören kann. Nach einer Pause öffnet sie die Tür und bleibt noch für eine Weile im Türrahmen stehen, sodass die spontane Reaktion des Babys darauf beobachtet werden kann. Dann tritt sie wieder ein, begrüßt ihr Kind und soll nun dafür sorgen, dass es ihrem Baby gut geht und es sich wohlfühlt. Hierfür gibt es keine Instruktionen an die Mutter, sie soll lediglich das Kind wieder
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2009; Ainsworth, Bell und Stayton, 2009b; Ainsworth und Bell, 2009). Bei diesem Test handelt es sich um eine bis heute in der Bindungsforschung verwendete Laborsituation, die ursprünglich mit dem Ziel, eine normative Explorationssituation zu schaffen, konstruiert wurde. Es stellte sich aber heraus, dass sie ebenfalls ein relativ schnelles Verfahren zur Beurteilung der Mutter-Kind-Bindung ist, sodass sie heute hauptsächlich in dieser Funktion verwendet wird6 (Ainsworth und Bowlby, 2009). Der Fremde-Situations-Test ermöglichte es schließlich, zwischen den drei Bindungstypen sicher (B), unsicher-vermeidend (A) und unsicher-ambivalent (C) zu unterscheiden7 (Ainsworth und Bowlby, 2009). Ainsworth betont aber auch, dass das beobachtbare Bindungsverhalten nicht dasselbe sei wie die Bindung des Kindes an seine Eltern. Das Bindungsverhalten könne beispielsweise durch spezifische Umstände (entweder in auf dem Boden absetzen, sodass es sich für die Spielsachen interessieren kann, sobald es sich wohlfühlt. 6) Die Mutter lässt das Kind für drei Minuten allein. Sie verabschiedet sich von ihm durch die Worte »auf Wiedersehen« und verlässt das Zimmer. Ihre Handtasche bleibt wieder zurück. Bei starkem Schreien kann diese Episode verkürzt werden. 7) Nun ist die fremde Person wieder mit dem Baby im Untersuchungsraum. Sie kann sich dem Baby gegenüber auf unterschiedliche Art und Weise verhalten, dies hängt von dem Verhalten des Kindes in dieser sowie der vorangegangenen Situation ab, in der das Baby mit der fremden Person alleine war. Wenn es in der bisherigen Episode mit der Fremden explorierte, soll sich die fremde Person nun dem Kind nähern, um herauszufinden, wie viel Nähe es von ihr ertragen kann und dann soll sie zwei Minuten mit ihm interagieren. Wenn es vorher nicht explorierte, hat das Baby nun drei Minuten Zeit zu explorieren, bevor die fremde Person für zwei Minuten mit ihm in Interaktion zu treten versucht. Wenn das Baby bekümmert ist, da es verlassen wurde, soll sie versuchen das Kind zu trösten. Lässt das Kind sich nicht trösten, kann die Episode verkürzt werden. 8) Nun kommt die Mutter in das Untersuchungszimmer zurück, bleibt zunächst im Türrahmen stehen und spricht ihr Kind an. Dann hebt sie es vom Boden hoch und beendet somit die Fremde Situation (Ainsworth und Wittig, 2009). Die Fremde Situation wird in der Regel mit Kindern im Alter von zwölf bis 18 Monaten durchgeführt. 6 Die Klassifikation des Bindungsverhaltens in der Fremden Situation basierte hierbei hauptsächlich auf den Verhaltensweisen des Babys in den Wiedervereinigungsepisoden (Ainsworth et al., 2009b). 7 Neben den drei Hauptkategorien ermöglicht es die Fremde Situation ebenfalls, weitere Unterklassifikationen vorzunehmen, sodass zwischen acht Untergruppen zu den Hauptbindungstypen A, B und C differenziert werden kann (vgl. Ainsworth und Wittig, 2009; Ainsworth et al., 2009b). An dieser Stelle ist die weitere Ausführung der Muster aber nicht wesentlich, sodass hierauf verzichtet wird.
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der kindlichen Umwelt oder innerhalb des kindlichen Organismus) erhöht oder aber auch geringer sein (Ainsworth und Bell, 2009). Bindung, verstanden als die Beziehung zu einem speziellen Menschen, besteht aber trotz der Schwankungen im Bindungsverhalten weiterhin unvermindert fort (Ainsworth, Bell und Stayton, 2009a). Bowlby schreibt über die Stabilität der Bindungsmuster beim Kind, dass, wenn sich die Fürsorgesituation innerhalb einer Familie nicht grundlegend verändere, die Bindungsmuster dazu neigten, bestehen zu bleiben (Bowlby, 2009c). Dies ist relevant, da sie auch über den familiären Kontext hinaus eine hohe Voraussagekraft für das kindliche Verhalten aufweisen (siehe auch Kapitel 2.1.5 Der Zusammenhang zwischen Bindungsmustern und Verhaltensauffälligkeiten in der mittleren Kindheit). Die Persistenz von Bindungsverhaltensweisen erklärt Bowlby durch die Tendenz der Eltern, ihr Kind entweder gut oder schlecht zu behandeln, die sich in der Regel nicht verändere. Außerdem neige jedes Muster dazu, sich selbst zu wiederholen (siehe auch Kapitel ) (Bowlby, 2009c). Bowlby betont aber auch den Aspekt, dass ein Kind in den Beziehungen zu seinen beiden Eltern verschiedene Bindungsmuster entwickeln kann: »Es gibt Belege dafür, daß Bindungsmuster während der ersten zwei oder drei Lebensjahre eine Eigenschaft der Beziehung sind, daß sich z. B. das Muster vom Kind zur Mutter von dem zum Vater unterscheiden kann und daß sich auch das Muster ändern wird, wenn der Elternteil das Kind anders behandelt. Diese Veränderungen zählen zu den […] Belegen dafür, daß die Stabilität der Muster, wenn sie auftritt, nicht auf angeborene Merkmale zurückgeführt werden kann, die immun gegen Umwelteinflüsse sind« (Bowlby, 2009c, S. 66 f.).
Mit zunehmendem Alter würden die vom Kind ausgebildeten Bindungsmuster jedoch mehr und mehr zu Eigenschaften des Kindes und seien immer schwerer zu verändern (Bowlby, 2009c). Im Erwachsenenalter wird Bindung mithilfe des Adult Attachment Interviews (AAI)8 (vgl. George, Kaplan und Main, 2001; 8 Das AAI ist ein qualitatives Experteninterview, das anhand eines vorstrukturierten Leitfadens den Bindungsstatus im Erwachsenenalter erfasst. Laut seinen Entwicklern ist das AAI ein Interview, welches durch seine Technik »das Unbewusste
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loger-Tippelt, 2001; Main, 2001) eingeschätzt. Hierbei ist es wichG tig, die Bindung im Erwachsenenalter von der im Kindesalter zu unterscheiden, da sich die Bindungsqualität eines Kindes auf die Beziehung mit einer bestimmten Person bezieht. Im Erwachsenenalter wird Bindungssicherheit jedoch nicht mehr mit einer bestimmten Beziehung assoziiert, sondern vielmehr steht der mentale Zustand, der mit der ganzen bisherigen Bindungsgeschichte des Erwachsenen zusammenhängt, im Zentrum der Betrachtung (Main, 2002). Im Folgenden aber werden nun die Bindungsklassifikationen des Kindesalters, die auf der Basis der Fremden Situation entdeckt wurden, beschrieben. 2.1.4.1 Der sichere Bindungstyp: B Die sichere Bindung wird als das Bindungsmuster beschrieben, das einer gesunden Entwicklung zuzuschreiben ist (Bowlby, 2009c). Kinder mit einer sicheren Bindung haben die Zuversicht, dass ihre Bindungsperson in einer gefährlichen oder angstauslösenden Situation für sie verfügbar und erreichbar ist, auf ihre Äußerungen von Angst oder anderweitigem Stress antworten und hilfreich reagieren wird. Mit dieser Zuversicht kann sich das sicher gebundene Kind der Welt offen zuwenden, explorieren und fühlt sich von seinem Elternteil überrascht« (George, Kaplan und Main, 1985). Innerhalb des AAI werden dem Probanden Fragen zu seinen Beziehungen zu beiden Elternteilen während seiner Kindheit gestellt, er muss diese Beziehungen mit Adjektiven beschreiben und sie anhand von Beispielen belegen. Zentral ist die immer wiederkehrende Aufforderung innerhalb des Interviews die berichteten Beziehungserfahrungen daraufhin einzuschätzen, inwiefern sie das momentane Funktionieren der Person beeinflussen. Im Verlauf des AAI werden auch Verlust- und Missbrauchserfahrungen abgefragt und die aktuelle Beziehung des Probanden zu seinen Eltern und Kindern. Zur Auswertung des AAI wird schließlich das verbale Transkript herangezogen, sodass eine Einordnung des Erwachsenen in folgende Kategorien möglich wird: 1) sicher-autonomes Bindungsmodell, 2) unsicher-distanziertes Bindungsmodell, 3) präokkupiertes, verwickeltes Bindungsmodell und 4) unverarbeiteter Bindungsstatus (vgl. Gloger-Tippelt, 2001; Main, 2002; Hesse und Main, 2002; George, Kaplan und Main, 2001; Main, 2001). Setzt man den Bindungsstatus von Eltern mit dem ihrer Kinder in Beziehung, so zeigt sich, dass sicher-autonome Eltern hauptsächlich sicher gebundene Kinder haben, unsicher-distanzierte, bindungsabwehrende Eltern hauptsächlich unsicher-vermeidende Kinder, präokkupiert, verstrickte Eltern tendenziell ambivalent gebundene Kinder und Eltern mit einem unverarbeiteten Bindungsstatus hauptsächlich desorganisierte Kinder (vgl. Main, 2001; Gloger-Tippelt, 2001).
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darin bestärkt. Das komplementäre Verhalten der Bindungsperson ist ein feinfühliges Verhalten gegenüber den Bedürfnissen des Kindes, das eine leichte Verfügbarkeit beinhaltet und die Bereitschaft, liebevoll auf das Kind zu reagieren und ihm Trost und Beistand zu spenden (Bowlby, 2009c; Ainsworth und Bowlby, 2009; Ainsworth, 2009d). Das Konzept der Feinfühligkeit9 der Bindungsperson ist ein in der Literatur viel beschriebenes Konzept. Die Feinfühligkeit wird als ein wesentlicher Faktor angesehen, wenn es darum geht, ob ein Kind eine sichere oder eine unsichere Bindung entwickeln wird. Eine gut ausgeprägte elterliche Feinfühligkeit wird hierbei in Verbindung gebracht mit der Entwicklung einer sicheren Bindung10 (vgl. Ainsworth, 2009b; DeWolff und van Ijzendoorn, 1997). Aus den Untersuchungen von Ainsworth (2009) ging ebenfalls hervor, dass Babys, die sicher gebunden waren, ein Arbeitsmodell ihrer Mutter aufzubauen schienen, das auch dann verfügbar war, wenn die Mutter gerade nicht in Sichtweite war. Die Babys errichteten das Arbeitsmodell der Mutter als einer Person, deren Zugänglichkeit und Ansprechbarkeit für das Kind verlässlich gegeben war, sodass sie auch in nicht bekannten Situationen und Umgebungen dazu in der Lage waren, ihre Umwelt zu explorieren (Ainsworth, 2009d). Aus diesem Grund fand sich bei sicher gebundenen Babys weniger Protestverhalten, beispielsweise wenn ihre Mutter in der häuslichen Umgebung über einen kurzen Zeitraum fortging als bei unsicher gebundenen Babys (Ainsworth und Bowlby, 2009). Betrachtet man die Reaktionen sicher gebundener Kinder in der Fremden Situation (Ainsworth et al., 2009b), so zeigt sich, dass 9 De Wolff und van Ijzendoorn definieren in ihrer Metaanalyse über 66 Studien zu dem Zusammenhang zwischen Feinfühligkeit und Bindungsqualität den Begriff der Feinfühligkeit als die Fähigkeit angemessen und prompt auf die Signale des Kindes zu reagieren (DeWolff und van Ijzendoorn, 1997). 10 Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch, dass elterliches unsensibles Verhalten mit der Entwicklung einer unsicheren Bindung einhergeht. BakermansKranenburg et al. (2005) berichten vor allem, dass ein elterliches Verhalten, das als unsensibel und nicht feinfühlig den Bedürfnissen des Kindes gegenüber angesehen werden kann, zu der Entwicklung einer organisiert-unsicheren Bindung, also einer unsicher-vermeidenden oder unsicher-ambivalenten Bindungsqualität beitragen könne (Bakermans-Kranenburg, van Ijzendoorn und Juffer, 2005), allerdings nicht im Zusammenhang mit der Entwicklung einer desorganisierten Bindung stehe.
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diese Kinder vor allem in Situationen der Wiedervereinigung mit der Mutter stark reagieren, manche lachen, andere weinen. Diese Kinder bringen entweder ihr starkes Verlangen nach der Nähe der Mutter zum Ausdruck oder ihren Wunsch nach Interaktion mit ihr. Außerdem zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie aktiv herzustellen versuchen, was sie sich wünschen. Ein sicher gebundenes Kind kann in seiner Reaktion auf die fremde Person freundlich reagieren, aber es zeigt auch deutlich, dass es an der Interaktion mit der Mutter ein wesentlich größeres Interesse hat als an der Interaktion mit der Fremden. Es ist ebenfalls möglich, dass das Kind in den Trennungssituationen gestresst ist, dies muss aber nicht zwangsläufig der Fall sein. Falls das Kind gestresst ist, so kann dies klar auf die Abwesenheit der Mutter zurückgeführt werden und das Baby kann sich zwar ein wenig von der Fremden trösten lassen, aber es besteht kein Zweifel daran, dass es seine Mutter braucht (Ainsworth et al., 2009b). 2.1.4.2 Der unsicher-vermeidende Bindungstyp: A Die unsicher-vermeidende Bindung, auch ängstlich-vermeidend genannt, zeichnet sich dadurch aus, dass das Kind nicht die Erwartung hat, dass die Bindungsperson hilfreich reagiert, wenn es ihre Nähe und Fürsorge bräuchte. Stattdessen gehen unsicher-vermeidend gebundene Kinder davon aus, dass sie von ihrer Bindungsperson zurückgewiesen werden. Sie versuchen daher in Situationen von Stress und Angst ihr Leben ohne die Zuwendung zu ihrer Bindungsfigur zu meistern. Dieses Muster wird durch Elternverhalten verstärkt, das als eine schroffe Zurückweisung des Kindes beschrieben werden kann, vor allem in Situationen, wenn das Kind schutz- und trostbedürftig ist und sich seiner Bindungsfigur zu nähern versucht (Bowlby, 2009c; Ainsworth und Bowlby, 2009). Mütter unsicher-vermeidender Babys sind im Allgemeinen weniger feinfühlig ihren Kindern gegenüber (Ainsworth und Bowlby, 2009). Nicht selten findet man bei den Müttern dieser Kinder, dass ihre positiven Gefühle dem Kind gegenüber auch durch Ärger oder Irritationen unterwandert sind. Auch eine Abneigung der Mütter gegen einen intensiven körperlichen Kontakt mit ihren Kindern sowie eine Tendenz, die Kinder bei körperlichem Kontakt eher weniger angenehmen bis hin zu schmerzhaften Erfahrungen auszusetzen, ist dem Verhalten dieser Mütter inhärent (Ainsworth, 2009d). In den Lebensgeschichten unsicher-vermei-
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dender Kinder finden sich in den extremsten Fällen auch Erlebnisse von wiederholter Zurückweisung sowie Misshandlungserfahrungen und längere Institutionalisierungen (Bowlby, 2009c). Innerhalb der Fremden Situation beschreiben Ainsworth et al. (2009) das Verhalten von vermeidend gebundenen Kindern dadurch, dass diese kaum oder überhaupt nicht die Nähe oder Interaktion mit der Mutter suchen würden. In der Situation, wenn sie von der Mutter aufgenommen werden, würden diese Kinder auch kaum oder gar kein anklammerndes Verhalten zeigen und sich auch nicht dagegen wehren, wenn die Mutter sie wieder auf dem Boden absetze. Stattdessen neigten sie dazu, ihre Mütter bei der Wiedervereinigung zu vermeiden, indem sie sie ignorierten oder aber in der Begrüßungssituation Vermeidungstendenzen hinzukämen, wie sich abwenden, an der Mutter vorbeilaufen, weglaufen und das Gesicht von ihr abwenden. In Bezug auf die fremde Person ließ sich beobachten, dass sie diese fast wie ihre Mutter behandelten. Die Trennungssituationen schienen diese Kinder nicht zu stressen oder nur dann, wenn sie ganz alleine gelassen wurden (Ainsworth et al., 2009b). Main (2001) fasst dies unter der Erkenntnis zusammen, dass die unsicheren, aber organisierten Bindungsmuster, also sowohl das unsicher-vermeidende als auch das unsicher-ambivalente, als »Verhaltensstrategien zum Erhalt der Selbst-Organisation und zum Aufrechterhalten der Nähe zu einer unsicheren […] Bezugsperson« (Main, 2001, S. 3) dienen. Die Verhaltensstrategie, die vermeidende Kinder zeigen, bestehe darin, dass sie ihre Aufmerksamkeit von Situationen abwenden, die vermeintlich furchtauslösend sein könnten (Main, 2001). 2.1.4.3 Der unsicher-ambivalente Bindungstyp: C Ein anderes Bindungsmuster stellt die unsicher-ambivalente oder auch als ängstlich-widerstrebend bezeichnete Bindung dar. Das Kind, das ein solches Bindungsmuster aufweist, ist sich nicht sicher, ob seine Bindungsperson verfügbar und erreichbar und zudem auch hilfreich ist, wenn es dieses benötigt. Das Kind zeichnet sich aufgrund dieser grundlegenden Unsicherheit durch häufiger auftretende Trennungsangst, anklammerndes Verhalten und Ängstlichkeit bei der Erkundung der Welt aus (Bowlby, 2009c). Dieses Verhalten kommt durch ein Elternverhalten zustande, das sich in manchen
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Situationen als hilfreich, in anderen aber als nicht ansprechbar und wenig hilfreich erwiesen hat. Ainsworth beschreibt Mütter von ambivalent gebundenen Kindern als »nicht zurückweisend, jedoch meist entweder einmischend oder ignorierend« (Ainsworth, 2009d, S. 323). Wesentliches Merkmal dieser Mütter sei die Unbeständigkeit in ihrer Reaktion auf das Kind. Sie könnten zugewandt und positiv reagieren, reagierten aber wiederum auch häufig nicht auf Kontaktgesuche vom Kind oder suchten selbst engen Kontakt zum Kind, wenn dieses das gar nicht wünsche. Sie seien aber durchaus dazu in der Lage, den körperlichen Kontakt mit ihrem Baby zu genießen (Ainsworth, 2009d). Bowlby schreibt, dass zu dem mütterlichen Verhalten ambivalent gebundener Kinder vor allem auch Verhaltensweisen wie die Androhung, das Kind zu verlassen, als Mittel zur Kontrolle gehörten sowie reale Trennungserfahrungen des Kindes (Bowlby, 2009c). Auch wird ein Zusammenhang zwischen dem von der Mutter berichteten Stress in Bezug auf die mütterliche Rolle und der Entwicklung einer unsicher-ambivalenten Bindung diskutiert. Moss et al. (1998) konnten einen Zusammenhang zwischen der mütterlichen Stressbelastung und der Entwicklung eines unsicher-ambivalenten Bindungstyps im Schulalter aufzeigen (Moss, Rousseau, Parent, St-Laurent und Saintonge, 1998). Sie heben jedoch hervor, dass in anderen Studien, die sich auf die frühe Kindheit beziehen, vor allem ein Zusammenhang zwischen einer desorganisierten Bindung und dem mütterlichen psychosozialen Stresslevel gefunden wurde (Moss et al., 1998). In der Fremden Situation reagieren ambivalent gebundene Kinder auf sehr heterogene Art und Weise. Sie unterscheiden sich von den anderen Bindungsgruppen durch ein »schlecht angepaßtes, ›fehlangepaßtes‹ Verhalten« (Ainsworth et al., 2009b, S. 177). Ein ganz wesentliches Kriterium, dieses von Ainsworth et al. (2009) als »unangepasst« bezeichneten Verhaltens, war die scheinbare Unmöglichkeit, die Mutter im Sinne einer sicheren Basis als Ausgangspunkt für die Exploration zu nutzen. Es gab Babys, die dieser ambivalenten Gruppe zugerechnet wurden, die auch vor den Trennungsphasen nicht explorierten, andere wiederum, die dies ziemlich aktiv taten, schienen dieses Verhalten aber nicht genießen zu können (Ainsworth et al., 2009b). Folgt man der Argumentation von Main (2001),
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so entwickeln ambivalent gebundene Kinder Verhaltensstrategien, die auf einer »Hypervigilanz und Überbeschäftigung mit der Mutter beruhen« (Main, 2001, S. 25). 2.1.4.4 Der desorganisierte Bindungstyp: D Der desorganisierte Bindungstyp wurde nicht zur gleichen Zeit wie die sichere (B), unsicher-vermeidende (A) und unsicher-ambivalente Bindung (C) entdeckt, sondern erst in den 1990er Jahren durch die Bindungsforscherin Mary Main. In den 1980er Jahren fiel vermehrt auf, dass es nicht gelang, alle Kinder, mit denen die Fremde Situation durchgeführt worden war, anhand der drei bisher vorhandenen Bindungskategorien (B, A und C) einzuordnen (Hesse und Main, 2002). Diese nicht klassifizierbaren Kinder wiesen unterschiedliche anormale Verhaltensweisen in Gegenwart der Bezugsperson auf, die häufig in sich gegensätzlich und widersprüchlich erschienen. Desorganisierte Kleinkinder konnten keine Strategie zum Umgang mit stressvollen Situationen entwickeln, sie erlebten potentiell stressvolle Situationen eher als überwältigend. Das hier auftretende Paradoxon besteht darin, das Bedürfnis zu verspüren, sich dem Elternteil in einer stressvollen Situation zu nähern, bei ihm Schutz und Hilfe zu finden, aber gleichzeitig in Furcht die Flucht vor ihm zu ergreifen (Hesse und Main, 2002). Hesse und Main (2002) beschreiben beispielhaft ein Kind, das laut schrie, während es versuchte auf den Schoß der Mutter zu klettern, als es dann dort angekommen war, ganz still wurde und über einen Zeitraum von mehreren Sekunden dort bewegungslos verharrte (Hesse und Main, 2002). Die Autoren berichten auch von weiteren Verhaltensweisen desorganisierter Kinder, wie das Hin- und Herschaukeln auf allen Vieren (insbesondere nach einem nicht gelungenen Annäherungsversuch an die Mutter), das sich Wegdrehen von ihr, das Schreien bei Verlassen des Raumes durch die Mutter, aber bei der Wiedervereinigung sich von der Mutter weg zu bewegen. Manche Kinder wurden auch merklich angespannter beim Anblick der Mutter und hielten sich die Hand vor den Mund oder verfielen in einen tranceähnlichen Zustand (Hesse und Main, 2002). Hesse und Main und halten fest: »mit dem Ausdruck Desorganisation sollte ein Verhalten beschrieben werden, das – obwohl nicht offen desorganisiert – doch ein Fehlen von Orientierung andeutet[e] [Hervorhebung im Original]« (Hesse
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und Main, 2002, S. 222). Sie stellen eine grobe Klassifikation desorganisierter Verhaltensweisen in folgende Bereiche auf: 1. die sequentielle Darstellung von widersprüchlichen Verhaltensmustern, 2. die simultane Darstellung von widersprüchlichen Verhaltensmustern, 3. Arten von ungerichteten, ziellosen, unvollständigen oder auch unterbrochenen Bewegungen und Ausdrücken, 4. Bewegungen, die stereotyp, asymmetrisch, zeitlich unabgestimmt sind oder auch anormale Körperhaltungen mit einschließen, 5. das Auftreten von eingefrorenen, plötzlich angehaltenen und verlangsamten Bewegungen und Ausdrücken, 6. direkte Hinweise, die auf eine Besorgnis oder Furcht gegenüber der Bezugsperson hinweisen, sowie 7. direkte Hinweise, die auf Desorganisation, Desorientierung und Konfusion hindeuten. Nach Hesse und Main (2002) dauerten diese desorganisierten Phänomene nicht mehr als 10 bis 30 Sekunden an (Hesse und Main, 2002, S. 222). Eine Einordnung des Bindungsverhaltens als desorganisiert wird in der Fremden Situation auf der Grundlage von Unterbrechungen oder dem Auftreten von anormalen Verhaltensweisen in der Organisation und der Orientierung des kindlichen Betragens vergeben (Hesse und Main, 2002). Bei Erwachsenen kann im Adult Attachment Interview (AAI) (vgl. George et al., 2001; Main, 2001; Gloger-Tippelt, 2001) die Klassifikation ungelöst/desorganisiert codiert werden. Dies erfolgt dann, wenn deutliche Unterbrechungen im Denken oder auch im Diskurs auftauchen und in Zusammenhang mit der Diskussion über Verlust oder auch Missbrauch stehen (Hesse und Main, 2002). Lässt sich bei den Eltern eine desorganisierte Bindungsklassifikation nachweisen, so hat dies auch einen Vorhersagecharakter bezüglich einer desorganisierten Bindung beim Kind (Hesse und Main, 2002). Hesse und Main (2002) beschreiben den Prozess, der möglicherweise die Weitergabe der desorganisierten Bindungsmuster vermittelt folgendermaßen: »Wir nehmen an, daß diese sprachlichen ›Ausrutscher‹ im Diskurs auf eine nicht-integrierte oder teilweise dissoziierte Angst zurück zuführen
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sind, die durch die Erörterung dieser Interviewthemen ausgelöst wurde, und daß daraus manchmal (bei sonst ›normalen‹ Eltern) anomale Formen von drohendem, dissoziativem und ängstlichem Verhalten auftreten können. Wir vermuten, daß solche Formen des Verhaltens auf das Kind verängstigend wirken […]. Sollte dies zutreffen, dann könnte ein desorganisierter Bindungsstil nicht nur als Ergebnis einer direkten traumatischen Mißhandlungserfahrung des Kleinkindes entstehen, sondern auch als Effekt der zweiten Generation, der als Folge subtilerer Verhaltensweisen zu verstehen ist, die sich aus den angstvollen oder beängstigenden Vorstellungen der Eltern über traumatische Erfahrungen ergeben [Hervorhebung im Original]« (Hesse und Main, 2002, S. 225).
Auf der theoretischen Ebene konstruieren die Autoren das Entstehen von desorganisierten Verhaltensweisen folgendermaßen: »Bestimmte Formen von beängstigendem Elternverhalten rufen einander widersprechende biologisch kanalisierte Neigungen zur Annäherung an die Bezugsperson und zur gleichzeitigen Flucht von ihr weg hervor [Hervorhebung im Original]« (Hesse und Main, 2002, S. 220).
Hesse und Main betonen, dass es Formen ängstigenden Elternverhaltens gibt, die sich auch auf einer subtilen Ebene abspielen können, wie beispielsweise dissoziative Verhaltensweisen. Es sei daher möglich, dass die desorganisierte Bindung des Kindes auf eine elterliche Traumatisierung zurückzuführen sei, die so ihren Effekt in die nächste Generation übertrage. In einer empirischen Studie von Lyons-Ruth et al. (1993) wiesen Mütter desorganisierter Kinder das höchste Stresslevel aller Bindungsklassifikationen auf (Lyons-Ruth, Alpern und Repacholi, 1993). Auch elterliche Ehezerwürfnisse sowie elterliche Depressionen und psychotische Störungen werden in der Literatur im Zusammenhang mit desorganisiertem Bindungsverhalten von Kindern diskutiert (Wai Wan und Green, 2009; Bakermans-Kranenburg, van Ijzendoorn und Juffer, 2005). Doch auch direkte Misshandlungen von Kindern durch ihre Eltern können desorganisiertes Verhalten hervorbringen (Bakermans-Kranenburg et al., 2005). In Stichproben mit misshandelten Kindern konnten Carlson et al. (1989) bei nahezu 82 % der Probanden eine desorganisierte Bindung finden
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(Carlson, Cicchetti, Barnett und Brauwald, 1989). Über die Prognose von Kindern mit desorganisierten Bindungsverhaltensweisen berichten Hesse und Main (2002), dass Desorganisation bei Säuglingen häufig störendes und aggressives Verhalten oder auch dissoziative Störungen in der Kindheit und Jugendzeit vorhersage. Auch unter kriminellen Erwachsenen oder Psychiatriepatienten finde sich gehäuft eine desorganisierte Bindung (Hesse und Main, 2002). Des Weiteren sei es möglich, dass desorganisiertes Verhalten auch aus neurologischer Beeinträchtigung oder pharmakologischer Intervention resultiere. Ein weiterer interessanter Befund zeigt, dass Kinder, die an einen Elternteil desorganisiert gebunden waren, nicht zwangsläufig auf den anderen Elternteil ebenfalls so reagierten (Hesse und Main, 2002).
2.1.5 Der Zusammenhang zwischen Bindungsmustern und Verhaltensauffälligkeiten in der mittleren Kindheit In diesem Kapitel werden die verschiedenen Zusammenhänge zwischen den Bindungsmustern sowie psychopathologischen Entwicklungen in der frühen und mittleren Kindheit beleuchtet. In diesem Alter stellt externalisierendes Problemverhalten, das Verhaltensweisen wie aggressives, destruktives und delinquentes Verhalten einschließt, den am weitesten verbreiteten Anteil von psychischen Auffälligkeiten bei Kindern dar (Smeekens, Riksen-Walraven und van Bakel, 2007). Es beeinflusst die Beziehungen zu Eltern, Lehrern und Gleichaltrigen und kann in dieser Entwicklungsphase, in der Aufgaben wie das sich Einfügen in eine Gruppe mit Gleichaltrigen in der Kindertagesstätte oder Schule zu den zentralen Entwicklungsaufgaben11 gehören, nachhaltig die weitere Entwicklung stören (Masten und Coatsworth, 1998; Sroufe, 1979). So verwundert es 11 Als wichtige Entwicklungsaufgaben für die mittlere Kindheit beschreiben Masten und Coatsworth (1998) das sich Anpassen an den schulischen Kontext, das sich Einbringen und den dortigen Regeln zu folgen, akademischen Erfolg d. h. das Erlernen von Lesen und Rechnen, das Zusammensein mit Gleichaltrigen, mit ihnen zurechtzukommen und Freunde zu finden sowie auch die Anerkennung und Befolgung von gesellschaftlichen und/oder moralischen Vorstellungen und prosozialem Verhalten (Masten und Coatsworth, 1998).
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nicht, dass viele Längsschnittstudien ergeben haben, dass die Persistenz externalisierenden Problemverhaltens von der Vorschulzeit bis hin ins Jugendlichenalter relativ hoch ist (Smeekens et al., 2007; Munson et al., 2001). Frühe externalisierende Verhaltensauffälligkeiten sind zudem Prädiktoren für andere Formen von Psychopathologien und wirken auf die Persönlichkeits- sowie die soziale und akademische Entwicklung von Kindern ein (Smeekens et al., 2007). Smeekens et al. (2007) nennen vier verschiedene Bereiche, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von externalisierendem Problemverhalten beitragen: 1.) die Eltern-Kind Interaktion und die Bindungsbeziehung zwischen Eltern und Kind, 2.) Charakteristika des Kindes (unter anderem Temperament und kognitive Fähigkeiten), 3.) elterliche Charakteristika (z. B. die Persönlichkeit) sowie 4.) kontextuelle Faktoren (sozioökonomischer Status, Unterstützung durch einen Partner, stressvolle Lebensereignisse etc.) (Smeekens et al., 2007). In der vorliegenden Arbeit wird der Schwerpunkt insbesondere auf die Faktoren 1.) Eltern-Kind-Bindungsqualität sowie 4.) kontextuelle Risikofaktoren gelegt und im Zusammenhang mit dem Ausmaß an Problemverhalten betrachtet. Im Folgenden soll zunächst die Beziehung zwischen der Bindungsqualität und dem Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten untersucht werden. Es besteht ein Konsens in der Literatur, dass eine sichere Bindung als ein protektiver Faktor für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten und ein Beitrag zur Entwicklung sozialer Kompetenz angesehen werden kann sowie eine unsichere Bindung das Risiko für spätere Psychopathologie erhöht (Fearon und Belsky, 2011; Fearon et al., 2010; Moss et al., 2009; Weinfield et al., 2008; DeKlyen und Greenberg, 2008; Munson et al., 2001; Warren et al., 1997). Sicher gebundene Kinder können besser soziale Anpassungsleistungen vollbringen als unsicher gebundene Kinder. Im Vorschulalter zeigen sie mehr sozial angepasstes Verhalten, haben stärker ausgeprägte Fähigkeiten der Selbstkontrolle, sind empathischer, sozial kompetenter, haben ein stärkeres Selbstbewusstsein, sind weniger abhängig von Erwachsenen und drücken mehr positive und weniger negative Affekte aus als Kinder unsicherer Bindungsklassifikationen (Moss et al., 2009; Geddes, 2009; Leuzinger-Bohleber, 2009; Brisch und Hellbrügge, 2009; Weinfield et al., 2008; Main, 2002; Moss et al., 1998; Erickson et al., 1985; Bretherton, 1985). Auch in Bezug auf die
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schulische Laufbahn haben sicher gebundene Kinder einen Vorteil: So zeigte sich, dass sie höhere Werte in Bezug auf die Schulreife erhielten sowie dass ihre kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten besser ausgeprägt waren als bei unsicher gebundenen Kindern (Stacks und Oshio, 2009; Spieker, Nelson, Petras, Jolley und Barnard, 2003; Belsky und Fearon, 2002; Moss und St-Laurent, 2001; Pianta, Stuhlman und Hamre, 2007). In einer deutschen Stichprobe wurde zudem sichtbar, dass Kinder, die zu beiden Eltern eine sichere Bindung aufbauen konnten, sich besser entwickelten und noch günstigere Ergebnisse erzielten als Kinder, die nur an einen Elternteil sicher gebunden waren (Suess et al., 1992). Eine unsichere Bindung in der frühen Kindheit wird hingegen in der Literatur häufig mit schlechteren Beziehungen zu Gleichaltrigen, einer weniger ausgeprägten Selbstkontrolle sowie dem Auftreten von Aggressionen in Verbindung gebracht. Dies gilt sowohl für die Vorschulzeit als auch darüber hinaus (DeKlyen und Greenberg, 2008; Sroufe, Egeland, Carlson und Collins, 2009). Kinder, die eine desorganisierte Bindung aufweisen, scheinen besonders vulnerabel für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten zu sein (O’Connor, Bureau, McCartney und Lyons-Ruth, 2011; Fearon et al., 2010; Bakermans-Kranenburg et al., 2005; Munson et al., 2001; Carlson, 1998). Madigan et al. (2007) konnten in ihrer Langzeitstudie zeigen, dass sich bereits im Kleinkindalter der Zusammenhang zwischen desorganisierter Bindung und externalisierenden Verhaltensproblemen herstellen lässt: So fanden sie in ihrer Stichprobe heraus, dass eine desorganisierte Bindung im Alter von einem Jahr mit den Verhaltensauffälligkeiten im Alter von zwei Jahren assoziiert war (Madigan, Moran, Schuengel, Pederson und Otten, 2007). Im Vorschulalter findet man besonders bei unsicher desorganisiert gebundenen Kindern ein vermehrtes Auftreten von sowohl externalisierenden Verhaltensproblemen als auch internalisierenden Symptomen (Moss et al., 2009; Smeekens et al., 2007; Moss et al., 1998; Erickson et al., 1985). Fearon und Belsky (2011) fanden signifikante Zusammenhänge zwischen der Bindungsqualität und den Verhaltensproblemen im Schulalter (Fearon und Belsky, 2011). Sie beschreiben, dass sie in ihrer Stichprobe nur einen geringen Effekt der desorganisierten Bindung auf die Verhaltensauffälligkeiten bei Erstklässlern finden konnten, wohingegen die Effektgröße im
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weiteren Verlauf bis zur sechsten Klasse stark anstieg (Fearon und Belsky, 2011). Es finden sich jedoch auch Hinweise in der Literatur, dass sich neben den desorganisierten Kindern auch die unsichervermeidend gebundenen Kinder als besonders vulnerabel für die Entwicklung von externalisierenden Verhaltensproblemen erwiesen haben ( Fearon und Belsky, 2011; Fearon et al., 2010; NICHD Early Child Care Research Network, 2006; »Child care and child development«, 2005; Belsky und Fearon, 2002; Munson et al., 2001; Erickson et al., 1985). Andere Studien konnten den Zusammenhang zwischen unsicher-vermeidender Bindung und problematischem externalisierendem Verhalten jedoch nicht replizieren, sondern berichten stattdessen von dem Zusammenhang zwischen unsicher-vermeidender Bindung und internalisierendem Verhalten (Moss et al., 2009; LyonsRuth, Easterbrooks und Cibelli, 1997; Moss et al., 1998) oder fanden überhaupt keinen Zusammenhang (Shaw, Owens, Vondra, Keenan und Winslow, 1996). Kinder mit unsicher-vermeidender Bindung werden von Erickson et al. (1985) in ihrer Studie insbesondere durch feindseliges Verhalten, soziale Isolation und ein abweisendes oder unnahbares Verhalten beschrieben (Erickson et al., 1985). Bei Kindern mit unsicher-ambivalenter Bindung beschreiben sie impulsive und angespannte Verhaltensweisen sowie Hilflosigkeit und Ängstlichkeit (Erickson et al., 1985). Fearon und Belsky (2011) merken an, dass die Effektgrößen, die in der Literatur für den Zusammenhang zwischen sicherer bzw. desorganisierter Bindung und externalisierenden Verhaltensproblemen beschrieben werden, durchaus variieren und es daher noch weiterer Forschungsanstrengungen bedürfe, diese Zusammenhänge zu erhellen (Fearon und Belsky, 2011)12. Die Forscher des NICHD Early Child Care Research Networks beschreiben zwei verschiedene Zugänge für die Betrachtung des 12 Doch nicht nur die spezielle Ausprägung der Bindungsbeziehung scheint einen Einfluss auf die Entwicklung von Verhaltensproblemen zu haben, auch das Geschlecht scheint die Beziehung zwischen Bindung und Verhalten zu prägen. So berichten u. a. Fearon et al. (2010) in ihrer Metaanalyse über 69 Studien davon, dass das Geschlecht eine signifikante Moderatorvariable sei. In Stichproben, die ausschließlich aus Mädchen bestanden, ergab sich kein Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und externalisierendem Problemverhalten, wohingegen der Zusammenhang bei Jungen nachzuweisen war (Fearon und Belsky, 2011; Fearon, Bakermans-Kranenburg, van Ijzendoorn, Lapsley und Roisman, 2010).
Die Bindungstheorie
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Zusammenhangs zwischen Bindungstypisierung und Verhalten (NICHD Early Child Care Research Network, 2006). Den ersten Zugang nennen sie das »Extreme Early Effects Model«. Hierunter fassen sie Forschungen, die den Zusammenhang zwischen Bindungsqualität und Verhaltensauffälligkeiten betrachten, unabhängig von einer Veränderung der Lebensumgebung (vgl. Erickson et al., 1985; Greenberg, Speltz, DeKlyen und Endriga, 1991; Shaw und Vondra, 1995). Forschungen, die diesen Ansatz verfolgten, konnten nicht in allen Fällen starke Zusammenhänge zwischen Bindungstyp und Verhalten über einen längeren Zeitraum hinweg feststellen und nicht für alle Kinder ließ sich ein Zusammenhang, unabhängig von ihren weiteren Lebensbedingungen, herstellen (NICHD Early Child Care Research Network, 2006). Diese, nicht immer eindeutigen Ergebnisse, führten zur Entwicklung des zweiten Zugangs zum Forschungsfeld, er wird von den NICHD-Autoren als »Lawful Discontinuity« bezeichnet. Forschung, die diesen Ansatz verfolgt, stellt die Frage unter welchen Bedingungen die Bindungstypisierung eines Kindes ein guter Prädiktor für späteres Verhalten ist und unter welchen Bedingungen dies nicht zutrifft (vgl. Lewis, 1997; Thompson, 2008; Belsky, Fish und Isabella, 1991; Weinfield et al., 2000). Auf der theoretischen Basis dieser Forschungen wurde in der NICHD-Studie die Kontinuität der Qualität elterlichen Verhaltens als Mediatorvariable für den Zusammenhang zwischen Bindung und Verhalten betrachtet. Die Kontinuität der Qualität elterlichen Verhaltens erwies sich als Mediatorvariable für den Zusammenhang zwischen einer unsicheren Bindungsqualität und dem Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten von Kindern im Vorschulalter. Für den Zusammenhang zwischen einer sicheren Bindung und dem Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten konnte dieser Befund jedoch nicht bestätigt werden (NICHD Early Child Care Research Network, 2006). Zusammenfassend kann demnach festgestellt werden, dass sich in der Literatur eine große Breite an Studien findet, die einen Zusammenhang zwischen einer sicheren Bindung als protektivem Faktor für die Entwicklung von Verhaltensproblemen in der frühen und mittleren Kindheit beschreiben. Bei den verschiedenen Ausprägungen der unsicheren Bindung findet sich allerdings kein einheitliches Ergebnis in Bezug auf den Zusammenhang von
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Theoretischer Hintergrund
einer bestimmten unsicheren Bindungsklassifikation mit einem bestimmten Typ von Verhaltensauffälligkeiten (externalisierenden oder internalisierenden Störungen) (Moss et al., 1998). Auch spielen hier möglicherweise weitere Faktoren, wie die Kontinuität und Qualität elterlichen Verhaltens, eine Rolle im Sinne einer Mediation des Zusammenhangs zwischen Bindung und Verhalten (NICHD Early Child Care Research Network, 2006). Jedoch gibt es einen Konsens in der Literatur, dass eine desorganisierte Bindung mit externalisierenden sowie auch internalisierenden Verhaltensweisen einhergeht und Kinder aller unsicheren Bindungsklassifikationen ein stärkeres Maß an externalisierenden als auch internalisierenden Verhaltensauffälligkeiten zeigen als sicher gebundene Kinder. DeKlyen und Greenberg (2008) betonen jedoch in ihrem Übersichtsartikel zum Zusammenhang von Bindung und Psychopathologie, dass sich die meisten Studien aus diesem Bereich auf Untersuchungen mit Hochrisikopopulationen beziehen. Gerade im Hochrisikokontext seien fruchtbare Ergebnisse bezüglich des Beitrags der Bindung zur (Nicht-)Entstehung von psychisch unerwünschtem Verhalten erzielt worden (DeKlyen und Greenberg, 2008). Moss et al. beschreiben die unterschiedlichen Ausprägungsgrade von Verhaltensauffälligkeiten, insbesondere bezogen auf die sichere, in Abgrenzung zur desorganisierten Bindung, als zwei Pole eines Kontinuums im Hinblick auf die sozio-emotionale Entwicklung von Kindern (Moss et al., 2009).
2.2 Risikofaktoren und deren Einfluss auf die kindliche Entwicklung Bezugnehmend auf Laucht (1999) versteht die vorliegende Forschungsarbeit unter dem Begriff des Risikofaktors »ein Merkmal, das bei einer Gruppe von Individuen, auf die dieses Merkmal zutrifft, die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Störung im Vergleich zu einer unbelasteten Kontrollgruppe erhöht« (Laucht, 1999, S. 303, vgl. auch Garmezy, 1983). Diese so definierten Risikofaktoren lassen sich dann, nach Pellegrini (1990), noch weiter differenzieren: Pellegrini unterscheidet zwischen zwei Risikobedingungen. Erstere können sich auf die biologischen oder psychologischen Merkmale
Risikofaktoren und deren Einfluss auf die kindliche Entwicklung
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eines Individuums beziehen (dies können unter anderem genetische Belastungen, ein geringes Gewicht bei der Geburt oder auch Temperamentsmerkmale etc. sein). Die zweite Gruppe von Risikobedingungen richtet sich auf (psychosozialen) Eigenschaften, der das Individuum umgebenden Umwelt (diese Faktoren sind beispielsweise Armut, Kriminalität, Schichtzugehörigkeit, Psychopathologie der Eltern etc.) (Pellegrini, 1990; vgl. auch Laucht et al., 2000a). In der hier vorliegenden empirischen Arbeit werden letztgenannte Risikofaktoren verstärkt in den Blick genommen. Die Besonderheit der untersuchten Stichprobe liegt in ihrer Risikobelastung mit den sich in der (familiären) Umwelt befindlichen Einflüssen. Aus der Literatur ist bekannt, dass viele Risikofaktoren nicht vereinzelt auftreten, sondern sich in bestimmten Familien häufen (Laucht, 2009). Dies führt zu einer Addierung negativer Effekte, die eine für die Entwicklung des Kindes ungünstige Prognose stellen (Masten, 2001; Belsky und Fearon, 2002; DeKlyen und Greenberg, 2008). Nach Laucht et al. (2009) häufen sich besonders im Umfeld von Familien aus psychosozial benachteiligten Verhältnissen Entwicklungsprobleme und -gefährdungen (Laucht, 2009). Die meisten Einzelrisiken (wie beispielsweise die Schichtzugehörigkeit, psychische Auffälligkeiten, Delinquenz, niedriges Bildungsniveau, Scheidung der Eltern, disharmonische Partnerschaft oder jugendliches Alter) erhöhten zwar die Wahrscheinlichkeit für Entwicklungsstörungen, seien jedoch häufig mit anderen psychosozialen Faktoren konfundiert und sagten noch nichts über die Art der Entwicklung des Kindes aus. Außerdem sei es von großer Bedeutung im Hinblick auf die kindliche Entwicklung auch die weiteren Sozialisationsbedingungen zu berücksichtigen, wie chronische oder akute Belastungen in der Familie, sowie die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion (Esser et al., 1995). Egeland (2006) stellt einen Zusammenhang zwischen einer belastenden psychosozialen Situation und der Bindungssicherheit des Kindes her und erklärt diesen dadurch, dass ein Kind, das in einer Familie lebe, die unter finanzieller oder sozialer Armut leide, andauernd unter Stress stehe (Egeland, 2002). Er zitiert Pianta, Egeland und Sroufe (1992) mit dem Befund, dass es möglich war, aufgrund der stressvollen Familienereignisse, die im Laufe der Vorschulzeit erlebt wurden, die Entwicklung in den sozio-emotionalen und verhaltensbedingten
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Theoretischer Hintergrund
Bereichen in der ersten Schulklasse vorherzusagen (Pianta, Egeland und Sroufe, 1992, vgl. auch Gershoff, Aber, Raver und Lennon, 2007; Martin et al., 2010). Im folgenden Kapitel sollen die Zusammenhänge zwischen den Risikofaktoren, denen Kinder in ihrer Lebenswelt ausgesetzt sind, und dem Einfluss, den diese auf ihre Entwicklung nehmen, sowie den Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern im Vorschulalter näher beleuchtet werden.
2.2.1 Risikofaktoren und Verhalten Nicht nur die Bindungsqualität eines Kindes und somit die (verinnerlichte) Eltern-Kind-Beziehung hat, wie in den vorangegangenen Kapiteln angeführt, einen Einfluss auf die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten. Auch kontextuale Faktoren aus der Lebensumgebung des Kindes spielen hierbei eine Rolle (Smeekens et al., 2007). Im folgenden Kapitel liegt der Schwerpunkt besonders auf einer Beschreibung empirischer Studien, die den Zusammenhang von Risikofaktoren und Verhalten näher betrachten. Insbesondere von Interesse sind die folgenden Faktoren: Einelternstatus, außergewöhnliche (traumatische) Lebensereignisse innerhalb der Familie, Migrationsgeschichte des Kindes/ der Eltern d. h. Bedingungen der Migration, elterliche Bildung, elterliche Berufstätigkeit, die familiäre Wohnsituation, das Einkommen der Familie, Komplikationen oder Krankheiten in der kindlichen Entwicklung, psychische oder körperliche Krankheiten in der Familie, das kulturelle Kapital der Familie und die elterliche Stressbelastung im Alltag. Im Hinblick auf diese Faktoren soll im Folgenden der Zusammenhang mit der Entwicklung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten beleuchtet werden. Diesbezüglich finden sich zwei Arten von Studien in der Literatur: Studien, die den Zusammenhang zwischen einem bestimmten Risikofaktor (wie beispielsweise dem Einkommen) und dem kindlichen Verhalten differenziert betrachten (vgl. u. a. Fearon et al., 2010; Smeekens et al., 2007; Gershoff et al., 2007; Liaw und Brooks-Gunn, 1994), sowie Studien, die eine Reihe von Risikofaktoren zu einem »Risikoindex« kumulieren und bestimmte Abstufungen dieser Risiko-
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level im Zusammenhang mit Verhalten beschreiben, was oft mit dem Oberbegriff »cumulative risk model« bezeichnet wird (vgl. u. a. Martin et al., 2010; Belsky und Fearon, 2002; Laucht et al., 2000a; Esser et al., 1995; Sameroff et al., 1987). Einige Studien beschreiben eher Zusammenhänge, andere integrieren die untersuchten Faktoren in ein Modell des komplexen Zusammenwirkens verschiedener Faktoren und deren Auswirkungen auf kindliche Verhaltensauffälligkeiten. Ein häufig diskutierter und in der Litertaur viel beachteter Risikofaktor ist der sozioökonomische Status der Familie oder auch das familiäre Einkommen. Für den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und den kognitiven Fähigkeiten sowie der sozio-emotionalen Entwicklung von Kindern gibt es in der Literatur viele Belege (vgl. Hackmann, Farah und Meaney, 2010; Friedrich und Siegert, 2009; Gershoff et al., 2007; Sirin, 2005; Liaw und Brooks-Gunn, 1994). Kinder aus besser situierten Familien haben häufig bessere kognitive Fähigkeiten (Hackmann et al., 2010), einen größeren akademischen Erfolg (Friedrich und Siegert, 2009; Sirin, 2005) und eine höhere sozio-emotionale Kompetenz als Kinder aus ärmeren Familien. Außerdem besteht ein Zusammenhang zwischen einem niedrigen sozioökonomischen Status und der Entwicklung von Psychopathologien (Merikangas et al., 2010; Hölling, Kurth, Rothenberger, Becker und Schlack, 2008; Hölling und Schlack, 2008). Wenn in einer von Armut betroffenen Familie das Einkommen ansteigt, hat dies einen positiven Effekt auf die kindliche Entwicklung (Gershoff et al., 2007; Liaw und Brooks-Gunn, 1994). Gershoff et al. (2007) konnten zeigen, dass dieser Zusammenhang durch bestimmte, negative Effekte, die ein niedriges Familieneinkommen auf die Eltern hat, vermittelt wird (wie beispielsweise die elterliche Stressbelastung, das Geld und die Zeit, die die Eltern für ihre Kinder aufbringen können, und auch unterschiedliche Aspekte von elterlichem Verhalten; Gershoff et al., 2007). »[…] it is expected that the effects of family income on children are mediated through its effects on parents. The stress of raising a family on a low income is posited to negatively affect parents’ mental health and behavior, and, in turn, to negatively affect children« (Gershoff et al., 2007, S. 70).
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Theoretischer Hintergrund
Die Autoren konstruieren eine Variable, die sie »finanzieller Mangel« nennen13 und die einen etwas breiter gefassteren Bereich des Einkommens markiert, als durch die Armutsgrenze festgelegt wird (Gershoff et al., 2007). In ihrem »Familien-Stress-Modell« (family stress model) (vgl. Gershoff et al., 2007; Martin et al., 2010) beschreiben sie, dass Eltern, die mit dieser Mangelsituation umgehen müssen, häufig psychischem Stress ausgesetzt sind, der sich u. a. in ehelichen Konflikten und Despressionen manifestieren kann und sie häufiger negative Lebensereignisse durchleben. Die Kinder wiederum, deren Eltern psychischen Stress erleiden, eheliche Probleme haben oder depressiv sind, haben ein größeres Risiko soziale, emotionale und Verhaltensprobleme zu entwickeln, da ihre Eltern nun mehr dazu neigen, sich von ihnen zurückzuziehen oder sich feindlich ihnen gegenüber zu verhalten (Gershoff et al., 2007). Conger et al. (2002) konnten zeigen, dass ein niedriges Einkommen finanziellen Mangel vorhersagt und dass die Beziehung zwischen finanziellem Mangel und elterlichem Verhalten durch Zusammenhänge mit elterlicher Depressivität und ehelichen Konflikten mediiert wurde (Conger et al., 2002). Ein weiteres Erklärungsmodell, das »Modell elterlicher Investition« (parent investment model), argumentiert, dass der Effekt des Einkommens in der Art der Eltern Entscheidungen darüber zu treffen, wie bestimmte Ressourcen (z. B. Geld, Zeit, Energie und Unterstützung) in der Familie verteilt werden, evident wird (Gershoff et al., 2007). Hierbei spielt besonders der Effekt auf die kognitive Entwicklung der Kinder eine Rolle (Gershoff et al., 2007). Zusammenfassend stellen Gershoff et al. (2007) fest, dass das familiäre Einkommen in hohem Ausmaß positiv mit dem finanziellen Mangel in der Familie korreliert ist, der finanzielle Mangel wiederum stark positiv mit elterlicher Stressbelastung zusammenhängt. 13 Gershoff et al. betonen, dass es nicht ausreiche das familiäre Einkommen, gemessen an der Armutsgrenze, zu berücksichtigen, da viele Familien, die per definitionem nicht als arm gelten würden, trotzdem finanziellen Mangel erleiden und unter Zuständen wie Nahrungsmangel, instabiler Wohnsituation und ungenügender medizinischer Versorgung, finanziellen Schwierigkeiten und der Unfähigkeit Rechnungen zu zahlen, leiden würden. Sie schlagen daher vor auch Familien oberhalb der Armutsgrenze, die bis zu 200 % des Einkommens, welches die Armutsgrenze markiert, zur Verfügung haben, in die Analysen mit einzubeziehen und nennen diese Variable »finanzieller Mangel« (Gershoff, Aber, Raver und Lennon, 2007).
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Die elterliche Stressbelastung beeinflusse wiederum die elterliche Investitionsbereitschaft sowie das elterliche Verhalten ihren Kindern gegenüber. Sowohl eine größere elterliche Investitionsbereitschaft als auch ein positives elterliches Verhalten konnten eine bessere kognitive und sozio-emotionale Entwicklung bei den Kindern vorhersagen. Das familiäre Einkommen hatte zwar einen signifikanten, jedoch nur geringen direkten Einfluss auf die kindliche kognitive und sozio-emotionale Entwicklung (Gershoff et al., 2007). Auch Sameroff et al. (1987) argumentieren in eine ähnliche Richtung. In der Rochester Longitudinal Study konnten sie zeigen, dass der sozioökonomische Status und die Ausprägung und Chronizität elterlicher Psychopathologie den stärksten Einfluss auf die sozioemotionale und Intelligenzentwicklung im Alter von null bis vier Jahren aufwiesen. Den starken Einfluss des sozioökonomischen Status erklären sie darüber, dass jede Variable, die einen Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben kann, mit der Ausprägung, die am wenigsten unterstützend und am stärksten risikobehaftet ist, vermehrt in Gruppen mit geringem sozioökonomischen Status zu finden sei (beispielsweise weniger soziale Unterstützung, mehr Stress, geringere finanzielle Mittel, weniger Bildungsmotivation oder Bildungschancen, mehr missbräuchliche Vorkommnisse, geringere elterliche Perspektivenübernahme oder Stressbewältigungskapazität etc.) (Sameroff et al., 1987). In den beiden Faktoren sozioökonomischer Status und elterliche Psychopathologie sehen sie eine Kumulation der prädiktiven Wirkung verschiedener Einflussfaktoren (vgl. auch Liaw und Brooks-Gunn, 1994). Sie schreiben: »Both, Mental health and social status are summary variables that incorporate a wide range of factors that may interfere with optimal child-rearing« (Sameroff et al., 1987, S. 391).14
Im Hinblick auf den Einfluss einzelner Risikofaktoren (im Falle ihrer Untersuchung waren es folgende Faktoren: Chronifizierung mütterlicher Psychopathologie, mütterliche Ängstlichkeit, elterliche Perspektivenübernahme, mütterliches Interaktionsverhalten, mütterliche Bil14 Sameroff et al. (1987) verwenden die Begriffe »socio-economic status« und »social status« synonym.
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dung, Erwerbstätigkeit, Zugehörigkeit zu einer sozialen Minderheit, soziale Unterstützung der Familie, stressvolle Lebensereignisse und Familiengröße) stellen sie fest, dass durch die Kumulation der Risikofaktoren eine größere Varianzaufklärung erreicht werden kann als durch eine isolierte Betrachtung einzelner Faktoren (vgl. hierzu auch Martin et al., 2010; Sroufe et al., 2010; Liaw und Brooks-Gunn, 1994): »These results further support the view that it is not any single risk factor but the total number that reduces the child’s social-emotional competence. The combination of risk factors into a single score has shown the strongest relationship to children’s intellectual and social-emotional competence. The more risk factors, the heavier the load on the developmental system« (Sameroff et al., 1987, S. 391).
Zusammenfassend und über die von ihnen untersuchte Altersspanne hinausblickend resümieren sie, dass in dem Ausmaß, in dem die vorliegenden Entwicklungsverläufe der Kinder das Ergebnis der Erfahrungen eines speziellen Kindes mit seiner mit vielen Risikofaktoren behafteten Familie und sozialen Umgebung sind, spätere ungünstige Entwicklungsergebnisse Resultate des nun »inkompetenten« Kindes in einer Hochrisikofamilie und sozialen Umwelt sein werden (Sameroff et al., 1987). Aus ihrer Arbeit entwickelten Sameroff et al. die Annahme, dass es sich bei dem kumulativen Risikoeffekt um den einer Aufaddierung der einzelnen Risikoeffekte handele (Sameroff et al., 1987). Martin et al. (2010) beschäftigten sich mit dem »interaktionellen Modell des sozioökonomischen Einflusses auf die menschliche Entwicklung« (Interactionist Model of Socioeconomic Influence on human development, IMSI), welches das dynamische Zusammenspiel von sozialer Verursachung (der sozioökonomische Status beeinflusst die menschliche Entwicklung) sowie sozialer Selektion (individuelle Eigenschaften haben einen Einfluss auf den sozioökonomischen Status eines Menschen) mit einbezieht (vgl. auch Schofield et al., 2011). Sie beschreiben hieran anknüpfend die Weitergabe von Verhaltensproblemen über verschiedene Generationen innerhalb einer Familie, unter der Betrachtung des sozioökonomischen Status, der familiären Stressbelastung und der elterlichen Investitionen (Martin et al., 2010). So berichten Martin et al. (2010), dass das Ausmaß ado-
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leszenter Verhaltensprobleme einer Generation (G1), deren späteren familiären sozioökonomischen Status, die spätere familiäre Stressbelastung und deren elterliche emotionale Investitionsbereitschaft in ihre Kinder (G2) vorhersagen konnte, sowie das Ausmaß, in dem auch die Kinder (G2) Verhaltensauffälligkeiten entwickelten (Martin et al., 2010). Die Rostocker Längsschnittstudie untersuchte sowohl biologische als auch psychosoziale Risikofaktoren in der Entwicklung von Kindern (vgl. Meyer-Probst und Reis, 2000; Meyer-Probst und Reis, 1999; Teichmann, Meyer-Probst und Roether, 1991; Meyer-Probst und Teichmann, 1984). Nach anfänglichen Bemühungen der Forscher einzelne Variablen isoliert zu betrachten und deren Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung zu bestimmen, verwarfen sie dieses Vorgehen zu Gunsten eines kumulativen Ansatzes. Sie schreiben: »Die Herauslösung einer Variablen aus einem Netz multikausaler Verflechtungen vereinfacht, unterdrückt oder täuscht isolierte Zusammenhänge vor. Die monokausale Auswertungs- und Interpretationsweise ist im biopsychosozialen Kontext von begrenztem Wert und stets fragwürdig« (Meyer-Probst und Reis, 1999, S. 61).
Die psychosozialen Risikofaktoren, die in der Rostocker Längsschnittstudie untersucht wurden, waren Bildungsmangelfaktoren, emotionale Stör- und Mangelfaktoren, Belastungsfähigkeit und berufliche Belastung, Kinderzahl, Einkommen und Wohnung sowie Erziehungseinstellungen. All diese Faktoren wurden unter dem Oberbegriff der psychosozialen Risikofaktoren in Bezug auf die Familien der Studienkinder untersucht15. Die Autoren konnten schließlich nachweisen, dass bezogen auf die kognitive Entwicklung die Anzahl von Risikofaktoren eine große Rolle spielte. Je mehr Faktoren hier einwirkten, desto verzögerter verlief die kognitive Entwicklung der Studienkinder, und zwar unabhängig davon, ob es sich um biologisch/ organische Faktoren (wie beispielsweise Erkrankungen der Mutter in der Schwangerschaft, eine Frühgeburt oder andere Geburtskompli15 Für eine detaillierte Aufzählung der Faktoren sowie die Operationalisierung dieser siehe Tabelle 1 »Auflistung der Risikofaktoren«.
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Theoretischer Hintergrund
kationen, bestimmte postnatale Erkrankungen bzw. Erkrankungen innerhalb der ersten zwei Lebensjahre16) oder psychosoziale Risiken handelte. Für die psychosozialen Risikofaktoren ließ sich jedoch die Aussage treffen, dass diese einen stärkeren Einfluss auf die Persönlichkeits- und Leistungsentwicklung der Probanden ab dem zehnten Lebensjahr ausübten als die biologisch/organischen Vorbelastungen. Bemerkenswert ist auch der Befund, dass bei gegebener organischer Vorbelastung günstige soziale Entwicklungsbedingungen durchaus kompensatorische Wirkung hatten, wobei es bei schlechten sozialen Umständen in diesem Falle zu einer Dekompensation kommen konnte. Auch in ihrer Entstehung konnten die Autoren nachweisen, dass die Risikofaktoren nicht voneinander unabhängig bestanden, sondern, dass sie sich gegenseitig bedingen konnten (Reis, 1997). Ein weiterer zentraler Befund der Studie ist die Einflusskraft psychosozialer Risiken. Im Gegensatz zu den biologisch/organischen Faktoren stellten die Forscher fest, dass psychosoziale Risikofaktoren häufig ein Leben lang eine Einflussgröße darstellen können und Kinder, die beiden Formen der Risikobelastung ausgesetzt waren, die schlechteste Prognose aller Studienkinder aufwiesen (vgl. Reis, 2007; Meyer- Probst und Reis, 2000; Meyer-Probst und Reis, 1999; Reis, 1997). In der Mannheimer Risikokinderstudie untersuchten Esser et al. (1995) den Einfluss psychosozialer Risikofaktoren (Bildungsniveau der Eltern, Wohnverhältnisse, elterliche Psychopathologie, Herkunft aus zerrütteten Verhältnissen, eheliche Disharmonie, frühe Elternschaft, Ein-Eltern-Familie, unerwünschte Schwangerschaft, mangelnde soziale Integration/Unterstützung, ausgeprägte chronische Beschwerden, mangelnde Bewältigungsfähigkeiten) auf die kindlichen Verhaltens- und emotionalen Probleme sowie auf die motorische und kognitive Entwicklung (vgl. Laucht, 2012; Laucht et al., 2000a; Esser et al., 1995; Laucht et al., 1992). Sie fanden einen starken Einfluss der psychosozialen Risiken auf kindliche Verhaltens- und emotionale Probleme, der allerdings durch das elterliche Erziehungsverhalten sowie durch Lebensereignisse innerhalb der Familie vermittelt wurde. 16 An dieser Stelle wird nicht näher auf die biologisch/organischen Risikofaktoren eingegangen, da sie im Rahmen der empirischen Untersuchung der Dissertation keine Berücksichtigung finden konnten. Für eine umfassende Aufzählung der biologisch/organischen Risikofaktoren in der Rostocker Längsschnittstudie vgl. Meyer-Probst und Teichmann, 1984.
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Die Lebensereignisse waren wiederum ihrerseits in jedem der betrachteten Lebensabschnitte (im Alter von 3 Monaten, 2;0 sowie 4;6 Jahren) zumindest teilweise durch die psychosozialen Risikofaktoren verursacht (Esser et al., 1995). So ergibt sich ein komplexes Wirkgefüge, in dem psychosoziale Risikofaktoren, wenn auch über andere Variablen vermittelt, einen Einfluss auf die sozio-emotionale Entwicklung von Kindern erkennen lassen. Die Auswirkungen psychosozialer Belastungen zeigten sich im Grundschulalter vor allem in Bezug auf die intellektuelle und sozial-emotionale Entwicklung: Mit steigender Risikobelastung nahmen die IQ-Werte der Kinder statistisch signifikant ab, bei hoch belasteten Kindern (mit drei oder mehr Risiken) ergab sich im Unterschied zur unbelasteten Gruppe eine Differenz von 12 IQ-Punkten. Betrachtet man die Anzahl psychischer Auffälligkeiten psychosozial hoch belasteter Kinder, so lässt sich hier ebenfalls eine signifikante Unterscheidung zu den nicht belasteten Kindern feststellen (mit einer um 0.70 SD signifikant höheren Symptombelastung der Risikokinder) (Laucht et al., 2000a). Bei Kindern, die sowohl mit organischen als auch psychosozialen Risiken belastet waren, ergab sich die ungünstigste Entwicklungsprognose. Nach Laucht et al. (2000) kommt es bei diesen Kindern zu einer Kumulierung der negativen Effekte beider Risikogruppen, der gemeinsame Einfluss entspricht dann einer Addierung der Einzeleffekte (Laucht et al., 2000a). Außerdem sprechen die Autoren davon, dass die Bedeutung psychosozialer Einzelrisikofaktoren für die Prognose der kindlichen Entwicklungsverläufe an Bedeutung gewonnen habe. Sie nennen hier eine bestimmte Kombination von Einzelrisiken, die sich bereits im Säuglingsalter abzeichne: die Kombination von alleinerziehender Mutterschaft, früher Elternschaft, unerwünschter Schwangerschaft, beengten Wohnverhältnissen und mangelnder Stressbewältigungsfähigkeit. Diese Konstellation sei bei einer spezifischen Risikogruppe anzutreffen, die durch Armut, Arbeitslosigkeit, schlechte Wohnverhältnisse und instabile Partnerschaften charakterisiert sei (Laucht et al., 1992). Diese familiären Verhältnisse seien »zum einen durch mangelnde Anregung und Förderung der kindlichen Entwicklung geprägt (mit der Folge von Verzögerungen in der kognitiven Entwicklung), zum anderen durch Ablehnung oder emotionale Vernachlässigung des Kindes (mit Folge von Verhaltensauffälligkeiten)« (Laucht et al., 1992, S. 283). Im Alter von zwei Jahren kämen zu
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der bereits beschriebenen ungünstigen Merkmalskombination noch weitere entwicklungshemmende Merkmale der Eltern hinzu wie ein niedriges Bildungsniveau, psychische Auffälligkeiten, anamnestische Belastungen sowie Merkmale sozialer Benachteiligung. Allerdings betonen Laucht et al. (1992) ebenfalls, dass der Zusammenhang zwischen Risikofaktoren und Entwicklungsstörungen keinesfalls eng sei. Sie schlagen vor, in weiteren Untersuchungen insbesondere Merkmale der Eltern-Kind-Interaktion als vermittelnde Variablen in Betracht zu ziehen (Laucht et al., 1992; vgl. auch Doan, Evans und Fuller-Rowell, 2012). Im weiteren Verlauf der Promotion wird diesem Gedankengang, operationalisiert durch die Bindungsklassifizierung der Kinder, nachgegangen, wenn im folgenden Kapitel das Bindungskonstrukt als ein potentieller Schutz- und/oder Risikofaktor bei der Entstehung von Problemverhalten bei risikobelasteten Kindern diskutiert wird. Aus der für die Erforschung kumulativer Risiken berühmt gewordenen, »Isle of Wight«-Studie berichten Rutter et al. (1979), dass kein einzelner ihrer untersuchten Risikofaktoren (schwere eheliche Disharmonie, geringer sozioökonomischer Status, große Familiengröße, väterliche Kriminalität, mütterliche Psychopathologie und Pflegeunterbringung des Kindes) einen signifikanten Einfluss auf die Ausprägung kindlicher Psychopathologie hatte, aber bereits das Vorliegen von zwei Risiken zu einem vierfachen Anstieg der Wahrscheinlichkeit führte, eine psychische Störung zu entwickeln. Das Vorliegen von vier Risiken führte zu einem zehnfachen Anstieg der Erkrankungswahrscheinlichkeit (Rutter, 1979). Rutter et al. (1979) nehmen einen Schwelleneffekt für die Wirkung des kumulativen Risikos an. Dies bedeutet, dass sich bei der Überschreitung einer bestimmten Anzahl von Risikofaktoren ihre Auswirkungen potenzieren und einen größeren Einfluss erzielen als die Aufaddierung der einzelnen Risikoeffekte. Die von Rutter gefundene »Schwelle« lag bei der Überschreitung von vier Risiken (bei sechs betrachteten Risikofaktoren) (Rutter, 1979, vgl. auch Appleyard et al., 2005). Appleyard et al. (2005) kritisieren an der Forschung zum Effekt kumulativer Risiken, dass sie zu wenig auf die differenziellen Effekte des kumulativen Risikos in unterschiedlichen Lebensaltern eingehe (Appleyard et al., 2005). Sowohl sie als auch Sroufe et al. (2010) betrachteten den Effekt einer Risikokumulierung in der frühen und mittleren Kindheit und seine Konsequenzen für die Entwicklung von Verhal-
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tensauffälligkeiten im Jugendalter: beide Studien ergaben, dass sich eine Risikokumulierung in der frühen und mittleren Kindheit auch auf die spätere Entwicklung in der Jugend auswirken kann und Kinder, die in der Kindheit einer starken Kumulierung von Risikofaktoren ausgesetzt waren, im Jugendalter ein stärkeres Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten zeigten als Kinder, die in der Kindheit keine Risikokumulierung erlebt hatten17 (Sroufe et al., 2010; Appleyard et al., 2005). In 1 findet sich eine Auflistung von Risikostudien und Faktoren, die sie untersucht haben. Hierbei teilt sich die Gesamttabelle in zwei Teile. Im ersten Teil sind jene Faktoren aufgelistet, die in gleicher oder ähnlicher Weise in der Dissertation operationalisiert worden sind, im zweiten Teil befinden sich jene Faktoren, die im Rahmen der Promotion nicht operationalisiert und untersucht werden konnten. In der ersten Spalte der Tabelle wird der jeweils untersuchte Risikofaktor benannt. Darauffolgend werden die Studien, die diesen Faktor untersucht haben, sowie die Art der Operationalisierung des Faktors in der jeweiligen Studie beschrieben. Falls die Studie den Faktor einem Überbegriff bzw. einer gröberen Kategorie von Risikofaktoren zuteilt, beispielsweise »Psychosoziale Risikofaktoren«, so ist dies in der vierten Spalte der Tabelle abgetragen. Nicht alle Studien treffen jedoch eine solche Unterteilung. Daran anschließend wird in Spalte fünf und sechs dargestellt, ob und wenn ja, in welcher Weise, der entsprechende Risikofaktor in der Dissertation im halbstrukturierten Leitfaden für ein Elterngespräch operationalisiert wurde (vgl. Neubert und Läzer, 2011). Anzumerken bleibt an dieser Stelle noch, dass eine Reihe von Risikofaktoren im Zusammenhang der Dissertation nicht untersucht werden konnten, da es sich hierbei um eine Querschnittsuntersuchung mit nur einem Messzeitpunkt bezüglich der Erhebung der Risikofaktoren handelt. Viele der anderen Studien konnten die genannten Faktoren an mehreren Messzeitpunkten erheben, sodass eine insgesamt umfassendere Datensammlung möglich war. 17 Allerdings ergab sich in der Studie von Sroufe et al. (2010) ein stärkerer Zusammenhang zwischen der Höhe des kumulativen Risikoindex in der frühen Kindheit und den Verhaltensauffälligkeiten im Jugendlichenalter als zwischen dem kumulativen Risikoindex in der mittleren Kindheit und den Verhaltensauffälligkeiten in Jugendalter. Trotz dieser Unterschiede standen beide Risikoindices in signifikantem Zusammenhang mit dem Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten in der Jugend (Sroufe, Coffino und Carlson, 2010).
Sozioökonomischer Status (SES)
Familiäres Einkommen
Risikofaktor
Operationalisierung
Pro-Kopf-Nettoeinkommen
Familiäres Einkommen, unterteilt in »arm« und »nicht arm« gemessen an der Armutsgrenze
Index, der Einkommen ins Verhältnis zu den Bedürfnissen der Familie setzt (anhand Armutsgrenze/Anzahl Familienmitglieder)
Aufaddiertes Haushaltseinkommen der Familie im Verlauf des vergangenen Jahres
»Hollingshead two-factor index of social position« (ISP; Hollingshead, 1957)
Bildung (Schuljahre) und familiäres Einkommen
»Duncan Socioeconomic Index« (Stevens und Featherman, 1981)
Studie
Rostocker Längsschnittstudie, Meyer-Probst und Teichmann, 1984
Liaw, 1994
Belsky und Fearon, 2002
Gershoff et al., 2007
Sameroff et al., 1987
Martin et al., 2010
Appleyard et al., 2005
Tabelle 1: Auflistung der Risikofaktoren
–
Sozioökonomischer Einfluss
Sozialer Status
–
Sozioökonomisches Risiko
Sozioökonomisches Risiko
Kinderzahl, Einkommen, Wohnung
Kategorisierung des Risikobegriffs
X
X
Dissertation (Neubert und Läzer, 2011)
In Anlehnung an den Winkler-Index (Winkler und Stolzenberg, 2009)
Höhe des Netto einkommens der Familie nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben: IDeA-Kernvariablen (Körner und Betz, 2012)
Operationalisierung Dissertation
Schichtbezogenes/ Sozioökonomisches Risiko
Schichtbezogenes/ Sozioökonomisches Risiko
Kategorisierung des Risikobegriffs
Elterliche Psycho pathologie
Elterliche (psychische) Stressbelastung
Risikofaktor
Operationalisierung
6 Items des »Parenting Stress Index« (Abidin, 1983)
Maße angelehnt an das »Family Stress Model« mit den Items: »cannot make ends meet, financial cutbacks, parental anxiety, parental depression, parental hostility, marital hostility«
Skalen »Attachment«, »Restrictions of Role«, »Sense of Competence« des »Parenting Stress Index« (Abidin, 1983)
»Maternal Life Stress« anhand der Life Events Scale (Egeland und Deinard, 1975) und einer modifizierten Version des »Life Events Inventory« (Cochrane und Robertson, 1973)
Depressive Symptomatik anhand von 12 Items der »Center for Epidemiological Studies Depression Scale« (Radloff, 1977)
Ausprägung und Chronizität von mütter licher Psychopathologie (Schizophrenie, Depression, Persönlichkeitsstörungen) anhand eines strukturierten psychiatrischen Interviews (Endicott und Spitzer, 1972)
Studie
Gershoff et al., 2007
Martin et al., 2010
Belsky und Fearon, 2002
Appleyard et al., 2005
Gershoff et al., 2007
Sameroff et al., 1987
Faktoren psychischer Erkrankung
–
–
Psychosoziales Risiko
–
–
Kategorisierung des Risikobegriffs
X
X
Dissertation (Neubert und Läzer, 2011)
Gibt/gab es in Ihrer Familie schwere seelische oder körperliche Erkrankungen (wer/ wann/was)
ESI (Everyday Stressors Index) – Deutsche Version (Jäkel und Leyendecker, 2008a)
Operationalisierung Dissertation
Familiäre/Psycho soziale Risiken
Familiäre/Psychosoziale Risiken
Kategorisierung des Risikobegriffs
Negative/ stressvolle Lebensereignisse
Elterliche Psycho pathologie
Risikofaktor
Operationalisierung
Forschungskriterien der ICD-10/ DSM-III R
Mütterliche Depressionen, »Center for Epidemiological Studies Depression Scale« (Radloff, 1977)
Mutter und/oder Vater wegen psychischer Störungen in nervenärztlicher Behandlung
Mütterliche Depressivität anhand des »General Health Questionnaire« (GHQ; Goldberg, 1978)
Scheidung, Krankheit, Verlust des Jobs anhand der Skala nach Holmes und Rahe (1967)
Selbstreport der Mutter über das Vorhandensein von 18 verschiedenen stressvollen Lebensereignissen
Studie
Mannheimer Risikokinderstudie, Esser et al., 1995; Laucht et al., 1992; 2000
Belsky und Fearon, 2002
Rostocker Längsschnittstudie, Meyer-Probst und Teichmann, 1984
Liaw, 1994
Sameroff et al., 1987
Liaw, 1994
Risiken in Bezug auf mütterliche Eigenschaften (maternal characteristic risks)
Familiäre Stressbelastung
Risiken in Bezug auf mütterliche Eigenschaften (maternal characteristic risks)
Emotionale Störund Mangelfaktoren in der Familie
Psychosoziales Risiko
Psychosoziales Risiko
Kategorisierung des Risikobegriffs
X
Dissertation (Neubert und Läzer, 2011)
Gab es in den letzten Jahren ein Ereignis, das einen starken Einfluss auf Ihre Familie gehabt hat? Migrationsgeschichte der Familie
Operationalisierung Dissertation
Familiäre/Psycho soziale Risiken
Kategorisierung des Risikobegriffs
Elterliche Bildung
Risikofaktor
Operationalisierung
Besuch der Highschool
Keine abgeschlossene Berufsausbildung
Mütterliche Bildung anhand von Schuljahren
Mutter und/oder Vater ohne 8.-KlasseAbschluss, Mutter u./o. Vater ohne Lehrberuf, Mutter u./o. Vater übt ungelernte Tätigkeit aus, Geschwister mit schlechten Schulleistungen
Das höchste erreichte Bildungslevel von einem/beiden Elternteilen auf einer Skala von eins bis neun (1 = Abschluss der 8. Klasse oder geringer; 9 = Doktoren- oder Professorengrad)
Mütterliche Bildung: Abschluss der High School, Verbale Fähigkeiten der Mutter: »Peabody Picture Vocabulary Test-Revised« (PPVT-R; Dunn und Dunn, 1981)
Studie
Sameroff et al., 1987
Mannheimer Risikokinderstudie, Esser et al., 1995; Laucht et al., 1992; 2000
Belsky und Fearon, 2002
Rostocker Längsschnittstudie, Meyer-Probst und Teichmann, 1984
Gershoff et al., 2007
Liaw, 1994
Risiken in Bezug auf mütterliche Eigenschaften (maternal characteristic risks)
–
Bildungsmangelfaktoren in der Familie
Sozioökonomisches Risiko
Psychosoziales Risiko
Sozioökonomischer Status
Kategorisierung des Risikobegriffs X
Dissertation (Neubert und Läzer, 2011) Jahre der Schul- und Berufsausbildung; Bildungsabschluss
Operationalisierung Dissertation Schichtbezogenes/ Sozioökonomisches Risiko
Kategorisierung des Risikobegriffs
Zugehörigkeit zu einer Minderheit/ Ethnische Herkunft
Elterliche Erwerbs tätigkeit
Risikofaktor
Ethnische Zugehörigkeit des Kindes
Zugehörigkeit zu einer sozialen Minderheit (weiße Hautfarbe versus andere Hautfarbe)
Sameroff et al., 1987
Ethnische Herkunft des Kindes
Erwerbstätigkeit/Arbeitslosigkeit des Haushaltsvorstandes
Liaw, 1994
Liaw, 1994
Selbstreport in Bezug auf vier Kategorien: 1) nicht berufstätig; 2) arbeitssuchend; 3) teilzeitbeschäftigt ( 1,0 Personen/Raum bzw. .001 als niedrig, η2 > .06 als mittel und ab η2 >.14 als hoch einzuschätzen (Cohen, 1988).
142
Eigenes Promotionsprojekt
4.6.2 Überprüfung der Vergleichbarkeit von Verhaltens auffälligkeiten und Risikoanzahl in den FAUSTLOS- und FRÜHE SCHRITTE- Interventionsgruppen Bevor die Forschungsfragen und Hypothesen im Rahmen der Studie überprüft werden können, muss bedacht werden, dass es sich bei der EVA-Studie um eine Interventionsstudie handelt, deren Zielsetzung es ist, das Verhalten der Studienkinder zu beeinflussen. Um die Forschungsfragen und Hypothesen im Rahmen der Dissertation beantworten zu können, war es daher notwendig, den Einfluss der Intervention zu überprüfen. Im Rahmen einer zweifaktoriellen Varianzanalyse (ANOVA) wurde der Einfluss der Interventionsgruppenzugehörigkeit (UV) und des Geschlechts (UV) auf die Verhaltensauffälligkeiten (Gesamtproblemwert des SDQ, AV) untersucht (Tabelle 12). Tabelle 12: ANOVA zum Einfluss von Interventionsgruppenzugehörigkeit und Geschlecht auf die Verhaltensauffälligkeiten Quelle der Varianz
df
F
η2
Interventionsgruppe
1, 118
0.997 ns
.008
p
Geschlecht
1, 118
0.290 ns
.002
.591
Interventionsgruppe* Geschlecht
1, 118
0.045 ns
.000
.832
.320
ns: nicht signifikant
Weder für die Zugehörigkeit zu einer der Interventionsgruppen noch für das Geschlecht ergaben die statistischen Analysen einen signifikanten Haupteffekt auf die Höhe des Gesamtproblemwertes (alle F ≤ 0.997, alle p ≥ .320). Auch die Wechselwirkung zwischen Interventionsgruppe und Geschlecht wurde nicht signifikant (F(1,118) = 0.045, p = .832, η2 = .00). Dies bedeutet, dass sich die Kinder der beiden Interventionen FRÜHE SCHRITTE und FAUSTLOS nicht signifikant bezüglich ihrer Verhaltensauffälligkeiten voneinander unterscheiden. Auch für Mädchen und Jungen ergeben sich keine Unterschiede bezüglich des Ausmaßes an Auffälligkeiten61. 61 In anderen Berichten und Publikationen aus der EVA-Studie ergaben sich signifikante Unterschiede zwischen Kindern der unterschiedlichen Interventionsgruppen FRÜHE SCHRITTE und FAUSTLOS im Hinblick auf die Ausprägung von Verhaltensauffäl
143
Statistische Methoden und Auswertung
Im Rahmen einer weiteren zweifaktoriellen Varianzanalyse (ANOVA) wurde betrachtet, ob sich die Kinder in den verschiedenen Interventionen, FAUSTLOS und FRÜHE SCHRITTE, (UV) oder auch Kinder unterschiedlichen Geschlechts (UV), hinsichtlich der Anzahl an Risikofaktoren (AV) unterscheiden (Tabelle 13). Tabelle 13: ANOVA zum Einfluss von Interventionsgruppenzugehörigkeit und Geschlecht auf die Risikoanzahl Quelle der Varianz
df
F
η2
P
Interventionsgruppe
1, 118
3.006 ns
.025
.086
Geschlecht
1, 118
0.173 ns
.001
.678
Interventionsgruppe* Geschlecht
1, 118
0.780 ns
.007
.379
ns: nicht signifikant
Weder die Interventionsgruppenzugehörigkeit, noch das Geschlecht der Studienkinder ergab einen signifikanten Haupteffekt auf die Anzahl an Risikofaktoren (alle F ≤ 3.006, alle p ≥ .086)62. Das bedeutet, dass sich die Kinder aus den beiden Interventionsgruppen nicht signifikant hinsichtlich der Anzahl ihrer Risikofaktoren unterscheiden. Auch Jungen und Mädchen weisen ähnlich viele Risiken auf und unterscheiden sich nicht signifikant voneinander. Die Wechselwirkung zwischen Interventionsgruppe und Geschlecht zeigte ebenfalls keinen signifikanten Effekt (F(1,118) = 0.780, p = .379, η2 = .007). Schließlich wurde noch der Zusammenhang zwischen Interventionsgruppenzugehörigkeit und Bindungsklassifikation überprüft. Dies geschah mithilfe eines Chi-Quadrat-Tests. Für den Zusammenhang der Interventionsgruppe mit der Bindungsklassifikation ergab sich kein signifikanter Effekt der Interventionsgruppenzugehörigligkeiten. Dass sich hier diese Befunde nicht zeigen, mag an der untersuchten Stichprobe liegen, die nicht repräsentativ für die Gesamtstichprobe der EVA-Kinder ist. 62 Diese Berechnungen wurden ebenfalls getrennt für die beiden Risikobereiche familiär/psychosoziale Risiken und schichtbezogen/sozioökonomische Risiken durchgeführt. Für keinen der beiden Risikobereiche ergab sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Risikoanzahl und der Interventionsgruppe oder der Risikoanzahl und dem Geschlecht. Somit ist auch bezogen auf die Unterteilung in die zwei Risikobereiche davon auszugehen, dass die Verteilung der Risikoanzahl auf beide Interventionsgruppen und beide Geschlechter annähernd gleich ist.
144
Eigenes Promotionsprojekt
keit (χ2(3) = 2.493, p = .476). Somit kann auch für die Bindungsklassifikation eine Unabhängigkeit von der Zugehörigkeit zu FAUSTLOS oder FRÜHE SCHRITTE und eine annähernde Gleichverteilung der Bindungstypen angenommen werden. Aufgrund der durchgeführten statistischen Analysen kann festgestellt werden, dass sich für die hier untersuchte Stichprobe kein spezifischer Effekt der Interventionsgruppenzugehörigkeit auf die Ausprägung der Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Des Weiteren konnten keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Anzahl von Risikofaktoren in den zwei Interventionsgruppen festgestellt werden. Aus diesem Grund wird die Interventionsgruppenzugehörigkeit der Studienkinder im weiteren Verlauf nicht mehr in die Auswertung eingeschlossen. Dies bedeutet, dass die Kinder der FAUSTLOS- und FRÜHE SCHRITTE-Interventionen nicht voneinander getrennt betrachtet werden.
4.7 Ergebnisse In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung dargelegt. Zunächst wird die untersuchte Stichprobe ausführlich anhand der erhobenen Merkmale beschrieben. Aufgrund der umfangreichen Darlegung der erhobenen Merkmale und der Komplexität der sich in diesem Zusammenhang andeutenden Ergebnisse, schließt sich die Diskussion der deskriptiven Befunde direkt an deren Darstellung an. In der allgemeinen Ergebnisdiskussion (vgl. Kapitel 5.1 EVA, eine Studie im Hochrisikomilieu) werden nur noch punktuell einzelne Befunde aufgegriffen, die sich direkt auf die Beantwortung der Forschungsfragen beziehen und in den Gesamtargumentationsstrang eingebunden werden. An die Merkmalsbeschreibung anschließend werden die Forschungsfragen und Hypothesen beantwortet. Der letzte Abschnitt des Ergebniskapitels widmet sich einer ausführlichen Einzelfallbeschreibung eines desorganisierten Kindes und seiner Lebensumgebung. Diese Falldarstellung stellt eine gute Illustration der in der Stichprobe gefundenen Lebensumstände dar und verbindet die theoretischen und empirischen Bestandteile der Arbeit auf eine anschauliche Art und Weise miteinander.
Ergebnisse
145
4.7.1 Profil der Stichprobe Zunächst werden die erhobenen Daten deskriptiv dargestellt, um die einzelnen Merkmale innerhalb der untersuchten Stichprobe zu beschreiben. Die Beschreibung untergliedert sich hierbei in zwei Teile: Zunächst wird die Stichprobe detailliert anhand der im Interview erhobenen Merkmale beschrieben. In einem zweiten Teil, unter der Kapitelüberschrift 4.7.2 Beantwortung der Forschungsfragen, wird anschließend die erste Forschungsfrage, nach der Verteilung der Risikofaktoren innerhalb der Stichprobe, beantwortet. Hierfür werden die Häufigkeiten der einzelnen Risikofaktoren für die hier untersuchten Kinder dargestellt. Die Risikofaktoren stellen hierbei eine Verdichtung der Einzelmerkmale der Stichprobe hinsichtlich die Entwicklung der Kinder »gefährdender« Merkmale dar. Die Ausführlichkeit, mit der die einzelnen Merkmale der Stichprobe in den nachfolgenden Kapiteln beschrieben werden, begründet sich darin, dass sie einerseits die Grundlage für die weiteren Analysen des Promotionsprojekts bilden und es andererseits bisher keine so ausführliche Beschreibung einer (Teil-)stichprobe von Kindern aus der EVA-Studie gibt. 4.7.1.1 Familiäre Konstellationen Bei der Betrachtung der familiären Umstände, unter denen die Kinder der Stichprobe aufwachsen, lässt sich Folgendes feststellen: 96 Kinder (78.7 %) leben mit beiden leiblichen Eltern zusammen, 25 Kinder (20.5 %) nur mit der leiblichen Mutter und ein Kind (0.8 %) der Stichprobe nur mit dem leiblichen Vater. 25 Befragte (20.7 %) geben an, dass sie alleinerziehend sind, im Gegensatz zu 96 (79.3 %) der Befragten, die nicht allein erziehend sind. Betrachtet man die Beziehung der Eltern zueinander, ergibt sich folgendes Bild, das in Tabelle 14 weiter aufgeschlüsselt wird: 94 Eltern (77.0 %) beschreiben, dass sie entweder mit dem anderen leiblichen Elternteil verheiratet sind oder zusammen leben, wohingegen 25 (20.5 %) Eltern in Scheidung oder getrennt leben.
146
Eigenes Promotionsprojekt
Tabelle 14: Beziehungsstatus der Eltern Beziehungsstatus der Eltern
n
%
Verheiratet
82
67.2
Zusammen lebend
12
9.8
Geschieden Getrennt lebend Verwitwet Gesamt
3
2.5
22
18.0
3
2.5
122
100.0
Bemerkenswert bei dieser Aufteilung ist, dass ein Großteil der Familien zusammen lebt (knapp 80 %), während ca. 20 % der Familien nicht mehr zusammen sind. Im bundesdeutschen Durchschnitt ist, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, davon auszugehen, dass 36 % aller in einem Jahr geschlossenen Ehen wieder geschieden werden (Statistisches Bundesamt, 2014). In der untersuchten Stichprobe findet sich ein Prozentsatz von nur 2.5 % geschiedener Ehen und von ca. 20 % getrennter Partnerschaften. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen und davor, dass sich die Stichprobe der EVA-Studie in einem Risikomilieu bewegt, ist dies eine sehr geringe Anzahl getrennter Familien, die erklärungsbedürftig erscheint. Der hohe Prozentsatz »intakter« Familien kann verschiedene Hintergründe haben: Zum einen wäre es möglich, dass es sich bei den Eltern, die sich zu den Elterngesprächen bereit erklärt haben, um eine selektive und gegebenenfalls für das Milieu untypische Stichprobe von Familien handelt. Eine andere Hypothese wirkt an dieser Stelle jedoch auch plausibel: Die Stichprobe besteht, wie im weiteren Verlauf noch dargelegt werden wird, zu einem hohem Prozentsatz aus Familien mit Migrationshintergrund, von denen vor allem die Frauen in der Hälfte der Fälle angeben ohne weitere Familienangehörige, aber dennoch aus familiären Gründen nach Deutschland gekommen zu sein (n = 35, das entspricht 49.2 % der Migrantinnen). Hier liegt der »Verdacht« einer Heiratsmigration nahe. Auch aus den Erfahrungen innerhalb der Elterngespräche geht hervor, dass viele Frauen nach der Eheschließung nach Deutschland kamen, häufig orientierungslos und sozial isoliert waren und zum Zeitpunkt der Migration nicht die deutsche Sprache sprachen. Oft wurde die Eheschließung mit
147
Ergebnisse
einem Mann, der in Deutschland lebte, aber aus dem Heimatland der Frau stammte, als Grund für die Immigration nach Deutschland genannt. Betrachtet man die hohe Zahl »intakter« Familien vor diesem migrationsgeschichtlichen Hintergrund lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die geringe Scheidungs- und Trennungsquote auch einen durch diesen speziellen Aspekt der Stichprobe geprägten Hintergrund haben kann, da es einer Frau mit einer derartigen Migrationsgeschichte in einem fremden Land umso schwerer fallen könnte ihren Mann zu verlassen. Die Größe der Familien in der untersuchten Stichprobe variiert sehr stark. Es kommen sowohl Familien mit bis zu neun Kindern (acht Geschwistern) vor (1.6 %, n = 2) als auch Familien mit Einzelkindern (13.9 %, n = 17). Aus Tabelle 15 lässt sich die exakte Verteilung der Geschwisteranzahl sowie die Anzahl der aktuell in dem Haushalt lebenden Kinder entnehmen. Tabelle 15: Anzahl der Geschwisterkinder und aktuell in der Familie lebende Kinder Anzahl Geschwisterkinder n
%
In der Familie lebende Kinder n
%
0
17
13.9
–
–
1
48
39.3
18
14.8
2
32
26.2
51
41.8
3
21
17.2
30
24.6
4
2
1.6
19
15.6
5
–
–
2
1.6
6
–
–
2
1.6
7
–
–
–
–
8
2
1.5
–
–
122
100.0
122
100.0
Gesamt
Betrachtet man die Anzahl aktuell in der Familie lebender Kinder, d. h. die Anzahl der Kinder, die im selben Haushalt leben wie das Studienkind, so schwankt diese Zahl zwischen einem Kind (14.8 %, n = 18) und sechs Kindern (1.6 %, n = 2). Um eine Annäherung an einschneidende Erlebnisse, die möglicherweise auch eine traumatische Qualität für die Familie und das
148
Eigenes Promotionsprojekt
Kind gehabt haben zu erreichen, wurde im Gespräch nach Ereignissen gefragt, welche in den vergangenen Jahren subjektiv einen großen Einfluss auf die Familie ausgeübt haben. Hierunter fielen beispielsweise folgende familiäre Begebenheiten: die Geburt von Geschwisterkindern, der Tod eines Familienmitglieds/einer nahestehenden Person, die schwere Krankheit eines Familienmitglieds, die Trennung/Scheidung der Eltern, Umzüge oder Wohnortwechsel der Familie, der Verlust des Arbeitsplatzes bei Vater oder Mutter und auch die Heirat der Eltern. Die Antworten, die auf diese Frage gegeben wurden, sind so zu verstehen, dass sie nur die Ereignisse innerhalb der Familien abbilden, die diese als einschneidend benannt haben63. Die Ereignisse können sowohl positiver als auch negativer Art sein. In 90 Familien (73.8 %) kam ein solch einschneidendes Ereignis vor, in 32 Fällen (26.2 %) berichteten die Familien nicht von einem solchen Ereignis. Die Antworten auf diese Frage wurden in SPSS im Rahmen eines Mehrfachantwortsets ausgewertet. Tabelle 16 bildet die verschiedenen Häufigkeiten der Antworten ab. Zusätzlich gab es zu den vorgegebenen Kategorien die Möglichkeit, weitere familiär bedeutsame Ereignisse zu nennen. Betrachtet man hier zunächst die bloßen Häufigkeiten, mit denen zu den oben aufgelisteten Ereignissen ergänzend weitere Ereignisse genannt wurden, so findet sich folgendes Ergebnis: 37 Familien nannten ein sonstiges Ereignis, das eine große Bedeutung für die Familie erlangt hatte, neun Familien nannten mindestens zwei solcher sonstiger Ereignisse und vier Familien berichteten von drei weiteren Ereignissen. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass über die 90 Familien hinweg 162 verschiedene bedeutsame familiäre Ereignisse berichtet wurden.
63 Das bedeutet nicht, dass die bloße Anzahl der in Tabelle 16 aufgezählten Ereignisse nicht eine größere Häufigkeit innerhalb der untersuchten Stichprobe haben kann, sondern nur, dass die in die tabellarische Aufzeichnung eingegangenen Familien das Ereignis als subjektiv bedeutsam erlebten und benannten, wohingegen andere Familien dies nicht taten.
149
Ergebnisse Tabelle 16: Häufigkeiten von familiär bedeutsamen Ereignissen Ereignis
Antworten n
Geburt Geschwister
Prozent der Fälle
% 27
16.7
30.0
Tod Familienmitglied/nahestehender Person
25
15.4
27.8
Schwere Krankheit Familienmitglied
20
12.3
22.2
Trennung/Scheidung Eltern
20
12.3
22.2
Umzug/Wohnortwechsel
13
8.0
14.4
Verlust Arbeitsplatz Vater
3
1.9
3.3
Heirat Eltern
3
1.9
3.3
Verlust Arbeitsplatz Mutter
1
0.6
1.1
1 zusätzliches Ereignis
37
22.8
41.1
2 zusätzliche Ereignisse
9
5.6
10.0
3 zusätzliche Ereignisse Gesamt
4
2.5
4.4
162
100.0
180.0
Interessant ist vor allem, als Versuch einer Annäherung an traumatische Erlebnisse innerhalb der Familien, wie viele negative, bedeutsame Ereignisse sich in der Stichprobe ereigneten. Addiert man die 15.4 % (n = 25), in denen eine für die Familie wichtige Person verstarb, mit den 12.3 % von schwerer Krankheit innerhalb der Familie (n = 20) und den 12.3 % in denen sich die Eltern trennten (n = 20), so ergibt sich, dass 40 % (n = 65) der berichteten Ereignisse eine für das Kind traumatische Qualität besitzen können. Werden noch die Kategorien von Umzug oder Wohnortwechsel (8.0 %, n = 13) und Verlust der Arbeitsplätze der Eltern (Vater: 1.9 %, n = 3, Mutter: 0.6 %, n = 1) zu den negativ getönten, bedeutsamen Erlebnissen hinzugezählt, so ergibt sich ein n von insgesamt 82 (50.5 %) Ereignissen, die eine die Familie negativ beeinflussende Qualität besitzen. Die inhaltliche Bandbreite der genannten sonstigen Ereignisse ist sehr heterogen und reicht von dem Erleiden von Fehlgeburten, Berufswechseln, Gefängnisaufenthalten des Vaters, der Trennung der Kinder von der Familie durch das Jugendamt, dramatischer, teils lebensbedrohlicher Unfälle bis hin zum Miterleben eines terroristischen Bombenanschlags64. Bezüglich der Antworten auf die 64 In Anhang K findet sich die tabellarische Auflistung aller genannten Ereignisse.
150
Eigenes Promotionsprojekt
Kategorie »zusätzliches Ereignis« wird deutlich, dass es sich bei der untersuchten Stichprobe tatsächlich um besonders belastete Familien handelt, in denen sich hauptsächlich negative getönte Ereignisse kumulieren. Auch wenn es schwer fällt, die sehr heterogenen familiären Ereignisse zu kategorisieren oder zu größeren Argumentationssträngen zu verflechten, so geben sie doch ein gutes Bild von den Schwierigkeiten und Belastungen, denen die Familien in der Stichprobe ausgesetzt sind. Auf einer ganz anderen Ebene lassen sich die Ergebnisse dieser Frage jedoch zu einer allgemeingültigen Feststellung zusammenfassen: Die genannten Ereignisse und ihre zum Teil sehr persönliche Qualität geben einen Hinweis darauf, dass es innerhalb der Gespräche den Interviewern gelungen ist, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen und in ein offenes Gespräch mit ihnen zu kommen. Zumindest teilweise haben die Befragten über ihre Belastungen und Lebensumstände offen berichten können. Dies deckt sich auch mit den Rückmeldungen der Interviewer und Kindertagesstätten, dass viele Eltern die Gespräche nutzen konnten und als hilfreich erlebten, um von persönlichen Sorgen zu erzählen. Es entstand der Eindruck, dass die Gespräche vor allem bei besonders belasteten Eltern auf eine positive Resonanz stießen. Natürlich gelang es nicht in allen Fällen, die Familien zu erreichen, jedoch haben sich insgesamt 90 Familien auf die Frage nach für sie bedeutungsvollen familiären Ereignissen eingelassen und Antworten gefunden. 4.7.1.2 Migrationsgeschichte der Familien In diesem Unterkapitel werden die verschiedenen Befunde zu der geographischen Herkunft der Familien dargestellt. Die familiäre Herkunft wurde in dem Interview über drei Generationen hinweg erhoben, für die Kinder, die Eltern sowie auch die Großeltern. Bei den späteren statistischen Analysen musste der »Risikofaktor Migrationshintergrund« aufgrund seiner Häufigkeit (knapp 80 % der Stichprobe haben hier einen Risikopunkt erhalten) aus den regulären Analysen ausgeschlossen werden. Er wurde im weiteren Verlauf als Kontrollvariable betrachtet. Deshalb findet sich an dieser Stelle eine ausführliche deskriptive Darstellung der verschiedenen ethnischen Hintergründe der Stichprobe. Dies geschieht auch, um die Heterogenität des »Migrationshintergrundes« der Studienkin-
Ergebnisse
151
der plastisch zu machen und bereits durch die hier präsentierten Daten zu beschreiben, dass »Migration« keine einheitliche Erfahrung sein muss. Der Terminus »Migrationshintergrund«, der hier für die untersuchte Stichprobe beschrieben werden soll, ist keinesfalls so eindeutig in der Literatur gefasst, wie er zunächst erscheinen mag. Im Rahmen der Dissertation stellt die Definition des Statistischen Bundesamtes den Bezugspunkt für die Bestimmung des Migrationshintergrundes eines Studienkindes dar (vgl. Kapitel 4.3.1.2 Operationalisierung der Risikofaktoren und Statistisches Bundesamt, 2013, S. 6). Kemper (2010) zeigt auf, dass es unterschiedliche Variablen gibt, die unter anderem in amtlichen Statistiken erfasst werden, um das Konstrukt zu umreißen (Kemper, 2010). In neueren Studien, so Kemper, würden vermehrt die »unterschiedliche[n] Merkmale zur Erhebung des ›Migrationshintergrunds‹ miteinander kombiniert […]: Staatsangehörigkeit, Geburtsort/-land der Befragten, Geburtsland der Eltern, ggf. auch der Großeltern, Zuwanderungsalter/Datum der Zuwanderung bzw. der Generationenstatus [Hervorhebung im Original]« (Kemper, 2010, S. 316).
Es gelingt ihm, anhand der Zahlen der Schulstatistik zu zeigen, dass bei der Erfassung der Staatsangehörigkeit nur ein Bruchteil der Kinder mit Migrationshintergrund identifiziert werden kann und dass mit Zunahme der erfassten Variablen die Bestimmung des Merkmals Migrationshintergrund immer präziser möglich wird (Kemper, 2010). Bei der Befragung der hier untersuchten Stichprobe wurden daher sowohl die Staatsangehörigkeit als auch das Geburtsland, das Einreisedatum und -alter, der Einreisegrund sowie die gesprochene Sprache sowohl der Kinder als auch für beide Eltern erhoben. Ergänzend wurde ebenfalls für die Großeltern der Studienkinder nach dem Geburtsland und dem Einreisedatum nach Deutschland gefragt. Migration der Kinder Ein erstaunlicher Befund bildet sich bei der Betrachtung der Anzahl der Kinder ab, die in Deutschland geboren sind: Aufgrund der Stichprobenziehung der EVA-Studie und auch aufgrund der
152
Eigenes Promotionsprojekt
Erfahrungen im Feld wurde deutlich, dass die EVA-Stichprobe zu einem hohen Anteil aus Familien mit einem Migrationshintergrund besteht. Jedoch sind 117 Kinder (95.9 %) der hier untersuchten Stichprobe in Deutschland zur Welt gekommen und nur fünf Kinder (4.1 %) wurden im Ausland geboren. Tabelle 17 bildet die verschiedenen Geburtsländer der Kinder ab. Hierbei fällt auf, dass es bei den im Ausland geborenen Kindern keine Häufung von Kindern aus einem bestimmten Land gibt. Tabelle 17: Geburtsland der Kinder Geburtsland
n
%
Deutschland
117
95.9
Ghana
1
0.8
Indien
1
0.8
Japan
1
0.8
Polen
1
0.8
Ukraine
1
0.8
Gesamt
122
100.0
Das Alter, in dem die fünf Kinder nach Deutschland kamen, liegt zwischen einem Monat und drei Jahren. Im Durchschnitt kamen die Kinder im Alter von 13 Monaten, also mit ca. einem Jahr, nach Deutschland65. Aufgrund des geringen Alters der Studienkinder bei der Migration erwies sich auch die Frage, was der Grund für die Migration des Kindes gewesen sei, als inhaltsleer. Die Betrachtung der unterschiedlichen Gründe für die Migration bei den Müttern und Vätern verspricht ein differenzierteres Bild der Migrationsgründe zu zeichnen. Bei der Frage, ob das Kind noch in einem anderen Land, außer seinem Geburtsland und Deutschland gelebt habe, antworteten nur zwei Familien mit »ja« (1.6 % von n = 122 = ˆ 100 %), 120 Familien (98.4 %) mit »nein«. Diese Frage soll einen Indikator dafür darstellen, über wie viele Stationen die Familien nach Deutschland gekommen sind und die mögliche Komplexität der familiären Migrationsgeschichte beschreiben. Demzufolge haben wir es bei der 65 In Anhang L findet sich die tabellarische Darstellung des Migrationsalters.
153
Ergebnisse
Mehrzahl der Studienkinder nicht mit Migrationsgeschichten zu tun, die über viele Stationen gehen. Dass die hier untersuchten Kinder ein nomadenhaftes Schicksal erlitten haben, mit der mehrfachen Erfahrung einer Entwurzelung, ist demnach nicht anzunehmen. Im Gegensatz zu dem Blick auf die Geburtsländer der Kinder, ergibt sich bereits bei der Betrachtung der Staatsangehörigkeiten ein umfassenderes Bild der Stichprobe. Unter den Kindern finden sich 15 verschiedene Staatsangehörigkeiten, die sich in 19 unterschiedlichen Kombinationen niederschlagen66. Tabelle 18 listet diese nach Häufigkeiten und anschließend nach alphabetischer Reihenfolge sortiert auf. Tabelle 18: Staatsangehörigkeit(en) der Kinder Staatsangehörigkeit Deutsch
n
% 95
78.5
Deutsch, Marokkanisch
3
2.5
Deutsch, Türkisch
3
2.5
Türkisch
3
2.5
Deutsch, Spanisch
2
1.7
Polnisch
2
0.8
Britisch
1
0.8
Deutsch, Italienisch
1
0.8
Deutsch, Jordanisch
1
0.8
Deutsch, Persisch/Iranisch
1
0.8
Deutsch, Philippinisch, Britisch
1
0.8
Deutsch, Polnisch
1
0.8
Deutsch, Vietnamesisch
1
0.8
Französisch
1
0.8
Italienisch
1
0.8
Japanisch
1
0.8
Marokkanisch
1
0.8
Montenegrinisch
1
0.8
Ukrainisch
1
0.8
121
100.0
Gesamt
66 Die Angabe der Staatsangehörigkeit fehlt bei einem Kind (0.8 %) der Gesamtstichprobe (n = 122 = ˆ 100 %), sodass sich die Angaben in Tabelle 18 auf ein n = 121 Kinder beziehen (99.2 % der Gesamtstichprobe).
154
Eigenes Promotionsprojekt
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass 95 Kinder (78.5 %) die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, 14 Kinder (11.6 %) die deutsche und eine weitere Staatsangehörigkeit sowie zwölf Kinder (9.9 %) eine anderweitige Staatsangehörigkeit haben. Migration der Eltern und Großeltern Im folgenden Abschnitt werden sowohl die Daten zur Migrationsgeschichte der Eltern als auch der Großeltern aufbereitet und verglichen. Bei der Betrachtung der Staatsangehörigkeit der Mütter ergibt sich zunächst der auffallende Befund (vor allem im Vergleich zu den Daten der Kinder), dass 62 von ihnen (50.8 %) die deutsche Staatszugehörigkeit besitzen, acht Frauen (6.6 %) die deutsche und eine weitere Staatsangehörigkeit. 52 Mütter (42.6 %) haben keinen deutschen Pass. Im Vergleich zu den Zahlen der Kinder, hier waren es 9.9 % ohne deutschen Pass, lässt sich deutlicher der Hintergrund der in der Stichprobe erfassten Familien erkennen. Auch die Anzahl der verschiedenen Staatszugehörigkeiten nimmt deutlich zu: 36 verschiedene Staatsangehörigkeiten nennen die Mütter, im Vergleich dazu fanden sich bei den Kindern mit 15 verschiedenen Staatsangehörigkeiten nur halb so viele. Werden nun die Staatsangehörigkeiten der Väter betrachtet, so zeigt sich, dass 62 Väter die deutsche Staatszugehörigkeit (51.7 %), vier Väter (3.3 %) die deutsche und eine weitere und 54 Väter (45.0 %) keine deutsche, sondern eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen67. Diese Zahlen unterscheiden sich nicht stark von den Zahlen der Mütter. Insgesamt gehören die Väter 28 verschiedenen Staaten an, es finden sich 29 unterschiedliche Staatszugehörigkeiten bzw. unterschiedlichen Konstellationen der Staatszugehörigkeit. Tabelle 19 listet die Staatszugehörigkeiten, sowohl der Mütter als auch der Väter auf, sortiert nach den Häufigkeiten bezüglich der Angaben der Mütter und dann in alphabetischer Reihenfolge.
67 Diese Zahlen beziehen sich auf ein n = 120 (98.3 % der Gesamtstichprobe), da von zwei Vätern (1.7 % der Gesamtstichprobe) die Angaben fehlen.
155
Ergebnisse Tabelle 19: Staatsangehörigkeiten der Eltern Staatsangehörigkeit
Mütter
Väter
n Deutsch
%
n
%
62
50.8
62
51.7
Marokkanisch
8
6.6
7
5.8
Türkisch
7
5.7
12
10.0
Afghanisch
3
2.5
1
0.8
Äthiopisch
2
1.6
2
1.7
Bosnisch
2
1.6
2
1.6
Deutsch, Algerisch
2
1.6
–
–
Indisch
1
0.8
1
0.8
Italienisch
2
1.6
2
1.7
Pakistanisch
2
1.6
2
1.7
Philippinisch
2
1.6
–
–
Polnisch
2
1.6
3
2.5
Spanisch
2
1.6
2
1.7
Britisch
1
0.8
1
0.8
Deutsch, Brasilianisch, Persisch
1
0.8
–
–
Deutsch, Iranisch
1
0.8
2
1.7
Deutsch, Italienisch
1
0.8
–
–
Deutsch, Jordanisch
1
0.8
–
–
Deutsch, Polnisch
1
0.8
–
–
Deutsch, Türkisch
1
0.8
–
–
Eritreisch
1
0.8
1
0.8
Französisch
1
0.8
–
–
Ghanaisch
1
0.8
–
–
Japanisch
1
0.8
1
0.8
Kenianisch
1
0.8
–
–
Kosovarisch
1
0.8
–
–
Kroatisch
1
0.8
–
–
Litauisch
1
0.8
–
–
Mazedonisch
1
0.8
2
1.7
Montenegrinisch
1
0.8
2
1.7
Österreichisch
1
0.8
–
–
Portugiesisch
1
0.8
–
–
Russisch
1
0.8
–
–
Serbisch
1
0.8
1
0.8
156 Staatsangehörigkeit
Eigenes Promotionsprojekt Mütter
Väter
n
%
n
%
Sri-Lankisch
1
0.8
1
0.8
Tunesisch
1
0.8
3
2.5
Ukrainisch
1
0.8
1
0.8
Vietnamesisch
1
0.8
–
–
Australisch
–
–
2
1.7
Deutsch, Marokkanisch
–
–
1
0.8
Deutsch, Nigerianisch
–
–
1
0.8
Griechisch
–
–
1
0.8
Indonesisch
–
–
1
0.8
Jordanisch
–
–
1
0.8
Lettisch
–
–
1
0.8
Syrisch
–
–
1
0.8
Gesamt
122
100.0
120
100.0
Nach den Müttern mit deutschem Pass (50.8 %, n = 62), gibt es zwei weitere Nationalitäten, die gehäuft in der Stichprobe vorkommen: Eine Gruppe von Müttern mit marokkanischer Staatsangehörigkeit (acht Frauen, 6.6 %) sowie eine Gruppe türkischer Frauen (sieben Personen, 5.7 %). Im Verlauf der Daten, die noch vorgestellt werden, findet sich immer wieder das Ergebnis, dass die beiden größten Migrantengruppen in der untersuchten Stichprobe aus der Türkei oder Marokko stammen. Auch bei der näheren Betrachtung der Häufigkeiten der Staatszugehörigkeiten der Väter fallen wiederum diese drei Gruppen auf: Die größte Gruppe unter den Vätern hat eine deutsche Staatsangehörigkeit (51.7 %, n = 62). Bei den darauffolgenden Gruppen setzt sich der Trend fort, der sich bereits bei der Betrachtung der Staatszugehörigkeit der Mütter angedeutet hat: Die Gruppe türkischer Staatsangehöriger ist in der untersuchten Stichprobe am zweithäufigsten vertreten mit einer Anzahl von zwölf Vätern (10.0 %), dann folgen an dritter Stelle die Marokkaner mit sieben Personen (5.8 %). Abbildung 4 stellt die prozentualen Anteile an Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit, Personen mit doppelter und ausländischer Staatsangehörigkeit in der Kinder- und Elterngeneration einander gegenüber.
157
Ergebnisse Anteil der Befragten mit deutscher Staatsangehörigkeit über zwei GeneraMonen (in %) 90 80
78.5
70
%
60
51.7
50.8
50
45.0
42.6
40
deutsche und weitere Staatsangehörigkeit
30 20 10 0
ausschließlich deutsche Staatsangehörigkeit
11.6 9.9
Kind
6.6 Mu@er
3.3
keine deutsche Staatsangehörigkeit
Vater
Abbildung 4: Anteil der Befragten mit deutscher Staatsangehörigkeit
Aus der Abbildung wird der vorher bereits angedeutete Befund deutlich: In der Elterngeneration hat fast jeder Zweite keinen deutschen Pass, bei den Kindern ist es jedes zehnte Kind. Auch ist die Quote an Kindern mit »nur« deutscher Staatsangehörigkeit deutlich höher als in der Elterngeneration. Die Häufigkeit von doppelten Staatszugehörigkeiten ist in der Kindergeneration ebenfalls am größten. Wird die Betrachtung der familiären Herkunft nun auf die Geburtsländer der Eltern und Großeltern erweitert, so ergibt sich folgendes Bild: Wie bereits die Staatszugehörigkeit betreffend, so stellt sich auch bezüglich der Geburtsländer der Mütter ein verändertes Bild her, im Vergleich zu den Geburtsländern der Kinder. 48 der 122 Mütter sind in Deutschland geboren (39.3 %), die Mehrheit (n = 74) ist jedoch im Ausland zur Welt gekommen (60.7 %), 34 verschiedene Länder werden von den Befragten genannt. Die drei häufigsten Länder, in denen die Mütter zur Welt gekommen sind, sind folgende: Deutschland (39.3 %, n = 48), Marokko und die Türkei (jeweils 9.0 %, n = 11). Die darauf folgenden Gruppen sind Pakistan (4.1 %, n = 5) sowie Afghanistan (3.3 %, n = 4). Auch aus dem Kosovo, Äthiopien und Eritrea stammen jeweils 4 Frauen (3.3 %). Ebenfalls wird plastischer, dass die weitere Gruppe sich recht heterogen zusammensetzt und häufig nur vereinzelte Frauen aus dem jeweiligen Land stammen68. 68 Eine Tabelle mit der detaillierten Auflistung der Geburtsländer der Eltern- sowie der Großelterngeneration findet sich in Anhang L.
158
Eigenes Promotionsprojekt
Bei der Betrachtung der Geburtsländer der Väter fällt zunächst auf, dass 37 Väter (30.8 %) und somit deutlich weniger als die Hälfte in Deutschland geboren sind. Die überwiegende Mehrheit (n = 84, 69.2 %) ist im Ausland zur Welt gekommen69. Insgesamt geben die Befragten 31 verschiedene Geburtsländer an. Auch hier sind, ähnlich wie bei den Müttern, Marokko und die Türkei am stärksten vertreten (mit jeweils n = 12 = ˆ 10.0 %). Auch Pakistan (5.0 %, n = 6), Afghanistan (3.3 %, n = 4), Äthiopien (3.3 %, n = 4), Eritrea (3.3 %, n = 4) und der Kosovo (3.3 %, n = 4) sind, wie bei den Müttern, die darauffolgend am stärksten vertretenen Herkunftsländer. Besonders beachtenswert ist auch hier wieder die mit 31 verschiedenen Herkunftsländern vertretene Heterogenität der Stichprobe. Des Weiteren erweist sich die Betrachtung der Geburtsländer als wichtiger Indikator, der noch einmal einen differenzierteren Blick auf den Migrationshintergrund der Familien erlaubt. Sind hier nun nicht mehr knapp 50 % der Eltern als »Deutsche ohne Migrationshintergrund« zu identifizieren, wie noch bei der Betrachtung der Staatsangehörigkeit, sondern nur noch knapp 40 % der Mütter und 30 % der Väter. Dieser Befund deckt sich mit den von Kemper beschriebenen Beobachtungen: »Über die Staatsangehörigkeit kann jedoch nur eine relativ kleine Gruppe von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien identifiziert werden, denn alle Zuwanderergruppen, die – wie z. B. (Spät-)Aussiedler oder Eingebürgerte – die deutsche Staatsangehörigkeit haben, ›verschwinden‹ in der Rubrik ›Deutsch‹« (Kemper, 2010, S. 317).
Auch bei der Betrachtung der Geburtsländer der Großeltern setzt sich der Trend fort, der schon im Vergleich zwischen dem Geburtsland der Kinder und der Eltern sichtbar wurde: Die Anzahl an Personen, die nicht in Deutschland geboren sind, nimmt zu, ebenso wie die Vielfalt der Länder, aus denen die Großeltern stammen (vgl. Abbildung 5).
69 Diese Zahlen beziehen sich auf 120 Väter (98.3 % der Gesamtstichprobe), von zwei Vätern fehlen die Daten (1.7 % der Stichprobe).
Großmutter vs. Großvater vs.
22,2 21,9
77,8 78,1
159
Ergebnisse
Anteil der in Deutschland geborenen Familienmitglieder über drei GeneraIonen (in %) 120 100
95.9
80
60.7
60
39.3
40 20
4.1
69.2
30.8
71.9
28.1
76.7
23.3
77.8
22.2
78.1
21.9
in Deutschland geboren nicht in Deutschland geboren
0
Abbildung 5: Anteil der in Deutschland geborenen Familienmitglieder
Bezüglich des Migrationsalters lässt sich Folgendes feststellen: Das durchschnittliche Alter, in dem die Frauen nach Deutschland kamen, liegt bei einem Mittelwert von 20 Jahren. Das jüngste Einreisealter einer Mutter lag bei einem Jahr (n = 1), das älteste Einreisealter bei 34 Jahren (ebenfalls n = 1). Die Hälfte der Mütter sind im Alter zwischen 15.75 (Q1) und 26.25 Jahren (Q3) immigriert, 75 % der Mütter im Altersrange von 15.75 Jahren bis zum Alter von 34.0 Jahren. Auffallend ist hierbei, dass sich der Großteil der Frauen (mindestens 75 %) in einem gebärfähigen Alter befunden hat, als sie nach Deutschland kamen. Werden die gleichen Betrachtungen für die Väter angestellt, so zeigt sich, dass auch die Väter zu einem großen Teil im jugendlichen Alter nach Deutschland migriert sind. Der Mittelwert des Alters der Väter liegt bei knapp 21 Jahren und somit etwas höher als bei den Müttern. Das jüngste Einreisalter eines Vaters lag bei 4 Monaten (n = 1), das älteste Einreisealter hingegen bei 40 Jahren (ebenfalls n = 1). 25 % der Väter waren bei der Einreise jünger als 17.3 Jahre (Q1), 50 % wanderten in einer Altersspanne von 17.3 und 25 (Q3) Jahren nach Deutschland ein. Um die Einreise nach Deutschland noch genauer zu betrachten, werden im Folgenden die Einreisegründe und die Begleitumstände der Migration in einer Kreuztabelle (Tabelle 20) dargestellt.
Väter
Mütter
1
13
Gesamt
6
Familie
Sonstiges
3
Erwerbstätigkeit
–
1
Ausbildung
Asyl
11
Gesamt
2
–
Sonstiges
Flüchtling
3
–
4
Familie
Asyl
2
Erwerbstätigkeit
Flüchtling
2
n
18.1
1.4
–
2.8
8.3
4.2
1.4
15.5
–
–
4.2
5.6
2.8
2.8
%
leiblichen Eltern
Migration mit
Ausbildung
Grund der Migration
n
8
1
1
2
1
3
–
4
–
–
3
–
1
–
–
11.1
1.4
1.4
2.8
1.4
4.2
–
5.6
–
–
4.2
–
1.4
%
Verwandten n
3
–
–
2
–
1
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
4.2
–
–
2.8
–
1.4
%
Freunden
Tabelle 20: Häufigkeiten der Migrationsgründe und Begleitung bei der Migration
n
6
–
–
2
2
1
1
10
–
–
1
8.3
–
–
2.8
2.8
1.4
1.4
14.0
–
–
1.4
1.4 11.3
–
1
%
8
–
(Ehe-)Partner n –
9
41
2
5
56.9
2.8
6.9
6.9
15.3 12.5
11 5
62.0 12.5
9
8.5
–
1.4
49.2
2.8
%
44
6
–
1
35
2
–
Allein n
1
–
–
1
–
–
–
2
–
–
1
1
–
– –
–
1.4
–
–
1.4
–
–
–
2.8
–
–
1.4
1.4
%
Sonstiges n
8.3 72
100.0
5.6
19.4 6 4
25.0 14
26.4
15.3
100.0
8.5
18
19
11
71
6
–
12.7
9 –
67.6
8.5
2.8
%
48
6
2
Gesamt
Ergebnisse
161
Bezüglich der oben dargestellten Hintergründe und Begleitumstände der Migrationserfahrung zeigt sich bei den Müttern70, dass die größte Gruppe allein nach Deutschland gekommen ist (62 %, n = 44). Elf Frauen (15.5 %) migrierten mit ihren leiblichen Eltern, zehn Frauen (14 %) mit ihrem Ehepartner. Als Gründe für die Migration benennen die Frauen in 67.6 % (n = 48) die Familie, neun Frauen (12.7 %) geben an aufgrund von Krieg, als Flüchtling, nach Deutschland gekommen zu sein. Eine Migration aufgrund von Ausbildung (2.8 %, n = 2) oder Erwerbstätigkeit (8.5 %, n = 6) scheint eine vergleichsweise geringe Rolle für die Mütter zu spielen. In der kombinierten Betrachtung der Merkmale fällt eine Zahl besonders auf: 35 Frauen (49.2 %) sagen, sie seien allein (d. h. ohne jemanden, der ebenfalls migrierte), aber aus familiären Gründen, nach Deutschland gezogen. Diese Zahl verweist auf die auch bereits innerhalb der Gespräche aufgefallene relativ große Zahl von Heiratsmigrantinnen in der Stichprobe. Hier können sich Überlegungen anschließen, was es für eine Mutter und ihr Baby bedeutet, wenn sie aufgrund von Heiratsmigration in ein ihr fremdes Land kommt zu einem (meist) fremden Mann und dort zunächst weder die Sprache noch die gesellschaftlichen Strukturen kennt. Dass, wie früher schon beschrieben, die meisten Frauen im gebärfähigen Alter nach Deutschland immigrierten, stützt des Weiteren die These einer hohen Quote an Heiratsmigrantinnen. Es stellt sich die Frage, welche Funktion ein Baby, das nach einer solchen Migrationserfahrung in dem für die Mutter fremden Land geboren wird, auch für diese erfüllen muss. Dies soll jedoch nur ein Hinweis auf eine möglicherweise risikobehaftete Begleiterscheinung einer solchen Migrationserfahrung sein, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter verfolgt werden kann. Im Vergleich zu den Müttern ergibt sich für die Väter eine etwas andere Aufteilung der Migrationsgründe71 und -umstände. Hierbei scheinen die Erwerbstätigkeit (26.4 %, n = 19) sowie der Ausbildungswunsch (15.3 %, n = 11) als Grund für die Migration eine größere Bedeutung zu haben. Familiäre Gründe werden von den 70 Für diese Auswertung lagen die Daten von n = 71 Frauen (91 %) von 78 migrierten Müttern (100 %) vor. 71 Zugrunde gelegt wurden hier die Daten von 72 Vätern (84.7 %) der Grundgesamtheit von 85 (100 %) migrierten Vätern.
162
Eigenes Promotionsprojekt
Vätern ebenfalls häufig genannt (25 %, n = 18). Aber auch Vertreibung und Flucht vor Krieg spielen eine große Rolle: So geben n = 14 Väter (19.4 %) an, als Flüchtling gekommen zu sein und n = 6 (8.3 %) als Asylsuchende aufgrund politischer Verfolgung. Insgesamt ist bei den Vätern somit der Anteil von erzwungener Migration aufgrund der politischen Lage in ihrem Herkunftsland (27.8 %, n = 20) ungleich höher als bei den Müttern (12.7 %, n = 9). Werden auch die Umstände der Migration betrachtet, so fällt auf, dass 56.9 % (n = 41) Väter allein nach Deutschland gekommen sind. Insgesamt 13 Väter (18.1 %) kamen mit den leiblichen Eltern oder Verwandten (11.1 %, n = 8). Nur sechs Väter (8.3 %) migrierten nach Deutschland in Begleitung ihrer Ehefrau. Bei der Betrachtung der Komplexität der Migrationsgeschichte mithilfe der Frage, ob die Eltern noch in einem anderen Land als ihrem Geburtsland und Deutschland gelebt haben, antworteten 20 Frauen (16.7 %) mit »ja«. Bei den Vätern gaben 22 Personen an (19.0 %), dass sie noch in einem anderen Land gelebt hätten als in Deutschland und ihrem Geburtsland. Bezogen auf diese Eltern deutet sich an, dass sie möglicherweise bereits mehrfache Erfahrungen mit Migration und den damit einhergehenden Konflikten gemacht haben und gegebenenfalls eine komplexere Problematik hinter den Gründen für ihre Migration liegt. Sprachen innerhalb der Familie Wird der Migrationshintergrund betrachtet, so muss auch die in der Familie gesprochene Sprache miteinbezogen werden. In den Familien der EVA-Studie werden 33 verschiedene Sprachen gesprochen. 52.1 % der Kinder (n = 63) haben zuerst die deutsche Sprache gelernt, 47.9 % zuerst eine andere (n = 58)72. Interessant ist hierbei auch, dass 23.5 % der Familien (n = 28) nur Deutsch sprechen, alle weiteren Familien sprechen zu Hause mindestens noch eine weitere Sprache (76.5 %, n = 91) und sechs Familien (5.0 %) sprechen innerhalb der Familie gar kein Deutsch. Betrachtet man das Alter, in dem die meisten Kinder die deutsche Sprache lernen73, so fällt auf, dass die größte Gruppe der Kinder, neben den Kindern, die Deutsch ab 72 Von n = 121 (99.2 % von n = 122 = ˆ 100 %). 73 Für eine ausführliche tabellarische Darstellung siehe Anhang L.
Ergebnisse
163
Geburt lernen (49.2 %, n = 60), die Gruppe derer ist, die erst im Alter zwischen zwei und fünf Jahren Deutsch lernen (38.5 %, n = 47). Hier liegt die Vermutung nahe, dass diese Kinder das erste Mal im Kindergarten mit der Sprache intensiv in Berührung kommen. Somit wird mit diesem Befund indirekt auf ein sehr wichtiges Arbeitsfeld vorschulischer Bildung aufmerksam gemacht, mit dem die Erzieher zwangsläufig konfrontiert werden. Der Kindertagesstätte kommt in diesem Rahmen eine besonders wichtige gesellschaftspolitische Funktion als Integrationsinstrument zu, hängt doch die weitere Schulund Bildungslaufbahn eines Kindes sowie seine Fähigkeit, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, sich dort zurechtzufinden und ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln, maßgeblich von dem Beherrschen der Sprache ab. Gerade vor diesem Hintergrund scheint die derzeitige gesellschaftspolitische Diskussion um das Betreuungsgeld für Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuen, wenig zielführend. Zusammenfassend kann bezüglich des Migrationshintergrundes der Studienkinder der EVA-Studie festgestellt werden, dass es sich bei den Herkunftsländern, den Migrationsgründen und -bedingungen sowie der Migrationsgeschichte und den gesprochenen Sprachen innerhalb der Familien, um eine sehr heterogene Gruppe von Migranten handelt. Roth und Terhart (2010) reflektieren die häufig undifferenzierte Verwendung des Begriffs »Migrationshintergrund« als Risikofaktor für die menschliche Entwicklung kritisch. »Bedenkt man diese Heterogenität der Menschen, die mobil geworden sind bzw. in einer Familie mit Migrationshintergrund aufwachsen, so wird schnell deutlich, dass die Frage nach dem Migrationshintergrund als Entwicklungsrisiko kaum kurz und einfach beantwortet werden kann, denn ein Migrationshintergrund ist kein einheitlicher und berechenbarer Faktor, sondern ein komplexes Phänomen mit ganz unterschiedlichen weit reichenden Auswirkungen auf individuelle Biographien und soziale Lagen« (Roth und Terhart, 2010, S. 68).
Die Autoren verweisen darauf, dass es jedoch durchaus mit dem Migrationshintergrund verknüpfte gesellschaftliche Zuschreibungen gebe, die es zu beachten gelte, wenn von dem Terminus »Migrationshintergrund« als Risiko die Rede sei: »Die Frage nach dem Risikopotenzial eines Migrationshintergrundes für die frühkindliche
164
Eigenes Promotionsprojekt
Entwicklung sensibilisiert für die Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss darauf haben, welche Auswirkungen ein Migrationshintergrund auf den Entwicklungsprozess hat« (Roth und Terhart, 2010, S. 80). Auch vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird das Vorgehen gestützt, im Rahmen der Auswertung innerhalb der Dissertation »Migration« nicht als einen klar definierten und eng umrissenen Risikofaktor in den Risikoindex aufzunehmen, sondern als Kontrollvariable zu betrachten. 4.7.1.3 Familiärer Bildungshintergrund Tabelle 21 stellt den Bildungshintergrund der Eltern dar, sowohl bezogen auf deren Schul- als auch auf deren Berufsausbildung: Tabelle 21: Schul- und Berufsausbildung der Eltern Mütter
Väter
n
%
n
%
Ort des Schulbesuches Deutschland
62
51.2
54
46.2
EU-Staaten
10
8.3
8
6.8
Nicht-EU-Staaten Gesamt
49
40.5
55
47.0
121
100.0
117
100.0
Dauer des Schulbesuches Kein Schulbesuch
4
3.3
2
1.9
15
12.8
12
11.43
< 10 Jahre
33
28.2
31
29.5
< 12 Jahre
71
60.7
55
52.4
< 8 Jahre
≥ 12 Jahre Gesamt
46
39.3
50
47.6
117
100.0
105
100.0
Schulabschluss Keinen
14
11.8
13
12.1
Haupt-/Volksschulabschluss
23
19.3
16
15.0
Realschule/mittlere Reife
30
25.2
31
29.0
Fachoberschule/Fachhochschulreife
6
5.0
5
4.7
Abitur/Allgemeine Hochschulreife
37.4
41
34.5
40
Andere
5
4.2
2
1.9
Gesamt
119
100.0
107
100.0
165
Ergebnisse Mütter
Väter
n
%
n
%
Berufsabschluss Keinen
53
43.4
38
33.9
5
4.1
–
–
Berufl./betriebl. Ausbildung/Lehre
32
26.2
39
34.8
Berufl./schulische Ausbildung/ Fachoberschule
10
8.2
3
2.7
Hochschule/Universität
22.3
Noch in Ausbildung
16
13.1
25
Andere
6
4.9
7
6.3
Gesamt
122
100.0
112
100.0 48.6
Anerkennung Berufsabschluss in Deutschland Ja
51
43.2
52
Nein
13
11.0
17
15.9
Nicht zutreffend
54
44.3
38
35.5
118
100.0
107
100.0
Gesamt
Bei der Betrachtung des elterlichen Bildungshintergrundes wird deutlich, dass es sich bei den Eltern der Stichprobe um eine recht heterogene Gruppe handelt, deren Schul- und Berufsausbildung sich sehr unterschiedlich gestaltet. So sind 51.2 % der Mutter und 46.2 % der Väter in Deutschland zur Schule gegangen, 40.5 % der Mütter und 47 % der Väter aber auch im Nicht-EU-Ausland. 3.3 % der Mütter und 1.9 % der Väter haben nie eine Schule besucht. Circa 12 %, sowohl der Mütter als auch der Väter, haben weniger als acht Jahre Schulerfahrung, 39.3 % der Mütter und 47.6 % der Väter sind länger als zwölf Jahre zur Schule gegangen. Die durchschnittliche Dauer des Schulbesuchs liegt für die hier untersuchte Stichprobe für die Mütter bei M = 10.2 Jahren (SD = 3.1) und für die Väter bei M = 10.5 Jahren (SD = 2.7). Ohne Schulabschluss verließen 11.8 % der Mütter und 12.1 % der Väter die Schule. Bei der Betrachtung der Berufsausbildung74 zeigt sich, dass die Anzahl von Eltern ohne Berufsausbildung um ein Vielfaches höher ist als die der Eltern ohne Schulabschluss. Es lässt darauf schließen, dass viele Eltern, wenn sie berufstätig sind, auch ohne eine abge74 Eine detaillierte Aufschlüsselung der von den Eltern erlernten Berufe findet sich in Anhang M.
166
Eigenes Promotionsprojekt
schlossene Ausbildung arbeiten und somit eher niedriger qualifizierte Tätigkeiten ausüben können. So haben 43.3 % der Mütter keine abgeschlossene Berufsausbildung, bei den Vätern sind es mit 33.9 % eine etwas geringere Anzahl. Einen Hochschulabschluss weisen 13.1 % der Mütter vor, bei den Vätern ist die Akademikerquote mit 22.3 % etwas höher. Bei der Frage, ob ihr Berufsabschluss in Deutschland anerkannt sei, antworten 11.0 % der Mütter und 15.9 % der Väter mit »nein«. In Tabelle 22 ist die derzeitige Berufstätigkeit der Eltern der Studienkinder dargestellt75. Tabelle 22: Aktuelle Berufstätigkeit der Eltern Mütter n
Väter %
n
%
Angestellt
57
47.9
71
Hausfrau
39
32.8
–
62.8 –
Selbstständig/freiberuflich
8
6.7
20
17.7
Derzeit ohne Arbeit
5
4.1
10
8.8
In Ausbildung
4
3.4
–
–
Andere
3
2.5
5
4.4
Student
2
1.6
–
–
Beamter
1
0.8
5
4.4
Rentner
–
–
2
1.8
Gesamt
119
100
113
100
Aus der Tabelle geht hervor, dass die meisten Eltern im Angestelltenverhältnis arbeiten (47.9 % der Mütter, 62.8 % der Väter). Die zweithäufigste Gruppe ist, bezogen auf die Mütter, die Gruppe der Hausfrauen mit 32.8 %. Bei den Vätern steht an zweiter Stelle die berufliche Selbstständigkeit mit 17.7 %. Als arbeitslos beschreiben sich 4.1 % der Mütter und 8.8 % der Väter. Ein markanter Punkt bezüglich der elterlichen Berufstätigkeit ist des Weiteren, dass es bei den Müttern noch 5.0 % der Frauen gibt, die studieren oder sich in Ausbildung befinden, bei den Vätern gibt es hier hingegen nie75 Für eine detaillierte Aufgliederung der aktuellen beruflichen Tätigkeiten der Eltern s. die Auflistung in Anhang M.
Ergebnisse
167
manden. Betrachtet man die wöchentliche Arbeitszeit der Eltern, so fällt auf, dass die meisten Frauen in Teilzeit arbeiten (M = 26.1 Stunden, SD = 10.0), die Männer hingegen in Vollzeit (M = 42.8 Stunden, SD = 11.8). Dies kann als ein möglicher Indikator interpretiert werden, dass in der untersuchten Stichprobe vor allem den Männern die Rolle des familiären Hauptverdieners zukommt, wohingegen die Frauen eher halbtags berufstätig sind und einen geringeren Beitrag zu dem familiären Einkommen leisten76. 4.7.1.4 Entwicklungsauffälligkeiten und Krankheiten Wird nun die kindliche Entwicklung seit der Schwangerschaft betrachtet77, so geben 62 % der Mütter (n = 75) an, dass die Schwangerschaft und Geburt unkompliziert verlaufen seien, 38 % (n = 46) hingegen berichten von Komplikationen oder Störungen78. Betrachtet man die weitere Entwicklung der Kinder, nach der Geburt, so berichten noch 26.4 % der Eltern von Störungen79 der kindlichen Entwicklung80 (n = 32), 72.2 % geben an, dass es keine Auffälligkeiten gegeben habe (n = 88). Bezüglich körperlicher Erkrankungen der Kinder, gaben 40.8 % der Eltern an (n = 49), dass ihr Kind schon einmal ernsthaft erkrankt gewesen sei81. Nach der Therapieerfahrung ihrer Kinder befragt, berichten 20.5 % der Eltern (n = 25) davon, dass ihr Kind bereits Therapieerfahrung habe82. Bei der Betrachtung der Therapien, die die Kinder absolviert haben, ergibt sich folgendes Bild (Tabelle 23):
76 Vgl. auch Kapitel 4.7.1.5 Sozioökonomische Faktoren: Wohnsituation, finanzielle Belastung und kulturelles Kapital der Familien. 77 Die Angaben beziehen sich auf n = 121 = ˆ 100 %. 78 Für eine detaillierte Auflistung siehe Anhang N. 79 Es handelt sich hierbei um Einschränkungen in der Entwicklung von Motorik, der Wahrnehmung (Sprechen, Sehen, Hören) und der Sauberkeitserziehung. Für eine detaillierte Auflistung s. Anhang N. 80 Die Abgaben gelten für n = 121 = ˆ 100 %. 81 Hier findet sich eine Auflistung aller Erkrankungen ebenfalls in Anhang N. 82 Hierzu liegen von n = 117 = ˆ 100 % der Kinder Daten vor.
168
Eigenes Promotionsprojekt
Tabelle 23: Therapieerfahrung der Studienkinder Therapieerfahrung
n
%
Logopädie
12
48.0
Psychoanalytische Kindertherapie (im Rahmen von EVA)
8
32.0
Ergotherapie
1
4.0
Erziehungsberatung
1
4.0
Kinder- und Jugendpsychiatrie
1
4.0
Logopädie und Ergotherapie
1
4.0
Logopädie und Psychomotorik Gesamt
1
4.0
25
100.0
Es zeigt sich, dass über die Hälfte der Kinder bereits logopädische Unterstützung erhalten haben (56 %, n = 14), aber auch ein vergleichsweise großer Anteil (32 %, n = 8) im Rahmen von EVA eine psychoanalytische Psychotherapie absolviert hat oder noch absolviert. Ein Kind (4 %) hat auch bereits Erfahrung mit einer kinderpsychiatrischen Behandlung. Nach dem ausschlaggebenden Grund für eine Initiierung einer Therapie befragt (Tabelle 24), gaben 35 % der Eltern an, dass ihr Kind verhaltensauffällig gewesen sei, 30 % nennen sprachliche Defizite. Aber auch familiäre Gründe werden in 20 % der Fälle genannt sowie Einnässen, schulische Probleme und die Empfehlung durch die KiTa (jeweils 5 %). Tabelle 24: Therapiegründe Therapiegrund
n
%
Probleme mit Verhalten (aggressiv, unaufmerksam, Verweigerungshaltung)
7
Sprachprobleme (Aussprache, stottern)
6
30.0
Trennung der Eltern/familiäre Probleme
4
20.0
Einnässen
1
5.0
Empfehlung von KiTa
1
5.0
Schulische Leistungsprobleme
1
5.0
20
100.0
Gesamt
35.0
169
Ergebnisse
4.7.1.5 Sozioökonomische Faktoren: Wohnsituation, finanzielle Belastung und kulturelles Kapital der Familien Im folgenden Kapitel wird die sozioökonomische Situation der Familien hinsichtlich ihrer Wohnsituation, ihrer finanziellen Belastung und auch des kulturellen Kapitals näher beleuchtet. Wohnsituation der Familien Tabelle 25 legt die Daten zur Wohnsituation der untersuchten Familien dar. Um einen umfassenderen Überblick über die Daten der Stichprobe zu erhalten, werden auch die Minimal- und Maximalwerte angegeben. Tabelle 25: Wohnsituation der Familien Größe der Wohnung (qm)
Anzahl der Zimmer in der Wohnung
Anzahl in der Wohnung lebender Personen
Anzahl der Personen, mit denen Kind Zimmer teilt
n
117
122
117
115
M
88.0
3.6
4.3
0.8
SD
26.9
1.2
1.2
0.8
Min
54.0
2.0
2.0
0.0
Max
200.0
10.0
8.0
3.0
Wird zunächst die Größe der Wohnung betrachtet, so zeigt sich, dass die Familien im Durchschnitt 88.0 qm als Wohnraum zur Verfügung haben. Die kleinste von den Befragten benannte Wohnung war 54 qm groß, die größte 200 qm. Durchschnittlich bewohnen die Familien 3.6 Zimmer. Die kleinste Wohnung hatte zwei, die größte zehn Zimmer. Wird die Anzahl der Personen pro Wohnung betrachtet, so ergibt sich, dass durchschnittlich 4.3 Personen in einer Wohnung leben. Finanzielle Situation der Familien Für die folgenden Angaben zur finanziellen Situation konnte nur eine kleine Unterstichprobe im Rahmen der Interviews untersucht werden83 (n = 63 = ˆ 100 %). Hiervon gaben 42.9 % (n = 27) an, von 83 Für eine für die ganze Stichprobe vorliegende Einschätzung des sozioökonomischen Status der Familien siehe Kapitel 4.7.2.1 Verteilung und Korrelation der Risikofaktoren.
170
Eigenes Promotionsprojekt
staatlicher Unterstützung zu leben. Das mittlere Nettoeinkommen lag in dieser Untergruppe bei M = 2180.0 Euro (SD = 1744.1). Durchschnittlich trugen 1.75 Personen zu diesem Einkommen bei. Dies verweist auf eine hohe Quote an Doppelverdienern im Haushalt. Nur in 31.6 % der Familien war eine Person allein für die Erwirtschaftung des Einkommens zuständig. Vor diesem Hintergrund erscheint ein durchschnittliches Nettoeinkommen von 2180 Euro als eher gering. Durchschnittlich leben M = 4.2 Personen von dem familiären Nettoeinkommen (SD = 1.3), mindestens zwei, höchstens sieben. Kulturelles Kapital Als Indikator für das kulturelle Kapital der Familien wurde die Frage nach der Anzahl der im Haushalt vorhandenen Bücher gestellt. Dies wurde sowohl auf die allgemeine Anzahl von Büchern als auch auf die Anzahl der darin enthaltenen Kinderbücher bezogen. Die Anzahl der Kinderbücher, gemessen an der Gesamtanzahl an Büchern, soll einen Hinweis auf die Transmissionsprozesse von den Eltern auf die Kinder liefern (vgl. Körner und Betz, 2012). Tabelle 26 stellt die Ergebnisse dar. Tabelle 26: Anzahl der Bücher und Kinderbücher pro Haushalt Anzahl Bücher
Bücher gesamt n
Kinderbücher %
n
%
0‒10
3
2.7
9
7.9
11‒50
32
28.3
48
39.9
51‒100
30
26.5
36
29.5
101‒300
27
23.9
21
18.4
301‒500
14
12.4
–
–
501‒700
4
3.5
–
–
701–1000
–
–
–
–
> 1000
3
2.7
–
–
113
100.0
114
100.0
Gesamt
Auch aus der Verteilung der Bücheranzahl wird ersichtlich, dass es sich bei den untersuchten Familien um eine heterogene Gruppe handelt. Es gibt Familien, die zwischen 0‒10 Büchern besitzen (2.7 %),
Ergebnisse
171
ebenso wie Familien, die mehr als 1000 Bücher in ihrem Haushalt haben (2.7 %). Am häufigsten geben die Familien an, dass sie zwischen 11‒50 Bücher zu Hause haben (28.3 %). Auch die Kategorien 51‒100 Bücher (26.5 %) und 101‒300 Bücher (23.9 %) werden häufig genannt. Bezüglich der Kinderbücher werden Bücheranzahlen zwischen 0‒10 Büchern (7.9 %) und bis zu 101‒300 Bücher (18.4 %) genannt. Die häufigste Kategorie stellt hier die Anzahl von 11‒50 (39.3 %) Kinderbüchern dar. Vergleicht man diese Ergebnisse mit Daten aus der PISA-Studie84 (Jungbauer-Gans, 2004), so ergibt sich folgendes Bild: In PISA gaben 29 % der Befragten an zwischen 0‒49 Büchern zu besitzen. In der hier untersuchten Teilstichprobe ergibt sich mit 31 % ein fast gleich hoher Anteil von Familien, die insgesamt zwischen 0‒50 Bücher zu Hause haben. In PISA gaben des Weiteren 43,8 % der Probanden an, zwischen 50 und 250 Büchern zu besitzen; bezüglich der hier erhobenen Daten sind es 50,4 %, die zwischen 50‒300 Bücher haben. Die PISA-Daten zeigen wiederum, dass 27,7 % der Befragten mehr als 250 Bücher besitzen, während die Zahl für mehr als 300 Bücher in der Stichprobe der Dissertation bei 18,6 % liegt. Es zeigt sich somit im Vergleich zu den PISA-Daten (die nicht exakt die gleichen Kategoriengrenzen verwenden), dass die mittlere Gruppe (zwischen 50‒250/300 Büchern) in der Stichprobe der Dissertation größer ausfällt, die Gruppe von Personen mit einer höheren Bücheranzahl (ab 250/300 Büchern) jedoch kleiner. 4.7.1.6 Fragebogendaten: Elterliche Stressbelastung und kindliche Verhaltensauffälligkeiten Im folgenden Unterkapitel werden die Fragebogendaten des Every day Stressors Index (ESI) und des Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) deskriptiv beschrieben und hinsichtlich der Verteilung der Merkmalsausprägungen betrachtet.
84 Die Stichprobe der PISA-Studie ist repräsentativ für die Gesamtheit der 28 Millionen 15-jährigen in den 65 Teilnehmerländern der Studie, die sich in schulischer Ausbildung befinden, vgl. auch http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-hintergrund.htm für weitere Informationen (zuletzt geprüft am 03.12.2014).
172
Eigenes Promotionsprojekt
Everyday Stressors Index: Elterliche Stressbelastung Die Elterliche Stressbelastung wurde von den Eltern im Rahmen der Beantwortung der Fragen des ESI eingeschätzt. Da für den ESI keine Normwerte existieren, zeigt Abbildung 6 die Verteilung der Summenmittelwerte85.
Summenmi0elwerte des ESI 14 12
Häufigkeiten
10 8 6
ESI Summenscore
4 2 0
18,00
23,00
28,00
33,00
38,00
43,00
48,00
ESI-Summenmi0elwerte Abbildung 6: Verteilung der Summenmittelwerte des ESI
Der Mittelwert der Summenwerte des ESI liegt bei M = 27.25 (SD = 6.84). Der kleinste Summenscore kommt auf einen Wert von 18, der größte auf einen Wert von 48. Besonders interessant ist auch die Betrachtung der Quartile: 25 % der Stichprobe (Q1) erreichen einen Wert von ≤ 22.0, die Hälfte der Stichprobe liegen bei einem Summenscore von ≤ 25.5 (Q2). 75 % der Stichprobe (Q3) kommen nicht über einen Wert von ≤ 31.0 hinaus. Da die Skala des ESI einen 85 Der ESI ist ein Fragebogen, der die Stressbelastung, vor allem von Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund misst (Jäkel und Leyendecker, 2008b; Jäkel und Leyendecker, 2008c). In der Literatur wird beschrieben, dass der ESI als eine homogene Skala zu betrachten sei und somit ein Summenscore über alle Items gebildet werden könne (Jäkel und Leyendecker, 2008c). Die Antworten werden auf einer 4-stufigen Likertskala gegeben, wobei eins der kleinste Wert (keine Belastung des Befragten) und vier der größte Wert (sehr hohe Belastung des Befragten) ist. Bei 18 Items bedeutete dies, dass ein Minimalwert von 18 erreicht werden kann, wenn keinerlei Belastungen vorliegen, der maximal erreichbare Wert liegt bei 72, wenn eine sehr hohe Belastung vorliegt.
173
Ergebnisse
Summenscore zwischen 18 und 72 annehmen kann, ist die von den Eltern benannte Belastung eher gering. Noch deutlicher wird dies unter Hinzunahme der Studie von Jäkel und Leyendecker (2008): Die Autoren vergleichen die Summenscores des ESI bei türkischen und deutschen Frauen mit jeweils verschiedenem Bildungshintergrund. Aus Tabelle 27 gehen die Mittelwerte der Summenscores (M) und die Standardabweichungen (SD) ihrer Untersuchung, im Gegensatz zur hier vorgestellten Erhebung, hervor: Tabelle 27: Summenscores des ESI in der EVA-Teilstichprobe und in Untersuchungen von Jäkel und Leyendecker86 Türkische Mütter n
28
Schuljahre 11 Jahre 11 Jahre
68
EVA-Stichprobe 35
106
10 und >11 Jahre Keine 11 Jahre Kategorisierung
M
41.79
41.81
37.73
33.96
32.97
27.25
SD
12.40
11.83
15.51
8.43
9.07
6.68
In der Tabelle sind die der EVA-Stichprobe angehörigen Befragten zwar nicht nach Geschlecht oder Bildung kategorisiert, doch zeigt sich schon bei dieser groben Einordnung, dass der Mittelwert des Summenscores deutlich unterhalb der Vergleichswerte aller Gruppen aus der Untersuchung von Jäkel und Leyendecker (2008) liegt. Dies würde bedeuten, dass die Eltern der Hochrisikostichprobe von EVA weniger belastet sind als die deutschen Mütter mit einem Bildungshintergrund von mehr als elf Jahren, die nicht aus einem Hochrisikomilieu stammen und in der Untersuchung von Jäkel et al. die geringsten Belastungswerte (M = 32.97) aufweisen. Trotz der eher geringen Werte auf der Skala des ESI zeigte sich bei der Beantwortung der Forschungsfragen, dass die Eltern ihre Stressbelastung auf dem ESI zwar als unterdurchschnittlich niedrig einstuften, sich aber dennoch signifikante Zusammenhänge zwischen der Stressbelastung der Eltern und dem Ausmaß an Verhaltensauffälligkeiten bei den Kindern ergaben (vgl. Kapitel 4.7.2.2 Zusammenhang von Risikofaktoren und Verhaltensauffälligkeiten, Tabelle 37).
86 Zitiert nach Jäkel und Leyendecker, 2008c, S. 17.
174
Eigenes Promotionsprojekt
Wird abschließend ein Vergleich zwischen Jungen und Mädchen bezüglich der Ausprägung der ESI-Scores angestellt, so ergeben sich keine großen Unterschiede bezüglich der elterlichen Stressbelastung (Tabelle 28). Tabelle 28: Verteilung der Summenmittelwerte des ESI nach Geschlecht Elterliche Stressbelastung
M
Mädchen n = 55
27.82
SD 6.95
Jungen n = 51
26.65
6.73
Auch die varianzanalytische Betrachtung des Einflusses der Geschlechtszugehörigkeit (UV) auf das Ausmaß an elterlicher Stressbelastung (AV) bestätigte, dass es keinen signifikanten Einfluss des Geschlechts auf den Summenscore des ESI gibt. Strengths and Difficulties Questionnaire: Sozialverhalten Wird das Sozialverhalten der Kinder von den Eltern auf den Skalen des SDQ bewertet87, so ergibt sich folgendes Bild: 78.7 % der Eltern (n = 96) schätzen ihre Kinder als unauffällig ein, 8.2 % (n = 10) als grenzwertig. In 13.1 % der Fälle (n = 16) geben die Eltern ein Verhalten für ihre Kinder an, das als auffällig eingestuft werden kann88. Tabelle 29 gibt die Auffälligkeitswerte, getrennt nach Geschlecht, wieder. Tabelle 29: Verteilung der Gesamtproblemwerte des SDQ nach Geschlecht Sozialverhalten
Unauffällig n
Grenzwertig %
n
Auffällig %
n
%
Mädchen n = 66
53
80.3
4
6.1
9
13.6
Jungen n = 56
43
76.8
6
10.7
7
12.5
Werden die Werte der Jungen und Mädchen miteinander verglichen, so zeigen sich keine großen Unterschiede bezüglich der Häufigkeiten 87 Für diese Berechnungen wurden die Daten des Gesamtproblemwertes des SDQ zugrunde gelegt. 88 Der Einstufung als »unauffällig«, »grenzwertig« und »auffällig«, sind die Normwerte nach Woerner et al. (2002) zugrunde gelegt (vgl. auch Kapitel 4.3.4 Strengths and Difficulties Questionnaire – SDQ).
175
Ergebnisse
von auffälligen Kindern. Bei den Mädchen fallen 80.3 % in die unauffällige Kategorie (n = 53), bei den Jungen sind es 76.8 % (n = 43). Als grenzwertig werden 6.1 % der Mädchen (n = 4) und 10.7 % der Jungen (n = 6) eingestuft. Bezüglich der auffälligen Kategorie lassen sich ebenfalls keine großen Unterschiede erkennen, die Mädchen kommen hier auf einen Wert von 13.6 % (n = 9), die Jungen auf 12.5 % (n = 7). Auch im Rahmen einer varianzanalytischen Überprüfung der Geschlechtsunterscheide (UV) auf den Gesamtproblemwert (AV) sowie die Einzelskalen (AV), ergaben sich keinerlei signifikante Zusammenhänge zwischen der Geschlechtszugehörigkeit und den Werten des SDQ. Dieses Ergebnis ist überraschend, zeigen sich doch sonst häufig die Jungen als verhaltensauffälliger als die Mädchen (vgl. Klein et al., 2013; Koglin et al., 2007; Haffner et al., 2002; Woerner et al., 2002). 4.7.1.7 Bindungsstile Im folgenden Kapitel wird die Verteilung der vier Bindungstypen89 sicher (B), unsicher-vermeidend (A), unsicher-ambivalent (C) und desorganisiert (D) für die untersuchte Stichprobe zum Messzeitpunkt tpost dargestellt (Abbildung 7).
Verteilung der Bindungsstile B (sicher) 19.7% n = 24 19.7% n = 24
37.7% n = 46 23.0% n = 28
C (unsicherambivalent) A (unsichervermeidend) D (desorganisiert)
Abbildung 7: Verteilung der Bindungsstile
89 Die Bindungsmessung erfolgte mithilfe des Manchester Child Attachment Story Task (MCAST) (vgl. Green, Stanley, Smith und Goldwyn, 2000; Green et al., 2008; Barone et al., 2009; Wai Wan und Green, 2010).
176
Eigenes Promotionsprojekt
Mit einem prozentualen Anteil von 37.7 % stellen die sicher gebundenen Kinder den größten Anteil dar. Die drei weiteren Bindungstypen teilen sich in etwa gleich große Gruppen auf: 19.7 % der Kinder sind unsicher-vermeidend, 19.7 % der Kinder desorganisiert gebunden. Die unsicher-ambivalente Gruppe kommt auf einen prozentualen Anteil von 23.0 %. Tabelle 30 stellt die Verteilung der Bindungstypen, getrennt nach Geschlecht, dar. Hierbei fällt auf, dass der prozentuale Anteil sicher gebundener Mädchen (43.9 %) größer ist als der der Jungen (30.4 %). Auch bezüglich der weiteren Bindungsstile unterscheiden sich die geschlechtsspezifischen Verteilungen: Der Anteil unsichervermeidend gebundener Jungen (28.6 %) ist in etwa doppelt so hoch wie der der Mädchen (12.1 %). Bei den unsicher-ambivalenten Kindern dreht sich dieser Trend um: 31.8 % der Mädchen fallen in diese Bindungskategorie, aber nur 12.5 % der Jungen. Eine desorganisierte Bindung weisen 12.1 % der Mädchen und 28.6 % der Jungen auf. Tabelle 30: Verteilung der Bindungstypen nach Geschlecht Bindungs- Sicher (B) typ n
Unsicher Unsicher Desorganisiert vermeidend (A) ambivalent (C) (D) %
n
%
n
%
n
%
Mädchen n = 66
29
43.9
8
12.1
21
31.8
8
12.1
Jungen n = 56
17
30.4
16
28.6
7
12.5
16
28.6
Bezüglich der statistischen Analyse des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und Bindungstyp ergab sich ein signifikanter Effekt der Geschlechtszugehörigkeit (χ2(3) = 14.743, p = .002).
4.7.2 Beantwortung der Forschungsfragen Im folgenden Kapitel werden, entlang der durch die Forschungsfragen vorgegebenen Fragestellungen, die unterschiedlichen Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den Konstrukten »Risikofaktoren«, »Bindung« und »Verhaltensauffälligkeiten« untersucht.
177
Ergebnisse
4.7.2.1 Verteilung und Korrelation der Risikofaktoren Zur Verteilung und Korrelation der Risikofaktoren innerhalb der Analysestichprobe gab es verschiedene Forschungsfragen (»Mit welchen Risikofaktoren sind die Kinder belastet und wie stehen die einzelnen Risikofaktoren zueinander in Beziehung?«). Tabelle 31 bildet die Häufigkeiten der Risikofaktoren innerhalb der Kernstichprobe ab (n = 122 = ˆ 100 %). Tabelle 31: Verteilung der Risikofaktoren innerhalb der EVA-Studie90 ngesamt = 122 = ˆ 100 %
nRisiko
%Risiko 79.5
Migrationshintergrund des Kindes*
97
Beengte familiäre Wohnsituation*
48
39.3
Prä-, peri-, postnatale Auffälligkeiten
41
33.6
Schwere Krankheit des Kindes
35
28.7
Niedriges kulturelles Kapital der Familie
35
28.7
Niedriger sozioökonomischer Status
32
26.2
Familiäre Trennungserlebnisse/Alleinerziehenden-Status
31
25.4
Trennungserfahrungen in der Familie*
31
25.4
Scheidung/Trennung Eltern*
30
24.6
Erkrankungen in der Familie
29
23.7
Keine Berufsausbildung der Eltern
28
23.0
Belastung durch erzwungene Migration
27
22.1
Schwierige familiäre Lebensumstände/Einelternfamilie*
26
21.3
Fehlende Schulausbildung der Eltern
26
21.3
Eltern sind alleinerziehend*
25
20.5
Tod einer wichtigen Person
24
19.7
Negatives Ereignis mit Einfluss auf Familie
21
17.2
Entwicklung Sprache/Motorik/Sauberkeit*
20
16.4
Elterliche Stressbelastung
17
13.9
Erwerbslosigkeit der Eltern89
13
10.7
Familien-/Haushaltsgröße
13
10.7
Gewalterfahrungen innerhalb der Familie
10
8.2
–
–
Frühe Elternschaft der Mutter*
* Diese Faktoren gehen nicht in die Bildung des Risikoindex ein (vgl. Kapitel 4.3.1.3).
90 Nur für dieses Risiko liegt ein n = 121 = ˆ 100 % zugrunde.
178
Eigenes Promotionsprojekt
Die hier aufgeführten Risikofaktoren sind bezüglich ihrer Operationalisierung bereits in Kapitel 4.3.1 Elterninterview zur Erfassung von Risikofaktoren ausführlich beschrieben worden. Wird nun ihre Verteilung innerhalb der Analysestichprobe betrachtet, so fällt auf, dass sich die meisten Risikofaktoren mit einer Häufigkeit von 8.2 % (Gewalterfahrungen innerhalb der Familie) bis zu 33.6 % (prä-, periund postnatale Auffälligkeiten) in der Stichprobe wiederfinden. Zwei Faktoren fallen durch ein besonders häufiges Vorkommen auf. So ist für 39.3 % der Familien (n = 48) der Risikofaktor zu finden, dass sie unter beengten Wohnverhältnissen91 leben. Mit einem n = 97 und einer prozentualen Häufigkeit von 79.5 % hebt sich das Risiko »Migrationshintergrund«, wie bereits beschrieben, von den Verteilungen der restlichen Risikofaktoren noch einmal erheblich ab92. Das Risiko »frühe Elternschaft« kommt niemals in der hier untersuchten Stichprobe vor. Der zweite Teil der Forschungsfrage bezieht sich auf die Zusammenhänge der einzelnen Risiken untereinander. Um zu untersuchen, welche Zusammenhänge es zwischen den einzelnen Risikofaktoren gibt, wurden die Korrelationen zwischen ihnen ermittelt. In Tabelle 32 werden die Pearson-Korrelationen zwischen den Risikofaktoren bei zweiseitiger Signifikanztestung berichtet.
91 Das Risiko »beengte Wohnverhältnisse« wird aufgrund seiner negativen Trennschärfe bei den Berechnungen zur Risikoanzahl nicht berücksichtigt (vgl. Kapitel 4.3.1.3. Bildung eines Risikoindex). 92 Wie in Kapitel 4.3.1.3. Bildung eines Risikoindex bereits erläutert, wird das Risiko »Migrationshintergrund«, aufgrund seiner Häufigkeit innerhalb der Stichprobe, im weiteren Verlauf der Auswertung äquivalent zu den Merkmalen »Geschlecht« und »Alter« betrachtet und als eine Kontrollvariable behandelt. Aus der Aufaddierung des Risikoindex wird es herausgenommen, da bei seinem Einschluss in den Index bereits 79.5 % der Kinder mit mindestens einem Risikofaktor belastet wären.
–.037
Negatives Ereignis für die Familie
Migrationshintergrund des Kindes
Erzwungene Migration in Familie
Fehlende Schulausbildung der Eltern
Keine Berufsausbildung der Eltern
Prä-, peri-, postnatale Auffälligkeiten
Schwere Krankheiten des Kindes
Schwere Erkrankungen in der Familie
Beengte Wohnsituation der Familie
Kulturelles Kapital der Familie
Elterliche alltägliche Stressbelastung
Schichtzugehörigkeit der Familie
Gewalterfahrungen in der Familie
Erwerbslosigkeit bei den Eltern92
Familien- und Haushaltsgröße
Tod einer für die Familie wichtigen Person
Entwicklung Sprache/Motorik/Sauberkeit
Zusammenfassung famil. Trennung/ alleinerziehend
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
.271**
–.034
3
.012
.115
–.078
4
.335** .024
.096
–.128
.043
.366**
6 .060
.113
.229**
5 .153*
.296**
.354** –.056
-.030
.227**
–.066
–.003
8
–.001
.112
-.164*
0.98
–.001
7
–.056
.120
–.040
.159*
–.236**
.056
.201*
–.056
9
93 Den Korrelationen mit dem Risiko »Erwerbslosigkeit der Eltern« liegt ein n = 121 zugrunde.
*p