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German Pages XII, 402 [400] Year 2023
Sandra Aßmann Norbert Ricken Hrsg.
Bildung und Digitalität Analysen – Diskurse – Perspektiven
Bildung und Digitalität
Sandra Aßmann · Norbert Ricken (Hrsg.)
Bildung und Digitalität Analysen – Diskurse – Perspektiven
Hrsg. Sandra Aßmann Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland
Norbert Ricken Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum Bochum, Deutschland
ISBN 978-3-658-30765-3 ISBN 978-3-658-30766-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Laux Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Sandra Aßmann / Norbert Ricken (Hg.): Bildung und Digitalität. Analysen – Diskurse – Perspektiven ›Digitalisierung‹ gilt weithin als gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die auch das pädagogische Feld betrifft und verwandelt. Dabei markieren ›Bildung und Digitalität‹ ein Spannungsfeld: Einerseits wird nur zu oft die digitale Rückständigkeit von Schule – insbesondere auch in Deutschland – beklagt und die Dringlichkeit einer Digitalisierung des Bildungssystems beschworen; andererseits aber treffen Digitalisierungsforderungen immer wieder auch auf Widerstände, die sich unter dem Stichwort der ›Bildung‹ sammeln und sowohl Kompetenzverluste als auch Einschnitte oder gar Einbrüche im Selbst- und Sozialverständnis befürchten und benennen. Die Erfahrungen der letzten drei, durch das Pandemiegeschehen bestimmten Jahre haben dabei auf auch schmerzliche Weise beides zugleich deutlich gemacht. Sie haben aber auch spürbar gemacht, dass ›Digitalität‹ – verstanden als Kennzeichnung einer durch digitale Techniken und Praktiken konstituierten Struktur – längst stattfindet und sich als ›neue Normalität‹ in nahezu allen Lebensbereichen und Lebenswelten etabliert hat. Die leitende Idee dieses Bandes ist daher, aus dieser beschriebenen Spannung und den dazu gehörigen Einschätzungen auszusteigen, ein wenig Abstand zu gewinnen und auf verschiedenen Ebenen nach jeweilig erreichten Ständen – seien es Phänomene oder Diskussions- und Reflexionsstände – zu fragen. Insofern folgen der Band und die hier versammelten Beiträge keinen programmatischen Weichenstellungen, sondern suchen Ebenen zu unterscheiden und dann bisherige Analysen und Diskurse zusammenzutragen. Dieses Interesse an ›Zwischenständen‹ hat uns dazu geführt, die Frage nach dem Zusammenhang von ›Bildung und Digitalität‹ bzw. nach den Herausforderungen der ›Bildung‹ durch ›Digitalität‹ so zu bearbeiten, dass Digitalität und Digitalisierung nicht bloß bzw.
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Vorwort
vorrangig als Anwendungsproblematik und didaktische Herausforderung aufgenommen werden, sondern auch aus (grundlagen-)theoretischen Perspektiven in den Blick genommen werden. Erst dieser Blickwechsel erlaubt es, auch Herausforderungen des ›Digitalen‹ durch ›Bildung‹ zu thematisieren und einen sich in diesen Prozessen doch inzwischen abzeichnenden ›Strukturwandel des Pädagogischen‹ kritisch zu diskutieren. Die Architektonik des Bandes mag die eingenommenen Ebenen veranschaulichen: Während in einem ersten Kapitel zur »Strukturlogik des Digitalen« interdisziplinäre Grundlagen aufgegriffen und sowohl informatische und mathematische als auch kulturwissenschaftliche und erziehungswissenschaftlich-pädagogische Perspektiven auf ›Digitalität‹ zusammengetragen werden, widmet sich das zweite Kapitel der »Medialität des Digitalen« und sucht sowohl medientheoretische und -geschichtliche als auch mediensoziologische und medienpädagogische Perspektiven zu bilanzieren. Im dritten Kapitel stehen dann »sozialisationstheoretische Perspektiven« im Vordergrund, die – auch entlang des Stichworts der ›Subjektivierung‹ – durch Digitalisierung geprägte und vorangetriebene Prozesse hin auf ihre sozialisatorischen Bedeutungen befragen und an ausgewählten Beispielen zu veranschaulichen suchen. Schließlich wird im vierten Kapitel eine explizit »bildungs- und wissenstheoretische Perspektive« eingenommen, die nicht nur nach veränderten Selbstverständnissen, sondern auch nach Transformationen von Wissensverständnissen und -praktiken sowie Ordnungsmustern und kategorien fragt. Insgesamt wird damit angemahnt, die Debatte um die ›Digitalisierung des Pädagogischen‹ gerade weder bloß programmatisch und situativ noch bloß technisch oder überwiegend didaktisch zu führen, sondern insgesamt als Strukturwandel des Pädagogischen zu problematisieren und möglichst breit zu diskutieren. Da den einzelnen Beiträgen jeweilig ein abstract vorangestellt ist, verzichten wir hier auf eine Kurzvorstellung der Beiträge. Die hier versammelten Beiträge gehen nahezu durchgängig auf eine im Wintersemester 2018/2019 durchgeführte Ringvorlesung zurück, die wir am Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum organisiert haben. Seitdem ist – leider – viel Zeit vergangen; die enormen Herausforderungen und Belastungen der Pandemie für alle, aber auch seitdem übernommene administrative Verpflichtungen der beiden HerausgeberInnen haben die Herausgabe des Bandes erschwert und verzögert. Umso mehr danken wir den Autorinnen und Autoren für die Fertigstellung ihrer Beiträge auch gegen z.T. große Widerstände in einem radikal veränderten Alltag und bitten um Verständnis dafür, dass auch die Bearbeitung der Beiträge nicht immer so schnell hat gelingen
Vorwort
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können wie erwünscht. Zugleich ist in den letzten Jahren die Dringlichkeit der Auseinandersetzung um ›Digitalität‹ längst selbst auf ein anderes Niveau gehoben worden – die vielfach und längst sehr breit gemachten neuen Erfahrungen mit den digitalen Techniken und Praktiken haben sich wohl bei allen tief eingegraben und Chancen, aber auch Verluste nur allzu deutlich gemacht. Unser Dank gilt darüber hinaus auch Olga Neuberger, Cosima Quirl und Raphaela Gilles, die die Endredaktion der Beiträge trotz aller Hemmnisse meisterlich übernommen haben, sowie Stefanie Laux vom Verlag Springer VS, die – in gewohnter Professionalität und Ruhe – die Herausgabe des Bandes ermöglicht und begleitet hat. Schließlich danken wir auch den Studierenden der Ringvorlesung, die mit ihren engagierten Diskussionen auch kommunikativ spürbar gemacht haben, worum es gesamtgesellschaftlich geht. Sandra Aßmann Norbert Ricken
Inhaltsverzeichnis
Zur Strukturlogik des Digitalen: Interdisziplinäre Grundlagen Digitalität, Vernetzung und Algorithmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Hans Ulrich Simon und Christoph Ries Digitalisierung aus kulturanalytischer Sicht. Forschungszugänge für die empirische Bildungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Gertraud Koch Diskurs der Digitalität und Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Felicitas Macgilchrist Zur Medialität des Digitalen: Medientheoretische und -pädagogische Perspektiven Mediensoziologische Perspektiven auf digitale Körperbildpraktiken und Subjektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Dagmar Hoffmann Digitalität, Mediatisierung und Bildung – Megatrends aus medienpädagogischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Bardo Herzig Computer-Supported Collaborative Learning: Die Rolle des Digitalen bei der Unterstützung von kooperativem Lernen. . . . . . . . . . . . 127 Sebastian Strauß und Nikol Rummel
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Inhaltsverzeichnis
Zur Subjektivierung im Digitalen: Sozialisationstheoretische Perspektiven Künstliche Intelligenz – vom Subjekt zur Umgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Heidrun Allert und Christoph Richter Selbstinszenierungen im virtuellen Raum: Das Ringen um Anerkennung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Christina Schachtner An digitalen Medienkulturen partizipieren. Eine kritische Betrachtung des Konzepts der participatory culture . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Valentin Dander, Olga Neuberger und Sandra Aßmann Interaktion im digital mediatisierten Unterricht. Situative Ethnographien sozialisatorischer Praktiken und Strukturen . . . . . . . . . . 247 Sven Thiersch und Eike Wolf Zum Wissen im Digitalen: Wissens- und bildungstheoretische Perspektiven Klassisch – Modern – Digital? Eine kleine Geschichte und Systematik des Wissensbegriffs, mit einer Note zur digitalen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Helmut Pulte Transformationen des Bildungswissens – eine wissenstheoretische und -geschichtliche Perspektive auf digitale Wissenskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Norbert Ricken, Sabine Reh und Joachim Scholz Die Kultivierung der Sprachlosigkeit. Zur sozialen Funktion der informatischen Sinnform vor und in der Digitalisierung. . . . . . . . . . . 349 Sebastian Manhart Vom Prinzip der Universalität zur Unberechenbarkeit des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 Dan Verständig
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Dr. Sandra Aßmann, Professorin für Soziale Räume und Orte des non-formalen und informellen Lernens im Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Norbert Ricken, Professor für Theorien der Erziehung und Erziehungswissenschaft im Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.
Autorenverzeichnis Dr. Heidrun Allert, Professorin für Medienpädagogik und Bildungsinformatik im Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Dr. Valentin Dander, Professor für Medienbildung und pädagogische Medienarbeit an der Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam. Dr. Bardo Herzig, Professor für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik unter Berücksichtigung der Medienpädagogik im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Paderborn. Dr. Dagmar Hoffmann, Professorin für Medien und Kommunikation/Gender Media Studies in der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen. Dr. Gertraud Koch, Professorin für Volkskunde und Kulturanthropologie im Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Hamburg.
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Dr. Felicitas Macgilchrist, Professorin für Medienforschung mit dem Schwerpunkt Bildungsmedien im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Göttingen. Dr. Sebastian Manhart, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Organisationspädagogik im Institut für Bildungswissenschaft an der Universität der Bundeswehr München. Olga Neuberger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Helmut Pulte, Professor für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte am Institut für Philosophie I der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Sabine Reh, Professorin für Historische Bildungsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Leiterin der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschungen (BBF Berlin) im DIPF. Christoph Richter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Christoph Ries, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fakultät für Mathematik und Informatik der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Nikol Rummel, Professorin für Pädagogische Psychologie und Bildungstechnologie im Institut für Erziehungswissensschaft der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Christina Schachtner, Professorin für Neue Medien, Technik und Kultur im Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Dr. Joachim Scholz, Professor für Historische Bildungsforschung im Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Hans Ulrich Simon, Professor für Mathematik und Informatik in der Fakultät für Mathematik der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Sebastian Strauß, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Dr. Sven Thiersch, Dr. Sven Thiersch, Professor für Schulische Sozialisationsforschung im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück.
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
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Dr. Dan Verständig, Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Allgemeine Medienpädagogik in der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Dr. Eike Wolf, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Osnabrück.
Zur Strukturlogik des Digitalen: Interdisziplinäre Grundlagen
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen Hans Ulrich Simon und Christoph Ries
Zusammenfassung
Aus unserem heutigen Alltag sind Computer nicht mehr wegzudenken. Doch damit es dazu kommen konnte, mussten eine Reihe von Voraussetzungen geschaffen werden. Zunächst wird beschrieben, wie sich Daten aufbereiten lassen, damit sie für einen Computer zugänglich werden. Sind die Informationen kodiert, müssen sie auch noch verfügbar sein. Die Entstehung und Entwicklung des Internets und World Wide Webs werden daher knapp skizziert. Abschließend wird darauf eingegangen wie dieser Informationsreichtum genutzt werden kann. Es wird der Frage nachgegangen, was Algorithmen sind und aufgezeigt, wie diese eingesetzt werden können. Schlüsselwörter
Digitalisierung · Binärkodierung · Vernetzung · Internet · World Wide Web · Algorithmus · Maschinelles Lernen
H. U. Simon (*) · C. Ries Ruhr Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Ries E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_1
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H. U. Simon und C. Ries
1 Einleitung Programmierbare Rechner sind in der Regel Digitalrechner (im Unterschied zu Analogrechnern). Das heißt, dass ihre Daten nicht als kontinuierliche Größen vorliegen, welche beliebige reelle Werte annehmen können, sondern als diskrete Größen mit einem endlichen Wertebereich. Im Extremfall handelt es sich um (physikalisch leicht realisierbare) binäre Größen mit 0 und 1 als den möglichen Werten. Wenn Daten einem Rechner zugänglich gemacht werden sollen, müssen sie „digitalisiert“ bzw. „binär kodiert“ werden. In Abschn. 2 werden wir deutlich machen, dass sich beliebig komplexe Daten ohne Weiteres binär kodieren und damit in die Welt der Rechner einspeisen lassen. Rechner sind heutzutage in einem weltweiten Maßstab miteinander verbunden (Stichworte: Internet, World Wide Web). Eine Nachricht, die in Bochum abgesendet wird, kann Sekunden später in Tokio gelesen werden. Suchmaschinen liefern anhand von Schlüsselwörtern Adressen von Webseiten zu dem betreffenden Thema. Es entsteht ein riesiger (und ständig weiterwachsender) Datenraum1 und hierauf kann von einem (nahezu) beliebigen Punkt der Erde aus selektiv und rasch zugegriffen werden. In Abschn. 3 lassen wir die Entstehung des Internets und des World Wide Web (WWW) anhand von ein paar wichtigen „Meilensteinen“ Revue passieren. Rechner können Daten nicht nur übertragen, sondern auch verarbeiten. Die Datenverarbeitung wird von Algorithmen gesteuert. Zum Beispiel verwendet die Suchmaschine Google den sogenannten PageRank-Algorithmus2, um die Struktur des WWW zu untersuchen und die Wichtigkeit von Webseiten zu bewerten. In Abschn. 4 gehen wir auf den Begriff des Algorithmus näher ein und beschreiben ein paar wichtige Techniken zum Design von Algorithmen. In diesem Beitrag sehen wir „Digitalisierung“3 als einen gegenwärtig in unserer Gesellschaft ablaufenden Prozess, der darauf abzielt • Daten digital aufzubereiten und sie in den Cyberspace einzuspeisen, • Arbeitsvorgänge mithilfe geeigneter Algorithmen zu automatisieren und sie, soweit möglich, in den Cyberspace zu verlagern • und sich dabei die Vernetzung und den schnellen Zugriff auf Massendaten zu Nutze zu machen.
1 im
Folgenden auch Cyberspace genannt. (Brin und Page 1998), (Page et al. 1999). 3 für Planung, Entstehung und Entwicklungsperspektiven durch Digitalisierung siehe (Keuper et al. 2013). 2 siehe
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
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Das Zusammenspiel von digitalisierten Daten, Vernetzung der Rechner (und anderer Geräte) und Algorithmen zur Datenverarbeitung verleiht dem Prozess der Digitalisierung eine ungeheure Wucht. Die Auswirkungen werden in nächster Zeit zu beobachten sein.
2 Digitale Aufbereitung von Daten Der Begriff „digital“ verweist auf das Wort „digit“ (Ziffer). In unserem Kulturkreis sind wir mit Dezimalziffern 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9
am besten vertraut. Computer verarbeiten „binary digits“ (=bits), also die Ziffern 0 und 1. In diesem Abschnitt wollen wir lediglich deutlich machen, dass Daten aller Art grundsätzlich als Binärstrings, also als Folge von Nullen und Einsen, kodiert werden können.4 So banal diese Erkenntnis auch sein mag: die Kodierbarkeit hat zur Folge, dass riesige Mengen beliebig komplexer Daten in den Cyberspace eingespeist werden.5 Bei der Frage, welche Daten als Ziffernketten beschreibbar sind, ist es natürlich, den Anfang bei den Zahlen zu machen. Das dezimale Zahlensystem beruht darauf, dass die Ziffern einer Zahl, ausgelesen von rechts nach links, die Stelligkeiten 1, 10, 100, … besitzen. Zum Beispiel: 2019 = 9 · 1 + 1 · 10 + 0 · 100 + 2 · 1000. Im binären Zahlensystem verhält es sich ähnlich. Es treten lediglich Zweierpotenzen 1, 2, 4, … an die Stelle der Zehnerpotenzen 1, 10, 100, … Etwa: 2019 = 1 · 1 + 1 · 2 + 0 · 4 + 0 · 8 + 0 · 16 + 1 · 32 + 1 · 64 + 1 · 128 + 1 · 256 + 1 · 512 + 1 · 1024. Demzufolge ist 11111100011 der Binärcode der Dezimalzahl 2019. Wenn wir Texte verfassen, bedienen wir uns einer Tastatur, welche weitaus mehr Zeichen als nur 0 und 1 zur Verfügung stellt. Im Prinzip kann jeder endliche Zeichensatz binär kodiert werden. Wir illustrieren dies am sogenannten ASCII-
4 Wir
gehen nicht auf intelligente Kodiermethoden (etwa zum Zwecke der Datenkompression oder der Fehlertoleranz) ein. 5 Die Binärkodierung und weiterführende Themen sind in Moser (2012) zu finden.
6
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Zeichensatz6. Dieser enthält im Wesentlichen die Dezimalziffern, die Buchstaben des lateinischen Alphabets sowie weitere Sonderzeichen. Er umfasst 128 Zeichen. Die Anzahl der Bitfolgen der Länge 7 beträgt ebenfalls 128. Der ASCII-Code ordnet jedem der 128 Zeichen exakt eine der Bitfolgen zu. Zum Beispiel: Buchstabe:
A
h
ASCII-Code:
1000001 1101000
a
!
1100001
0100001
Der erweiterte ASCII-Zeichensatz hat 256 Zeichen, was Bitfolgen der Länge 8 entspricht. Wenn wir auf der Tastatur eines dieser Zeichen antippen, wandern die entsprechenden 8 Bits (=1 Byte) zum an die Tastatur angeschlossenen Computer. Wenn wir endliche Zeichensätze binär kodieren können, dann natürlich auch Texte, zum Beispiel indem wir den Code zeichenweise herstellen. Wenn wir etwa die ASCII-Codes für „A“, „h“, „a“ und „!“ aneinanderhängen, erhalten wir 1000001 1101000 1100001 0100001. A
h
a
!
Dies ist der Code für den Text „Aha!“. Es folgt eine Liste von weiteren digitalisierbaren Objekten: • Die Methode der Binärkodierung von Texten ist unmittelbar anwendbar auf Bücher7 oder auch auf das menschliche Genom. Letzteres ist darstellbar als Wort über dem Alphabet {A,T,G,C}.8 • Die Elemente einer endlichen Menge können wir durchnummerieren und dann mit ihrer Nummer identifizieren. Für die Nummern (=Zahlen) verwenden wir den oben bereits beschriebenen Binärcode. • Eine zweidimensionale Tabelle, bestehend aus einer Kollektion von Zeilen, kann als linearer Text geschrieben werden: wir hängen die Zeilen unter Verwendung eines speziellen Trennsymbols aneinander. Danach verwenden wir die Methode zur Binärkodierung von Texten. • Einfacher geht es, wenn jede Zeile dieselbe Anzahl k von Einträgen hat und jeder Eintrag „0“ oder „1“ ist (Binärtabelle). Dann können wir auf das Trennsymbol verzichten, müssen aber die Zahl k in den Code aufnehmen. 6 ASCII = American
Standard Code for Information Interchange. Thema Texterkennung siehe (Mori et al. 1999). 8 A = Adenin, T = Thymin, G = Guanin und C = Cytosin sind die DNA-Basen (siehe Graw 2010). 7 zum
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
7
• Eine Relation zwischen Elementen einer endlichen Menge M können wir als Binärtabelle darstellen und dann entsprechend kodieren. Die Methode zur Kodierung einer Relation wollen wir kurz illustrieren: Beispiel 1 Betrachte die Personen Anna, Bert, Christa, Dora, Emil (endliche Menge {A,B,C,D,E}). Anna, Bert und Christa kennen sich gegenseitig. Christa und Dora sind ebenfalls bekannt miteinander, ebenso Bert und Emil. Die Bekanntschaftsrelation, bezogen auf diese 5 Personen, lässt sich tabellarisch darstellen wie folgt: A B C D E A 0
1
1
0
0
B 1
0
1
0
1
C 1
1
0
1
0
D 0
0
1
0
0
E
1
0
0
0
0
Der Binärcode der Tabelle besteht aus der Zahl k = 5 (binär kodiert) und dem String. 0110010101110100010001000. Es stellt sich die Frage, ob auch Daten, die von ihrer Natur her analog sind (wie zum Beispiel auf einem analogen Speichermedium festgehaltene Töne oder Farben), digitalisiert werden können. Die Antwort lautet „Ja“: • Bilder können als eine Tabelle von Grau- oder Farbtönen (d. h. als Pixelmatrix) dargestellt werden (siehe Pratt 2001). • Inhalte nicht-digitaler Tonträger werden auf analoge Weise digitalisiert (siehe Mazzola et al. 2018). Überspitztes Fazit: „Alles“ ist digital (und sogar binär) beschreibbar!
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3 Vernetzung Die Liste von Geräten, die heutzutage in einem weltweiten Maßstab miteinander vernetzt sind, ist lang. Sie umfasst zum Beispiel Großrechner, Personal Computer, Smartphones, Bordcomputer eines Automobils, Satelliten, und sie ließe sich lange fortsetzen. Zwei zentrale Bausteine in diesem Szenario sind das Internet und das World Wide Web (WWW). Wir skizzieren im Folgenden grob ihre Entstehungsgeschichte.9 Dies geschieht nur tabellarisch und in groben Zügen, wobei wir einige Protagonisten (Institutionen, Firmen, Personen) benennen. Unsere Aufzählung ist in keiner Weise vollständig. Es ist vielmehr anzunehmen, dass wir wichtige Ereignisse und Protagonisten unterschlagen haben. Unsere Entschuldigung für diese Unterlassungen lautet: Wir verfolgen lediglich das bescheidene Ziel, an ein paar exemplarisch herausgegriffenen Meilensteinen zu illustrieren, wie sich die Welt in wenigen Jahrzehnten fundamental gewandelt hat. Wenn dabei Begriffe auftauchen (wie ARPANET, Protokollformate, etc.), die für Nicht-Insider unverständlich sind, so sollten diese einfach überlesen werden. Die Leserin und der Leser, die an diesen Stellen Lücken lassen, werden dennoch ein Gefühl für die Dynamik bekommen, mit welcher sich der Prozess der Vernetzung vollzogen hat.
Übersicht
Phase 1: Entstehung des Internets. 1962
J.C.R. Licklider wechselt vom US-Rüstungslieferanten BBN zur Advanced Research Projects Agency (ARPA)
1960er
• grundlegende Entwicklungen wie zum Beispiel paketbasierte Nachrichtenübermittlung • Entstehung des ARPANET
1969 Verbindung zwischen 4 Großrechnern Kalifornien und Utah 1972 40 miteinander verbundene Großrechner
9 siehe
an
Unis
in
Brandt (2012), Hilbert und López (2011), Hoefflinger (2017), Lashinsky (2012), Leiner et al. (2009), Lowenstein (2004) Naughton (2000), Pastor-Satorras und Vespignani (2004), Smith (1994) und Vise und Malseed (2008).
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
1972–1975 E ntwicklung diverser Protokollformate zur Punkt-zu-Punkt Kommunikation (FTP, TCP) Phase 2: Entstehung des WWW. ab Ende der 1970er zunehmender Wechsel von militärischer zu akademischer Förderung 1980er Tim Berners-Lee’s Vision eines freien und offenen Netzes: Er entwickelt die „Hypertext Markup Language“ (HTML) und eine Webseiten-Adressierungsmethode (heute URL genannt) 1990 • Abschaltung des ARPANET • Entwicklung des ersten Webservers (Tim Berners-Lee) Phase 3: Siegeszug des WWW. 1991
600.000 Host-Rechner angeschlossen
1993
• 1.300.000 Rechner angeschlossen aber nur 1 % der weltweiten Telekommunikation via Internet • Al Gore’s „National Information Infrastructure (NII)“ Agenda als Startschuss zur kommerziellen Erschließung und massenhaften Nutzung des Internet
• Gründung des WWW-Consortiums mit Tim Berners-Lee als Direktor • Gründung von „Amazon“ (Jeff Bezos) 1994
1995
• Microsoft’s Internet Explorer • Larry Page’s „Page-Rank-Verfahren“ (Algorithmus der Suchmaschine „Google“)
1997 Börsengang von Amazon 1998 Gründung von „Google Inc.“ (Larry Page und Sergey Brin) bis 2000: Entstehung der .com-Blase
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2000: • 51 % der weltweiten Telekommunikation via Internet • Platzen der .com-Blase, Börsencrash 2004 • Börsengang von Google • Gründung von „Facebook Inc.“ (Mark Zuckerberg) 2007 • Apple’s iPhone (vorgestellt von Steve Jobs) • 97 % der weltweiten Kommunikation via Internet 2012 Börsengang von Facebook 2014 „Facebook“ kauft „What’s App“ 2016 Turing-Award10 an Tim Berners Lee (als Gründer des WWW) heute über 3,5 Mrd. Nutzer des Internets11
4 Algorithmen In Abschn. 4.1 befassen wir uns mit dem Begriff „Algorithmus“ und deuten an, wie er mithilfe eines geeigneten Maschinenmodells sauber definiert werden könnte. Für unsere Zwecke wird ein intuitives Verständnis dieses Begriffes ausreichen. Für genauere und weitergehende Erörterungen kann ein beliebiges Standardwerk der Berechenbarkeitstheorie konsultiert werden.12 In Abschn. 4.2 gehen wir auf den Begriff der „Effizienz“ ein und liefern ein paar Beispiele für effizient lösbare Probleme. Wichtige Techniken zum Design effizienter Verfahren werden in Abschn. 4.3 besprochen. Darüberhinausgehende Informationen lassen sich einem beliebigen Standardwerk über Datenstrukturen und effiziente Algorithmen entnehmen.13 In Abschn. 4.4 schließlich gehen wir kurz auf Einsatzfelder für maschinelles Lernen ein sowie auf moderne „Lernmaschinen“ wie zum Beispiel die „Support Vector Machine“ oder die „Deep Neural Networks“. Wir lehnen uns in unserer 10 Höchste
Auszeichnung für Forscherinnen und Forscher auf dem Gebiet der Informatik, benannt nach dem Forscher Alan Turing (1912–1954), gilt manchen als gleichrangig zum Nobel-Preis. 11 https://de.statista.com/themen/42/internet/ (Stand: 13.09.2019). 12 siehe zum Beispiel Abschn. 2 in Schöning (2000). 13 siehe zum Beispiel Cormen et al. (2009).
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
11
Darstellung an einführende Abschnitte des Buches (Shalev-Shwartz und BenDavid 2014) an, welches wir auch zur Vertiefung dieses Themas wärmstens empfehlen können.
4.1 Zum Begriff des Algorithmus Zum Ursprung des Wortes „Algorithmus“ zitieren wir den betreffenden Eintrag in Wikipedia14: „The word ‚algorithm‘ has its roots in Latinizing the name of Muhammad ibn Musa al-Khwarizmi in a first step to algorismus. Al-Khwārizmī ([…] c. 780–850) was a Persian mathematician, astronomer, geographer, and scholar in the House of Wisdom in Baghdad, whose name means ‚the native of Khwarazm‘, a region that was part of Greater Iran and is now in Uzbekistan.“
Wir verstehen im Folgenden unter einem „Algorithmus“ die eindeutige Spezifikation eines Rechenverfahrens zum Lösen eines (Rechen-)Problems mit einer Maschine. Bereits in der Schule macht man Bekanntschaft mit Algorithmen. Ein paar Beispiele: • Lösen einer quadratischen Gleichung (Stichwort: quadratische Ergänzung) • Lösen eines linearen Gleichungssystems (Stichwort: Gauß’sches Eliminationsverfahren) • Kurvendiskussion (Stichwort: Anwendung der Ableitungsregeln) Zentral am Begriff des Algorithmus ist, dass er sich problemlos Schritt für Schritt ausführen lässt (wie beim Kochen nach einem Rezept). Dabei ist weder Kreativität noch Intelligenz erforderlich und man könnte daher die Ausführung des Rechenverfahrens einer programmierbaren Maschine übertragen. Um den Begriff des „Algorithmus“ zu präzisieren benötigt man eine klare Definition einer „programmierbaren Maschine“. Zudem sollte diese Maschine „universell“ sein in dem Sinn, dass jedes Rechenverfahren, das „kochrezeptartig“ ausführbar ist, auch auf der betreffenden Maschine ablaufen kann. Bereits in den 1930’ern (vor der Erfindung des Computers!) machten sich Mathematiker
14 https://en.wikipedia.org/wiki/Algorithm
(Zugegriffen: 22.08.2019).
12
H. U. Simon und C. Ries
bzw. Logiker (wie zum Beispiel Alan Turing) Gedanken über eine geeignete mathematische Definition der „universellen Maschine“. Turing’s Vorschlag ist heutzutage (ihm zu Ehren) unter dem Namen Turing-Maschine bekannt. Es gab eine ganze Reihe von weiteren Vorschlägen, die sich aber alle als gleichwertig zur Turing-Maschine erwiesen haben. Es wird daher angenommen, dass die TuringMaschine (wie auch jedes dazu äquivalente Modell) eine passende Definition für das Konzept eines universellen Rechners darstellt.
4.2 Effizient lösbare Rechenprobleme Rechenprobleme, die zwar prinzipiell algorithmisch gelöst werden können, aber eine absurd große Rechenzeit zu ihrer Lösung beanspruchen, sind in einem praktischen Sinn unlösbar. Ein effizient lösbares Rechenproblem ist eines, das algorithmisch in einer „akzeptablen“ Rechenzeit gelöst werden kann.15 Kurioserweise sind die Rechenprobleme, die für alle denkbaren Eingabedaten effizient gelöst werden können, eher selten. Wir nennen ein paar wichtige Beispiele: • Kürzeste-Pfade Probleme: Gegeben ein Netzwerk N, finde für alle Knotenpaare u, v aus N einen möglichst kurzen Weg von u nach v. • Flussproblem in Transportnetzwerken: Gegeben ein Netzwerk N mit zwei ausgezeichneten Knoten s, t, berechne einen größtmöglichen Fluss von s nach t unter Einhaltung des Erhaltungsgesetzes und der Kapazitätsrestriktionen. • Matching-Probleme: Gegeben eine Verträglichkeitsrelation zwischen Personen, bilde eine möglichst große Anzahl von verträglichen Zweierteams, wobei jede Person maximal einem Zweierteam angehören darf. • Lineare Optimierung bzw. konvexe Optimierung: Finde eine billigste Lösung bezüglich einer linearen (konvexen) Kostenfunktion unter Einhaltung von linearen Randbedingungen.
15 In
der Berechenbarkeitstheorie wird genau definiert, was „akzeptabel“ bedeutet. Hierauf können wir aber in diesem Beitrag nicht eingehen.
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
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Für die meisten in der Praxis auftretenden Rechenprobleme existieren keine Algorithmen, die alle denkbaren Eingabedaten effizient verarbeiten. Die Kunst besteht dann darin, den Algorithmus für die in der konkreten Anwendung vorkommenden Eingabedaten effizient zu gestalten.
4.3 Mächtige Techniken zum Design effizienter Algorithmen Wir besprechen im Folgenden drei wichtige Techniken zum Design von Algorithmen bzw. Programmen: • Rekursive Algorithmen („Teile und herrsche“) • Dynamische Programmierung • Gierige Algorithmen Die Technik „Teile und herrsche“ vollzieht sich in zwei Phasen. In Phase 1 wird ein Problem wiederholt in Teilprobleme vom selben Typ zerlegt und zwar solange, bis die Problemgröße so klein geworden ist, dass eine Lösung leicht hergestellt werden kann. In Phase 2 werden die Lösungen für die Teilprobleme kombiniert zu einer Lösung für das Gesamtproblem. Die Pointe dabei ist, dass das Aufteilen eines Problems in Teilprobleme sowie das Kombinieren von Teillösungen immer demselben Strickmuster folgt. Daher muss man sich als Algorithmen-Designer nur um eine Aufteilung kümmern (die in Form einer rekursiven Prozedur beschrieben werden kann). Das wiederholte Anwenden des Strickmusters (bis die Teilprobleme hinreichend klein geworden sind) kann automatisiert (also einem Computer überlassen) werden. Da diese Technik sehr mächtig ist, illustrieren wir sie an einem Beispielproblem. Das Problem namens „Türme von Hanoi“. Es gibt drei Stellplätze (nummeriert mit 1, 2, 3) für n kreisrunde Scheiben verschiedener Größen.16 Anfangs befinden sich alle Scheiben nach Größe geordnet (größere weiter unten) auf Stellplatz 1. Sie sollen in mehreren Spielzügen auf den Stellplatz 3 gelangen. Stellplatz 2 dient dabei als Puffer. In jedem Spielzug darf die oberste Scheibe von
16 Das
klassische Problem sowie weitere Varianten sind in Hinz et al. (2018) zu finden.
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einem der drei Stellplätze zuoberst auf einen anderen Stellplatz bewegt werden. Dabei ist es jedoch verboten, eine größere auf eine kleinere Scheibe zu legen. Die rekursive Lösung dieses Problems. Ein Problem der Größe17 n = 1 ist leicht lösbar: bewege die (einzige) Scheibe von Stellplatz 1 auf Stellplatz 3. Wir nehmen nun an, dass n größer als 1 ist. Das Problem kann dann in drei Teilprobleme des gleichen Typs zerlegt werden: 1. Transferiere die obersten n – 1 Scheiben von Stellplatz 1 (in mehreren Spielzügen) nach Stellplatz 2, wobei Stellplatz 3 als Puffer dient (ein Teilproblem der Größe n – 1). 2. Lege die auf Stellplatz 1 verbliebene größte Scheibe auf Stellplatz 3 (ein Teilproblem der trivialen Größe 1). 3. Transferiere die n – 1 Scheiben von Stellplatz 2 (in mehreren Spielzügen) nach Stellplatz 3, wobei Stellplatz 1 als Puffer dient (ein Teilproblem der Größe n – 1). Beachte, dass alle Teilprobleme vom gleichen Typ sind.18 Das bedeutet, dass jedes der in Phase 1 und 3 auftretenden Teilprobleme der Größe n – 1 automatisch nach dem gleichen Strickmuster in noch kleinere Teilprobleme zerlegt wird (usw.). Man spricht von einer „rekursiven Anwendung“ des Verfahrens. Aus dieser Rekursion steigt man erst aus, wenn die Problemgröße auf 1 geschrumpft ist. Für n = 3 Scheiben liefert die beschriebene Vorgehensweise folgende Aktionen: 1. Erster rekursiver Aufruf: 2 Scheiben von 1 nach 2 mit 3 als Puffer: a) Kleinste Scheibe von 1 nach 3. b) Mittlere Scheibe von 1 nach 2. c) Kleinste Scheibe von 3 nach 2. 2. Größte Scheibe von 1 nach 3. 3. Zweiter rekursiver Aufruf: 2 Scheiben von 2 nach 3 mit 1 als Puffer: a) Kleinste Scheibe von 2 nach 1. b) Mittlere Scheibe von 2 nach 3. c) Kleinste Scheibe von 1 nach 3.
17 Problemgröße = Anzahl 18 Lediglich
der Scheiben. die Rollenverteilung für Start-Stellplatz, Ziel-Stellplatz und Puffer ändert sich.
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
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„Teile und herrsche“ ist ein sogenannter „top-down“ Ansatz: man beginnt mit einem großen Problem, das iterativ in Teilprobleme zerlegt wird. Im Unterschied dazu ist dynamische Programmierung ein „bottom-up“ Ansatz: man löst alle Teilprobleme beginnend bei den kleinsten und fortschreitend auf Größere. Dabei werden die Lösungen zu den Teilproblemen in einer Tabelle festgehalten. Das hat den Vorteil, dass dasselbe Teilproblem nur einmal gelöst werden muss, selbst wenn seine Lösung mehrfach benötigt wird: im Wiederholungsfall entnimmt man die Lösung einfach der Tabelle. Wir können im Rahmen dieses Beitrages nicht detaillierter auf dynamisches Programmieren eingehen. Ein gieriger Algorithmus (englisch: greedy algorithm) löst ein Optimierungsproblem, indem er in jedem Schritt von allen möglichen Optionen diejenige wählt, welche im Moment mit den geringsten Kosten verbunden ist. Es gibt Probleme (zum Beispiel „Graphenfärbung“), bei denen eine gierige Strategie zu miserablen Ergebnissen führen kann. Bei anderen Problemen ist sie optimal. Hierzu ein Beispiel: Gegeben ein zusammenhängendes Netzwerk N mit Knoten u1, …, un und Kanten (=Punkt-zu-Punkt Kanälen) e1, …, em sowie Kantenkosten c1, …, cm, finde eine billigste Auswahl X der Kanten, sodass X eine kreislose Verbindung (genannt „Spannbaum“) zwischen allen n Knoten herstellt. Methode (Algorithmus von Kruskal): • X sei anfangs leer. • Inspiziere die Kanten in der Reihenfolge wachsender Kosten (die billigste zuerst). • Nimm eine aktuell inspizierte Kante genau dann in X auf, wenn X danach immer noch kreislos ist. Die gierige Strategie äußert sich hier darin, dass die billigsten Kanten zuerst inspiziert und, wann immer kreisfrei möglich, in den Spannbaum integriert werden. Es lässt sich zeigen, dass der resultierende Spannbaum die kleinstmöglichen Kosten aufweist.
4.4 Algorithmen und maschinelles Lernen Programme, die Go oder Schach spielen oder automatische Bilderkennung betreiben, beruhen in der Regel auf Algorithmen zum maschinellen Lernen. Allerdings wird der Algorithmus für ein Schach spielendes Programm nicht
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unmittelbar vorschreiben, wie bei einer bestimmten Spielstellung der nächste Zug auszusehen hat. Vielmehr wird er steuern, wie auf Basis von Erfahrung (zum Beispiel auf Basis von bereits getätigten Schachpartien) die Spielstrategie zu verfeinern ist (beispielsweise durch eine veränderte Bewertung von Schachstellungen). Es folgen ein paar typische Einsatzfelder für maschinelles Lernen: • Spiele spielen (Schach, Go, …) • Auto fahren • Sprechen und Sprache verstehen • Bilderkennung • Wetter- oder Klimadaten auswerten • Schlüsse aus der Kenntnis des menschlichen Genoms ziehen • Resultate von Internet-Suchmaschinen auswerten • Erkennung handgeschriebener Texte • Spracherkennung • Spam-Filter. Warum wird maschinelles Lernen überhaupt eingesetzt, anstatt direkt einen Algorithmus für das zu lösende Problem zu entwerfen? Die Antwort lautet: selbst, wenn wir als Mensch das Problem (wie zum Beispiel Auto fahren, sprechen, Sprache verstehen, Bilder erkennen etc.) ohne Weiteres lösen können, reicht unsere Fähigkeit zur Introspektion nicht aus, um unsere Lösungsstrategie mit algorithmischer Genauigkeit zu beschreiben. Einfach ausgedrückt: wir können Auto fahren und Bilder erkennen (ohne „Intelligenzbestien“ zu sein), aber wir haben keinen „blassen Dunst“ wie wir das eigentlich machen. Es gibt aber noch weitere Gründe, die maschinelles Lernen wünschenswert erscheinen lassen: Auswertung von Massendaten: Der DNA-String des menschlichen Genoms ist so lang, dass ein Biologe ihn nicht in akzeptabler Zeit durchlesen (geschweige denn Schlüsse daraus ziehen) könnte. Eine analoge Bemerkung gilt für Wetterund Klimadaten. Hier sind Computer (mit ihren superschnellen Prozessoren) dem Menschen gegenüber im Vorteil. Wunsch nach Adaptivität: Ein lernendes Programm, etwa zur Spam- oder Spracherkennung, kann sich an Änderungen (etwa: neuer Sprecher, neue Formen von Spam) anpassen. Würden die entsprechenden Erkennungsalgorithmen das Problem unmittelbar lösen (also ohne den Umweg über das Lernen aus Erfahrung), dann wären die Algorithmen rigide und könnten sich nicht an eine neue Situation anpassen.
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
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Ein weiteres typisches Einsatzfeld für maschinelles Lernen ist automatische Klassifikation von Daten. Wir nennen wieder ein paar typische Beispiele: • Sind vorliegende medizinische Messdaten „auffällig“? • Liegt bei vorliegenden finanziellen Transaktionen ein Verdacht auf „Geldwäsche“ (oder einen anderen kriminellen Hintergrund) vor? • Deuten vorliegende seismographische Daten auf einen drohenden „Tsunami“ hin? • Zu welcher Kategorie (wie „Politik“, „Sport“, „Feuilleton“ etc.) gehört ein vorliegender Text? Wir können (wegen der Komplexität der Materie) in diesem Beitrag nicht näher auf Designmethoden für Lernalgorithmen eingehen. Wir wollen jedoch zwei wichtige Techniken zumindest kurz nennen: „Support Vector Machine (SVM)“: Es handelt sich um einen von Vladimir Vapnik (1998) in den 1990’ern entwickelten Ansatz19, der mathematisch überaus elegant ist. Im Kern der SVM werden konvexe Optimierungsprobleme gelöst. Ein (i.A. nicht-konvexes) Lernproblem wird dabei mithilfe einer geeigneten Merkmalsabbildung (englisch: feature map) auf ein konvexes Rechenproblem reduziert. „Deep Learning“: Es handelt sich um einen Ansatz des Lernens mit mehrschichtigen künstlichen neuronalen Netzen.20 Zum Lernen mit diesen Netzwerken muss ein hochdimensionales nicht-konvexes Optimierungsproblem mit extrem vielen lokalen Minima gelöst werden. Dieser Ansatz ist daher theoretisch schwer zu ergründen.21 Ab Mitte der 1990’er schienen SVM-basierte (und dazu verwandte) Ansätze für längere Zeit den neuronalen Netzwerken überlegen zu sein. In den letzten sieben bis acht Jahren jedoch erzielten Deep Neural Networks bahnbrechende Ergebnisse (insbesondere bei Sprach- und Bildverarbeitung und bei Zugriff auf große Trainingsdatenmengen). Im März 2019 erhielten die Forscher Yoshua Bengio, Geoffrey Hinton and Yann LeCun für ihre Beiträge zum Deep Learning den Turing-Award.
19 der
eine Weiterentwicklung der frühen Arbeiten von Vapnik und Chervonenkis (Vapnik und Chervonenkis 1971, On the uniform convergence of relative frequencies of events to their probabilities. Theory of Probability & its Applications) darstellt. 20 Ein künstliches neuronales Netz ist ein mathematisches Modell für miteinander verschaltete Nervenzellen. 21 Einen Einstieg in das Thema Deep Learning bietet Skansi (2018).
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5 Schlussbemerkungen Wir haben in den zurückliegenden Abschnitten skizziert, • wie Daten (auch analoge) digitalisiert und einem Rechner zugänglich gemacht werden können, • wie die zunehmende Vernetzung von Computern und anderen Geräten die Welt in den letzten Jahrzehnten radikal verändert hat • und wie Algorithmen, welche raschen Zugriff auf große Datenbestände in aller Welt besitzen, zur Datenverarbeitung bis hin zum maschinellen Lernen genutzt werden können. Die Absicht der Autoren dieses Artikels war es, Nicht-Insidern ein Gefühl für das Zusammenwirken der Faktoren Digitalisierung, Vernetzung und Algorithmik, sowie einen kleinen Einblick in die algorithmische Denkweise zu geben. Weiterführende Literatur. Es ist zu vermuten, dass die jüngsten Fortschritte auf dem Gebiet der maschinellen Lernverfahren (insbesondere in Bezug auf „Deep Learning“) zu signifikanten gesellschaftlichen Veränderungen führen werden. Wer sich mit den Implikationen dieser Entwicklung auseinandersetzen möchte, der bzw. dem empfehlen wir das Buch von Julian Nida-Rümelin und Nathalie Weidenfeld mit dem Titel Digitaler Humanismus (eine Ethik für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz), erschienen im Piper Verlag (Nida-Rümelin und Weidenfeld 2018). Die algorithmische Denkweise, die sich im Rahmen der Berechenbarkeitsund Komplexitätstheorie entwickelt hat, gewinnt zunehmend an Einfluss auch auf andere Disziplinen, wie zum Beispiel Neurowissenschaften, molekulare Biologie, Quantenphysik sowie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Den an diesem Prozess interessierten Leserinnen und Lesern sei das Buch von Avi Widgerson mit dem Titel Mathematics and Computation empfohlen, das beim Verlag Princeton University Press erschienen ist (Widgerson, Mathematics and computation, 2019).22
22 Ein
Manuskript des Autors zu diesem Thema ist als ECCC-Report (Widgerson 2018) erhältlich – https://eccc.weizmann.ac.il/report/2018/072/ (Zugegriffen: 22.08.2019).
Digitalität, Vernetzung und Algorithmen
19
Literatur Brandt, R. 2012. One Click – Jeff Bezos and the Rise of Amazon.com. London: Penguin. Brin, S., und L. Page. 1998. The Anatomy of a Large-Scale Hypertextual Web Search Engine. Computer Netzworks Vol. 20 (1–17): 107–117. Cormen, T., C. Leierson, R. Rivest und C. Stein. 2009. Introduction to Algorithms. Cambridge: MIT Press. Graw, J. 2010. Genetik. Wiesbaden: Springer VS. Hilbert, M. und P. López. 2011. The World’s Technological Capacity to Store, Communicate, and Compute Information. Science 332 (6025): 60–65. Hinz, A., S. Klavžar, und C. Petr. 2018. The Tower of Haboi – Myths and Maths. Basel: Birkhäuser Basel. Hoefflinger, M. 2017. Becoming Facebook – The 10 Challenges That Defined the Company That’s Disrupting the World. New York: HarperCollins Leadership. Keuper, F., K. Hamidian, E. Verwaayen, T. Kalinowski, und C. Kraijo. 2013. Digitalisierung und Innovation – Planung – Entstehung – Entwicklungsperspektiven. Wiesbaden: Springer Gabler. Lashinsky, A. 2012. Inside Apple – The Secrets Behind the Past and Future Success of Steve Jobs’s Iconic Brand. London: John Murray. Leiner, B., V. Cerf, D. Clark, R. Kahn, L. Kleinrock, D. Lynch, J. B. Postel, L. Roberts, und S. Wolff. 2009. A Brief History of the Internet. ACM SIGCOMM Computer Communication Review 39 (5): 22–31. Lowenstein, R. 2004. Origins of the Crash – The Great Bubble and Its Undoing. London: Penguin Books. Mazzola, G., Y. Pang, W. Heinze, K. Gkoudina, G. A. Pujakusuma, J. Grunklee, Z. Chen, T. Hu, und Y. Ma. 2018. Basic Music Technology – An Introduction. Wiesbaden: Springer. Mori, S., H. Nishida, und H. Yamada. 1999. Optical Character Recognition. Hoboken: John Wiley & Sons. Moser, S. 2012. A Student’s Guide to Coding and Information Theory. Cambridge: Cambridge University Press. Naughton, J. 2000. A Brief History of the Future – Origins of the Internet. Phoenix: W&N. Nida-Rümelin, J., und N. Weidenfeld. 2018. Digitaler Humanismus – eine Ethik für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz. München: Piper. Page, L., S. Brin, R. Motwani, und T. Winograd. 1999. ThePageRank Citation Ranking – Bringing Order to the Web. Stanford InfoLab. http://ilpubs.stanford.edu:8090/422/. Zugegriffen: 22.06.2021. Pastor-Satorras, R./ und A. Vespignani. 2004. Evolution and Structure of the Internet – A Statistical Physics Approach. Cambridge: Cambridge University Press. Pratt, W. 2001. Digital Image Processing – PIKS Inside. Hoboken: John Wiley & Sons. Schöning, U. 2000. Theoretische Informatik – kurzgefasst. Heidelberg: Spektrum. Shalev-Shwartz, S., und S. Ben-David. 2014. Understanding Machine Learning – From Theory to Algorithms. Cambridge: Cambridge University Press. Skansi, S. 2018. Introduction to Deep Learning – From Logical Calculus to Artificial Intelligence. Springer. Smith, M. 1994. The Information Superhighway – Status and Issues. CRS Report 94–954 SPR.
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Vapnik, V. 1998. Statistical Learning Theory. John Wiley & Sons. Vapnik, V., und Chervonenkis, A. 1971. On the Uniform Convergence of Relative Frequencies of Events to Their Probabilities. Theory of Probability & its Applications 16 (2): 264–280. Vise, D., und Malseed, M. 2008. The Google Story (2018 updated Edition) – Inside the Hottest Business, Media, and Technology Success of Our Time. Bantam. Widgerson, A. 2018. On the Nature of the Theory of Computation. ECCC Report No. 72. Widgerson, A. (To appear). Mathematics and Computation.
Digitalisierung aus kulturanalytischer Sicht. Forschungszugänge für die empirische Bildungsforschung Gertraud Koch
Zusammenfassung
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist Digitalisierung ein Alltagsphänomen, das sich in allen Lebenszusammenhängen einschreibt und so auch in formellen und informellen Bildungszusammenhängen Bedeutung gewinnt. Nach einer begrifflichen Klärung, skizziert der Beitrag drei idealtypische Perspektiven – symbolisch, materiell und praxisbezogen, aus denen Digitalisierung kulturanalytisch untersucht werden kann. Hierzu werden jeweils relevante Theorien ergänzt, die für die Entwicklung von Forschungszugängen aufgegriffen werden können. Schlüsselwörter
Diskurse · Materialität · Praxis · Forschungszugänge · Kulturanalyse
1 Einleitung In der Frage welcher Art der Strukturwandel ist, der durch und mit der Digitalisierung angeregt wird, gehen die Einschätzungen weit auseinander. Während die einen annehmen, dass es sich um eine neue Kulturtechnik und einen epochalen Einschnitt handelt, der weitreichende Veränderungen in allen Lebensbereichen mit sich bringt (Coy 2008; Krämer 2018), sehen andere das G. Koch (*) Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_2
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Digitale nur als eine Etappe in der Technologieentwicklung, die nicht nur Teil des menschlichen Handlungsrepertoires, sondern auch ein wesentliches Charakteristikum moderner Gesellschaften ist. So unterschiedlich die Einschätzungen zur Bedeutung der Digitalisierung im Hinblick auf ihre strukturverändernde Wirkung auch sein mögen und so schwierig es ist, prognostisch Zukunft vorauszusagen, so ist die Durchdringung des Alltags mit digitalen Anwendungen doch mehr als offensichtlich. Diese wirkt seit längerem auch intensiv auf das Bildungsgeschehen in formalen und informellen Bildungszusammenhängen ein. Es ist insofern unumgänglich, sich mit den daraus resultierenden Fragen wie beispielsweise altersgemäße Nutzungsszenarien für digitale Medien zu befassen, um Digitalisierung für die Gestaltung von Bildungsansätzen angemessen aufgreifen zu können. Der folgende Beitrag will zu einer solchen Neuvermessung von Bildungszusammenhängen in digital-durchdrungenen Lebenswelten beitragen, indem er Digitalisierung als ein sozio-kulturelles Phänomen betrachtet, also ausleuchtet, wie die Technologieentwicklung eingebettet und verschränkt ist mit sozialen und kulturellen Dimensionen und im Zusammenhang gegenwärtiger Lebensweisen erforscht werden kann. Für die Digitalisierung wie für die Technologien insgesamt gilt, dass Menschen den Umgang damit von Kindesbeinen an einüben; Technik ist aus dem Lebensalltag nicht wegzudenken, sondern konstituiert und ermöglicht die heutigen Lebensweisen in ihrer Form (Bausinger 2005 [1961], 2001). Das Funktionieren des Alltags basiert auf vielen Technologien sowie dazugehörigen Infrastrukturen, die im Laufe der Jahrhunderte aus unterschiedlichen Motivationen heraus entwickelt, aufgebaut und erhalten wurden: Wasser und Energieversorgung, Transport und Mobilitätsinfrastrukturen, Industrie- und Produktionsinfrastrukturen und weitere mehr gestalten die Umwelten, die heutige Lebensweisen ermöglichen. Es sind dabei nicht nur ökonomische und machtpolitische Kalküle, die zur Entwicklung von Technologien führen (Kaschuba 2004; Williams 1992 [1972]) sondern komplexe soziokulturelle Situationen ihrer Herstellung und ihrer Nutzung (Beck 1997; Koch 2006). In deren Betrachtung ist insofern besonders interessant, wie soziale, kulturelle und technologische Entwicklungen ineinandergreifen. Für ein solches, relational angelegtes Verständnis von Technisierungsphänomenen in verschiedenen Lebensbereichen haben in den vergangenen Jahrzehnten besonders die internationalen, interdisziplinären Forschungsfelder der Science and Technology Studies (STS) sowie die Wissensanthropologie wichtige theoretische Konzepte erarbeitet. Dabei sind unterschiedliche Einsichten über das technische Handeln des Menschen gewachsen, von denen im hier diskutierten Zusammenhang insbesondere die folgenden aufgegriffen werden sollen (Beck et al. 2012). Im Folgenden werden diese grundlegenden Perspektiven auf das technische
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Handeln des Menschen fruchtbar gemacht für die Betrachtung und Analyse der Digitalisierung in Bildungszusammenhängen. Der Beitrag tut dies, indem er zunächst eine begriffliche Klärung vornimmt und bestimmt, um welches technische Phänomen es geht, also was mit Digitalisierung genau bezeichnet ist. Davon ausgehend kann gefasst werden, was die Gegenstände der wissenschaftlichen Untersuchung sind und welche Phänomene geeignet sind, um Erkenntnisse über die sozialen und kulturellen Veränderungen durch die Digitalisierung zu gewinnen. Die Identifizierung von geeigneten Untersuchungsgegenständen und Fragen sind wiederum Voraussetzung dafür, dass die Komplexität des Alltags bzw. der jeweiligen Bildungssituationen auf diejenigen Ausschnitte, Aspekte und Ansatzpunkte reduziert werden kann, anhand derer man die soziokulturellen Veränderungen und Konsequenzen der Digitalisierung auf einen für die Forschung handhabbarem Umfang bringen und so für die empirische Analyse zugänglich machen kann. Hierfür können die in den STS und der Wissensanthropologie bereits gewonnenen Erkenntnisse über den Menschen als technisch handelndes Wesen mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Weltgestaltung fruchtbar gemacht werden. Es werden folglich das symbolisch deutende, materiell entwerfende und praktisch gestaltende Handeln als Modi der Weltgestaltung durch den Menschen skizziert, die grundsätzlich als Zugänge für die empirische Kulturanalyse und somit auch für die Erforschung der Digitalisierung in alltags- und bildungsweltlichen Zusammenhängen aufgegriffen werden können. Ausgehend von der Erfahrung, dass die Digitalisierung schon wirkmächtig in vielen gesellschaftlichen Bereichen als Entwicklung präsent ist und weiter Raum greift, werden Veränderungen skizziert, die sich übergreifend in verschiedenen Bereichen zeigen und sich als grundlegendere soziale und kulturelle Entwicklungen abzeichnen.
2 Was ist Digitalisierung? Die Digitalisierung ist in aller Munde, weil sie gegenwärtig viele Lebens- und Arbeitsbereiche in besonderer Weise herausfordert. Was derzeit unter dem Begriff des Digitalen subsummiert wird, sind dabei höchst unterschiedliche Phänomene, die sich im weitesten Sinne auf die Computerisierung von verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen beziehen und zwar in durchgängig allen Lebens- und Arbeitsbereichen, von den Privathaushalten über die Landwirtschaft bis hin zu Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung. Was genau damit bezeichnet ist, wenn von Digitalisierung die Rede ist, vermögen aber nur die wenigsten zu sagen. Vielmehr hat sich die Bezeichnung überall dort eingebürgert,
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wo von Computerisierung und informations- und kommunikationstechnologischen Innovationen die Rede ist. Ohne die Dynamiken der Digitalisierung in Abrede zu stellen oder die Rede und Sprechweisen über diese abzuwerten, ist Digitalisierung wohl im Sinne von Uwe Pörksen ein Plastikwort (Pörksen 2010); demnach ist das wissenschaftlich-theoretische Konzept, das eigentlich hinter dem Begriff Digitalisierung steht, im Alltagsgebrauch nicht bekannt und im aktuellen öffentlichen Reden bis zur Unkenntlichkeit verschwommen. Dementsprechend beginnt der Beitrag mit einer begrifflichen Definition des Digitalen, einem Blick zurück, wie sich der Begriff über wissenschaftliche Diskurs bis hin in die Alltagssprache etabliert hat, um auf der Basis einen kulturwissenschaftliches Verständnis des Konzepts zu erarbeiten, das im Folgenden dann den weiteren Beitrag leitet.
2.1 Definition des Digitalen Im Kontext der Informatik bezeichnet die wissenschaftliche Definition des Digitalen einen einfachen Sachverhalt. Digital bezeichnet ein finites, also begrenztes Set an diskreten Zeichen derselben Sorte. Diskret bedeutet hier, dass die Zeichen klar und eindeutig abgegrenzt werden können gegenüber anderen Zeichen und damit unabhängig und für sich in dem jeweiligen Zeichensystem stehen. Das Digitale bezeichnet insofern Zeichensysteme, die aus feststehenden Werten bestehen, und das über Zahlenwerte hinaus. Auch Alphabete sind im Sinne der Definition ein digitales System an Werten, die hier in Form von Buchstaben vorliegen (Ernst 2004). Das Digitale war insofern schon vor dem Computer in der Welt., Als Opposition dazu wird vielfach das Analoge angesehen, weil hier die Werte eben nicht diskret und unabhängig voneinander bestimmt werden können, sondern ineinander übergehen, so wie wir das von allen Formen von Wellen, ob Schall-, Funk- oder Wasserwellen, kennen. Die Sonnenuhr ist ein vielfach zitiertes Beispiel, an dem die unterschiedlichen Prinzipien von analog und digital deutlich werden und zugleich auch das Zusammenwirken von beidem beobachtet werden kann. Während die Sonne in einer kontinuierlichen Bewegung am Himmel entsprechende (analoge) Schattenläufe produziert, setzt ein Ziffernblatt, über das der Schatten läuft, entsprechende diskrete (digitale) Zahlenwerte für die Uhrzeit fest. Digitales und Analoges sind wie in derSonnenuhr oft miteinander verknüpft. Mit der genauen Definition der Digitalisierung vor Augen stellen sich viele Fragen neu. Sie rückt den Fokus auf die besonderen Eigenschaften und Merkmale des Computers als technologische, infrastrukturelle Basis für den Umgang mit Information und Kommunikation. Solche materiellen Grundlagen
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sind für die kulturanalytische Forschung interessant, weil diese einen Rahmen für das Handeln abstecken, das in Schulräumen und an allen Orte stattfindet, in denen Computertechnologien eingesetzt werden. Mit diesem Umstieg ändern sich die Grundlagen für die Übertragung, Verarbeitung und Speicherung von Informationen von den kontinuierlich gesendeten, analogen Signalwellen hin zu den diskreten, klar abgrenzbaren, digitalen Werten. Anders als die analogen Wellen sind die diskreten Zeichen eindeutig bestimmbar, präzise übertragbar, können in Pakete zerlegt und wieder zusammengesetzt werden und sind nicht nur einfacher speicher-, kopier- und sendbar, sondern können auch konvertiert werden in andere Datei- und Medienformate. Anders als analoge Audio- und Videoformate auf Zelluloid als Trägermaterial kann die digitale Bearbeitung gleich in den vorliegenden Dateien vorgenommen werden, die Vervielfältigung ist kein mühsamer, materialintensiver Übertragungs- und Kopierprozess mehr, sondern erfolgt copy-paste mit identischen Abbildungen, und alle Medien für Bild, Ton und Text können in ein einziges Format, das Digitale übertragen und so miteinander konvergent werden. Mit der Digitalisierung wird ein neues Konzept in der Informations- und Medientechnologie wirksam; das ist das Konzept der Daten, den eindeutig bestimmbaren Werten als Basis für die Berechnung, die Algorithmen. Daten bilden insofern eine Grundeinheit und einen Rahmen, in dem Kommunikation und Handeln in digitalisierten Lebenswelten möglich wird. Handeln im Alltag wird zunehmend ein Handeln mit Daten.
2.2 Verbreitung des „Digitalen“ Die Verbreitung des Digitalen geschieht seit langem im Zuge der Computerisierung, auch wenn dabei zunächst nicht von Digitalisierung die Rede war. Diese wird massenwirksam spätestens mit der Einführung des Personal Computers in den 1980er Jahren aber parallel dazu auch durch die Nachrüstung und Weiterentwicklung vieler Technologien und Infrastrukturen mit den erweiterten Möglichkeiten des Computers, also etwa durch die Implementierung von Computersteuerungen in Alltagsgeräten wie Waschmaschinen und Autos oder in Infrastrukturen wie Verkehr, Elektrizität, Wasserversorgung usw. Lange wird dabei nicht von Digitalisierung gesprochen, weder in der Fachwelt noch in der Öffentlichkeit; diese Perspektive stellt sich erst allmählich ein. Um ein grobe Einschätzung von der Verbreitung des Digitalen als Begriff zu bekommen, ohne eine aufwendige Analyse des Diskurses zu erstellen, ist ein Blick in die Buchpublikationen zu diesem Thema hilfreich. Über Google Books und den hier integrierten „Ngram Viewer“ kann man sich ein Bild von der Entwicklung für die hier erfassten Bücher machen, also ins-
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besondere Wissenschafts- und populärwissenschaftliche Titel. Auch wenn es sich um einen Ausschnitt der tatsächlich verfügbaren Bücher und damit eine unvollständige Datenbasis handelt, lassen sich damit doch Tendenzen in der Verbreitung des Begriffs absehen. Zumal man von einer allmählichen Diffusion von Grundlagenentwicklungen und den damit zusammenhängenden wissenschaftlichen Diskussionen in Alltagszusammenhänge ausgehen darf, die sich mit einer gewissen Verzögerung einstellen. Es würde zu weit führen, die näheren Details der computerlinguistischen, statistikbasierten Methode der Ngram Analyse zu erläutern, und es mag an dieser Stelle genügen, dass diese zur Bestimmung der Häufigkeit bzw. Relevanz von bestimmten Begriffen in Texten herangezogen wird.1 Die Abbildung der Ngram Abfrage zum Begriff „digital“ dokumentiert eindrücklich, wie der Begriff ausgehend von den 1950er Jahren mehr und mehr verwendet wird und kurz nach der Jahrtausendwende einen Höhepunkt erlebt. Interessanter in dem hier zur Diskussion stehenden Zusammenhang ist die genauere Betrachtung der Bücher, auf welche sich die Ngram-Analyse bezieht. Man kann deren Titel ansehen, wenn man den Links zu den in der unteren Zeile angezeigten Zeiträumen folgt. Es gibt eine Reihe an Büchern, die den Begriff schon weit vor den 1960er Jahren benutzen, in denen die intensive Befassung mit der technologische Entwicklung in verschiedenen Disziplinen, wie der Elektrotechnik, Physik und der sich allmählich formierende Informatik, beginnt.2 Die meisten der ganz früheren Werke haben einen medizin-anatomischen Hintergrund und verwenden digital im Sinne des lateinischen Begriffs digitus, der Finger oder aber sind digitalen Editionen mit Notenblättern aus den 1950ern oder davor zugeordnet. Lässt man diese nicht maßgeblichen Titel außer Acht, so zeigt sich in der Tat, dass die Bücher ab den 1960er Jahren überwiegend mit informationstechnischem Hintergrund geschrieben sind und sich mit Technologieentwicklung befassen, wie analoge Signale in digitale Signale transformiert werden können. Dies verändert sich, wenn wir uns der Jahrtausendwende nähern. Hier werden neben den informationstechnischen Büchern zur Grundlagenforschung zunehmend Titel publiziert, welche sich mit der Anwendung der Digitalisierung für verschiedene Medientypen und -formate befassen, wobei Audio-Anwendungen eine Vorreiter-
1 Weitere
Informationen zur datengeleiteten Diskurs-Analyse finden sich in Bubenhofer et al. (2013). 2 Der Internetforscher Viktor Mayer-Schönberger der Universität Oxford zusammen mit dem Journalist Kenneth Cukier datieren die Grundideen der Informationsrevolution und des Digitalen Zeitalters auf die 1960er Jahre (Mayer-Schönberger und Cukier 2014).
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Google Books Ngram Analyse zu »digital«, Stand 22.9.2022. (Quelle: [https://books. google.com/ngrams/graph?content=digital&year_start=1800&year_end=2019&corpus=en2019&smoothing=3] (Abruf am 22.09.2022))
funktion zu haben scheinen. Der starke Anstieg im Graphen zur Jahrtausendwende hin wird dabei von einer weiteren Entwicklung getrieben. Zunehmend wird Digitales im Kontext seiner Implementierung in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern wie etwa der Bildung verwendet, zunehmend verbunden mit problematisierenden Diskussionen zu Überwachung und Jugendschutz. Ebenfalls aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass in der Scientific Community der Informatik die Digitalisierung eher ein Nebenschauplatz der technologischen Entwicklung ist. In dem Berliner Forschungsprojekt „Zur Sozialgeschichte der Informatik“, das in den 1990er Jahren unter Beteiligung von Informatikern, Techniksoziologen, -historikern, -psychologen und -philosophen mit Einbindung des prominenten US-amerikanischen KI-Forschers der ersten Stunde Joseph Weizenbaum durchgeführt wurde, war Digitalisierung kein Thema. Der Fokus lag auf der Berechenbarkeit, den Algorithmen als Arbeitsprinzip des Computers (Heintz 1993; Koch 2006). Vor diesem Hintergrund in Verbindung mit den Hinweisen zur Verbreitung des Begriffs Digitalisierung auf Basis des NGram-Viewers, lässt sich so die Hypothese formulieren, dass die Digitalisierung von Medientechnologien, Rundfunk, Fernsehen, Fotografie, Film, usw. eine ganz wesentliche Rolle auch für die Popularisierung des Begriffs Digitalisierung spielte. In diesem Medienwandel, der sich ausgehend von den 1990er Jahren voll-
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zog, wird die Computerisierung wohl am deutlichsten für die Menschen erfahrbar, weil die Geräte durch neue ersetzt werden müssen: der Röhrenfernseher mit Dachantenne weicht dem flachen HDTV-Gerät mit Kabelanschluss oder Satellitenschüssel, das Radio kann über den Computer oder das Smartphone abgespielt werden, welches inzwischen ohnehin das gesamte Spektrum an Text-, Audio- und Bildmedien in sich vereint. Andere Geräte, wie etwa das Faxgerät, der Kassetten- und Videorekorder und andere mehr werden ganz obsolet. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die öffentliche Diskussion zusammen mit diesem Medienwandel und der Verbreitung des Internets immer weiter Fahrt aufnimmt. Insgesamt ergibt sich so in den öffentlichen Diskursen ein höchst disparates Bild der Digitalisierung und den vermuteten Effekten.3 Für die kulturanalytische Erforschung der Digitalisierung ist an dieser Stelle die große Bedeutung der Diskurse interessant, die die Einführung der Technologie begleiten, die unabhängig von den technischen Grundlagen mit einem breiten Spektrum an unterschiedlichen Deutungen zur Verbreitung und Verfestigung des sozialen Phänomens „Digitalisiserung“ beitragen.
2.3 Der Doppelcharakter digitaler Technologien Diese enge Verschränkung der öffentlichen Debatten über die Digitalisierung mit der Umstellung von Medientechnologien und -infrastrukturen auf digitale Übertragungswege verweist auf einen anderen Zusammenhang der kulturanalytisch relevant ist. Das ist der Doppelcharakter des Computers als Maschine und als Medium, also als informationsverarbeitende, rechnende „Maschine“ einerseits und als „Medium“ zur Übertragung von Informationen andererseits (Schelhowe 1997). Eine technikanthropologische Perspektive auf die Digitalisierung braucht insofern eine medienanthropologische Ergänzung. Die Notwendigkeit einer dualistischen Perspektive erschließt sich auch aus der oben bereits dargestellten Veränderung der Medieninfrastrukturen, die sich auch in der Zunahme von Informationen in digitalen Medienformaten zeigt. Während im Jahr 2000 nur ein Viertel der gespeicherten Informationen weltweit in digitalen Formaten vorlagen und der Rest auf Papier, Film, Vinyl, Magnetbändern, Micro-fiche usw. gespeichert war, hat sich das Verhältnis im Jahr 2013 radikal verkehrt. Nur
3 Verschiedene
Sozial- und Kulturtheoretiker bereits von „Postdigitalität“ sprechen, um die Selbstverständlichkeit des Digitalen als Equipment im Alltag zu betonen, s. http://postdigital-culture.org/. Zugegriffen: 19. April 2020.
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zwei Prozent der Informationen liegen noch in nicht-digitalen Formaten vor, wobei die geschätzte Größe an digital gespeicherten Informationen auf 1200 Exabytes geschätzt wird. Zur Illustrierung dieser abstrakten Zahl, führen MayerSchönberger und Cukier an, dass diese in gedruckter Form als Bücher etwa die gesamte Oberfläche der Vereinigten Staaten mit 52 Schichten übereinander bedecken würden (Mayer-Schönberger und Cukier 2014, S. 9). Auch wenn die Digitalisierung von Medien keine totale ist und sein kann angesichts der Vielfalt an menschlichen Kommunikations- und kulturellen Ausdrucksweisen, so ist diese angesichts der starken und weiter zunehmende Verbreitung doch eine ausgesprochen wirkmächtige Einflussgröße geworden. Wie wirkmächtig ein solcher medientechnologischer Wandel sein kann, wird kulturgeschichtlich am Buchdruck und der damit einhergehende Verbreitung von Wissen sichtbar, die auch mit dem Begriff des Gutenberg-Zeitalters unter Würdigung seines Erfinders bezeichnet wird (Giesecke 2007). Mit den digitalen Medien und den daraus erwachsenden neuen Formen der Herstellung, Speicherung, Übertragung und Zirkulation von Informationen greifen hier nun offensichtlich neue Prinzipien (Briggs und Burke 2009). Die damit einhergehenden sozialen und kulturellen Veränderungen sind von heute aus nicht vollständig abzuschätzen, zumal wissenschaftlich seriös allenfalls die nahen Zukünfte in den Blick genommen werden können (Ong und Collier 2005; Rabinow 2011). Andererseits geschehen solche Veränderungen auch nicht „naturwüchsig“, sondern steht im Kontext von gesellschaftlichen Entwicklungen und Aushandlungsprozessen, beruhen auf Wahrnehmungs- und Deutungsweisen sowie Entscheidungen, Interessen und Aushandlungsprozesse. So lassen sich aus gegenwärtiger Sicht einige Tendenzen und Entwicklungsperspektiven identifizieren, deren Persistenz sich aber teilweise noch erweisen muss: die Konvergenz der verschiedenen Medien, die neue Bedingungen und Möglichkeiten für die Darstellung, Verbreitung, und Speicherung von Informationen, die Augmentierung und Virtualisierung von Lebenswelten sowie Veränderungen von Privatheit und Öffentlichkeit oder dem Verlust von Anonymität. Für die empirisch-kulturanalytische Erforschung der Digitalisierung ist ein Verständnis dieses Medienwandels besonders wichtig, weil Kulturelles sich zwischen Menschen konstituiert und somit erst in seiner Vermittlung wirklich und auch für die Forschung greifbar wird. Dementsprechend nehmen Medien eine prominente Rolle in der Vermittlung von Kulturellem ein, weil diese kulturellen Wissensbestände repräsentieren, archivieren, und verbreiten. In welchen Medien, auf welche Weise bestehendes Wissen dargestellt, vermittelt und verbreitet werden kann, wer Zugang zu diesem Wissen hat, welche Sinne und Erfahrungsweisen in der medialen Vermittlung angesprochen werden und wie Wissen in langfristiger Perspektive gespeichert
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und weitergegeben werden kann, eröffnet wichtige Zugänge für die Analyse von kulturellen Wissensbeständen und damit verschränkten sozialen Verhältnissen. Die Anthropologie des Medialen ist eine wichtige Dimension in der Kulturanalyse des Digitalen (Barth 2002; Faßler 2005, 2008; Koch 2015a, b), weil medientechnologische Neuerungen als Re-mediation kultureller Ausdrucksmöglichkeiten zu verstehen sind und entsprechend soziale Folgen haben (Bolter und Grusin 2000; Lievrouw und Livingstone 2010).
2.4 Zwischenfazit: Zum Begriff der Digitalisierung aus empirisch-kulturanalytischer Sicht Die Frage danach, was die Digitalisierung eigentlich ist, kann zum einen mit einem Blick auf die allgemeine wissenschaftliche Definition von „digital“ und das spezifische Verständnis in der Informatik beantwortet werden. Das begrenzte Set an diskreten Werten gleicher Sorte als allgemeine Definition und die binäre Logik von null und eins in dem informatischen Verständnis von digital, verweisen auf die materielle Bedingtheit wie auch Gestaltungsmöglichkeit von Lebenswelten über Infrastrukturen und Technologien. Entsprechend hat die empirische Kulturanalyse mit der Materialität einen wichtigen Ansatzpunkt. Diese Definition des Digitalen hat allerdings wenig mit der Verwendung des Begriffs in der Alltagsdiskussion zu tun. Hier zeigen sich höchst disparate Verständnisse und diskursive Aushandlungen, insbesondere in den 1990er Jahren. Diese Diskurse stehen im Kontext der Umstellung der Massenmedien und den dazugehörigen Infrastrukturen auf digitale Sende- und Speicherformate sowie den damit einhergehenden Alltagserfahrungen, wie der Anschaffung neuer, digitaler Geräte und dem Verschwinden anderer Geräte aus den Lebenswelten. Der Doppelcharakter digitaler Technologien als Informationsverarbeitung einerseits und Medium/Medieninfrastruktur andererseits verdeutlichen die Relevanz der Digitalisierung für kulturelle Veränderungsprozesse, weil damit neue Praktiken der Repräsentation, Verbreitung und Archivierung von (kulturellem) Wissen und der Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen entstehen. Diese Remediation bringt neue Möglichkeiten der Weltgestaltung in Alltags- und Bildungszusammenhängen mit sich.
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3 Drei Weisen die Welt und die Bildung digital zu gestalten – empirisch-kulturanalytische Forschungszugänge Die strukturierende Wirkung der Digitalisierung auf unsere Alltage erwächst nicht aus der entstehenden Technologie selbst, sondern im Zuge der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, die die Genese, Implementierung und Anwendung von neuen Technologien begleiten (Gibbons et al. 1994). Die entstehenden Strukturen sind nicht durch die digitale Technologie schon von vornherein gesetzt, sondern bilden sich erst im Zuge von Prozessen des technischen Entwerfens und Gestaltens, durch Vorstellungen ihrer Anwendbarkeit, gesellschaftlichen Interessen an der Entstehung dieser Technologie und auch kulturellen Bildern und Imaginationen ihrer Nützlichkeit heraus, welche in die Leitlinien und Prämissen von Technologieentwicklungen einfließen (Koch 2006). Die Schaffung immer neuer Werkzeuge und Technologien gehört dabei quasi zum Standardrepertoire des Menschen als erfinderischem und seine Umwelt gestaltendem Wesen (Kingdon 1997). Seine Einwirkung auf die Welt vollzieht sich dabei in unterschiedlicher Weise. In Anlehnung an die philosophischen Betrachtungen von Heidegger spricht die internationale, kulturanthropologische Forschung von „worlding“ (Palmer und Hunter 2019).4 Die Einwirkungen des Menschen auf die Welt ist nicht mit unbegrenzter Gestaltungskraft gleichzusetzen ist, sondern ist auch von Ausprobieren geprägt, das im Hinblick auf gesetzte Ziele aber auch nicht intendierte Folgen stattfindet und mit der „Eigenlogik“ von sozialen, kulturellen, biologischen und physikalischen Zusammenhängen experimentiert. Weil Neuerungen aus den jeweiligen inneren Entwicklungslogiken und im Zusammentreffen der verschiedenen Logiken hervorgehen, wird von Emergenz und Ko-evolution der verschiedenen Systeme gesprochen (Kingdon 1997).
4 Heidegger
spricht von „welten“, also die Welt machen als eine permanente Aktivität, die menschlichem Handeln eigen ist. Der englische Begriff „worlding“ greift dies auf. Auch wenn mit „welten“ ein deutscher Begriff vorliegt, ist dieser grammatikalisch so ungewöhnlich, dass hier auf seine Verwendung im Weiteren verzichtet wird. Anders ist dies in der englischen Sprache, die Substantive durch die Ergänzung der „-ing“-Form ganz selbstverständlich in Verben umwandelt und damit die Prozesshaftigkeit und das Tätigsein betont. Entsprechend wird hier auf die englische Variante des Begriffs zurückgegriffen, auch weil damit ein Anschluss an internationale Diskurse begrifflich verdeutlicht wird. Zum Begriff „Worlding“ siehe Roy und Ong (2011, S. 11–13).
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Der Strukturwandel, der durch die Digitalisierung oder andere Technologien angestoßen wird, formiert sich nicht systematisch nach einem vorgefertigten Masterplan, sondern in Assemblages5 (Ong und Collier 2005), geht also hervor aus dem Zusammenwirken von solchen verschiedenen, oft widersprüchlichen Logiken sowie Praktiken, Sichtweisen, Interessen und Handlungsmöglichkeiten von Wissenschaft, Technikentwicklung, Wirtschaft, Politik, Verwaltung, zivilgesellschaftlichen Gruppen, die in einem konkreten Anwendungsbereich wie der Bildung aufeinandertreffen. In diesen Aushandlungsprozessen in Form von Diskursen, institutionellen und demokratischen Entscheidungsprozessen, konkreten Verwendungsweisen auch technischen Entwicklungspfaden und Normierungen etc. „verfestigen“ oder „materialisieren“ sich nach und nach gesellschaftlich etablierte Umgangsweisen, Standards der technischen Ausstattungen sowie Einschätzungen zur Bedeutung einer Technologie. Für die Digitalisierung sind die Assemblages, in denen sich die gesellschaftliche Implementierung der Technologie in unterschiedlichen Anwendungsbereichen konstituiert, noch hoch flexibel, aber doch in vielen Bereichen bereits deutlich konturiert. Die Formierung der Assemblages vollzieht sich übergreifend über verschiedene Ebenen: auf Mikroebene im alltäglichen Bildungsgeschehen, auf Mesoebene der organisationalen und institutionellen Entscheidungen über digitale Entwicklungsbedarfe und Arrangements zur Gestaltung von Bildungsansätzen sowie auf der Makroebene der gesamtgesellschaftlichen Rahmung der Digitalisierung durch Gesetze und Politiken sowie auch den internationalen Verflechtungen formeller und informeller Art (Ong und Collier 2005). Obwohl die Digitalisierung als ein globales Phänomen wirkt, ist bei aller Internationalität der Technologieentwicklung die Situiertheit von Wissen und Handeln in spezifischen sozialen und kulturellen Zusammenhängen ein wesentliches Prinzip. Dies führt dazu, dass sich das Digitale einerseits unverändert global verbreitet, also unabänderlich in seiner grundlegenden Operationsweise auf der Basis der diskreten Werte null und eins arbeitet, egal auf welchem Kontinent der Computer steht. Andererseits unterscheidet sich die konkrete Nutzung in den einzelnen Ländern sowie auch deren spezifische Anwendungskontexte, je nachdem welche Aspekte der Technologie hier bevorzugt auf-
5 Der
Beitrag verwendet auch hier die englisch-sprachige Fassung des Begriffes „Assemblage“, der gegenüber dem Französischen zu unterscheiden ist, weil es sich hier um die Übersetzung des französischen Begriffs agencement, wie er in den Originaltexten zu diesem neuen Konzept gesellschaftlicher Veränderungsprozesse verwendet wird (Landa 2016).
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gegriffen und damit wirksam werden (Latour 1987; Haraway 2007). Dies gilt gleichermaßen für die Ausprägungen des Digitalen in unterschiedlichen Anwendungsbereichen. Es ist somit davon auszugehen, dass es nicht eine einzige für den jeweiligen Anwendungsbereich spezifische Implementierung gibt, sondern dass diese vielgesichtig in verschiedenen Ausprägungen erfolgt. Dabei ist die Entwicklung digitaler Technologie selbst noch dynamisch, nicht zuletzt auch aufgrund der Begegnung digitaler Anwendungen mit den Anforderungen aus den spezifischen Anwendungskontexten. Sie wird aufgrund der hier besthehenden Erwartungen immer wieder herausgefordert, so dass u. U. auch neue Entwicklungslinien angestoßen werden. In dieser Phase der Technologieentwicklung bzw. -implementierung geht es für Anwendungskontexte und damit auch in der Bildung wesentlich darum, die eigenen fachspezifischen Anforderungen auszuloten, also bewährtes Arbeitswissen, kognitive Wissensbestände, Handlungsprämissen und die bestehenden infrastrukturellen bzw. materiellen Arbeitszusammenhänge in Relation zu den neuen technologisch erzeugten Möglichkeiten und Rahmenbedingungen zu setzen. Die in solchen Prozessen eingeschlagenen Entwicklungspfade beruhenweniger auf technologischen Sachzwängen als auf sozial hergstellten Schließungsprozessen. Die Umbruchsituationen, die sich in kleinerem oder größerem Umfang im Zusammenhang von Einführungs- und Gestaltungsprozessen digital unterstützter Bildungsszenarien einstellen, sind insofern in besonderer Weise als Ansatzpunkte für die kulturanalytische Forschung geeignet. Hier treffen zwangsläufig alte Strukturlogiken auf die neue Technologie, die disruptiv wirkt und eine Neuausrichtung erfordert. Da sich in dieser Situation neue Strukturen ko-konstituieren und auch die Prinzipien und Mechanismen der Formierung noch in Aushandlung sind, ist für deren Erforschung ein sozialtheoretisches Konzept sinvoll, das der Fluidität dieser sozialen Situation Rechnung trägt, indem es offen nach den strukturbildenden Praktiken, Diskursen, Akteuren, technologischen Infrastrukturen sowie ethisch-moralischen Verhandlungen fragt (Collier und Lakoff 2005). Die Formierung des Neuen in Assemblages mit unterschiedlichen Elementen und mehr oder minder starken Tendenzen der Verfestigung, sind dabei ein Grundkonzept, in welchem unterschiedliche Gestaltungsweisen der Welt aufgegriffen und ausgehandelt werden. Grundsätzlich zur Verfügung stehende Möglichkeiten zum „Worlding“ mit digitalen Technologien sind dabei: a) symbolisch-deutend durch die Konstruktion von sozialen Ordnungen und Wissensordnungen, die im Sinne einer symbolischen Sinnwelt den relevanten Dingen in der Welt einen Platz geben und ihre Relation zueinander bestimmten;
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b) durch die materiellen Veränderungen der (Um-)Welt durch die Bewirtschaftung von Rohstoffen, Errichtung von Bauten und Infrastrukturen und anderem mehr zur Gestaltung der Lebensbedingungen, sowie. c) mittels des praktischen Handelns in sozialen und natürlichen Umwelten, die sich vielfach erst durch die praktischen Lebensvollzüge realisieren, also im Zuge des Handelns als solche hergestellt werden. Diese drei Möglichkeiten der Weltgestaltung sind nie unabhängig voneinander, sondern ineinander verwoben. Durch die Unterscheidung werden sie zu möglichen Ausgangspunkten für die Kulturanalyse, die dabei relational argumentiert, Wechselwirkungen und Bezüge zu den jeweils anderen beiden Dimensionen der Weltgestaltung mitberücksichtigt. Die drei Modi des „Worlding“ werden im Folgenden in einzelnen Unterkapiteln vorgestellt. Sie stehen generell zur Verfügung, um in der Welt wirksam zu werden. Sie werden zusammen mit den Forschungszugängen und Methodologien skizziert, mit denen sie für empirische Kulturanalysen operationalisiert werden können.
3.1 Symbolisch-deutend: Diskurse zur Digitalisierung in der Bildung Die soziale Konstruktion von Wirklichkeit durch die Erschaffung von Deutungshorizonten und Sinnsystemen prägt das menschliche Zusammenleben, welches damit die anthropologischen Verläufe von der Geburt bis zum Tod mit allen biographischen Entwicklungen zwischen Kindheit, Übergang in das Erwachsenenleben, Zusammenleben der Geschlechter, Eltern- und Verwandtschaft auch Sozialisation, Bildung und Arbeit ordnen, dabei die soziale Organisation dieser Lebensstationen institutionalisieren und mit Sinn versehen (Berger und Luckmann 2000 [1969]). Die Fähigkeit zu symbolisch-deutendem Handeln ist eine wichtige Eigenschaft des Menschen, der damit die Vergemeinschaftung in Gruppen organisiert, auf die er angewiesen ist. Dabei beschränkt sich die symbolisch-deutende Konstruktion von Wirklichkeit keinesfalls auf die soziale Organisation, sondern wird auch auf die belebte und unbelebte Natur sowie den Kosmos ausgedehnt. Die Weltbilder und Deutungsgewebe, die so entstehen und innerhalb von Gruppen und Gemeinschaften mehr oder minder geteilt werden, prägen das Wahrnehmen, Handeln und Fühlen in der Welt; sie werden in der Kindheit in primärer und sekundärer Sozialisation erworben. Zeitweise kann davon ausgegangen werden, dass diese Deutungsgewebe als wichtige strukturgebende Mechanismen fungieren, aus denen sich soziales Handeln speist (Geertz
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1964); die symbolischen Deutungen stehen dabei nicht alleine in ihrer strukturgebenden Funktion sondern sind durch materialistische und praxeologische Perspektiven relativiert und ergänzt worden. Die symbolisch-deutende Weltgestaltung ermöglicht die Vielfalt an Eindrücken und Handlungsoptionen im Alltag einzuordnen und mit Prioritäten zu versehen. Die Wissensordnungen, die sich durch symbolisch-deutende Weltvollzüge herausbilden, formieren sich wesentlich über Diskurse, in denen gesellschaftliche, mit unterschiedlichen Machtpotentialen ausgestattete Akteure ihre Weltsichten und Deutungen aushandeln, dabei soziale Tatsachen schaffen, die im Weiteren dann das Handeln orientieren. Die Diskurstheorie spricht von einer Materialisierung der Diskurse in Regularien, Gesetzen, Institutionen, neue Handlungsweisen bzw. gesellschaftliche Praktiken sowie der Schaffung von entsprechenden Räumen, wie etwa „Gefängnissen“ und „Irrenanstalten“, in denen all jene verwahrt werden, die von der gesellschaftlich konstruierten Ordnung bzw. Norm abweichen (Foucault 1995). Wenn Neuerungen wie die Digitalisierung aufkommen und in gesellschaftlichen Bereichen wie der Bildung aufgegriffen werden, so stellt sich in besonderer Weise die Frage, wie diese in bestehende Wissensordnungen, also in welche Deutungs- und Sinnzusammenhänge sie gestellt werden und welcher Stellenwert ihnen dort zugeschrieben wird. Es ist ein offener Prozess, inwieweit auch die Wissensordnungen selbst dabei Veränderungen erfahren, ihr Repertoire gesellschaftlicher Verständnisse und Wirklichkeitshorizonte erweitern oder auch revidieren. Dabei können Technologieentwicklungen wie die Digitalisierung an kulturell etablierte Muster der Technikdeutung anknüpfen, etwa das Versprechen von medizinischem Fortschritt, die Verlängerung des menschlichen Lebens, die Erleichterung und Entlastung von Arbeit, ein am Wohl des Menschen orientierter Fortschritt sowie die Erhaltung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und des Wohlstands. Das Anknüpfen an diese etablierten Technikdeutungen entlastet häufig von dem Nachweis der Wirksamkeit einer konkreten Technologie. Es sind oft gerade die evokativen, visionären Deutungen, die an Sehnsüchten, Paradoxien und eigentlich unveränderlichen Tatsachen wie dem Tod rühren, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Fördermittel mobilisieren. Das Ungreifbare, die suggestiven Berichte und Imaginationen, die in unterschiedlichen Diskursarenen generiert werden, sind so auch im Kontext der Digitalisierung wichtige Triebfedern für ihre gesellschaftliche Implementierung (Willim 2016). Die Bedeutung von Imaginativen arbeiten Bolter und Grusin (2000) in kulturgeschichtlicher Perspektive auch im Hinblick auf Medientechnologien heraus. Die enorme Vielfalt an Medienentwicklungen im Laufe der Menschheitsgeschichte insbesondere im 20. Jahrhundert sehen sie im Kontext einer Sehnsucht nach Unmittelbarkeit in der Kommunikation auch über lange Distanzen hinweg zu einer stetigen
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Optimierung von Medientechnologien im Hinblick auf Echtzeitübertragungen und möglichst „authentischen“ Wahrnehmungsweisen, die durch das zwischengeschaltete Medium wenig unterbrochen werden. Aber auch die nationalstaatlichen Entwicklungen mit den damit einhergehenden Kommunikations- und Steuerungserfordernissen der Bevölkerung in Flächenstaaten sind als Entstehungszusammenhang von digitalen Medientechnologien nicht von der Hand zu weisen (Williams 1992 [1972]). Diskurse zur Digitalisierung und deren Einbettung in Wissensordnungen sind bisher noch wenigerforscht, weder für übergreifende gesellschaftliche Diskussionen noch für die Verknüpfung und Implementierung in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen wie der Bildung (für eine Analyse des Diskurses über Digitalität und Pädagogik und die Frage, inwiefern Diskursives in Lernsoftware eingeschrieben ist, siehe Macgilchrist in diesem Band). Forschungszugänge, die für die empirische Kulturanalyse von Sinn- und Deutungszusammenhängen der Digitalisierung und die Veränderung von Wissensordnungen aufgrund der Einführung neuer Technologien im Bildungsbereich geeignet sind, sind die Diskursanalyse und -ethnografie. Anhand von diesen Forschungsstrategien lassen sich die Phänomenkonstruktion, die relevanten Diskursarenen, die mit unterschiedlicher Deutungsmacht ausgestatteten Diskursakteure, die unterschiedlichen Diskurspositionen und auch die fehlenden Stimmen im Diskurs rekonstruieren (Keller 2011). Es können so die zur Verhandlung stehenden alternativen Deutungsangebote des Digitalen offengelegt werden, auch dominante, machtvolle Sprecherpositionen und Implementierungsstrategien identifiziert und Tendenzen für die sich entwickelnde Wissensordnung festgestellt werden. Das Herausarbeiten von Diskurspositionen ist geeignet, Metabetrachtungen anzustoßen und kritisch-reflexive Perspektiven auf das Digitalisierungsgeschehen in der Bildung einzubringen. Erkenntnisleitend können hier wissensanthropologischen Konzepte herangezogen werden, wie Wissen in die Welt kommt und handlungsleitend wird.
3.2 Materiell-gestaltend: digitale Geräte, Infrastrukturen und Räume Das materiell-gestaltende Konstruieren und (Be-)Bauen der Welt ist eine weitere der menschlichen Kapazitäten, die in einer Welt voller Technologien und Infrastrukturen mehr als offensichtlich in ihrer gestaltenden Wirkung wird, indem sie die materiellen Lebensbedingungen immer wieder verändert und an menschliche Bedürfnisse anpasst. Auch die Digitalisierung stellt eine solche materielle
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Gestaltung der Umwelt dar, die sich in digitalen Medieninfrastrukturen und -geräten in den Haushalten, an den Arbeitsplätzen und in Bildungsumgebungen zeigt, und dabei die Qualität dieser Umwelten neu konfiguriert. Die Idee, die digitalen Medien seien virtuelle Technologien, wurde früh in dem Nachdenken über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung kritisiert und damit die Aufmerksamkeit auf die technischen Voraussetzungen der Virtualisierung von Erfahrung gelenkt. Damit wurde auch ein Verständnis von Virtualisierung angeregt, welches die Wirksamkeit der erdachten Konzepte, fiktiven Geschichten und virtuellen Erfahrungen auf das Erleben des Menschen betont und damit deren spezifischen Funktionen und Bedeutungen für die Ausformung der Alltagswirklichkeit betont (Boellstorff 2012). Mit den digitalen Technologien entstehen neue mediale Möglichkeiten auch für das Erdenken, Entwerfen und Erfinden von virtuellen Erfahrungen durch Simulationen, Computerspiele, dreidimensionale virtuelle Räume, Visualisierungstools und andere Computerprogramme. Sie machen neue „virtuelles“ Erleben in Computerspielen oder Simulationen auf spezifische Weise möglich und schaffen so gänzlich neue Bilder und damit auch Zugänge zur Welt, die ohne diese digitalen Medientechnologien nie entstanden wären, wie etwa Satellitenbilder der Erde aus dem All, Aufnahmen ins All durch Teleskopie oder auch Ultraschallbilder des Körpers und anderes mehr. Es stehen damit medientechnologisch erweiterte Wahrnehmungsweisen der Welt zur Verfügung, die über das leibliche Sein in der Welt hinausgehen, so wie es die Phänomenologie beschrieben hat und insofern post-phänomenologischer Perspektiven bedürfen, die berücksichtigen, wie Technologien neue Sichtweisen der Welt schaffen, indem sie zwischen die Welt und die Wahrnehmung treten (Verbeek 2001; Ihde 2002). Darüber hinaus geschehen durch die Digitalisierung weitere Neuerungen in der materiellen Welt, die nicht immer unmittelbar sichtbar sind und über die bekannten Perspektiven hinausgehen. Üblicherweise denkt man bei digitaler Kommunikation an die massenmediale und die zwischenmenschliche Kommunikation, zunehmend findet aber auch Kommunikation direkt zwischen Geräten, von Maschine zu Maschine, statt. Diese mit „Internet of things“ bezeichnete Entwicklung wird insbesondere in der Warenlogistik, aber auch zur Meldung von Ankunftszeiten von Bussen und Bahnen auf Anzeigetafeln an den jeweiligen Haltestellen oder von Autounfällen direkt an Rettungskräfte und Werkstätten und anderen Bereichen mehr auch genutzt. Mehr oder minder unbeobachtet werden Räume so informationell durchdrungen und zu sogenannten „smart spaces“, in denen Informationsströme stattfinden, ohne dass diese direkt wahrgenommen werden, aber doch die spezifische Qualität der Räume in ihren Nutzungsweisen verändern. Räume werden dabei so zu Mixed Realities, in
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denen digitale, virtuell-erzeugte und physikalische Räume miteinander überlagert und verschränkt werden. Ein Beispiel hierfür ist die Laufplattform „Alsterrunning“, welche an unauffällig im Stadtraum verteilten Messpunkten rund um die Hamburger Außenalster die Laufroute und -zeiten von Jogger*innen registriert, die einen entsprechenden RFID-Chip am Laufschuh angebracht haben. Die Informationen werden dann weiter auf eine Internetplattform geleitet, wo sie visualisiert und mit anderen Läufer*innen vergleichbar werden. Die digitale Ausstattung des Naherholungsraums an der Alster trägt so zu dem Trend digitaler Selbstvermessung bei, der sich ausgehend von den angelsächsischen Ländern verbreitet (Lupton 2016). Während es eine individuelle Entscheidung der Jogger*innen ist, ob sie sich mit einem solchen Chip am Schuh hinsichtlich ihres Bewegungsprofils vermessbar machen, wird das in anderen Szenarien von „smart spaces“ nicht unbedingt der Entscheidung der Nutzer*innen überlassen, wie die verschiedenen Anwendungen von Internetplattformen zeigen. In großer Vielfalt, auch über Smartphone-Applikationen, findet so eine informationelle Anreicherung von Räumen statt, die so zu Augmented Realities werden. Menschen in diesen Räumen haben je nach digitaler App dann unterschiedlichen Informationen und Raumeindrücke. Auch der Zutritt zu Räumen wird bereits digital über QR-Codes etwa an Flughäfen und Bahnhöfen (Graham 2005) und andere Zugangsberechtigungen gesteuert, wie den sogenannten CovPass, eine App auf dem Handy zum Nachweis des Impfstatus. Es ist so notwendig, ein neues Verständnis der Materialität von Räumen zu entwickeln, die zunehmend weniger eine geteilte Wirklichkeit für die Menschen in ihnen bereithalten, weil diese permanent und nicht unbedingt für alle sichtbar mit von außen zugespielten Informationen angereichert und überlagert werden. Räume konstituieren sich mehr und mehr aus digitalen Informationsströmen, die hier ankommen, sie überlagen und neu konfigurieren. Die Augmentierung von Räumen wird auch für Bildungszusammenhänge nutzbar gemacht, wie verschiedene Apps aus dem Museumsbereich oder auch der Umwelterziehung zeigen.6 Für die empirische Kulturanalyse der sozio-materiellen Veränderung von Bildungsräumen durch die Digitalisierung stehen unterschiedliche Zugänge wie die Ethnography of Infrastructure (Bowker und Star 2004), die Medienarchäologie (Huhtamo und Parikka 2011) und in der neueren Entwicklung auch der Digital Materialism (Parikka 2012) als Perspektiven zur Verfügung. Diese untersuchen mit
6 Siehe hierzu beispielsweise: https://www.jungfrau-klimaguide.ch/index.php/de/. Zugegriffen: 19. April 2020.
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jeweils unterschiedlichen Akzentuierungen die technologischen Entwicklungen als sozial und kulturell hervorgebrachte, kulturgeschichtlich verortete Phänomene. Menschen, Technik und Umwelt werden dabei relational gedacht. In erkenntnistheoretischer Hinsicht kann die Postphänomenologie (Ihde 2002) solche Studien leiten und damit zu dem Verständnis beitragen, wie medientechnologische Entwicklungen die Wahrnehmung der Welt neu konfigurieren und dabei neue Sichtweisen auf diese mit konstituieren. Aber auch die sozialkonstruktivistischen Ansätze, wie sie in der relationalen Anthropologie entwickelt wurden (Haraway 2007; Latour 2002), sind geeignet, entsprechende Erkenntnisinteressen anzuleiten und zu orientieren.
3.3 Praktisch-handelnd: Umgang mit digitalen Technologien und Datenpraktiken Die praktisch-handelnde Aneignung und Gestaltung von Welt ist der dritte Modus des Weltzugangs, der auch für die Analyse der Digitalisierung in Bildungszusammenhängen aufgegriffen werden kann. Das Handeln mit Dingen und Technologien ist eines der wesentlichen Merkmale der praktischen Lebensvollzüge in einer Welt, die durch Konsum und eine nie dagewesene Fülle an Dingen geprägt ist. Praktisches Handeln weist dabei über die eigentlichen Tätigkeiten hinaus, hat vielmehr gesellschaftliche und sozialstrukturelle Dimensionen, wie Pierre Bourdieu in seiner Theorie der Praxis gerade auch für Bildungszusammenhänge aufgezeigt hat (Bourdieu und Steinrücke 2017). Die Fähigkeiten, kompetent mit digitalen Technologien umzugehen oder gar diese selbst durch Programmierung herzustellen und zu gestalten, stehen hoch im Kurs. In der Bourdieu’schen Lesart von Kapitalien kann somit davon ausgegangen werden, dass digitales Wissen als durch Bildung erworbenes kulturelles Kapital gut in ökonomisches und soziales Kapital umgewandelt werden kann. Vor allem Experten mit entsprechender Ausbildung sind mit diesem digitalen Kapital ausgestattet, während die überwiegende Zahl der Menschen als Anwender deren Nutzungspotenziale sondieren und angesichts der anhaltend Innovationsdynamik Schwierigkeiten haben, Schritt zu halten.7 Es sind insofern die jeweiligen Praxisfelder mit ihren spezifischen Logiken, die handlungsleitend für die Aneignungsformen der Digitalisierung sind 7 Dabei
wird fortwährend und vielfach kritisiert, dass digitale Anwendungen eher aus der informationstechnologischen Perspektive getrieben und implementiert werden, somit mit starken Zumutungen bis hin zu Inkompatibilitäten in professionellen Arbeitsprinzipien einhergehen und entsprechend aus Anwenderkontexten auf Kritik und Widerstand stoßen (siehe unter anderem Krämer 2018).
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oder auchsein sollten, um die bestehenden Arbeitspraktiken und professionellen Prinzipien digital anzureichern und zu erweitern. Dabei lassen sich Praktiken immer seltener nach digitalen oder nicht-digitalen unterscheiden, sondern geschehen in der Regel bereits ineinander verschränkt (Laboratory: Anthropology of Environment|Human Relations 2019). In der Vorbereitung von Unterricht etwa greifen Lehrkräfte möglicherweise auf digital verfügbare Ressourcen zu oder verschicken E-Mails mit Arbeitsaufgaben; zugleich weist die Vorbereitung aber dabei aber auch nicht-digitale Anteile auf, so dass Digitales mit bestehenden Handlungsroutinen, professionellen Arbeitsweisen und Prinzipien verknüpft wird und entsprechend auch nur aus diesen heraus verstehbar wird. Berücksichtigt man an dieser Stelle weiterhin den Doppelcharakter digitaler Entwicklungen auch als Medientechnologie, so ist nicht nur der Umgang mit Technik wichtig, sondern auch das Navigieren von speizfischen Medienqualitäten in Kommunikations- und Vermittlungsprozesssen, mit entsprechenden Veränderungspotenzialen für den Bildungsalltag. Digitale Medienpraktiken beziehen sich auf Daten als symbolische Grundeinheit. Für die kulturanalytische Forschung werden Daten bzw. die Praktiken mit Daten somit zu epistemischen Objekten, also Gegenständen, anhand derer die kulturanalytische Forschung Wissen über kulturelle und soziale Zusammenhänge generieren kann.8 Insbesondere wo bestehende Arbeits- und Bildungspraktiken durch digitale Datenpraktiken angereichert oder auch weitgehend in diese umgewandelt werden, lassen sich Rückschlüsse im Hinblick auf Veränderungen ziehen, die hierbei stattfinden, auch wenn Menschen den Datenbezug ihrer Praxis nicht realisieren. Wie gehen Menschen mit digitalen Daten um, gestalten ihren jeweiligen Lebensund im Berufsalltag als Praxis mit Daten? Inwieweit werden Praktiken durch die spezifischen medialen Qualitäten und die Datenlogiken, die so in die jeweiligen Praxisfelder importiert werden, vor neue Herausforderungen gestellt, verändern diese und machen auch neue Handlungsspielräume für Gestaltungen auf? Entsprechend wird von einem data-logical turn in der Forschung mit der Notwendigkeit einer kritischen Reflexion der Datafication gesprochen (van Dijck 2014; Markham 2013).
8 Die
informatischen Daten sind dabei von Forschungsdaten zu unterscheiden, die in den empirisch arbeitenden Disziplinen generiert werden. Während der Computer auf der Basis von Bits and Bytes als informatischen Daten operiert und alle Daten für eine korrekte Arbeitsweise gespeichert, verarbeitet oder übertragen werden müssen, gehen Forschungsdaten aus epistemisch geleiteten Erkenntnis- und Selektionsprozessen hervor, wobei ihre Validität und Reliabilität intensiv reflektiert und kritisch diskutiert werden (vgl. Gitelman 2013).
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Für die empirisch-kulturanalytische Erforschung des Umgangs mit den digitalen Technologien bieten die international etablierten Science and Technology Studies mit Akteur-Netzwerk-Analysen oder auch die wissensanthropologischen Perspektiven auf den Umgang mit Technik gute Anknüpfungspunkte und auch Beispiele für die praxeographische Erforschung von digitalisierten Bildungszusammenhängen (Sørensen 2007). Die Fokussierung der medialen Qualitäten und Veränderungen mit der Digitalisierung ist demgegenüber noch weniger ausgereift. Hier liefern die Critical Data Studies mit sich neu formierenden Zugängen wie etwa der Daten-Ethnographie erste Anknüpfungspunkte (Gitelman 2013). Für erkenntnistheoretische Verortungen sind dabei insbesondere die sozialkonstruktivistische Perspektive mit dem Konzept der Assemblage von Interesse, die Phänomene als globale Formen und Formationen versteht, welche sich neu konstituieren, dabei aus einer Vielfalt an nicht aufeinander abgestimmten oder koordinierten Praktiken von höchst unterschiedlichen Akteuren herausbilden, auch mit Friktionen und Konflikten verbunden sind.
3.4 Zusammenfassung: Zum Verhältnis der drei Formen, die Welt zu gestalten Die drei idealtypischen Weisen des Menschen, seine Lebenswelten zu gestalten, die symbolisch-deutende, die materiell-gestaltende und die praktisch-handelnde Form des Worlding, sind zentrale Zugangsweisen auch für empirisch-kulturanalytische Forschungsansätze. Entsprechend können diese auch für Bildungszusammenhänge aufgegriffen werden. Die drei Weisen stellen idealtypische Perspektiven dar, die jeweils relational zueinander sind, so dass diese Relationen auch in den empirischen Analysen von konkreten Bildungszusammenhängen eine wichtige Rolle spielen müssen. Für die Erforschung der unterschiedlichen Modi des Worlding stehen jeweils theoretische Konzepte zur Verfügung, die wiederum innerhalb der Kulturanalyse in Methodologien übersetzt worden sind, deren Ausarbeitungsgrad variiert.
4 Fazit und Ausblick: Aushandlungsprozesse und Neuformierungen Wie die Digitalisierung in der Bildung und anderen gesellschaftlichen Bereichen eingebettet werden wird, ist derzeit noch in der Aushandlung. Dabei spielen Leitideen, Imaginationen und Visionen sowie bestehende Technikbilder eine wichtige Rolle. Das Verständnis davon, was Digitalisierung ist, ist disparat. Wissenschaft-
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liche Definitionen und Alltagsverständnisse unterscheiden sich, zudem trägt der Doppelcharakter des Computers als informationsverarbeitende Maschine und als informationsübertragendes Medium dazu bei, dass unterschiedliche Aspekte des Digitalen wirksam werden. Insofern kann die Digitalisierung zum einen im Hinblick auf den Umgang mit Technik in Bildungszusammenhängen untersucht werden; zum zweiten kann der Medienumbruch hin zum Digitalen mit den neuen, spezifischen Eigenschaften für das Darstellen, das Speichern und das Verbreiten von Informationen und damit auch der kulturellen Artikulations- und Produktionsfähigkeit als Fokus für die Erforschung des Wandels in der Bildung aufgegriffen werden. Durch die empirisch-kulturanalytische Erforschung der Implementierung von digitalen Technologien in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie der Bildung wird es möglich, kritisch-reflexive Perspektiven auf dieses Geschehen zu entwickeln, diese in die gesellschaftlichen Diskurse zu den Gestaltungspotentialen und -notwendigkeiten der Digitalisierung einzubringen und auch eigene Gestaltungsansätze, Konzepte und Ansprüche für die Einbettung von digitalen Medientechnologien in der Bildung zu formulieren. Für die Entwicklung von konkreten empirisch-kulturanalytischen Forschungsvorhaben, welche die Digitalisierung in formellen und informellen Bildungsalltagen erforschen, können symbolisch-deutende, materiell-gestaltende sowie praktisch-handelnde Formen des Worlding aufgegriffen werden. Diese drei Weisen des Menschen, seine Lebenswelten zu gestalten, finden auch in Bildungszusammenhängen und im Kontext der Einführung digitaler Technologien statt. Analog zu den Lebenswelten kann ein Verständnis von Digitalisierung in der Bildung als Worlding somit ein breites Spektrum an theoretischen Ansätzen und methodologischen Arbeitsweisen für empirische Analysen von konkretem Bildungsgeschehen eröffnen. Damit ist ein großes Repertoire an Instrumentarien vorhanden, anhand derer die Digitalisierung in der Bildung erforscht und anhand dieser Ergebnisse auch auf die Erfordernisse in verschiedenen Bildungszusammenhängen zugeschnitten werden kann.
Literatur Barth, F. 2002. An anthropology of knowledge. Current Anthropology 43 (1): 1–11. Bausinger, H. 2001. Vom Jagdrecht auf Moorhühner: Anmerkungen zur kulturwissenschaftlichen Medienforschung. Zeitschrift für Volkskunde 1997 (1): 1–14. Bausinger, H. 2005 [1961]. Volkskultur in der technischen Welt. Frankfurt u. a.: Campus. Beck, S. 1997. Umgang mit Technik: Kulturelle Praxen und kulturwissenschaftliche Forschungsrezepte. Berlin: Akademie Verlag.
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Diskurs der Digitalität und Pädagogik Felicitas Macgilchrist
Zusammenfassung
Im Fokus des Beitrags steht der Diskursbegriff, der Digitalität und Pädagogik in ihrer Wechselseitigkeit in den Blick nimmt. Nach einem Kurzüberblick über die Diskursforschung wird der Diskurs über Digitalität und Pädagogik und der Diskurs in digitalen Bildungsmedien analysiert. Eine These ist, dass der öffentliche Diskurs von einer FOMO (Fear of Missing Out) geprägt ist, die einen Handlungsdrang zu mehr Digitalisierung prägt, ohne dabei „digitale Medien“ zu differenzieren. Eine zweite These ist, dass der Alltag subtil mit der in Lernapps eingeschriebenen Normativität der Reibungslosigkeit sowie mit dem in adaptiven, KI-gestützten Lernsoftware eingeschriebenen programmierten Lernen verwoben wird. Schlüsselwörter
Diskursanalyse · Digitalität · Pädagogik · Lernsoftware · Lernplattform
Digitale Medien sind nie „nur“ didaktische Mittel oder pragmatische Werkzeuge. Hardware und Software sind „Ideologiemaschinen“ (Chun 2006, S. 19). Sie sind Technologien durch die “human societies articulate their hopes, dreams, F. Macgilchrist (*) Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Macgilchrist Leibniz-Institut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut, Braunschweig, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_3
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and desires while also making material instruments for accomplishing them” (Jasanoff 2016, S. 242). Der Diskurs der Digitalität und Pädagogik ist aus dieser Sicht interessant, weil er soziotechnische Entscheidungen prägt, die Schule und Gesellschaften ordnen, Kommunikations- und Wissensformen verändern und Subjekte produzieren. Diskursforschung unterstützt uns dabei, die von Jasanoff angesprochenen Hoffnungen und Ordnungen zu identifizieren: Was wird über Digitalität und Pädagogik derzeit gesagt und geschrieben? Welche Machtverhältnisse werden dadurch verstärkt oder verschoben? Welche Implikationen hat das für das künftige Handeln in der Bildungspolitik, Bildungspraxis und Bildungsforschung sowie in der breiteren Gesellschaft? Mit einer Faszination für Sprache und Semiotik befasst sich die Diskursforschung vor allem mit Texten, d. h. sie analysiert den Diskurs über Bildung. Wenn in der heutigen Welt immer mehr digitale Technologien in Schulen und anderen Bildungskontexten eingesetzt werden – von Unterrichtskontexten und außerschulischen Aktivitäten hin zur Steuerung von Schulen oder Bundesländern durch Verwaltungssoftware – wird es allerdings zunehmend wichtiger, nicht nur den Diskurs „über“ Digitalität und Pädagogik zu analysieren, sondern auch wie Diskurs in Bildungsmedien eingeschrieben (encoded) wird. Code ist auch Sprache. Wird die Diskursanalyse mit Einsichten aus den Software Studies erweitert, kann angenommen werden, dass sich Diskursivität auch in Software einschreibt. Damit stellt sich u. a. die Frage: Welche Machteffekte entfaltet dieser in die Software eingeschriebene Diskurs und welche Implikationen hat das für unser künftiges Handeln in Bildungskontexten und Gesellschaft? Im Sinne dieses Bandes wird Digitalität in diesem Beitrag also nicht primär als Anwendungsproblematik oder didaktische Herausforderung aufgenommen, sondern als möglicherweise wichtiges Element eines Struktur- oder Kulturwandels im Pädagogischen diskutiert. Nach einer kurzen Einführung in das den Beitrag leitende Verständnis von Diskursforschung werden einige Stränge des Diskurses über Digitalität und Pädagogik sowie einige Stränge des in der Lernsoftware eingeschriebenen Diskurses nachgezeichnet. Beide Dimensionen konfigurieren – so die These – das, was in Bildungskontexten passieren kann, obwohl es unbestimmbar bleibt, welches Handeln genau daraus folgen wird. Im Fazit wird die Analyse zusammengefasst und weitere Fragen für zukünftige Forschung werden aufgeworfen. Gerade zur Frage, wie Diskurs in Bildungsmedien eingeschrieben wird, besteht ein großer Forschungsbedarf. Die zentrale inhaltliche These des Beitrags ist, dass der öffentliche Diskurs über Digitalität und Pädagogik von einer FOMO (Fear of Missing Out) geprägt ist, die einen Handlungsdrang zu mehr Digitalisierung prägt, ohne dabei „digitale Medien“ zu differenzieren. Herausgefordert wird diese Position im Diskurs über Digitalität
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und Pädagogik von u. a. einer Thematisierung von Nachhaltigkeit, d. h. die Verknüpfung von globalen Ungleichheitsverhältnissen und planetarischen Grenzen mit einer politisierten Digitalisierung und einer Thematisierung von Risiko, die auf individuelle entwicklungspsychologische oder gesundheitliche Risiken abhebt. Die zentrale methodologische These des Beitrags ist allerdings, dass der in Software eingeschriebene Diskurs, gerade weil er sich auf subtiler und beiläufiger Weise in den schulischen Alltag einwebt, viel prägender für einen Wandel im Pädagogischen und in der Gesellschaft sein könnte. Zwei Aspekte werden im Beitrag exemplarisch nachgezeichnet: 1) die Reibungslosigkeit, d. h. die Normalisierung von Softwareerfahrungen durch Begriffe wie schlicht, bekannt und reibungslos, und 2) die Personalisierung des Lernens.
1 Diskursforschung Unter den verschiedenen Ansätzen der Diskursforschung sind folgende drei Aspekte für mich besonders wichtig.1 Erstens: Performativität. Der Diskurs ist sowohl konstruiert als auch konstruierend: Eine Aussage (oder eine Datenvisualisierung auf einem Dashboard) wird aus verschiedenen Bausteinen (Wörtern, Kategorien, Metaphern, Farben, Filter, Datenmodelle, Algorithmen usw.) produziert, und diese Aussagen (oder Datenvisualisierungen) produzieren zugleich unsere Realität. Der Diskurs ist performativ, weil er die soziale Welt – und somit auch Macht- und Ungleichheitsverhältnisse – nicht reflektiert, sondern produziert. Zweitens: Praktiken. Der Diskurs ist aktionsorientiert; er „tut“/„macht“ etwas. Dieser aktionsorientierte Ansatz in der Diskursforschung erweitert die Annahme, dass die Verwendung von Sprache die Welt konstruiert. Es geht darum, wie eine Beschreibung weitere Praktiken (Tätigkeiten) ausführt und vollbringt, wie z. B. bitten, loben, flirten, tadeln, besänftigen, rechtfertigen, hierarchisieren, motivieren oder kontern. Wichtig ist in diesem Kontext, dass nicht nur Menschen Tätigkeiten vollziehen, sondern auch Beschreibungen, Bilder oder Software vollziehen Tätigkeiten. Grammatikalisch kontraintuitiv wird der Diskurs (oder die spezifische
1 Ausführlicher
habe ich diesen Ansatz an anderer Stelle beschrieben (Macgilchrist 2015). Ein Überblick über bzw. Einführung in erziehungswissenschaftliche Diskursforschung geben Fegter et al. (2015), Wrana et al. (2014a) und Truschkat und Bormann (2020). Mehrere Ansätze der Diskursforschung sind in Angermuller et al. (2014) versammelt. Besonders hilfreiche Orientierung bietet Wrana et al. (2014a). Grundsätzlich zu den Möglichkeiten Begriffe wie Diskurs, Performativität, Macht und Subjektivierung in Bezug zu Pädagogik zu denken, vgl. Ricken und Balzer (2012); Ricken und Rieger-Ladich (2004).
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Aussage, Farbe o. ä.) zum Akteur der Handlung. Die empirische Aufgabe der Diskursforschung ist es, das spezifische „Tun“ oder „Machen“ für den spezifischen Kontext herauszuarbeiten. Drittens: Politiken. Vom griechischen, πολιτικά (Politiká) geht es hier um die Regelung der Angelegenheiten eines Gemeinwesens. Mich interessieren allerdings nicht in erster Linie die alltägliche Ausübung der Staatsführung oder die politischen Parteien, sondern die ethischen, affektiven, ideologischen, ökonomischen und inhärent „politischen“, d. h., machtverwobenen Auseinandersetzungen darüber, wie die Welt sein sollte. Bildung ist in diesem Sinne immer auch politisch. Die Wörter, Bilder, Codes, die wir verwenden, wenn wir über digitale Bildung sprechen oder schreiben, und die Designer*innen und Entwickler*innen in die Software einschreiben, beeinflussen und gestalten auch (auf sehr unterschiedliche Weise) Forderungen und Ziele in öffentlichen Bereichen. Es geht also nicht nur um Konsenswissen. Welche Auseinandersetzungen und alternativen Vorstellungen für die zukünftige Welt werden entworfen? Wessen Wissen zählt? Wer wird dabei bevorzugt und wer benachteiligt? Das Verständnis vom Diskurs bzw. von der Diskursforschung, das diesen Beitrag rahmt, fragt zusammenfassend nach der Performativität (Welche soziale Welt wird produziert?), nach den Praktiken (Wie wird sie produziert?) und nach den Politiken (Welche machtverwobenen Auseinandersetzungen gibt es bzw. welche Alternativen zum Mainstreamdiskurs werden entworfen?). Auch wenn „Diskurs“ weitaus mehr als Sprache und Bilder bezeichnet (van Dyk et al. 2014; Wrana 2012), fokussiert sich dieser Beitrag vor allem auf diese Dimensionen des Diskurses.
1.1 Problematisierung In diesem Beitrag wird ein methodologischer Fokus auf „Problematisierungen“ genommen. Es wird gefragt, wie etwas zu einem Problem wird, wie diese Probleme bearbeitet werden und welche Implikationen diese Problematisierungen für Schule und Gesellschaft haben. Eine Grundannahme bei dieser Vorgehensweise ist, dass „Probleme“ nicht einfach „existieren“, um von uns „gefunden“, „identifiziert“ oder „gelöst“ zu werden. Etwas wird – von Personen, Institutionen oder Texten – zu einem Problem „gemacht“, in dem es als Problem beschrieben wird. Lösungen produzieren Probleme, die gelöst werden können. Gerade die Frage, wie etwas zu einem Problem gemacht wird, sagt viel über zentrale Prioritäten, Werte und Selbstverständnisse einer Gesellschaft aus (Foucault 1985, S. 150; vgl. Bacchi 2012). Die Bildungspolitik bietet zum Beispiel Zukunftsstrategien an, um mit bestimmten Problemen umzugehen. Hierbei werden einige Aspekte des gegenwärtigen Bildungsgeschehens problematisiert und andere nicht. Aber welche?
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Bildungsaktivist*innen regen alternative Wege an, um die Gesellschaft zu ändern. Welche Probleme versuchen sie zu beheben? Sie formulieren jeweils die Probleme ganz unterschiedlich. Software erarbeitet Lösungen, aber für welche Probleme? Eine Diskursanalyse kann diese Strategien, Wege und Lösungen herausarbeiten, sowie die Probleme, welche behoben werden sollen. Somit identifiziert die hier vorliegende Analyse zentrale Dimensionen des gegenwärtigen Diskurses der Digitalität und Pädagogik. Sie zeigt auch, wo die Konflikte liegen, die zu unterschiedlichen „Zukünften“ führen können.
2 Diskurs „über“ Digitalität und Pädagogik Die Analyse in diesem Kapitel basiert auf bildungspolitischen Strategiepapieren sowie Stellungnahmen, die in Bezug auf solche Strategiepapiere verfasst wurden. Sie bezieht Texte von Stiftungen, der Presse und von Aktivist*innen ein, die sich an der Schnittstelle zwischen Digitalität und Pädagogik befinden.2
2.1 FOMO. Diskurs des Handelnmüssens In der Strategie Digitale Schweiz lesen wir: „Die Digitalisierung bestimmt heute zunehmend unser Leben. […] Der Bundesrat stellt sich der Verantwortung, den rasanten und umfassenden Strukturwandel, den die Digitalisierung mit sich bringt, aktiv zu begleiten.“ (2016, S. 3, S. 5; Hervorhebungen hier und im Folgenden von der Autorin)
2 Als
Korpus bezieht dieser Beitrag Policy- und Strategiepapiere ein, die auf Englisch oder Deutsch online zugänglich sind (neben Deutschland: Österreich (Schule 4.0), Kroatien (Digital Agenda), Tschechische Republik (Strategy for Education Policy of the Czech Republic until 2020), Dänemark (Strategy for Digital Welfare), France (The French Digital Plan for Education), Hungary (Program for Promoting Digital Education in Schools), Irland (Digital Strategy for Schools), Italien (National Plan for Digital Education), Niederlande (Digital Agenda), Norwegen (Framework for Basic Skills; Digital Agenda), Polen (Digital Poland; Digital School), Slowenien (Digital Slovenia; Strategic Guidelines), Schottland (Enhancing Learning and Teaching through the Use of Digital Technology), Spanien (Digital Agenda), Schweden (Digital Agenda), Schweiz (Digitales Schweiz), Großbritannien (UK Digital Strategy), and Wales (Digital Competence Framework)). Der Korpus beinhaltet die KMK-Strategie für Bildung in einer digitalen Welt sowie neun Stellungnahmen zur KMK-Strategie. Mit der Schneeballmethode wurden Materialien von Presse und nicht-staatlichen Akteuren gesammelt.
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Im Vorwort zur Strategie für Bildung in der digitalen Welt von Dr. Claudia Bogedan, Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) und Senatorin für Kinder und Bildung in Bremen, steht: „Über welche Kompetenzen müssen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verfügen, um künftigen Anforderungen der digitalen Welt zu genügen? Und welche Konsequenzen hat das für Lehrpläne, Lernumgebungen, Lernprozesse oder die Lehrerbildung“ (2016, S. 5)
Die Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) schreibt in ihrer Stellungnahme zur KMK Strategie: „Es ist sehr zu begrüßen, dass die KMK mit ihrer Strategie die Bedeutung des digitalen Wandels für Bildung und Ausbildung thematisiert und umfassende Vorschläge entwickelt, wie diesem im Bildungswesen konstruktiv zu begegnen sei.“ (2016, S. 1)
In diesen drei Auszügen wird der digitale Wandel bzw. die Digitalisierung als Akteur dargestellt. Er (bzw. sie) macht etwas. Die Digitalisierung bestimmt unser Leben und bringt Strukturwandel mit sich. Der digitale Wandel stellt Anforderungen, hat eine Bedeutung für Bildung und Ausbildung. Wir Menschen – in der Bildungspolitik, im Bildungswesen, als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – müssen reagieren, wir müssen – so diese und ähnliche Texte – die Digitalisierung aktiv begleiten, dem digitalen Wandel begegnen, seinen Anforderungen genügen, über Kompetenzen verfügen und Konsequenzen für die Praxis ziehen. Der Fokus wird dabei auf die Zukunft gerichtet: Problematisiert wird ein Wandel mit Auswirkungen auf unser künftiges Verhalten. Digitalität wird zum Problem für Bildungsakteure, weil es etwas Neues ist, und die gewohnten Praktiken nicht genügen. Ein etwas anders gelagertes Problem wird durch ein Cluster an Metaphern hervorgebracht: Um Klassen smarter: Wieder zeigt ein internationaler Vergleich: Deutschlands Schulen sind kaum digital und holen nur langsam auf. Wie es anders geht, lässt sich beim Spitzenreiter Dänemark besichtigen. (Die Zeit, 6 November 2019; Spiewak 2019) Modernes Lernen: Die internationale Elite rüstet auf – und Deutschland braucht Nachhilfe (FOCUS Online, 12 April 2020; Baier et al. 2020) Deutschland kann den jahrelangen Vorsprung, den andere Länder in Sachen digitaler Schule haben, nicht in wenigen Monaten aufholen. (FAZ, 26 Januar 2021; Schmoll 2021)
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Sowohl vor und inmitten der SARS-CoV-2 Pandemie wird Deutschland mit anderen Ländern verglichen. Metaphern wie „Spitzenreiter“, „Nachhilfe“ und „aufholen“ präsentieren digitale Bildung als Wettbewerb zwischen Nationen. Akteur ist das Land. In einer klassischen bzw. kolonialen Entwicklungslogik sei Deutschland nicht „modern“. Die Problematisierung scheint klar. Gemeinsam mit den vorherigen Beispielen wird auch hier die Schlussfolgerung nahegelegt, um aufzuholen müsse Deutschland handeln. Exemplarisch kann dies an Berichten über „Steve-Jobs-Schulen“ nachgezeichnet werden. Ein Zeitungsbericht von 2015, „„Steve-Jobs-Schulen“: Holland macht uns vor, wie digitales Lernen geht“ (aktiv-online 2015), steigt mit der Begeisterung von dem Grundschulkind Diar ein, der laut dem Bericht so aussieht, als würde er nur Daddeln, aber tatsächlich Mathe macht. Diar wird zitiert: „Endlich macht Schule Spaß“. Dann folgt die erste Zwischenüberschrift: „Deutschland hinkt der Entwicklung noch meilenweit hinterher“. Die Themen dieses Berichts beschreiben das digitale Lernen als positiv. Die Rede ist zum Beispiel von individuellem und selbstbestimmtem Lernen, von Projektarbeit und Freude am Lernen. Es gab in diesen unabhängigen Schulen in den Niederlanden keine Klassen mehr, dafür bunte Farben, eine schöne Atmosphäre und große Elternzustimmung. Drei Jahre später lesen wir in Focus Online (2018): „Hollands Digital-Schulen waren ein Flop: Was Deutschland aus den Fehlern lernen kann“. Laut dem Bericht wurden „Basiswissen und -fähigkeiten vernachlässigt […] Kinder, die an andere Schulen wechselten, waren ihrer Gruppe weit hinterher.“ Die Schulbehörden mussten intervenieren; die Schulen erhielten schlechte „Rankings“. Sowohl in den positiven Berichten aus 2015 als auch in den kritischen Berichten aus 2018 erscheinen ähnliche Metaphern: „hinterherhinken“, „hinterher“ sein. Bemerkenswert ist jedoch, dass trotz unterschiedlicher Bewertung der Steve-Jobs-Schulen dieselbe Schlussfolgerung gezogen wird: In beiden Fällen kann Deutschland von Holland lernen. Neben dem Aufholbedarf wird auch die aktive Gestaltung der Digitalisierung betont. Für die KMK Strategie für Bildung in einer digitalen Welt ist eine „fortlaufende Aufgabe“, die Digitalisierung „aktiv zu gestalten“ (KMK 2016, S. 50). Der Monitor Digitale Bildung der Bertelsmann Stiftung (2017) beschreibt, was es jetzt „konkret zu tun gilt“. Dem Prozess der Digitalisierung wird in diesen Texten weiterhin, wie oben beschrieben, ein Akteursstatus verliehen, der den Lebensund Arbeitsbereich aller Menschen betrifft und Lern- und Lehrprozesse beeinflusst. Es geht allerdings auch um die in Bildungsprozessen beteiligten Personen, die diese Entwicklungen aktiv gestalten sollen. Die Auszüge in diesem Abschnitt zeigen eine Bandbreite an Positionen zu der Frage, wer oder was die Welt von morgen gestaltet, von der Digitalisierung
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selbst zu allen, die an Bildungsprozessen beteiligt sind. Gemeinsam heben sie die Notwendigkeit hervor, in Bezug auf diese sich rasant verändernde bzw. uns alle betreffende digitale Welt zu agieren. Es geht darum, externen Anforderungen zu genügen, diese aufzuholen oder mitzugestalten. Die Beschreibung dieser Notwendigkeit ist gleichzeitig die Diagnose eines Problems: Es wird noch nicht gehandelt bzw. es ist noch nicht ausreichend vielen Menschen bewusst, dass sie handeln müssen. Das zentrale Problem kann also als das Nicht-Agieren inmitten von allumfassenden Wandlungsprozessen gefasst werden. Die implizite oder explizite Implikation dieses Problems ist: „Handele jetzt!“ Wie wir handeln sollen, wird wenig definiert. Abstrakte positiv konnotierte Begriffe wie gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation fallen in fast allen solchen Texten. Sie werden aber nicht mit konkreten Praktiken oder neuen Bildungszielen oder Curricula untermauert. In Pressetexten wird vor allem die Nutzung verschiedener Tools erwähnt: neben Apps wird der Einsatz von Simulationssoftware, Virtual Reality, FabLabs, Robotik und künstlicher Intelligenz in anderen Ländern zelebriert. Auch Digitalität als Kulturtechnik, die Herausforderungen eines angemessenen Datenschutzes und die Algorithmifizierung des Lebens werden auf abstrakter Ebene in diesen Texten diskutiert. Die Sektion Medienpädagogik der DGfE betont allerdings, dass es „bei Bildung in der digitalen Welt um mehr als eine Anpassung des Bildungswesens an nunmehr digitalisierte Kommunikationsverhältnisse“ geht. Es gehe vielmehr „um neue Bildungsaufgaben“. Diese Art von Text (Stellungnahme, Pressetexte usw.) ist aber nicht das Genre, in dem die neuen Bildungsaufgaben präzisiert werden würden. Bei den oben zitierten Pressetexten ist es am deutlichsten, in den bildungspolitischen Texten kann es auch herausgelesen werden: Die Digitalisierung sei eine unvermeidbare Entwicklung, die grundsätzlich möglichst schnell in Schulen umzusetzen sei. Zugespitzt scheint das, was Erwachsene oft als Sorge um junge Menschen und deren Verhalten mit sozialen Medien formulieren, genauso für Texte der Bildungspolitik und der Presse zu gelten: FOMO, fear of missing out, die Angst, etwas zu verpassen. Die oben zitierten Auszüge zeugen von der Notwendigkeit, nichts zu verpassen, nicht außen vor gelassen zu werden. Digitale Medien sollen eingesetzt werden, um auf dem neusten Stand zu sein, um ausreichend digital zu sein, um so digital wie andere Länder zu sein, oder um mit den rasanten Wandlungsprozessen mitgehen zu können. FOMO also als die Sorge, wegen fehlender digitaler Vernetzung Ereignisse zu verpassen und nicht auf dem Laufenden zu sein. Dabei wird „Digitalisierung“ oder „digitale Medien“ als eine einzige Gesamtthematik – ein Gegenstandsbereich, eine Problematik, ein Gebilde – produziert; es wird in diesen Debatten selten zwischen diversen
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Formen des Lernens, des Lehrens oder der Medien (connected learning, behavioristischen Ansätzen, Projektlernen, serious games usw.) unterschieden. Dieser in öffentlichen Medien und politischen Debatten stark präsente Diskurs wird in unterschiedlicher Weise herausgefordert. Im Folgenden werden hier zwei Thematisierungen skizziert, um Differenzen und Ähnlichkeiten in den Zielen, Werten und Selbstverständlichkeiten aufzuzeigen.
2.2 Planetarisierender Diskurs Eine Thematisierung mobilisiert die planetarische Ebene. Bits&Bäume, zum Beispiel, beschreibt sich als die Bewegung für Digitalisierung und Nachhaltigkeit. „Bits & Bäume möchte die Debatte über den Megatrend der Digitalisierung politisieren. Wir brauchen Ideen und Konzepte, wie wir die Digitalisierung zukunftsfähig gestalten können!“ (Tilman Santarius, Technische Universität Berlin); „Es gilt [die Digitalisierung] so zu gestalten, dass die planetaren Grenzen nicht überschritten und somit unsere Lebensgrundlagen erhalten werden.“ (Maria Bossmann, Deutscher Naturschutzring e. V.).3 In dezidierten Bildungsprojekten geht es um die Frage, wie Digitalisierung kritisch verstanden und reflektiert werden kann. Das F3_kollektiv, zum Beispiel, bietet „machtkritische Bildungsmaterialien und Angebote […] zum globalen Prozess der Digitalisierung“ für Lehrende und weitere Multiplikator*innen an.4 Die Open Educational Resources (OER) fragen, wie „die digitale Transformation mit globalen Prozessen in den Bereichen Wirtschaft, Umwelt und Menschenrechte zusammen[hängt]“. Endlich Wachstum fragt „Welche Technik wollen wir?“5 Auf der Website werden Materialien zur Verfügung gestellt, um digitale Technologie mit Lernenden kritisch zu reflektieren. Hier wird über Visionen für eine Technik der Zukunft reflektiert und das Konzept der „konvivialen“, d. h. „lebensfreundlichen“ Technik eingeführt (vgl. auch Vetter 2021). Auch andere Ungleichheitsverhältnisse werden problematisiert: Code Curious bspw. bietet kostenlose ProgrammierWorkshops für Frauen, non-binary und Transmenschen ohne Vorkenntnisse an.6 Sie problematisieren die Wettbewerbsorientierung und den Konkurrenzdruck
3 https://bits-und-baeume.org/de
(Zugegriffen: 21. Januar 2021). (Zugegriffen: 21. Januar 2021). 5 https://www.endlich-wachstum.de/kapitel/perspektiven-alternativen/methode/welchetechnik-wollen-wir-praesentation-fehlt/ (Zugegriffen: 21. Januar 2021). 6 https://www.codecurious.org/de/ (Zugegriffen: 21. Januar 2021). 4 https://www.digital-global.net/startseite/
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vieler Informatikangebote, die ausgrenzend wirken, und bieten als alternative Vergemeinschaftsform eine „kommunikative und kooperative Atmosphäre“ an. Durchgehend verknüpfen diese Akteure Gestaltung mit Aspekten wie planetarischen Grenzen, Lebensgrundlagen oder Ungleichheitsverhältnissen. Es gelte die Debatte über Digitalisierung zu politisieren, und zugespitzt formuliert, zu „planetarisieren“. Technologie ist aus dieser Perspektive nicht neutral oder auf einer individuellen Nutzungsebene zu betrachten. Technologie wird als Teil globaler Prozesse beschrieben. Hardware und Software sind vom Design her politisch, weil sie entgegen der aktuellen Praxis der großen Konzerne auch nachhaltig, d. h., „langlebig, offen, reparabel und datensparsam“, gestaltet werden können. Es werden bestehende Ansätze für eine ressourcenschonende Entwicklung, beispielsweise in FabLabs und Maker-Spaces oder durch Regulierungsoptionen wie das “Right to Repair”, die Eco-Design-Richtlinie oder den Blauen Engel für Software beschrieben.7 Hier geht es um Machtkritik, einschließlich einer generativen Kritik, die nicht nur aktuelle Dominanzverhältnisse aufzeigt, sondern auch Handlungsperspektiven hervorhebt, wie digitale Medien „zukunftsfähig“, als ein „computing within limits“ (Nardi et al. 2018), gestaltet und genutzt werden können.
2.3 Individualisierender Diskurs Eine zweite kritische Thematisierung setzt am Individuum an und mobilisiert ausgewählte erziehungswissenschaftliche, entwicklungspsychologische und neuropsychologische Forschung um Risiken hervorzuheben.8 In der Rubrik „wichtigste Fragen“ des Internet-ABCs für Eltern ist die erste Frage: „Wie lange darf das Kind vor dem Bildschirm sitzen? Kinder sind gern am Bildschirm – und die Zeit vergeht dabei wie im Flug. Wie viel Bildschirmzeit ist gut für mein Kind? Welche Folgen kann ein Zuviel an Zeit vor dem Bildschirm haben? Und wie vermeide ich Streit, wenn es um die Medienzeit geht?“9
7 https://www.ioew.de/veranstaltung/forum-bits-baeume-offen-langlebig-und-reparabelgestaltungsbedingungen-fuer-nachhaltige-hard-und-software (Zugegriffen: 21. Januar 2021). 8 Weitaus mehr neuropsychologischer Forschung wird allerdings zur Unterstützung von digitalem Lernen mobilisiert, vgl. Williamson (2017a). 9 https://www.internet-abc.de/eltern/familie-medien/die-wichtigsten-fragen/ (Zugegriffen: 21. Januar 2021).
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Auch weitere an Eltern gerichtete Seiten behandeln diese Frage. Klicksafe hat einen „Mediennutzungsvertrag“ entwickelt, i den Eltern mit ihren Kindern schließen können.10 Hier werden Nutzungszeiten und -arten geregelt. Maximalzeiten für Altersgruppen werden genannt, z. B. Sicheres-Netz-Hilft e. V. rät Eltern „die gesamte Nutzungsdauer digitaler Medien, die sogenannte Bildschirmzeit, im Blick [zu] haben“: 0–3 Jahre: „am besten gar nicht“; 3–6 Jahre: 30 min; 6–9 Jahre: 60 min; „ab 10 Jahre ist keine Empfehlung mehr möglich, da sich hier die Nutzungsmuster stark unterscheiden“.11 Der Rat zu begrenzten Nutzungszeiten wird auch im Kontext von digitalen Medien und Schule diskutiert, zum Beispiel mit Begriffen wie „Medienmündigkeit“ (Bleckmann 2012), „Bildschirmdominanz“ und „dysfunktionaler Bildschirmmediennutzung“ (Bleckmann und Lankau 2019, S. 11), „digitale Demenz“ (Spitzer 2012) oder „die Lüge der digitalen Bildung“ (Lembke und Leipner 2015). Problematisiert wird hier die (Über-)Nutzung digitaler Medien oder Geräte mit Bildschirmen (genannt werden u. a. Computerspiele, Internet, soziale Medien, Fernseher, Handys, Tablets). Digitale Bildung wird einem Verständnis von Bildung gegenübergestellt, in dem eine Erziehung zur Freiheit, humane Bildung, Emanzipation und Mitmenschlichkeit priorisiert wird. Die Risiken von digitalen Medien werden fokussiert, z. B., gestörte Entwicklung des Gehirns, strafbares Verhalten (Cybermobbing, Stalking, Grooming), an Kinder adressierte Werbung oder gesundheitliche Aspekte wie die elektromagnetische Strahlung durch WLAN (Bleckmann und Lankau 2019). Die Diskussion über individualisierte Risiken passt zu bekannten Medienlogiken und Nachrichtenwerten (Galtung und Ruge 1965; Schultz 2007): Sie ermöglicht eine binäre Aufbereitung des Themas „Digitalität und Pädagogik“ in Chancen und Risiken; Vor- und Nachteile; Mehrwert und Defizite. Wenn die zu häufige Nutzung problematisiert wird, dann erscheint eine begrenzte Bildschirmzeit als Lösung; wenn die Nutzung digitaler Medien problematisiert wird, erscheint die Nichtnutzung als Lösung. Auch differenziertere Kritik, z. B. an der Dominanz privatwirtschaftlicher Akteure im öffentlichen Bildungswesen wird somit zu einer totalisierenden Kritik, die die Nutzung digitaler Medien in Schulen ablehnt oder reduzieren möchte, statt nach Möglichkeiten der Neu- oder Umgestaltung zu suchen. Eltern, die Ratgeber zu Bildschirmzeiten gelesen haben,
10 https://www.klicksafe.de/eltern/kinder-von-3-bis-10-jahren/nutzungszeiten-und-regeln/ (Zugegriffen: 21. Januar 2021). 11 https://www.sicheres-netz-hilft.de/wissen/mediennutzungszeiten/ (Zugegriffen: 21. Januar 2021).
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sind über die hohen Bildschirmzeiten in Schulen verunsichert (kritisch zum Konzept der Bildschirmzeit, vgl. Boyd 2014). Zwischenfazit Ein zentraler diskursiver Mechanismus in Texten über Digitalität und Pädagogik ist die binäre Unterscheidung, die eine übliche Medienlogik wiederholt (zur Übersicht: Macgilchrist 2011). Dies wird in der Opposition zwischen „Nachholbedarf“ und „Spitzenreiter“ sichtbar, wenn es um FOMO geht. Es wird ebenso in der Problematisierung der fehlenden Konvivialität gesehen, wo planetarische Ausbeutung gegenüber Nachhaltigkeit und Konkurrenzdruck gegen Kooperation gestellt werden. Es wird darüber hinaus in Risikobegriffen sichtbar, wenn Sorgen um die Erziehung zur Freiheit und Emanzipation der digitalen Mediennutzung entgegengestellt werden. Metaphern wie Nachholen, Sitzenbleiben und Hinterherhinken prägen auch während der Coronapandemie die öffentlichen Diskussionen, einschließlich Zukunftsvorstellungen. Bei aller Differenz zwischen FOMO, planetarisierender Nachhaltigkeit und individualisierenden Bildschirmrisiken ist jedoch ein Element konstant. In den hier analysierten Texten wird überwiegend über Digitalisierung, Technik oder digitale Medien im Allgemeinen gesprochen. Die nähere Unterscheidung zwischen Formen des Lernens, der Kommunikation oder der Medien erfolgt in anderen Diskursarenen. Gerade diese Hervorbringung von Digitalisierung oder Technik als ein einziger Gegenstandsbereich könnte allerdings auch die Hoffnungen, Vorstellungen und zukünftigen Entscheidungen prägen.
3 Diskurs „in“ Digitalität und Pädagogik Dieses Kapitel basiert auf der Analyse ausgewählter Softwaresysteme. Auch hier geht es nicht um Digitalität als didaktische Herausforderung oder Anwendungsproblematik, sondern um (womöglich) grundlegende Transformationen der Schule durch den in digitale Bildungsmedien – vor allem Software – eingeschriebenen Diskurs. Mit digitaler Bildung werden immer mehr pädagogische Prozesse ‚durch‘ Softwareprogramme durchgeführt (vgl. Decuypere 2019; Jörissen und Verständig 2016; Williamson 2017b). Aber wer entwickelt die Software? Mit welchem Code? Welche Prioritäten werden in Softwaredokumentationen artikuliert? Welche Lerntheorie wird algorithmisch umgesetzt? Mit welchen Datensätzen wird die Künstliche Intelligenz trainiert? Welche (bzw. Wessen) Werte und Normen werden eingeschrieben (und entfalten eine Wirkkraft
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im Unterricht)? Die Grundannahme dabei ist, dass Software unsere Handlungen, Wissensaneignung oder Kommunikationsformen präfiguriert: Die Software „konfiguriert“ uns als Nutzer*innen (Ramiel 2017; Woolgar 1990; vgl. auch Benjamin 2019; Eubanks 2018). Diese Software kann eine potenziell starke Wirkkraft im Unterricht und in der Gesellschaft entfalten. Wie Wendy Chun schreibt, “media matter most when they seem not to matter at all” (Chun 2016, S. 1). Gerade die „gewöhnlichen“, „beiläufigen“ Dimensionen von Bildungsmedien zeigen, wie wir als Nutzer*innen imaginiert und konfiguriert werden; welche Wünsche, Begierden, Ziele als selbstverständlich betrachtet und somit normalisiert werden (vgl. Ahlrichs 2020). So entfaltet auch die anscheinend banale Mechanik potenziell weitreichende Implikationen. Zwei Beispiele zeichnen dies nach: die Reibungslosigkeit und die Personalisierung.
3.1 Reibungslosigkeit. Das Nicht-irritiert-sein Deutschlandweit setzen Schulen iPads ein. Sogenannte Tablet-Klassen sind oft iPad-Klassen (Aufenanger und Ludwig 2014). Die Marktdominanz von Apple sowie die Rolle von Apple Distinguished Educators in der Lehrer*innenweiterbildung in Deutschland ist kritisch reflektiert worden (vgl. Macgilchrist 2019). In diesem Kapitel interessiert nicht die Marke an sich, sondern es interessieren die Softwareapplikationen, insbesondere Lernapps, die für iPads entwickelt werden. Um im App Store angeboten zu werden, müssen Apps die Qualitätskontrolle der “App Review” bei Apple bestehen. Apple selbst bietet verschiedene Entwicklungstools an, z. B. iOS software development kit (SDK), an integrated development environment (IDE) Xcode 11, das auch die Programmiersprache Swift enthält. In den “Human Interface Guidelines” werden die Qualitätskriterien und der Prozess des App Reviews beschrieben. Apple vergibt auch eigene Design-Preise. Diese Qualitätsmerkmale, SDKs, IDEs, Programmiersprachen, Guidelines, Reviews und Preise schreiben bestimmte Werte und Normvorstellungen in die Apps hinein, die in Schulen eingesetzt werden. Zu jedem dieser Elemente gibt es zahlreiche Dokumentationen. Auffällig sind die folgenden drei Elemente: Ästhetisch Zum Xcode development environment liest man, u. a., “Code you write in Xcode looks stunning as the dark Xcode interface makes your work the star of the show.” Oder “With great Markdown support, your accompanying documentation will
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look great, too”.12 Bei den Design Awards wird die Ästhetik hervorgehoben, z. B., “Flow is a practical and artful note-taking app worthy of the Moleskine name, coupling powerful functionality and elegant design.” (Flow by Moleskin) oder “The beautifully crafted graphics alone make the game worth playing.” (Story game, The Gardens Between). Gut aussehen, elegante Gestaltung und schöne Grafiken werden als Schlüsselelemente beschrieben. Diese Anforderungen gelten sowohl für die Entwickler*innen, die bei der Entwicklung Code schreiben, als auch beim Endprodukt der App für Anwender*innen, und bei der Dokumentation, die die Nutzer*innen lesen werden. Apple Produkte sollen schön sein, eine schöne Visualität anbieten. Verschiedene Bereiche des Lebens werden von einer schönen Ästhetik gerahmt. Die Präsupposition, dass Schönheit ein Ideal und eine Zielstellung ist, wird durch Xcode, die Dokumentation und die Preise als Ideal und Zielstellung reproduziert. Einfach “The guiding principle of the App Store is simple” steht an prominenter Stelle in den App Review Guidelines. Weiterführend heißt es: “Apple customers place a high value on products that are simple, refined, innovative, and easy to use, and that's what we want to see on the App Store.”. Die Einfachheit wird auch bei der Einführung in die Entwicklerdokumentation hervorgehoben: “Develop apps that integrate seamlessly with the latest advancements in Apple platforms.”13 Und bei den Design Awards 2019: Das Spiel Ordia wird gelobt: “Playing couldn’t be simpler: Drag to aim, leap from dot to dot, avoid hairy-looking obstacles, and try to keep up as the game gets trickier over its dozens of levels.” Butterfly IQ – ultrasound, eine Gesamtkörper-Ultraschallapp ist “Simple enough to be operated by laypeople but advanced enough to use AR and machine learning to guide users along the way”. Das Einfachsein wird an verschiedenen Stellen dezidiert hervorgehoben. Entwickler*innen werden über das leitende Prinzip im App Store informiert. Die Nutzer*innen werden imaginiert und beschrieben als Personen, die Einfachheit schätzen. Auch die Integration mit Apple Entwicklungen soll nahtlos (seamless) ablaufen. In diesen Anweisungen wird die Einfachheit als notwendiges Kriterium für gute Qualität expliziert. Als Annahme erscheint die Einfachheit in den
12 Zitiert
aus https://developer.apple.com/develop/ (Zugegriffen: 7. September 2018). (Zugegriffen: 7. September 2018).
13 https://developer.apple.com/develop
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Preisbeschreibungen: Apps gewinnen Preise, wenn sie ausreichend einfach, aber gleichzeitig ausreichend technisch fortgeschritten (advanced enough) sind. Vertraut In den Human Interface Guidelines von Apple werden Qualitätskriterien beschrieben, die Apps erfüllen müssen.14 Die Webseite stellt Designprinzipien zur Verfügung und hebt Folgendes hervor: • Aesthetic integrity (Aesthetic integrity represents how well an app’s appearance and behavior integrate with its function. For example, an app that helps people perform a serious task can keep them focused by using subtle, unobtrusive graphics, standard controls, and predictable behaviors.) • Consistency (A consistent app implements familiar standards and paradigms by using system-provided interface elements, well-known icons, standard text styles, and uniform terminology. The app incorporates features and behaviors in ways people expect.) • Metaphors (People learn more quickly when an app’s virtual objects and actions are metaphors for familiar experiences – […e.g. People] even flick through pages of books and magazines.) • User Control (Throughout iOS, people – not apps – are in control. […] An app can make people feel like they’re in control by keeping interactive elements familiar and predictable […]). Bei ästhetischer Integrität, Einheitlichkeit, Metaphern und Nutzer*innenkontrollen wird jeweils ein Vokabular der Bekanntheit und Berechenbarkeit bzw. der Uniformität und Standardisierung hervorgerufen (predictable behaviours, well-known icons, uniform terminology, expect, familiar). Zentrale Designprinzipien beinhalten das Ziel, Nutzer*innen nicht zu irritieren und ihnen eine vertraute Nutzererfahrungen anzubieten. Auch hier zeigt sich die implizite Annahme, dass Nutzer*innen das möchten. Zusammenfassend scheint eine zentrale App-Mechanik die Reibungslosigkeit zu sein: Schöne, schlichte, vertraute Apps bieten eine reibungslose Nutzererfahrung an. Implizit wird eine irritierende, komplizierte oder ungewöhnliche Erfahrung problematisiert. Insgesamt beschreiben diese Dokumentationen für
14 https://developer.apple.com/design/human-interface-guidelines/ios/overview/themes/
(Zugegriffen: 7. September 2018).
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Entwickler*innen Normen und Normalisierungen: Diese Elemente definieren gute Apps. Die Ästhetik, Einfachheit und Vertrautheit werden in der Praxis nicht immer umgesetzt, aber die Normierung dessen, was als Qualität gilt, wird damit gesetzt und in unterschiedlicher Weise an verschiedenen Stellen (von den SDKs und IDEs zu den Design Awards) wiederholt. Welche Implikationen hat diese Reibungslosigkeit – bzw. die Problematisierung des Irritiertseins – für einen potenziellen Wandel im Pädagogischen? Sie steht im Kontrast zu klassischen Zielen des Pädagogischen, wie die produktive Irritation, die Begegnung mit radikal Neuem, oder die Auseinandersetzung mit “difficult knowledge” (Britzman 1998). Die Dokumentation, wenn sie denn so in Apps umgesetzt wird, konfiguriert Schüler*innen als Nutzer*innen mit der Erwartung, dass ihre Mediennutzung reibungslos abläuft; dass sie ästhetisch schön, glatt und schlicht sowie bekannt und vertraut abläuft. Reibungslosigkeit steht auch im Kontrast zu politischem Engagement, das eher konfliktreich als reibungslos abläuft (Emejulu und McGregor 2019; SzakácsBehling et al. 2021). Da die Appnutzung heutzutage alltäglich geworden ist (es gibt keine online/offline oder Virtual Life vs. Real Life Unterscheidung mehr), rahmt dieses „Nicht-Irritiert-Sein“ die Praktiken und den Ablauf des Tages. Ob damit ein sichtbarer Wandel der unterrichtlichen Praktiken bzw. des Lehrer*in- oder Schüler*inhandelns einhergeht, ist eine noch offene Frage, die durch Beobachtungen im Unterricht oder in Reflexion mit Lehrenden und Schüler*innen eruiert werden kann.
3.2 Personalisierung. Das programmierte Lernen Im öffentlichen Diskurs wird, wie oben gezeigt, „Bildung in der digital vernetzen Welt“ oder „Digitalisierung“ in der Schule als ganzheitlicher Bereich konstruiert. Es wird in diesen Debatten selten danach differenziert, wofür welche Art von digitalen Medien mit wem eingesetzt werden sollen. Auch in der kritischen Forschung zu digitalen Medien und Bildung wird, zum Beispiel, Kritik geübt an einem erneuten Behaviorismus, der durch EdTech in die Schulen in verstärktem Maße eintritt (Watters 2021). Lernsoftware kann durchaus mit dieser Brille analysiert werden. Area9 Lyceum, bspw., eine der führenden adaptiven Lernsoftwarefirmen weltweit, beschreibt ihre adaptiven Lernalgorithmen als sich entwickelnde Algorithmen, die sich ihrer Umgebung anpassen. „Unsere Algorithmen ermöglichen es dem Lernenden, Fehler zu machen und Fehleinschätzungen nachzuverfolgen, reale kognitive Situationen aus der Praxis eng nachzuahmen und so von
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einer effektiven und wirksamen Lernerfahrung zu profitieren.“15 Personalisierung ist ein zentrales Ziel, eine Personalisierung, die „berücksichtigt, was jeder Lernende bereits gelernt hat“. Lehrende definieren für einen Kurs auf dieser Plattform klare Lernziele. Lernende, die in den Kurs eintreten, schätzen ihr Vorwissen zum Thema ein, und werden Schritt für Schritt durch den Kurs geleitet. Bei „Anfänger*innen“ werden mehr Informationen vor den Aufgaben angeboten; bei „Expert*innen“ weniger. Bei jeder Frage geben die Lernenden sowohl die Antwort ein als auch ihre Einschätzung, wie sicher sie sind, dass die Antwort richtig ist (z. B. „ich weiß“; „ich denke, dass ich weiß“; „ich bin nicht sicher“). Das System fokussiert auf die Aspekte des Lernprozesses, die ein*e Schüler*in individuell bearbeiten und eine korrekte oder falsche Antwort geben kann. Auch aus diesem Grund fokussiert die Entwicklung in erster Linie MINT-Fächer.16 Die Selbstbeschreibung eines Mitarbeiters bei Area9 hebt eine zentrale Problematisierung dieses Anbieters hervor: „Bei allen bisherigen Systemen können Sie nachweisen, er hat den Kurs gemacht. Und mit unserem System können Sie nachweisen, dass er das verstanden hat. [… Dann] wird der Unterricht so gestaltet, dass sie viel mehr in die Anwendung gehen, viel mehr in die Übung gehen und weniger sich damit beschäftigen, noch mal an der Tafel alles anzuschreiben zum Beispiel, ne? Und das wird eben das Thema Bildung oder Lernen massiv verändern und das ist das, wenn Sie von Adaptivität reden, dass wir von real-adaptiv reden, weil das, was dieser Algorithmus macht und die KI im Hintergrund, dass es halt wirklich personalisiert ist. Weil das ist adaptiv, wenn ich mich auf die Bedürfnisse des Lernenden einstelle und eben ihm nur das zur Verfügung stelle an Wissen, an Lernressource, die er braucht, um das Lernziel zu erreichen.“ (Interview_EN-121_16LXIV_20201126, Pos. 16)
Problematisiert wird hier eine fehlende Personalisierung des Verstehensprozesses in gegenwärtigen Bildungsprozessen. Zum einen, dass Lehrkräfte sich damit beschäftigen müssen, alles für die gesamte Klasse an die Tafel zu schreiben, obwohl einige Schüler*innen den Kurs schon verstanden haben. Zum anderen, dass andere adaptive Lernsysteme nicht „wirklich“ personalisiert sind, d. h. sie stellen sich nicht auf die Bedürfnisse des Lernenden ein, in der Form wie die Algorithmen und die KI dieser Anbieter es tun.
15 https://area9lyceum.de/adaptives-lernen/so-funktioniert-es/
(Zugegriffen: 21. Januar 2021). 16 Einige kostenlose Probekurse stehen auf der Webseite nach einer Anmeldung zur Verfügung: https://area9lyceum.de/kurse/ (Zugegriffen: 21. Januar 2021).
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Auch weitere Anbieter suchen nach Lösungen für eine ähnlich zentrale Problematisierung: wie können sie die individuellen Lernenden am besten unterstützen, auf ihrem individuellen Lernniveau Lernfortschritte zu machen? Sie artikulieren die spezifische Leistung ihres Produkts im Hinblick auf die Aspekte des Lernens, die ihre Lernsoftware unterstützen kann. Bei einer US-Lernplattform, zum Beispiel, die learning analytics und KI bei ihren online Kursen anbietet, sagte ein Mitarbeiter: “Like we don’t have the capability to test you on your creativity. […] Where we excel at are things where there is an exam. It does not have to be a high-stake exam. It can be a low-stake exam” (Interviews_US05_20170328, Pos. 92). Eine adaptive Lernsoftware für Lesefähigkeit (US/China) hat das Ziel, Schüler*innen zum Lesen anzuregen. Sie bietet Texte an und entsprechenden Fragen, die richtig oder falsch beantwortet werden. Auf Basis der Antworten wird das passendste Niveau für das nächste Buch berechnet. “In order to see the growth, you really need to spend ten to twenty or twenty to thirty minutes a day on the platform, depending upon your age” (Interview_US01_20170317, Pos. 20). Der Geschäftsführer einer deutschen Firma, die seit 20 Jahren einen digitalen Vokabeltrainer weiterentwickelt und vertreibt, drückt den Punkt explizit aus. Wenn es um Vokabeln lernen und Wortschatz erweitern geht, bietet seine Lernsoftware eine gute Lösung. Es ermöglicht das Üben: „auf diese beschränkte Aufgabe, die wir ja machen“ ist die Software gut (Interview_GF_16XXXVI_20200420, Pos. 162). „Aber ich glaube, so den klassischen Unterricht komplett zu digitalisieren, dort, wo es eben um Haptik und soziale Interaktionen und ähnliches geht, muss man irgendwie so einen Mittelweg finden“ (Interview_GF_16XXXVI_20200420, Pos. 74). Auch eine Führungsperson in Boston sagte: “The way that we regard the adaptive learning system that we are building is that it should be seen as an aid to the teacher. […] It can actually make sure that all the trivial knowledge, and you don’t need a teacher most likely to teach it, a computer can handle that. And then let the teacher focus on the more difficult things (Interview_US09_20170331, Pos. 28). Die Software wurde gebaut, um ein “highly personalized experience” zu ermöglichen (Interview_US09_20170331, Pos. 34). Beim „trivialem Wissen“ geht es auch in dieser Software um das Erlernen von bekannten Inhalten. Die Lehrenden werden – so die Idee – von diesen Aufgaben befreit, um sich komplexeren Aspekten des Unterrichtens zu widmen. Insgesamt heben historisierende Arbeiten hervor, wie die Art von Aufgabe in diesen Softwaresystemen weitgehend als behavioristische Ansätze beschrieben werden können (Hof 2018; Watters 2014, 2021). Sie setzen – ästhetisch, schlicht und/oder spielerisch – das Skinnersche programmierte Lernen (programmed
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instruction) um (Skinner 1938, S. 71 f.). Es geht um das richtige Lösen von Aufgaben mit vorab definierten Antworten. Erfolg wird dem Lernenden vom System gemeldet. Lerninhalte werden so aufbereitet, dass das Lernziel dem Lernenden klar ist. Lernschritte führen in logischer Abfolge zum Lernziel. Bei adaptiver Software wird so oft wiederholt bzw. iterativ geübt, bis ein Großteil aller Lerneinheiten erfolgreich bestanden sind. Gerade dieser Behaviorismus wird von den kritischen Begleiter*innen der EdTech-Szene hinterfragt. Sie heben die negativen Konsequenzen für kollaborative, partizipative, schülerzentrierte Bildung und für die Beziehungsarbeit in Bildungsprozessen hervor, wenn solche Softwaresysteme immer mehr Einzug in den Unterrichtsalltag halten (Stommel et al. 2020). Die Problematisierung von behavioristischen Ansätzen in EdTech bringt selbst Problematisierungen hervor: Der Verlust des kooperativen und beziehungsorientierten Lernens oder zumindest der Verlust der Hoffnungen auf ein zukünftiges Bildungssystem, das das kooperative und beziehungsorientierte Lernen ermöglicht. Dass die EdTech-Anbieter sich selbst nie in den Begriffen des Behaviorismus oder des programmierten Lernens beschreiben, weist auf die gegenwärtige negative Konnotation dieser Lerntheorie hin, wenngleich das Einüben des Einmaleins oder das Pauken von Vokabeln usw. nie aus der Schule verschwunden i sind. Das programmierte Lernen wird in vielfältiger Lernsoftware derzeit umgesetzt und im Unterricht, Homeschooling oder im Nachmittagsbereich eingesetzt. Da der öffentliche Diskurs der Digitalität und Pädagogik selten zwischen den in diversen digitalen Bildungsmedien eingeschriebenen Lerntheorien unterscheidet (siehe oben), wird dieser Aspekt allerdings selten explizit benannt. Hier wirft die Analyse die Frage auf, ob es auf einen Strukturwandel im Pädagogischen weist, wenn das programmierte Lernen nun mit digitalen Medien (und automatisierter Rückmeldung) statt mit klassischen Drillübungen umgesetzt wird. In einem möglichen, von kritischen Begleiter*innen befürchteten, Zukunftsszenario verdrängen diese neuen Technologien das kooperative Lernen aus dem Unterricht. In einem zweiten Szenario lehnen Lehrpersonen diese spezifischen Technologien ab, weil die Lerntechnologien die Schüler*innen von ihrer Lerngemeinschaft isolieren. Diese Ablehnung würde in der öffentlichen Debatte, die wie oben beschrieben „Digitalisierung“ eher als einen Gesamtbereich sieht, womöglich als das lehrer*innenseitige Ablehnen der gesamten Digitalisierung aufgegriffen werden. In einem dritten Szenario – und hier wäre der Strukturwandel anzutreffen – findet der Drill eine neue Akzeptanz in der Schule, gerade weil Anbieter ihre Lernprogramme als klassisches programmiertes Lernen vermarkten würden und das durch neue Begriffe wie „adaptives Lernen“, „KI-Lösungen“ oder
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„Personalisierung“ eine positive (Neu-)Wertung erfährt. Was würde passieren, wenn Behaviorismus in den öffentlichen Debatten als für diese „beschränkten Aufgaben“ (siehe Zitat oben) passend begrüßt werden würde? Wenn Personalisierung so umdefiniert werden würde, dass es sich um personalisiertes programmiertes Lernen handelt, oder wenn ein alternativer Begriff – statt Personalisierung – für die spezifischere Softwareangebote verwendet werden würde? Dies könnte ein Wandel im Selbstverständnis der gegenwärtigen Pädagogik bedeuten. Auch hier gilt, dass es neben einer Analyse des in den Softwaresystemen eingeschriebenen Diskurses, Beobachtungen im Unterricht und Reflexionsgesprächen bedarf, um die Unterrichtspraktiken und das Selbstverständnis der Schüler*innen und Lehrende mit Blick auf diesen Fragen zu erforschen (vgl. Cone 2021).
4 Fazit Ziel dieses Beitrags war, mit den Werkzeugen der Diskursforschung – erweitert in Anlehnung an die Software Studies – nach einen möglichen Struktur- oder Kulturwandel im Pädagogischen zu fragen.17 Im öffentlichen Diskurs, der die Verbindung von Digitalität und Pädagogik explizit zum Thema macht, erscheint die Technik (d. h., die Digitalisierung, die digitalen Medien) als treibende Kraft. Parallel zum Phänomen FOMO, fear of missing out, wird ein Nichthandeln problematisiert, weil etwas verpasst werden könnte, und ein schnelles Handeln angestrebt wird. Akteuren in Bildungskontexten wird eine auf die Technikentwicklung reagierende Rolle zugeschrieben. In Abgrenzung zu diesem Diskurs betonen andere Akteure die nachhaltige Gestaltung der Digitalität in Bildungskontexten. Hier wird Technik in einer Problematisierung von globalen Ungleichheitsverhältnissen und planetarischem Kollaps eingewoben. Druck wird ausgeübt, die aktuelle Digitalisierung zu verändern und konvivialer zu gestalten. Andere Akteure problematisieren stattdessen individualpsychologische, emanzipatorische und gesundheitliche Risiken für Kinder. Hier werden Handlungsaufforderungen nahegelegt, die Nutzung digitaler Medien in Bildungskontexten einzuschränken. Diese Themen werden explizit artikuliert; sie sind auf der Ebene der „Repräsentation“ sichtbar. Prioritäten werden öffentlich als dezidierte Zukunftsvisionen formuliert. Die erste dieser Problematisierungen (hier FOMO genannt) ist in öffentlichen Debatten sehr präsent, und wird von deutungsstarken Akteuren
17 Eine
umfassendere Kartierung des aktuellen Diskurses zu Digitalität und Pädagogik habe ich an anderer Stelle versucht (Macgilchrist 2019; Macgilchrist et al. 2020).
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(in Politik, Presse, Stiftungen) artikuliert. Die zweite Problematisierung (mit Nachhaltigkeit als Lösungsweg) erscheint in aktivistischen Kreisen als einzig sinnvolle Position. Die dritte Problematisierung (Bildschirmzeit als Risiko für Kinder) weist vermittelt über Eltern und wissenschaftliche Technikfolgenabschätzungen eine Wirkkraft auf Schulen aus. Alle drei Problematisierungen konkurrieren um die Deutungshoheit, aber aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionen. Eine Unterscheidung aus den Game Studies aufgreifend kann neben der repräsentationalen Ebene auch die Ebene der Spielmechanik – oder in diesem Fall die Mechanik der Apps oder Lernsoftware – als Diskurs analysiert werden (vgl. Ruberg 2020). In Software eingeschriebener Diskurs kann gerade durch seine anscheinend banale, beiläufige, subtile Mechanik eine starke Wirkkraft auf alltägliche Praktiken, Normierungen und Normalisierungen entfalten, d. h. auf das, was selbstverständlich erscheint und somit eine hegemoniale Deutungsmacht annimmt. Der Beitrag wies exemplarisch auf zwei aktuelle Richtungen hin: Erstens werden durch und im App-Design Nutzer*innen imaginiert – und somit als solche Subjekte adressiert und konfiguriert –, die sich Reibungslosigkeit in ihrem Leben wünschen. Je mehr unser Leben mit reibungsloser Software umhüllt ist, so die Implikation, desto mehr wird der schlichte, einfache, reibungslose Umgang mit der Welt zur Selbstverständlichkeit und zum unhinterfragbaren Aspekt unseres Lebens. Diese Reibungslosigkeit steht in Kontrast zu klassischen Bildungszielen. Zweitens schreiben adaptive, KI-gestützte Lernsoftwares Dimensionen des durch Skinner bekannt gemachten programmierten Lernens in aktuelle Lernszenarien ein. Unter dem Label Personalisierung werden die Aspekte des Unterrichts, die auf Drill, Einüben, Pauken, richtig/falsche Antworten fokussieren, als gleichzeitig „trivial“ und hypermodern („Algorithmen“, „KI“, „real-adaptiv“) produziert. Ausdrückliches Ziel der oben zitierten Anbieter ist, die Lehrenden von diesen trivialen, beschränkten Aufgaben zu befreien, damit sie sich mit komplexeren Bildungsprozessen beschäftigen können. Das Lernen bekannter Inhalte verläuft allerdings mit personalisierter Software anders als mit Papier, Stift und Handmeldungen. Hier geht es nicht um „bessere“ oder „schlechtere“ Leistungen, sondern um die unterschiedlichen Rückmeldungen, Hinwendungen, Aufmerksamkeiten, Sichtbarkeiten usw., die sich in bestimmten Kontexten mit Computer oder Lehrperson entfalten. Interessant wird es sein, zu beobachten, ob das programmierte Lernen eine neue Wertung im Bildungsverständnis erfahren würde, wenn es explizit mit diesen neuen Technologien und Technologiebegriffen verknüpft und gleichzeitig dezidiert als begrenzt beschrieben werden würde. In allen Fällen – ob im Diskurs über Digitalität und Pädagogik oder im Diskurs, der in Bildungsmedien eingeschrieben wird – prägt der Diskurs das, was
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uns selbstverständlich, alltäglich und erstrebenswert erscheint. Auch wenn Software nur formal betrachtet eine Ideologiemaschine ist (Chun 2006, S. 19) und Bildungsmedien keine deterministischen Auswirkungen auf die Praxis haben, werden hier Hoffnungen und Wünsche durch das Sprechen und Schreiben über digitale Medien artikuliert, und Zukunftsvorstellungen in die Software eingeschrieben, die unser Handeln konfigurieren. Deutschland muss nachsitzen und aufholen; die Erfahrungen sollen reibungslos und das Lernen personalisiert sein: soviel scheint für einige Akteure selbstverständlich. Ob die Entwicklung und Nutzung konvivial sein oder reduziert werden sollen, steht eher am Rand der Debatte, ist aber mit aktuellen gesellschaftlichen Aufmerksamkeiten (z. B. Fridays for Future, COVID-19) eng verwoben. In diesem Beitrag wurden nur ausgewählte Fälle exemplarisch behandelt – auf methodologischer Ebene ist die Ausweitung der Diskursforschung mit ihrem Fokus auf Performativität, Praktiken und Politiken auf die Software ein notwendiger Beitrag zur Forschung zu EdTech bzw. Bildungsmedien. Neben Science and Technology Studies und humanistischen Forschungsansätzen bringt die Diskursforschung eine machtsensible Perspektive in die Forschungslandschaft hinein, um zentralen Fragen nach u. a. Subjektivierung, Deutungshoheit und hegemonialen Strategien nachzugehen. Auch die Frage der Softwareentwicklung ist relevant: Welche soziotechnischen Praktiken bringen die aktuellen Einschreibungen wie hervor? Was wird dezidiert und was beiläufig reingeschrieben? Um mit der Thematik des Bandes zu enden: In diesem Beitrag wurde kein singulärer Struktur- oder Kulturwandel des Pädagogischen identifiziert, sondern es wurden verschiedene konfligierenden Linien, die in ihrer jeweils spezifischen Performativität unterschiedliche soziale Welten hervorbringen, deren Praktiken und Politiken es näher nachzuzeichnen gilt, betrachtet.
5 Förderung Ein Teil dieses Beitrags wurde im Rahmen des mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördertes Projekt DATAFIED (Förderkennzeichen: 01JD1803B) erarbeitet (vgl. Bock et al. in Erarbeitung/2023). Dank gilt neben dem Herausgeberteam dieses Bandes auch Felix Büchner, Nadine Wagener-Böck, Jasmin Troeger und den Teilnehmenden des DiscourseNet Kongress in 2019 für Rückmeldungen zu einer früheren Version sowie Korina Rodriguez Cabeo für die sprachliche Überarbeitung. Die Verantwortung für die Inhalte des Beitrags liegt bei der Autorin.
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Zur Medialität des Digitalen: Medientheoretische und -pädagogische Perspektiven
Mediensoziologische Perspektiven auf digitale Körperbildpraktiken und Subjektivierung Dagmar Hoffmann
Zusammenfassung
Der folgende Beitrag geht der Frage nach, welche Bedeutung speziell digitalen Medientechnologien beim körperbezogenen Handeln zukommt, und mit welchen Absichten und zu welchen Zwecken Körperbilder hergestellt werden. Es werden einerseits verschiedene klassische Forschungsansätze vorgestellt, die immer wieder bemüht werden, wenn die Wirkung von medialen Körperbildern erklärt werden soll. Andererseits wird dafür plädiert, Körperbildpraktiken komplexer zu untersuchen und vor allem Subjektivierungsanforderungen und Sozialisationsprozesse mitzudenken. Gefragt wird danach, inwieweit sich körperbezogene Subjektivierungsprozesse in digitalen Medienkontexten abbilden. Abschließend werden die Veränderungen der Produktionsweisen von Körperbildern und zugehörige Wahrnehmungsprozesse von Körperbildpraktiken bildungsbezogen diskutiert. Schlüsselwörter
Bildaneignung · Bildhandeln · Körperbilder · Körperselbst · Mediensozialisation · Subjektivierung
D. Hoffmann (*) Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_4
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1 Einleitung Im November 1988 zieht die 34-jährige US-amerikanische Talkmasterin Oprah Winfrey circa 30 Kilo Körperfett im Handkarren auf die Bühne ihrer Show, um dem Fernsehpublikum ihren Gewichtsverlust zu demonstrieren, den sie durch eine strenge, flüssige Protein-Diät innerhalb von vier Monaten erzielt hatte. Diese inszenierte Selbstentblößung hat sie später in einem Interview im Alter von 51 Jahren zutiefst bereut.1 Winfrey ist seit Jahrzehnten die Königin der TV-Talkshows in den USA, Vorbild für viele Amerikaner*innen über Altersgrenzen hinweg. Sie verkörpert den American Dream, steht für Emanzipation und Empowerment, gilt als einflussreich. Immer wieder wird sie in der Liste der „World’s Most Powerful People“ des Forbes-Magazins aufgeführt, in der Frauen eine Minderheit darstellen. Sie ist zudem Galionsfigur für das Unternehmen Weight Watchers, das seit den 1960er Jahren nunmehr in über 30 Ländern der Welt ein spezielles Diätprogramm vertreibt. In der 1980er Jahren erlebten Fitnesssport und gezieltes Body Shaping einen absoluten Boom. Dies war prägend insbesondere für die Generation an Frauen, die massenhaft in die Studios strömten und Aerobic in hautengen Leggins und Bodys praktizierten. Dem nahezu globalen Körperkult konnte man sich kaum entziehen. Winfrey war aber auch für viele Vorbild gerade wegen ihrer äußeren Erscheinung und weil sie „den Diätzirkus“ nicht konsequent mitmachte, „sondern selbstbewusst Kleidergröße 44 trug und erfolgreich war“2. Gleichwohl litt sie am Jo-Jo-Effekt, den ihre Anhänger*innen mitverfolgen konnten. In den letzten Jahrzehnten haben Medien sich stark ausdifferenziert und Nutzer*innen haben heute weitaus mehr Möglichkeiten als damals, auf Medieninhalte unmittelbar zu reagieren und sich mit ihren persönlichen Belangen zu Wort zu melden. Winfrey startete ihre Karriere im linearen Fernsehen, dass bekanntlich eine hohe Reichweite hatte. Rückkanäle waren seinerzeit kaum gegeben, was sich nunmehr bei vergleichbaren Shows anders darstellt. Die Rolle von Prominenten, ihr Aussehen, ihr Konsum- und mitunter Essverhalten, bleiben für Rezipient*innen relevant (u. a. Fromm et al. 2011, S. 116 f.), werden aber im Kontext eigener Geschichten und Bilder wiederum medial vor allem im Netz (neu) verhandelt. In der
1 Manager Magazin vom 27.02.2019, https://www.manager-magazin.de/finanzen/boerse/ weight-watchers-aktie-stuerzt-ab-oprah-winfrey-soll-helfen-a-1255296.html. Zugegriffen: 29. Dezember 2020. 2 SPIEGEL vom 12.12.2008, https://www.spiegel.de/panorama/leute/esslust-oprah-winfreygeisselt-sich-fuer-90-kilo-gewicht-a-596212.html. Zugegriffen: 29. Dezember 2020.
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Gegenwartsgesellschaft rezipieren Abonnent*in und Follower*in nicht nur mediale Körperbilder, sondern agieren oftmals als „Prosumer“ (Bruns 2010). Sie produzieren eigene Medieninhalte und machen sie öffentlich. Unmittelbare Kommunikation im Netz kann als digitale Praxis betrachtet werden, die es erlaubt, mediale Wirklichkeiten stärker in Frage zu stellen, sie auf vielfältige Weise zu dekonstruieren und/ oder umzudeuten. Damit unterscheidet sich das Medienhandeln moderner Subjekte von denen der Vergangenheit, die den Inhalten distribuierender Medien zwar auch widersprochen haben mögen, aber ihre Kritik ungleich schwerer mitteilen und adressieren konnten. Ausgehandelte und oppositionelle Lesarten können nun direkt in Form von Kommentaren, Blogeinträgen und konträren, eigenproduzierten Inhalten und Bildern öffentlich kommuniziert werden. Die Infrastrukturen des Netzes stellen insofern neue Kommunikations- und Partizipationsräume bereit, als dass viele verschiedene Standpunkte mehr oder minder ungefiltert ausgetauscht werden können. Theoretisch haben auch marginalisierte Gruppen nun größere Teilhabechancen, können ihre Themen platzieren und sich Gehör verschaffen, Gegendiskurse initiieren (u. a. Papacharissi 2015). In Zeiten des sogenannten Web 2.0. sind Körperpraktiken, Schönheitsbilder und Fitness dominante Themen insbesondere auf Bild- und Videoportalen wie etwa Instagram. So sorgte sich im Jahr 2014 die feministische Künstlerin Petra Collins in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) um junge Mädchen, die vermeintlich alle ihren Körper hassen (Würfel 2014): „Ich will, dass junge Frauen aufhören, sich zu schämen“, erklärt sie, „oder das Gefühl haben, sich schämen zu müssen. Dafür, wie sie aussehen, was sie fühlen, denken, wollen.“ Ihrer Beobachtung nach werden Frauen zu häufig und unabhängig von ihrem sozialen Status an ihrem Aussehen gemessen. Grund dafür seien idealisierte Körperbilder, mit denen man sich vergleicht und sich ihnen unterwirft. Wahrnehmung und Postulat von Collins sind keineswegs neu. Adressiert wurden und werden hier vor allem Medien, zuweilen auch bestimmte Formate und/oder Akteure sowie vermehrt Influencer*innen (Nymoen und Schmitt 2021, S. 77 ff.), die ein idealisiertes Körperbild vermitteln, ja den zumeist jungen Betrachter*innen aufdrängen (vgl. u. a. Stehling 2015; Götz und Mendel 2015 sowie im Überblick Peter und Brosius 2021 und Krause 2018, S. 85 ff.). Die wahrgenommene Dominanz bestimmter medialer Körperbilder wird häufig im Zusammenhang mit den Prävalenzen von Körperunzufriedenheit und Essstörungen problematisiert (im Überblick Blake 2014; zum Forschungsstand siehe u. a. BaumgartnerHirscher und Zumbach 2019), obgleich aus der psychologischen Forschung bekannt ist, dass man es sich mit dieser Kausalannahme oftmals zu einfach macht, da psychosoziale und gesellschaftliche Risikobedingungen hier stets zusammenwirken (vgl. u. a. Pauli 2015).
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Der folgende Beitrag möchte der Frage nachgehen, welche Bedeutung speziell digitalen Medien(technologien) beim körperbezogenen Handeln zukommt, und mit welchen Absichten und zu welchen Zwecken Körperbilder hergestellt werden. Ferner soll erörtert werden, inwieweit sich körperbezogene Subjektivierungsprozesse in digitalen Medienkontexten abbilden. Und nicht zuletzt gilt es, die Veränderungen der Produktionsweisen von Körperbildern und der zugehörigen Wahrnehmungsprozesse von Körperbildpraktiken bildungsbezogen zu diskutieren.
2 Bedeutung digitaler Medien beim körperbezogenen Handeln In Zeiten von Digitalisierung und Mediatisierung (zur Begriffsbestimmung siehe Kap. 3 oder Herzig in diesem Band) sind funktionalistische Zuschreibungen herkömmlicher Medien zunehmend hinfällig. Eine Betrachtung von Einzelmedien ist immer weniger sinnvoll, denn Medien verweisen aufeinander, konvergieren, differenzieren und hybridisieren sich. Es gibt nicht den einen Kanal, das eine Fenster zur Welt, sondern digitale Medientechnologien sind viel stärker noch Instrumente und Werkzeuge, mit denen selbst textuelle und visuelle Inhalte erschaffen werden können. Plattformen und Anwendungen fordern die Nutzer*innen geradezu heraus, verlangen Eigeninitiative, Kreativität und nicht zuletzt Medienmündigkeit. Digitale Medien können je nach Nutzungsweise Handeln (an)leiten oder verhindern, Handlungswissen erzeugen und den Erwerb von Handlungskompetenzen in vielfältigen Bereichen ermöglichen. Sie können den Blick weiten, Sinne schärfen oder auch beeinträchtigen. Was sie im Einzelnen für die Individuen moderner Gesellschaften sind und bedeuten, in welcher Abhängigkeit man sich mit ihnen befindet oder wie entbehrlich sie sind, entscheidet jedes Individuum selbst, beziehungsweise handelt es dies in sozialen Situationen – etwa in der Familie, der Beziehung oder in Peerkontexten – aus. Bewähren sich bestimmte digitale Medienpraktiken, so erhöht dies die Chance, dass sie sich verfestigen, dass Routinen ausgebildet werden, sie zum Habitus dazugehören. Einige digitale Medienpraktiken werden nur beobachtet, vereinzelt ausprobiert, und somit verflüchtigen sie sich wieder oder werden aus verschiedenen Gründen dauerhaft wieder aufgegeben. Man denke etwa an Selfieund Foodiepraktiken oder die Verwendung von Emojis, die man eventuell nach geraumer Zeit und Anwendung dann als übertrieben, unpassend, albern und/oder milieuspezifisch empfindet.
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Gerade digitale Medien wandeln sich stetig z. B. durch modifizierte und erweiterte Nutzungsbedingungen, technische Anpassungen und neue Features sowie Synchronisierungsmöglichkeiten. Verändern sich die gewohnten und präferierten Nutzungsweisen oder auch die Nutzer*innengruppe(n) von ihrer Zusammensetzung (etwa Altersstruktur), so werden mitunter andere Anwendungen bevorzugt. Man denke an die Abwanderung vieler junger Menschen von Facebook zu Instagram, nachdem auch u. a. Eltern und Großeltern sowie Lehrer*innen und überhaupt ältere Menschen in dem sozialen Netzwerk zunehmend aktiv wurden. Immer wieder locken aber auch neue Apps mit neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellungen wie z. B. aktuell das Videoportal TikTok. Die Nutzer*innen eignen sich verschiedene Dienste und Plattformen an und bringen dadurch jeweils neue respektive neuartige Bildpraktiken und Bildästhetiken hervor (Gunkel 2018). Digitale Bild- und Videoportale ermöglichen und erfordern neue Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen (mit Verweis auf McLuhan 1964 siehe Ruf 2018, S. 17 ff.), sie induzieren zugleich aber auch andersartige Vorstellungen von Körperlichkeit, von Performanz, Glaubwürdigkeit und Authentizität sowie Schönheit, Attraktivität und Diversität. Viele Alltagspraktiken haben sich in den letzten Jahren sukzessive in virtuelle Räume verlagert, so auch die Selbstdarstellung moderner Subjekte. Sie findet inzwischen recht selbstverständlich sowohl in On- als auch Offline-Sphären statt. Digitale Umgebungen werden von jungen Menschen immer weniger als besondere Kontexte erlebt, gleichwohl wird ihnen große Aufmerksamkeit geschenkt, dienen sie als komplementäre Sozialisationsräume doch wesentlich dem Informations-, Beziehungs- und Identitätsmanagement (Hoffmann 2011; Schmidt et al. 2009). Gerade die Adoleszenz ist eine intensive Zeit der Selbstfindung und Selbstpositionierung. Sie ist meist durch emotionale Dynamiken gekennzeichnet, besteht aus einem Sich-Selbst-Ausprobieren und Austesten sowohl in privaten als auch in (halb-)öffentlichen Kontexten. Über Interaktionen mit anderen sowie über den Vergleich mit anderen erfahren sich Jugendliche selbst u. a. in ihrer Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit (vgl. u. a. Fend 2005, S. 222 ff.). Die Präsentation, die Herstellung und Sicherung des Selbst bezeichnete Goffman (1959) bereits in den 1950er Jahren als Impression Management, das für alle Individuen der Gesellschaft als alltägliche Aufgabe betrachtet werden kann, die ihnen mal mehr, mal weniger bewusst ist. Goffmans Beobachtungen bezogen sich auf die Erscheinung und das Verhalten der Individuen in verschiedenen Situationen und Bühnen des Alltags. Seine Überlegungen konzentrierten sich auf Face-to-FaceBegegnungen, können aber für die Kommunikation und Interaktion in räumlich verteilten und mediatisierten Situationen weiterentwickelt und für die sozial- und
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kommunikationswissenschaftliche Forschung nutzbar gemacht werden (u. a. Einspänner-Pflock und Reichmann 2014; Boyd 2008). Digitale Kommunikation scheint auf den ersten Blick entkörperlicht, weil sie keine physische Kopräsenz voraussetzt und somit nicht – von Cyborgs abgesehen – explizit an den Körper gebunden zu sein scheint (vgl. Bullik und Schroer 2015). Sie ermöglicht, so Rosa (2016, S. 156 ff.), keine Resonanzerfahrungen, die mit Präsenzinteraktionen vergleichbar wären, ist immer reduziert und eingeschränkt. Angenommen wird, dass digitale Kommunikation „eine defizitäre Informationssituation“ hervorbringt sowie durch eine „relative Zeichenarmut“ (Hahn 2015, S. 24) gekennzeichnet ist, die soziale Wirklichkeiten unvollständig oder eben verzerrt abbildet. Hahn konstatiert jedoch, dass Aushandlungsprozesse von Situationen in Kopräsenz nicht ausschließlich auf der Interpretation situativ wahrgenommener Zeichen basieren. Situationen sowohl in körperlicher Anwesenheit oder bei Abwesenheit der Akteur*innen hängen immer von der zugrunde liegenden Zeichen- und Informationsqualität und zugehöriger subjektiver Deutungen ab. Subjekte sind zugleich immer wahrnehmende und interpretierende Wesen und das gilt sowohl in kopräsenten als auch medienbasierten respektive synthetischen Situationen. In die Deutung des Geschehens fließen die subjektspezifische Interpretation der Zeichen- oder Informationsqualität und individuelle Medienkompetenzen sowie Medienerfahrungen mit ein (ebd.). Digitale Technologien ermöglichen Kommunikation und Interaktion, ohne dass sich die Akteure körperlich begegnen (müssen) und zeitgleich füreinander da sind, dennoch setzen sich Menschen in der Regel kognitiv, emotional und konativ zum digitalen Geschehen in Beziehung. Sie wirken intentional und unintendiert auf dieses ein. Sie eignen sich Technologien an, indem sie sie benutzen, decodieren ihre Inhalte, reflektieren und verändern sie, reproduzieren oder kritisieren sie. Die Beziehung zu den digitalen Anwendungen ist selten einseitig, sondern reziprok und dynamisch (Hoffmann 2017, S. 165 f.). Insofern können mediale und soziale Praktiken nicht mehr getrennt voneinander betrachtet werden, sie bedingen sich gegenseitig und werden stets körpergebunden vollzogen. Die Art und Weise, wie man körperlich an digitalen Praktiken partizipiert und diese ausführt, bestimmt die Dynamik und die Ordnung des Sozialen. RaumZeit-Relationen verschieben sich, doch für die Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Körperlichkeit und der der anderen, scheint diese Tatsache zunächst sekundär zu sein.
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3 Körperbezogene Subjektivierungsprozesse in und mit digitalen Medienkontexten Das moderne Subjekt konzentriert sich auf seine Körperlichkeit, definiert sich über sein Aussehen, seine Fitness und Gesundheit. Folgt man Reckwitz (mit Verweis auf Shilling 2005), so speist sich „die spätmoderne Identität […] in erheblichem Maße aus primär körperbezogenen Praktiken“ (2017, S. 325). Damit einher gehen auch „unerbittliche Prozesse der kulturellen Valorisierung […]: die gesunden und gewandten Körper stehen den ungesunden, übergewichtigen und unbeweglichen Körpern gegenüber“ (ebd.). Selbstsorge drückt sich in Selbstoptimierung und der Arbeit an physischer Attraktivität aus. Physische Attraktivität stellt die Grundlage für das „subjektive Gefühl des Selbstwertes“ dar und „ist zugleich ein Faktor des sozialen Prestiges, sie wird zum »Subjektkapital«“ (ebd., S. 326). Doch was als attraktiv gilt, so Reckwitz, unterliegt Standardisierungstendenzen, die zugleich als „blutleer und maskenhaft“ (ebd., S. 327) problematisiert werden. Er räumt ein, dass die in diesem Sinne praktizierte Ästhetisierungen von Gesicht und Körperform milieuspezifisch sind und vornehmlich auf Mittelschichtangehörige zutreffen. Vieles deutet darauf hin, dass Körperästhetiken nicht statisch sind und weniger normiert als allgemeinhin angenommen. Sie variieren zudem nach Szenezugehörigkeit, Alter, Sozialisation und biografischen Erfahrungen (u. a. Reißmann und Hoffmann 2017). Gleichwohl hat man den Eindruck, dass populäre Medien idealisierte Körper (re-) präsentieren, diese gezielt in Umlauf bringen, an denen dann der eigene und andere Körper gemessen werden. Obgleich von einer Vielfalt an Körperbildern in Kultur und Gesellschaft ausgegangen werden kann, konzentrieren sich die Perspektiven in den Sozial- und Kommunikationswissenschaften und der Medienpsychologie bei der Untersuchung des Konnexes „Medien und Körper“ im Wesentlichen auf Medienwirkungsansätze, die hier kurz skizziert werden (siehe im Überblick u. a. Hoffmann 2019; Baumgartner-Hirscher und Zumbach 2019). 1. Kultivierungshypothese. Es wird mit Gerbner et al. (1986) davon ausgegangen, dass Medien, die dominant und exzessiv genutzt werden, eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit hervorrufen und durch kontinuierliche Wiederholung des Immergleichen respektive stereotyper Bilder von Körperlichkeit bestimmte Eindrücke dauerhaft verstärken. Rezipient*innen, die sich besonders bestimmten Formaten und Genres zuwenden, orientieren sich verstärkt an ‚ihrer Medienwelt‘. Dadurch stellt sich ein Verzerrungseffekt ein und zwar in
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Richtung der dargestellten subjektiv nachgefragten ‚Medienwelt‘. Dominante Narrative und Bilder sowie Stereotype auch in Bezug auf Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit beeinflussen demzufolge die Weltwahrnehmung der Intensivnutzer*innen. 2. Theorie des sozialen Vergleichs. Folgt man dem US-amerikanischen Sozialpsychologen Leon Festinger (1954), so haben Individuen grundsätzlich das Bedürfnis, sich ein realistisches Bild vom eigenen Selbst zu machen. Soziale Vergleichsprozesse finden vor allem dann statt, wenn ein objektiver Maßstab fehlt. Da Individuen in der Regel bestrebt sind, die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verbessern, dienen andere Menschen mit ihren Einstellungen und Kompetenzen ihnen als Vergleichsgröße. Aussichtsreich sind Vergleiche mit Personen mit einem ähnlichen Hintergrund, ähnlichen Fähigkeiten und Meinungen. Menschen vergleichen sich demzufolge horizontal, d.h. mit eher Gleichgesinnten (Peers), oder aber abwärts, d.h. mit Menschen, die ihnen unterlegen sind. Primär vergleicht man sich aber aufwärts. Man testet aus und prüft, welche Möglichkeiten der Verbesserung gegeben sind und was man noch erreichen, inwieweit man auch körperlich (mehr) an sich arbeiten und sein Selbstwertgefühl steigern kann. 3. Sozial-kognitive Theorie des Lernens am Modell. In einem Mehrphasenmodell interessiert sich der Sozialpsychologe Albert Bandura (2002) für die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen im Kontext medial vermittelter Modelle mit Vorbildcharakter. Er fragt danach, inwieweit sich Rezipient*innen Einstellungen und Verhaltensmuster, die in und über Medien dargeboten werden, zu eigen machen. Menschen müssen demzufolge zunächst einmal am Modell ein Verhalten wahrnehmen und dieses selbst für sich realisieren wollen (etwa ein diszipliniertes Sport- und Ernährungsprogramm). Dieses Verhalten müssen sie nicht nur verstehen, sondern kognitiv abspeichern und reproduzieren wollen. Mediale Angebote ermöglichen also Verhaltensbeobachtungen. Favorisierte Verhaltensweisen von Medienpersonen werden auf eine mögliche Adaption hin überprüft – nicht zuletzt in Abhängigkeit zu den vorhandenen eigenen Fähigkeiten und Ressourcen. Eine Grundvoraussetzung ist, dass einem die Person nahe ist, man sich mit ihr identifiziert. Vermutet der oder die Beobachter*in hinter dem gesehenen Verhalten der Medienperson einen Erfolg, dann ist die Wahrscheinlichkeit der Nachahmung groß. Personen, die einen höheren sozialen Status als der oder die Beobachter*in haben, werden eher nachgeahmt als Personen mit gleichem oder niedrigerem Status. In seinen Untersuchungen konnte Bandura zeigen, dass prozesshafte, selektive Erprobungen, aber kaum vollständige, nachhaltige Imitationen erfolgen. Die jeweilige Übernahme von medialen Modellen hängt sehr davon ab, inwieweit die übernommenen Verhaltensweisen im sozialen Umfeld positiv sanktioniert werden.
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Allen drei Ansätzen ist es gemein, dass sie von der Dominanz bestimmter Bilder ausgehen und der kontinuierlichen, regelmäßigen Zuwendung der Betrachter*innen zu diesen – im Fall der Visualisierung von Körperlichkeiten – idealisierten Bildern. Kultivierungseffekte zeigen sich vor allem in Querschnittstudien und experimentellen Untersuchungsdesigns (in Bezug auf manipulierte Fotos auf Instagram und ihre Wirkungen auf Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren siehe Kleemans et al. 2016), wenngleich Gerbner und sein Team in ihren ursprünglichen Bemühungen explizit Langzeitstudien einforderten. Kultivierungsstudien werden häufig verknüpft mit der Theorie des sozialen Vergleichs und vice versa. Die Wirkungsperspektive richtet sich vorrangig auf das unmittelbare kommunikative Geschehen und die postkommunikative Informationsverarbeitung. Effekte können sich dann auf das körperliche Wohlbefinden, das Körperselbstbild (vorher/nachher), Änderungen des Ernährungsverhaltens und mitunter sportlicher Aktivitäten sowie Körpergestaltungspraktiken konzentrieren. Wenngleich hier keine systematische Auswertung international vorhandener Untersuchungsdesigns vorgenommen werden kann, so besteht aber der Eindruck, dass es sich in diesem Forschungsfeld oftmals um randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) handelt. Diese Art der Forschung arbeitet zumeist mit einer Studiengruppe, die mit bestimmten medialen Körperbildern konfrontiert wird. Im Vergleich wird eine Kontrollgruppe keinen speziellen Stimuli ausgesetzt. Zuweilen sucht man auch explizit Gruppen von Menschen, die eine besondere Medienaffinität und/oder eine hohe Körperunzufriedenheit haben und analysiert Besonderheiten ihrer Mediennutzung (in Bezug auf Soziale Medien siehe Mills et al. 2017). Die kultivierende Funktion von Medien – Formaten und Akteuren – wird immer wieder auf den Prüfstand gehoben und in mediensoziologischer Perspektive ist die Effektannahme nur bedingt haltbar, denn die Arbeit am Körper und der Anhäufung von Subjektkapital hat eine kulturgeschichtliche Genese. Dass der Körper einen so großen Stellenwert in der modernen Gesellschaft hat, ist nicht allein medialen Angeboten geschuldet, sondern komplexen gesellschaftlichen Prozessen, Anrufungen des Subjekts und dessen Bestrebungen nach Selbstermächtigung. Wie Menschen ihr (Körper-)Selbst ausbilden, gestalten und modellieren, hat nicht nur etwas mit gesellschaftlichen Zurichtungen, medial vermittelten Imperativen zu tun, sondern mit der Bereitschaft, sich selbst formen lassen zu wollen. Mit Verweis auf Foucault und seinem Konzept der Gouvernementalität plädieren u. a. Stehling (2015) und Schurzmann-Leder (2021) dafür, stärker als bisher die Praktiken der Fremd- und Selbstführung in den Blick zu nehmen, das immanente Wissen um Körperlichkeit und nicht zuletzt die Rationalitäten, die ausschlaggebend für ein bestimmtes Körper- und Schönheits-
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handeln inklusive zugehöriger sozialer Zu- und Unterordnungen sind. Im Hinblick auf die Ausbildung und Etablierung von Körper- und Schönheitshandeln lohnt ein Blick auf klassische Aneignungsansätze und Weiterentwicklungen, die meso- und makrosoziale Perspektiven stärker mitberücksichtigen (ausführlich Hoffmann 2019): Multiple Bild- und Medienaneignung. Der Begriff der Aneignung, der den Cultural Studies zugehörig ist, verweist auf die Lesarten von Medientexten in jeglicher Form – u. a. Bild, Film, Akteur. Demzufolge wird von den Rezipient*innen nicht ohne Weiteres die dominante Lesart übernommen, sondern es werden Ästhetiken ausgehandelt, mitunter oppositionell kognitiv und emotional verarbeitet. Sich Körperbilder anzueignen heißt, sie kulturell einzuordnen und sie für den eigenen Lebenskontext, die Biografie und Identität nutzbar zu machen. Bildaneignung erfordert mehr als nur das Sehen und Wahrnehmen bestimmter visueller Angebote. Der Prozess der Aneignung umfasst verschiedene Stufen des Wahrnehmens, Erlebens, Erfahrens, Abspeicherns und wiederum kreativproduktiv Verfügbarmachens für verschiedene Zwecke. Eine Untersuchung von Reißmann (2015) zu den Bildpraktiken Jugendlicher in Sozialen Netzwerken verdeutlicht, dass körperbezogene Aneignungsfoki kontext-, ereignis- und entwicklungsbezogen variieren. Der „pseudodokumentarische[n] Idealisierung und Zurschaustellung von Körper und Stil“ (S. 216) stehen beispielsweise „Blickund Sichtbarkeitsverweigerung“ (ebd.) als Gegenimpulse gegenüber. Gutes Aussehen hat einen hohen Stellenwert, aber nicht immer ist das Ziel, selbstoptimierte Körperbilder ins Netzwerk zu stellen3, sondern auch mal Spaß- und Kostümbilder sowie Stimmungsbilder, die Ironie, Sehnsüchte, Einsamkeit ausdrücken (ebd., S. 243 ff.). Mit dem Beziehungsstatus verändern sich die eingestellten Fotos. Nicht zuletzt lernen Jugendliche dazu, professionalisieren sich in ihren Fotopraktiken, werden technisch besser und agieren mitunter künstlerischer (ebd., S. 260 f.). Zusammenfassend kann mit Reißmann (2015) und Dimitriou (2019) festgehalten werden, dass idealisierte Körperbilder als Modelle fungieren können, doch die Formierung des eigenen Körpers diesen nicht immer untergeordnet wird. Junge Menschen sind auch durchaus kritisch und resilient (siehe BaumgartnerHirscher und Zumbach 2019). Foto- und videografische Selbstdarstellungen Jugendlicher scheinen „oft als Reproduktionsfläche massenmedialer Körper-
3 Zu
den von Jugendlichen praktizierten Abweichungen normierter Bildpolitik siehe auch Richard (2010).
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lichkeit“, aber die Jugendlichen leisten dennoch mit ihren eigenen „medialen Selbstdarstellungen einen erheblichen Beitrag zur performativen Veränderung der vorherrschenden Körperbilder, was auch als Zeichen der zunehmenden Subjektivierung in der Postmoderne betrachtet werden kann.“ (Dimitriou 2019, S. 5). Bild- und Mediensozialisation. Menschen werden im Laufe ihres Lebens mit einer Vielzahl von diversen Bildern konfrontiert. Warum bestimmte mediale Bilder Menschen faszinieren und andere sie mitunter verstören, warum einige lange Zeit im Gedächtnis präsent bleiben und andere nicht, ist schwer zu beantworten. Im Vergleich zu Sprache und Schrift haben sie ikonische und symbolische Qualitäten, sind sie prinzipiell bedeutungsoffener, mitunter eher zugänglich, denn Sprechen, Lesen und Schreiben muss erlernt werden, wohingegen sich bestimmte Bildkompetenzen früh und informell im Sozialisationsprozess ausbilden. Bild- respektive Sehsozialisation geht über Bildverstehen hinaus und gilt als Teil einer umfänglichen Mediensozialisation. Unsere derzeitige Kultur ist vom Sehen bestimmt, das zeigt sich nicht zuletzt an der großen Akzeptanz von Bild- und Videoportalen, auf denen hochgradig ästhetisierte Körperbilder zu finden sind. Um Bild- und Mediensozialisation aussichtsreich deuten zu können, bedarf es verschiedener Forschungszugänge und in der Regel Langzeitstudien. Diese berücksichtigen u. a. die strukturellen und soziokulturellen Bedingungen der Sozialisation, biografische Erfahrungen, individuelle Kompetenzen und speziell Decodierungsfähigkeiten sowie Prozesse der wechselseitigen Ko-Konstruktion von Individuum und Umwelt (u. a. Reißmann 2015, S. 114 ff.). Generell interessiert man sich für die individuellen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlich induzierten ‚Schönheitsanforderungen‘, die auf der Subjektebene biografisch verschieden relevant werden und sich als Facette des Selbst wiederfinden lassen (können). Da Sozialisation ein kontinuierlicher Prozess ist, ist er mit interpretativen Verfahren nicht vollständig abzubilden und rekonstruierbar. Mediatisierung. Die Meta-Theorie der Mediatisierung baut auf Erkenntnissen der Mediensozialisationsforschung auf, indem – bezogen auf das Beispiel der Körperbilder – mediale und soziale Einflüsse auf die Aneignung von Körperwissen und die Ausübung von Körperpraktiken angenommen werden, die bestimmenden Einflussgrößen und Prägekräfte für sich genommen, aber nicht als einzelne exakt bestimmt werden können. Beim Mediatisierungsansatz begnügt man sich in der Regel nicht mit den beobachtbaren Instanzen der Sozialisation, sondern es soll die Subjektwerdung ambitioniert vor dem Hintergrund des sozialen und medialen Wandels, technologischer Entwicklungen, Machtverhältnisse und Diskurse abgebildet werden (u. a. Krotz 2019). Wandel gilt es, sowohl gesamtgesellschaftlich als auch individuell anhand verschiedener
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Kommunikationspraktiken auf unterschiedlichen Ebenen zu beschreiben und zu deuten. Dabei muss berücksichtigt werden, dass sich Menschen immer neuer und veränderter medialer Potenziale bedienen, was Folgen für alle Lebensbereiche, Wissensbestände, Identität und die Beziehungen der Menschen hat. Für die Komplexität von Bildaneignungsprozessen der Individuen bedeutet das, wie auch immer sich der Körper verhält und gestaltet wird, was und wie er fühlt, kann nicht losgelöst von gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen betrachtet werden, die sich durch und mit Medien(technologien) konstituieren und kontinuierlich verändern. Es ist somit fraglich, inwieweit es in einer mediatisierten Gesellschaft tatsächlich eine dominante Bildpraxis und Körperästhetik gibt, wo doch vieles erlaubt, ausprobiert und neuverhandelt wird. Je nachdem wie mediatisierte Gesellschaften strukturiert sind und wie sich in deren (vor-)gegebenen Ordnungsrahmen soziokulturelle Skripte und Ästhetiken ausbilden und verfestigen, entscheidet sich, ob sich bestimmte Bilder von Attraktivität in weiten Teilen der Bevölkerung durchsetzen oder eben ein breites Spektrum an präferierten Körperbildern auszumachen ist. Für individualisierte Gesellschaften ist prinzipiell von einer Kontingenz an Bildern von Attraktivität und Schönheit auszugehen.
4 Produktionsweisen und Wahrnehmung digitaler Körperbildpraktiken „Unsere Verbindung zur Welt ist zunächst eine körperliche“, schreibt die Psychologin Verena Kast (2003, S. 25). Der Körper scheint der Garant zu sein, „dass es uns in dieser Ausprägung gibt: ein Körper, wie ihn alle haben, ein Körper, wie nur ich ihn habe, mein ganz individueller Körper mit seiner Geschichte in der Vergangenheit und in der Zukunft. Wenn zu viel Entfremdung, zu viel Zerrissenheit auf uns einstürmt, dann finden wir immer noch im Körper unsere Lebendigkeit und eine Form der Ganzheit“ (ebd.). Ihre Beobachtungen verweisen auf soziologische Erklärungsmuster im Hinblick auf den vielfach diskutierten „Körperkult“ und „Schönheitswahn“. Demzufolge wird der Körper als „sinnstiftendes Objekt verehrt, das durch diverse Körperrituale geformt und ästhetisiert wird. Der Körperkult kann insofern als eine Art Diesseitsreligion bezeichnet werden, […] die an die Stelle der institutionellen Religion getreten ist. Zentraler Glaubensinhalt dieser Diesseitsreligion ist der Körper als sinnstiftende Instanz“ (Gugutzer 2007, S. 3). Der Körper wird nicht mehr als schicksalhaft erlebt und naturgegeben angenommen, sondern gilt als gestaltbar. Man kann in ihn erfolgversprechend investieren etwa durch Sport, Ernährung und chirurgische Ein-
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griffe (ebd., S. 6). Dieses Investment lässt soziale Anerkennung erwarten und ein gutes Gefühl, nichts unversucht gelassen zu haben. Mit dem Körper wird ein Befinden ausgedrückt, und andere Menschen können dieses mehr oder minder wahrnehmen und deuten. Je nach Alter variieren die Anforderungen und körperpraktischen Bemühungen. Insbesondere Heranwachsende und junge Menschen sind entwicklungsbedingt sehr auf ihren Körper fokussiert. Sie sind viel damit beschäftigt, ihren Körper zu beobachten, diesen zu präsentieren und zugleich infrage zu stellen. Der Körper ist in der Gegenwartsgesellschaft ein zentraler Ort, wo sich zum einen Identität ausdrückt und zum anderen aber auch dient er der Vergewisserung der eigenen Identität. Der Körper gibt Halt und Orientierung in Zeiten von Unsicherheit (Kast 2003, S. 27). Diese in Bezug auf alle Altersgruppen formulierte These verweist darauf, dass gesellschaftliche Entwicklungen die Fokussierung auf den Körper offenbar herausfordern. Häufig werden Medien für den Kult um den Körper verantwortlich gemacht, doch sie sind nur ein Teilbereich von Gesellschaft. In mediensoziologischer Perspektive ist der Kult um den Körper kein von Medienproduzent*innen initiierter, sondern ein aus der Gesellschaft heraus entstandener. Medien können als Teil der Kultur betrachtet werden, der aber nicht singulär agiert, sondern der immer ein soziales Verweisungssystem braucht. Insofern ist man bei empirischen Untersuchungen mit der Schwierigkeit konfrontiert, einzelne Einflüsse auf die Auseinandersetzung mit dem Körperlichen kaum genau extrahieren zu können. Aber dennoch kann davon ausgegangen werden, dass etablierte kulturelle Praktiken, Moden und Zeitgeist in biografischer Hinsicht Spuren hinterlassen (u. a. Krause 2018; Reißmann und Hoffmann 2017). Zu den körperbezogenen, kulturellen Praktiken in digitalen Umgebungen zählen Selbstdarstellungen, die mit der Auswahl des Profilbildes für Webauftritte beginnen, sich mit dem Posting von Alltagssituationen, Reisen, Konsum, Leistung und Erfolgen und vieles andere mehr in sozialen Netzwerken und auf Bild- und Videoportalen fortsetzt. Bildliche Körper- respektive Selbst(re) präsentationen dienen der Identitätskonstruktion ihrer Subjekte (u. a. Gunkel 2018, S. 26). Es wird posiert. Je nach Erwartungen des bekannten oder imaginierten Netzpublikums setzt man sich entsprechend in Szene. In Berufsnetzwerken werden seriöse Portraits bevorzugt, in eher privaten und halböffentlichen Netzwerken ist man in der Regel experimentierfreudiger. Die mediale Logik der Plattformen und Apps wie Facebook, Instagram und Snapchat fordert Selbstthematisierungen heraus, wobei gilt: Je öffentlicher der digitale Raum, umso eher werden „‚schöne‘ Bilder gezeigt, was eine konventionalisiert-kommerzielle Ästhetik impliziert“ (Schreiber 2020, S. 86). Messaging-Dienste forcieren –
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folgt man Schreiber (ebd.) – „hingegen eine reziproke Bildkommunikation (etwa über ‚hässliche Bilder’)“. Das Gegenüber ist bei Messaging-Diensten vertrauter, die Bildpraktiken sind intimer, erfolgen spontan und Schnappschüsse bleiben eher unbearbeitet (siehe auch Lobinger 2016, S. 47). Facebook und Instagram sind eher als (Selbst-)Präsentationsplattformen zu betrachten, stattfindende Anerkennungspraktiken sind hier durch die Struktur der Software mitkonstituiert. So ist die Smartphone-App Instagram Bildbearbeitungsprogramm und Social-Media-Plattform zugleich. Sie stellt zahlreiche Filter und einfache Korrekturfunktionen zum Bearbeiten von Fotos bereit. Auch die bei Jugendlichen beliebte App TikTok ermöglicht die Bearbeitung von Videos. Im Netz finden sich zudem zahlreich schriftliche und filmische Tutorials zur Herstellung von Fotos und Videos, die eine Person möglichst vorteilhaft inszenieren und gleichsam positive Aufmerksamkeit in Aussicht stellen. Likes und Kommentare sind dann die Währung, die die Arbeit am Selbst dokumentieren, messbar und auch für andere sichtbar machen. Die Selbstwahrnehmung des Körpers bedingt sich durch die vom Individuum rezipierte Fremdwahrnehmung, d. h. durch das Feedback der äußeren, sozialen Umwelt, zu der auch die Follower*innen und Abonnent*innen in Netzwerken zählen. Werden Fotos nicht mit einem Like-Button versehen, so kann dies als „Entzug von Aufmerksamkeit, Affirmation und Anerkennung“ (Schreiber 2020, S. 186) verstanden werden. Junge Menschen sind deutlich empfänglicher für kritische Blicke und Kommentare ihrer sozialen Umwelt, weil sie in dieser Entwicklungsphase besonders verletzlich und eben häufig noch ‚nicht in ihrem Körper sind‘. Sie müssen ihn erst bewohnen lernen (Fend 2005, S. 222 ff.). Der eigene Körper ist performativ und er verhält sich zu den Gender- und Körperperformanzen der anderen Menschen, mit denen er auf sehr unterschiedliche Weise konfrontiert wird. Im Hinblick auf die Selbstakzeptanz des Körpers und die Ausbildung einer Körperidentität bemühen sich Heranwachsende die Umwelten aufzusuchen, in denen sie etwas über Körperlichkeiten erfahren und vor allem sich selbst körperlich erfahren können. Die Selbstakzeptanz des Körpers ist ein Entwicklungsthema neben anderen, das in der Adoleszenz pressiert. Digitale Kommunikationskontexte – wie die eben genannten – sind ebenso wie Sportveranstaltungen, Tanzclubs und Konzerte/Musikfestivals wichtige Sphären und Bühnen, die es Jugendlichen erlauben, sich körperlich zu erproben, wahrzunehmen und sich ihres Selbst zu vergewissern z. B. durch den spielerischen Umgang mit ihren Ego-Bildern, mit Stilexperimenten und verschiedenen Zeige-, Demonstrationsund Produktionspraktiken (Reißmann 2015, S. 203 f.). Das Agieren vor und mit der Kamera sowie die postproduktive Bearbeitung der Fotos sind praktische Auseinandersetzungen mit der eigenen Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit. Die
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Smartphones fungieren für die Akteure nicht nur als bewegliche Spiegel, sondern die damit verbundenen fotografischen Tätigkeiten dienen zudem als Blickerweiterung auf das Körperselbst (ebd., S. 208 f.). Visuelle Körperdarstellungen im Netz in Form von Fotos und Videos werden wohl selten dem Zufall überlassen. Bilder für das Profil oder zur Profilbildung, für den Blog oder Feed werden in der Regel mit größerem Aufwand hergestellt und mit Bedacht für die jeweilige Community ausgesucht. Visuelle Selbstdarstellungspraktiken unterliegen dabei wie viele andere gesellschaftliche Bereiche auch dem Kreativitätsimperativ (Reckwitz 2012). Hier begibt man sich allerdings in eine perfide Situation: Die Selbstdarstellung soll einerseits bildästhetischen Standards (siehe z. B. „Perfekte Selfies schießen“4) genügen, andererseits dürfen die Bilder nicht standardisiert und schablonenhaft wirken, sondern sollen unique sein. Hinzukommt, dass im Nutzer*innenfeed Amateurfotografien neben professionellen Fotos changieren, da man nicht nur Freund*innen und Bekannten folgt, sondern eben auch Prominenten (z. B. Musiker*innen, Models, Schauspieler*innen, Sportler*innen). Sicherlich kann man versuchen, seine eigenen Bildproduktionen an Werbeästhetiken und professioneller Celebrity-Fotografie auszurichten, aber dies entfremdet einen mitunter vom Körperselbst, gibt einem nur temporär Selbstvertrauen. Über verschiedenste Selbstinszenierungspraktiken prüfen heranwachsende Nutzer*innen also, was wie bei ihren Follower*innen bzw. Abonnent*innen ankommt und was für sie selbst möglichst stimmig ist (Reißmann 2015; Richard 2010). Allerdings läuft man in den sozialen Netzwerken auch Gefahr, anhand der Dynamiken der Likes und Kommentare ein Publikum in bestimmter Weise zu bedienen. Zu exotisch dürfen die Körperbilder folglich nicht sein, die kreative Praxis muss im Rahmen bleiben. So werden Bilder beim Betrachten strukturiert, verbunden und verglichen mit bereits Bekanntem. Bilder werden mit Bedeutungen versehen. Diese Bedeutungszuschreibungen erfolgen prozesshaft, indem an individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Erwartungen, an Werte und Konventionen angeknüpft wird. Nur so kann ein mediales Körperbild abschließend bewertet werden zum Beispiel als schön oder abstoßend, als gewöhnlich oder besonders, als moralisch akzeptiert oder verwerflich. Nicht jede vom Bildproduzenten bzw. von der Bildproduzentin intendierte Ästhetik wird als solche erkannt und unhinterfragt – wie gewünscht und erhofft – encodiert. Im Prozess der Bildaneignung kommt es oftmals zu Transformationsverlusten, Modifizierungen, und Missverständnisse
4 https://de.wikihow.com/Perfekte-Selfies-schie%C3%9Fen.
Zugriffen: 25. Jan. 2021.
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sowie Umcodierungen sind nie ausgeschlossen. Die Melange an professionellen Fotos und Fotos von Amateuren erschwert in der Regel eine Aufmerksamkeitsgenerierung für die eigene Bildproduktion (boyd 2011, S. 53). Freilich fehlt hochgradig ästhetisierten Körperbildern häufig das Moment der Überraschung und des Ungewöhnlichen, was mitunter zur Abstumpfung führen kann. Einige Studien deuten darauf hin, dass sich in den digitalen Inszenierungsumgebungen stereotype Geschlechterbilder und veraltete Rollenklischees widerspiegeln, obgleich soziale Medien grundsätzlich große Chancen für mehr Diversität bieten (u. a. Götz und Prommer 2020; Götz 2019; bezogen auf Selfies bei Instagram siehe Döring et al. 2016). Auf den am häufigsten genutzten YouTube-Kanälen, Instagram-Seiten und TikTok-Accounts zeigen sich Männer dominant und unabhängig, Frauen agieren in einem eingeschränkten „Themenfeld, bezogen auf Aussehen, Schönheit und den privaten Raum“ (Götz und Prommer 2020, S. 44), Männer treten in vielfältigen Ausprägungen im öffentlichen Raum auf, „während Frauen nur in einem engen Korridor sichtbar sind“ (ebd.). Folgt man der Untersuchung von Götz (2019), so inszenieren sich Mädchen im Alter von 12 bis 19 Jahren in sozialen Netzwerken möglichst gut gelaunt, von ihrer besten Seite und möglichst schlank, wobei sie auch gleichzeitig möglichst natürlich aussehen möchten. Um dieses Ziel zu erreichen, wird von jedem zweiten der über 400 befragten Mädchen mindestens manchmal FilterSoftware benutzt, was für sie aber nicht im Widerspruch steht zu dem Wunsch, „natürlich“ auszusehen. Gesten und Posen von Influencerinnen, denen man folgt, werden gern adaptiert. Diese Befunde legen nahe, dass bestimmte Medienfiguren wohl nicht nur in den sozialen Netzwerken vor allem weiblichen Heranwachsenden zur Orientierung dienen. Offenbar suggerieren digitale Umgebungen für junge Menschen weniger Spielräume für Experimente und Gegenentwürfe, als potenziell vorhanden sind und theoretisch genutzt werden könnten. Bilden sich hier reaktionäre oder postfeministische Entwicklungen ab oder lenkt die bisherige Forschung zu sehr den Blick auf den Mainstream und vernachlässigt Perspektiven auf oppositionelle und subversive Körper- und Geschlechterpraktiken? Diesbezüglich wird u. a. von Mishra (2021) Kritik angemeldet, die in ihrer langjährigen Beschäftigung mit medialen Identitätskonstruktionen marginalisierter Gruppen und der Beobachtung internationaler Forschungsaktivitäten zu dem Schluss kommt, dass Minoritäten, Sub- und Gegenkulturen einfach zu wenig Berücksichtigung finden. Für Gegenkulturen und eine Relativierung von normierten Körperbildern stehen die Body Positivity-Bewegung und zahlreich verwendete Hashtags wie #bodylove, „loveyourbody“, „#allbodiesaregoodbodies“ und/oder zugehörige positive Glaubenssätze und Zitate, die im Netz von Nutzer*innen
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verbreitet werden. Vor allem Frauen propagieren Körperselbstzufriedenheit und die gesellschaftliche Akzeptanz vielfältiger Körperbilder. Diese resilienten Akteure fordern, sich gegennormierte medial vermittelte Körperbilder zur Wehr zu setzen. Werden Selfie-Praktiken oftmals von Wissenschaftler*innen als narzisstische abgetan, stigmatisiert und pathologisiert, können sie aber durchaus für die Identitätskonstruktion der Prosument*innen von großer Bedeutung, d. h. selbstermächtigend, ermutigend und befreiend sein. Nutzer*innen widerstehen zuweilen den „Sollenserwartungen“ (Wagner 2019, S. 70) der Plattformen. Selbstvisualisierungen sind Wagner zufolge nicht per se an konventionellen Darstellungsformen ausgerichtet und unterliegen dem Unterwerfungsgestus (ebd.; S. 69 f.). So werden Körperbilder, Posen und Gesten alters-, geschlechts- und milieuspezifisch doch sehr unterschiedlich sowohl von den Bildproduzent*innen als auch den Betrachter*innen gedeutet. Die akademische Bewertung und Einordnung gilt es folglich immer kritisch zu reflektieren. Heutzutage sind digitale Bilder beliebig modifizierbar, je nachdem wie man es für seine Subjektivierung in situ oder später benötigt. Die Darstellungen des Selbst sind konstruiert und immer wieder offen für Remodellierung (Gunkel 2018). Sie können einen bei der Selbstbetrachtung mit Stolz erfüllen, beschämen oder auch Gefühle von Entfremdung verursachen. Sie demonstrieren in jedem Fall die Ressourcen, die Arbeit und Leistung, die man aufgewendet hat und sind in jeder Hinsicht Insignien von moderner Subjektivierung5. Womit man seine Eigenproduktionen vergleicht und woran man das Resultat der Bildpraktiken misst, ist einem prinzipiell selbst überlassen. Manche Nutzer*innen erleben Filteroptionen als Imperativ, andere favorisieren offensiv sogenannte #nophotoshop-, #nomakeup- und #nofilter-Darstellungen. Will man bekannt werden, wird man eher Trends bedienen, da die Algorithmen der Apps und Plattformen diese eher aufgreifen und pushen. Will man seinen intimen Fantasien, Sehnsüchten und Wünschen nachspüren, eine eigene Kreativität zugestehen, dann muss man unter Umständen damit leben, ein Nischendasein im Netz zu fristen, aber einer kleinen Gemeinschaft von Gleichgesinnten eine Freude zu machen und aus der Seele zu sprechen. Widerständigkeit kann viele Ausdrucksformen haben, der Erfolg macht sich daran fest, inwieweit Unterstützer*innen das Anliegen teilen („Powersharing“, Nassir-Shahnian 2020) und in dem möglichst vielfältige Gruppen damit erreichen werden.
5 Zur
Subjektivierung durch Leistung siehe Ricken (2013).
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5 Implikationen für Bildungsprozesse Die naheliegende, aber eben oftmals vorschnelle Verantwortungszuschreibung an Medienakteure und Formate, zuweilen auch den Medien allgemein im Hinblick auf eine Prävalenz von Körperunzufriedenheit (vornehmlich von Mädchen) in der Gegenwartsgesellschaft ist für Bildungskontexte wenig hilfreich. Pauschale Wirkungsannahmen werden Phänomenen wie genderstereotypen Körperpraktiken und Körperbildstörungen nicht gerecht. Eine Körperbildstörung ist eine ernsthafte, psychische Erkrankung6 und sollte in Feuilletons nicht leichtfertig im Zusammenhang mit jugendtypischen Körperunzufriedenheiten ins Spiel gebracht werden. Eine gewisse, temporäre Unzufriedenheit ist vor allem in der Adoleszenz normal (u. a. Fend 2005) und sie ist zudem eine gewöhnliche Begleiterscheinung des Alterns, vor allem wenn körperliche Einschränkungen zunehmen. Die HBSCStudie Deutschland 2017/18, in der über 4000 Jugendliche im Alter von 11 bis 15 Jahren befragt worden sind, kommt zu dem Ergebnis, dass hinsichtlich der Körperzufriedenheit der Großteil der Jugendlichen auf einer Skala mit möglichen Werten zwischen null und vier eine hohe Zufriedenheit angibt, wobei Jungen (Median = 3,38) statistisch signifikant zufriedener sind mit ihrem Körper als Mädchen (Median = 2,96). Ein Befund der Untersuchung ist, dass eine eher geringe Körperzufriedenheit bei beiden Geschlechtern mit einer traditionellen Rollenorientierung einhergeht (Finne et al. 2020). Vieles deutet daraufhin, dass traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen in Deutschland mit einem ausgeprägten Schlankheitsstreben zusammenhängen. Zum traditionell männlichen Rollenbild gehören dagegen körperliche Stärke und Überlegenheit (ebd., S. 48). Mediale Effekte wurden als Erklärung vermutet, spielten in der Erhebung jedoch keine Rolle. Wie Steins (2007) bereits dargelegt hat, hängt die Körperzufriedenheit von vielen Faktoren ab, wobei Medieneinflüsse nur ein Bereich sind. Im Wesentlichen macht sich die Selbstakzeptanz an der Reflexionskompetenz der Subjekte fest. Damit verbindet sich die Frage nach Anerkennung und das Wissen über „das Wesen des Wertes einer Person“ (ebd., S. 140). Je stärker die Reflexionskompetenzen, umso eher wird das Subjekt „zu einer wirklichen Individualität ermuntert“ (ebd., S. 141). Ziel ist eine möglichst realistische Wahrnehmung
6 Nach
medizinischen Schätzungen leiden an einer körperdysmorphen Störung circa 0,8– 1,8 % der deutschen Bevölkerung. Das Hauptaugenmerk der Betroffenen richtet sich auf als subjektiv nicht perfekt wahrgenommene Körperteile wie die Haut, Gesichtsregionen, Haare, Ohren und sekundäre Geschlechtsmerkmale (Gieler und Brähler 2016).
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der eigenen Person, der anderen Personen und der Welt sowie der Erwerb von Kritikfähigkeit als kognitive Basiskompetenz. Neben der Selbstreflexion spielt aber auch Sport eine große Rolle, insbesondere für ein besseres Körpergefühl, sowie Medienkompetenz. Ihrer Auffassung nach gilt es vor allem, die erlebte Diskrepanz zwischen realem und gefordertem Ideal besser einzuschätzen und sich dazu kritisch zu verhalten (ebd., S. 142). Mediale Rollenmodelle sind insbesondere für Heranwachsende interessant und faszinierend. Sie finden sich sowohl in klassischen als auch digitalen Medien, sind einem mal näher oder ferner, mitunter wird bei regelmäßiger Nutzung entsprechender Medienformate eine parasoziale Beziehung zu ihnen aufgebaut. Modelllernen ist aber nicht per se gegeben, sondern hängt nicht zuletzt von den Bedürfnissen der Nutzer*innen, ihrem Involvement, ihren Einstellungen, ihrem Wissen über Körper und Gesundheit, ihren Emotionen und ihrer Persönlichkeitsstruktur sowie ihrem Habitus ab (Fromm et al. 2011, S. 122 ff.; siehe auch Krause 2018, S. 80 f.). Medienangebote können vielfältige Wirkungen von unterschiedlicher Qualität und Intensität erzeugen. Trügerisch ist allein der Begriff des Influencers, der universalen Machteinfluss suggeriert. In digitalen Umgebungen ist aber auch die Anschlusskommunikation der Follower*innen bzw. Abonnent*innen äußerst relevant, die die Aneignung von Medienprodukten steuern kann. Wenn die Mehrheit der Betrachter*innen das Verhalten populärer Akteur*innen auf Bild- und Videoportalen positiv begutachtet, hält man sich eventuell mit einem negativen Kommentar zurück und überdenkt seine Kritik eher. Erlebt man Empörung etwa über die Inszenierung eines Models/einer Influencerin, so kann diese mitunter Fremdscham auslösen oder einschüchternd in Bezug auf eigene Körperund Bildpraktiken sein. Eine häufige Erklärung für das stereotype Handeln und die politische Zurückhaltung von Mädchen und jungen Frauen im Netz ist ihre Angst vor Hass und Häme (u. a. Götz und Prommer 2020, S. 48) sowie vor dem Scheitern, dem Ausbleiben von Anerkennung. Diese Ängste des Scheiterns und Versagens beobachten u. a. die Soziologen Sennett (1998) und Bude (2014) schon länger und sie sind nicht auf spezielle soziale Gruppen sowie Lebensbereiche beschränkt. Sie haben ihren Ursprung in einem neoliberalistischen System und sind Ausdruck seiner Werteprämissen. Körperbezogene Subjektivierung ist nur ein Leistungsbereich neben anderen. Medienkritik schließt Gesellschaftskritik mit ein. Sie ist neben Medienkunde ein wichtiger Teilbereich von Medienkompetenz. Da die meisten Nutzer*innen um die Möglichkeiten der digitalen Bildproduktionen/manipulationen durch eigenes kreatives Handeln wissen, kann angenommen werden, dass sie sich weniger von bestimmten Körperinszenierungen vereinnahmen und täuschen lassen. Stereotypen, Standardisierungen und der „Toxic Positivity“ etwas
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offensiv und wirksam entgegenzusetzen, setzt zunächst die Selbsterkenntnis voraus, wie man mit welchen Bildpraktiken welche Medienlogiken, Konsumkulturen und anderweitige systemimmanente Mechanismen kollaborativ bedient und befördert7. Im Weiteren bedarf es einer gewissen Resilienz, die wiederum Antrieb sein kann, sich von Zwängen zu emanzipieren, gegen soziale Ausgrenzung und für eine diverse Gesellschaft möglichst mit anderen einsetzen zu wollen.
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7 Ein
Beispiel sind die sogenannten „Instagram-Boyfriends“, die ihre Freundinnen in gleicher Pose an einem bestimmten Ort schablonenhaft fotografieren. Siehe u. a. „Foto von Instagram-Boyfriends geht um die Welt“, https://www.jetzt.de/digital/virales-foto-voninstagram-boyfriends. Zugegriffen: 20. Dez. 2021.
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Digitalität, Mediatisierung und Bildung – Megatrends aus medienpädagogischer Perspektive Bardo Herzig
Zusammenfassung
Mit der zunehmenden Digitalisierung und Mediatisierung verändern sich nachhaltig alle Lebensbereiche. Technologie und Individuum bzw. Gesellschaft stehen sich dabei nicht polar gegenüber, sondern sind wechselseitig aufeinander bezogen und miteinander verwoben. Kommunikations- und medienwissenschaftliche, bildungstheoretische und informatische Reflexionen dieser Verhältnisse machen auf verschiedene Fragestellungen und Aspekte aufmerksam, die im Rahmen medienpädagogischer Aktivitäten in schulischen Kontexten Gegenstand der Auseinandersetzung sein sollten. Diese Fragestellungen machen deutlich, dass Orientierung, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in der digitalen Welt mit besonderen Anforderungen verbunden sind. Diese werden im vorliegenden Beitrag exemplarisch aufgezeigt und in einem konzeptionellen Rahmen zur schulischen Medienbildung zusammengeführt. Schlüsselwörter
Megatrend · Mediatisierung · Digitalisierung · Digitalität · Digitaler Raum · Struktur und Funktion · Algorithmen · Software · Medienbildung
B. Herzig (*) Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_5
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1 Gesellschaftliche Transformationsprozesse und ihre Reflexion 1.1 Digitalisierung als Megatrend In seinem Gutachten „Bildung 2030 – veränderte Welt. Fragen an die Bildungspolitik“ identifiziert der Aktionsrat Bildung zwölf „große Entwicklungs- und Wandlungsprozesse unserer Gesellschaft, die das Bildungssystem in den nächsten Jahren nachhaltig beeinflussen werden“ (vbw 2017, S. 9). Diese reichen von Migration und Integration, Wandel des Nachhaltigkeitsbewusstseins über Alterung und demografische Entwicklung, Dynamiken sozialer Ungleichheit und Teilhabe bis hin zu Wertewandel und dem Wandel familialer Lebensformen. Als Megatrends zeichnen sich solche Veränderungsprozesse insbesondere dadurch aus, dass sie langfristig sind, Auswirkungen in alle möglichen Lebensbereiche haben und prinzipiell globale Ausprägung entfalten (vgl. z. B. Naisbitt 1984). Auch die Digitalisierung aller Lebensbereiche wird explizit als Megatrend benannt (vgl. vbw 2017, S. 71 ff.). In etwas anderer Strukturierung werden Megatrends vom Zukunftsinstitut (2018) beschrieben. Sie umfassen z. B. Wissenskultur, Individualisierung, Gesundheit, Mobilität, Konnektivität oder Neo-Ökologie. Digitalisierung taucht hier nicht als einzelner Megatrend auf, sondern in unterschiedlichen Nuancierungen als ein quasi alle Megatrends verbindender Basis-Megatrend (vgl. ebd.). Damit wird betont, dass die Digitalisierung auch „Treiber“ für Transformationsprozesse in vielen Gesellschaftsbereichen ist. Unabhängig von der Zuordnung als singulärer oder querschnittlicher Megatrend, wird der Digitalisierung eine enorme gesellschaftliche Transformationsfunktion zugeschrieben. Diese Transformationen lassen sich vor dem Hintergrund verschiedener Reflexionsfolien analysieren und beschreiben. Nachfolgend werden kommunikations- und medienwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und bildungstheoretische Perspektiven skizziert.
1.2 Mediatisierung kommunikativen Handelns Aus einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Perspektive hat Krotz (2016) mit dem Mediatisierungsansatz „den Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft im Kontext des Wandels der Medien“ untersucht (S. 20). Ein Lebensbereich oder ein Phänomen wird dann als mediatisiert charakterisiert, wenn eine adäquate Beschreibung und ein Verständnis davon ohne den Einbezug von Medien nicht mehr möglich sind. So lässt sich beispielsweise eine Sportart wie Fußball heute
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nicht mehr ohne Berücksichtigung von medialen Spielübertragungen und damit verbundenen Organisationen, Rechten und Einnahmen, ohne mediale Werbung mit Sponsoring und Merchandising oder ohne mediale Inszenierung von Vereinen und Spieler*innen beschreiben. Eine solche Sichtweise geht von einem Medienbegriff aus, der Medien „in einer semiotischen Sichtweise auf doppelte Weise durch ihre Struktur und situativen Leistungspotentiale“ als Mediensystem beschreibt (ebd., S. 21). In struktureller Hinsicht sind Medien in die Gesellschaft eingebettete Institutionen mit entsprechenden Regeln, Normen und Erwartungen, in situativer Hinsicht bestehen sie in der Realisierung kommunikativer Potenziale durch die Produktion und Verbreitung von formgebundenen inhaltlichen Angeboten und durch ihre Funktion als Räume kommunikativer Erfahrungen und darauf gründenden Anschlussprozessen (vgl. ebd., S. 22). Vor diesem Hintergrund lässt sich verdeutlichen, dass die Auswirkungen des technologischen Wandels sich als Transformationen in ganz unterschiedlichen Bereichen artikulieren. So hat sich beispielsweise in der Fotografie mit dem massenhaften Aufkommen von Fotokameras nicht nur eine entsprechende Struktur von Firmen, Laboren und Geschäften zur Produktion und zum Vertrieb von Kameras und zur Entwicklung von Filmen etabliert, sondern auch eine Fachcommunity mit Vereinen und Fachjournalen, Regeln für fotojournalistisches Arbeiten oder ästhetische Formen. Mit der Digitalisierung und der Verbreitung von digitalen Kameras sowie deren Integration in Handys und Smartphones haben sich die bisherigen Strukturen und Kommunikationsformen grundlegend verändert: „So wird heute immer noch, aber technisch ganz anders fotografiert. Die Ergebnisse werden im Unterschied zu früher direkt distribuiert oder bei Instagram, Flickr, Facebook oder anderswo zugänglich gemacht oder auch als Kommunikate versandt. Die Themen und Motive, die Fotografien zeigen, sowie die Verwendungsweisen von Fotos haben sich geändert, wie beispielsweise die Selfies oder der Dienst Snapchat zeigen. Geschäftsmodelle, die sich heute noch auf das Fotografieren beziehen, funktionieren ganz anders als vor einem halben Jahrhundert; insofern sie sich auf Passfotos oder andere Nischenaktivitäten spezialisieren. Dabei haben sich auch die Inszenierungsformen und Ästhetiken gewandelt, insofern etwa private Fotos nicht mehr nur der Urlaubsfotografie und der Dokumentation ausgewählter Situationen der Familiengeschichte dienen, sondern Bilder rücken die in ihnen enthaltene Erzählung über Fotografin und Fotograf in den Vordergrund und dienen so auch immer mehr der Selbstdarstellung sowie der Dokumentation situativen Erlebens“ (ebd., S. 24).
Das Beispiel zeigt, dass mit der Digitalisierung gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf der Ebene von Strukturen, Prozessen, Regeln und Normen sowie sozialen Praktiken verbunden sind. Denkt man das Beispiel der Fotografie weiter, lassen sich auch Transformationsprozesse in anderen Bereichen damit verbinden,
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z. B. in der Medizin. Diagnostik ist heute ohne bildgebende digitale Verfahren nicht mehr denkbar, ebenso wie bildgebende Verfahren auch in der Therapie – z. B. bei minimalinvasiven chirurgischen Eingriffen – zu grundlegenden Veränderungen geführt haben.
1.3 Digitalität als Strukturbedingungen des Handelns Aus einer kultur- und medienwissenschaftlichen Perspektive argumentiert Stalder (2018), dass vielfältige soziale, ökonomische und politische Entwicklungen zu einem grundsätzlichen Wandel unserer Lebenswelt führen, die Komplexität der Gesellschaft erhöhen und neue Umgangsweisen mit dieser Komplexität erfordern. Der damit verbundene kulturelle Wandel zeigt sich in Bedeutung hervorbringenden Praktiken, die in „Artefakten, Institutionen und Lebenswelten“ verdichtet werden (Stalder 2016, S. 16). Dabei gilt, dass „in fast allen diesen Verfahren […] Technologie eine wichtige Rolle [spielt], denn sie erlaubt es, die stark steigende [sic!] Volumina an Daten und Kommunikation bewältigen zu können und neue Formen des Handelns in der Welt zu entwickeln“ (Stalder 2018, S. 2). Mit dem Internet hat sich, so Stalder, eine „neue spezifische, kulturelle Umwelt, die Digitalität“ herausgebildet, mit der neue Muster des Denkens und Handelns entstehen (ebd., S. 3). Zwei wesentliche Merkmale des Internets sind die enorme Komplexität, die für den Einzelnen jeden Überblick unmöglich werden lässt, und das Fehlen einer bedeutungskonstituierenden Ordnung. Während in der vordigitalen Zeit Institutionen, wie wissenschaftliche Einrichtungen oder Verlage und Redaktionen, Informationen selektierten, bewerteten und dann veröffentlichten, fehlt im Internet eine zentrale Filterung, „diese setzt erst nach der Veröffentlichung ein: mittels der konstanten Bewertung der Inhalte“ (Stalder 2017). Dies bedeutet, dass auf jeden Einzelnen die Aufgabe zukommt, sich in der „chaotischen Informationssphäre“ (ebd.) zurechtzufinden: „Die veränderten Praktiken der Filterung und damit der Orientierung […] sind eines der zentralen Elemente der Digitalität“ (Stalder 2018, S. 5). Stalder beschreibt drei Formen des Ordnens, die dieser Kultur „ihren spezifischen, einheitlichen Charakter verleihen: Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität“ (Stalder 2017). Sie sind gleichsam Bedingungen von Kultur1 und drücken sich in neuen Praktiken des Umgangs mit kulturellen Gütern aus.
1 Vgl.
den englischsprachigen Titel „conditions of culture“ seines deutschsprachigen Bandes „Kultur der Digitalität“.
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Mit Referentialität bezeichnet Stalder das Erstellen eines persönlichen Bezugssystems. Filtern und Bedeutungszuweisung werden zur Alltagsanforderung für viele, „unabhängig davon, ob diese über die materiellen und kulturellen Ressourcen verfügen, die nötig sind, um diese Aufgabe zu bewältigen“ (Stalder 2018, S. 5). Durch die Rezeption eines Angebotes, dessen Bewertung oder durch die eigene Produktion und Veröffentlichung medialer Beiträge macht der Einzelne deutlich, was ihm wichtig ist und worauf er seine Aufmerksamkeit richtet. Durch die Addition von Bewertungen entstehen Pfade in der Unübersichtlichkeit: „Phänomene, die potenziell in vielen Sinnzusammenhängen stehen können, werden in einen einzigen, konkreten Zusammenhang gebracht. Auf diese Weise etablieren sich Aufmerksamkeitsfelder, Referenzsysteme und Sinnzusammenhänge“ (Stalder 2017, o. S.). Alle Aktivitäten in der Informationssphäre des Netzes sind kein Selbstzweck, sondern werden im Hinblick auf andere gemacht, richten sich also auf Gemeinschaftlichkeit. Aufmerksamkeit, Feedback und Anerkennung stellen, so Stalder, die wichtigsten Ressourcen im alltäglichen Prozess der „kommunikativen Selbsterschaffung“ und „der Gestaltung eines persönlichen Bedeutungshorizontes“ dar (ebd.). In sogenannten gemeinschaftlichen Formationen – Zusammenschlüssen von gleichberechtigten Personen mit gemeinsamen Zielen – wird ein Bezugssystem erstellt, bewahrt und verändert, „in dem Handlungen, Prozesse und Objekte eine feste Bedeutung und Verbindlichkeit erlangen“ (ebd.). Gemeinschaftliche und individuelle Prozesse bedingen sich dabei gegenseitig: „Dabei geschehen drei Dinge. Erstens wird die Auswahl durch andere validiert, ein „like“ nach dem anderen und damit die eigene Sicht der Dinge bestätigt. Zweitens erweitert sich der eigene Informationshorizont, weil man ja auch die Ergebnisse der Auswahl der anderen, mit denen man verbunden ist, sieht. So entsteht ein geteilter Horizont, eine Weltsicht, die von einer mal größeren, mal kleineren Gruppe von Menschen geteilt wird. Drittens entsteht dadurch ein eigenes Profil, eine Identität, denn in sozialen Netzwerken ist man die Person, die man kommuniziert, und wenn man aufhört zu kommunizieren, dann verschwindet man, wird unsichtbar“ (Stalder 2018, S. 6). In Bezug auf das Individuum und die Gemeinschaft bedeutet dies, dass „die Produktion von Differenz (Ansage: Das hier ist neu!) und Gemeinsamkeit (Antwort: Das gefällt uns!) gleichzeitig geschieht“ (Stalder 2017, o. S.). Mit dem dritten Aspekt der Digitalität, der Algorithmizität, verweist Stalder darauf, dass die gemeinschaftlichen Formationen allein nicht ausreichen, die unüberschaubare Menge von Informationen und Daten zu ordnen, sondern dass menschliches Verstehen und Handeln heute nur unter Nutzung maschineller Systeme, z. B. Suchalgorithmen, möglich ist. Dabei ist ihre Rolle ambivalent.
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Auf der einen Seite sorgen sie für Übersicht – als Voraussetzung persönlicher Handlungsfähigkeit –, auf der anderen Seite machen sie den Menschen abhängig. Ergebnisse algorithmischer Prozesse sind keine Repräsentationen der Welt, sondern sie verändern sie auch. Sie bestimmen, „was wir sehen, wie wir uns in der Welt bewegen und welche Handlungsoptionen uns offenstehen“ (Stalder 2018, S. 7). Eine besondere Problemlage besteht darin, dass Algorithmen intransparent und von außen nicht zu verstehen sind, Einblicke aber dringend geboten wären, „denn auch technische, quantifizierende Systeme sind nicht neutral, sondern stecken voll expliziter und impliziter Annahmen“ (ebd.).
1.4 Strukturmodell von Digitalität Gegen eine einseitige Betrachtung von Digitalisierung als technologische Transformation richtet sich der kulturhistorisch und bildungstheoretisch motivierte Ansatz von Jörissen und Unterberg (2019). In ihrem Strukturmodell von Digitalität beschreiben sie vier Faktoren, in deren Spannungsfeld sich die tiefgreifenden Veränderungen der Erfahrungs-, Handlungs- und Bildungshorizonte analytisch verorten lassen. Einen ersten Faktor stellt die Software dar. Dabei geht es nicht allein um den Code im engeren Sinne, sondern um das Zusammenspiel von Hard- und Software sowie den performativen Charakter von Software. Sie bestimmt Handlungsoptionen von Menschen, entfaltet sich in materiellen Räumen und wirkt damit in alle Lebensbereiche hinein. Diese „impliziten hegemonialen Effekte“ verpflichten die Softwaregestaltenden nicht nur zu handwerklicher, sondern auch zu kritisch-ethischer Verantwortung für das Produkt (Jörissen und Unterberg 2019, S. 14). Mit der Idee des Netzwerks – als zweitem Faktor – lassen sich soziale Formationen im Kontext der Digitalisierung beschreiben – die Transformation der Gemeinschaft zum Netzwerk. Netzwerke sind insbesondere mit dem Aufkommen der sogenannten sozialen Netzwerke in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Da aber Menschen nicht nur „innerhalb von Netzwerken […], sondern im strategischen Zugriff auf Netzwerk-Eigenschaften, also operativ auf Netzwerke selbst bezogen […] agieren“, ist ein Umdenken in bildungstheoretischer Sicht erforderlich: Die interaktionistische Sichtweise von Bildung als Prozessgeschehen in Wechselwirkung von Subjekt und Welt oder Individuum und Gemeinschaft ist nicht ohne weiteres auf die relationale Netzwerklogik übertragbar (vgl. ebd., S. 16). Als dritten Faktor ihres Strukturmodells weisen Jörissen und Unterberg (2019) Daten bzw. Datenbanken aus. Als eine zentrale Voraussetzung für die Verarbeitung von Informationen durch Computer gilt deren
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Quantifizierung, d. h. sie müssen als abstrakte mathematische Beschreibungen oder als Messgrößen von Gegenständen oder Sachverhalten letztlich binär repräsentiert werden. Im Zuge der Digitalisierung kommt entsprechend den Daten bzw. Datenstrukturen eine herausgehobene Bedeutung als spezifische Form zu, „unsere Erfahrungen und die Welt um uns herum zu strukturieren“ (ebd., S. 16). In der Produktion und Verteilung von Wissen spielen Datenbanken eine zentrale Rolle in „einem weitreichenden kulturellen Wandel“ (ebd.). Digitalisierung steht darüber hinaus in engem Zusammenhang mit einem weiteren Faktor, der Materialität. Darunter wird zunächst die Hardware verstanden in Form von Bauteilen, Interfaces oder Endgeräten, die sich im Hinblick auf Miniaturisierung, Leistungsfähigkeit und Mobilisierung rapide schnell entwickeln. In dieser Hinsicht bildet Materialität die Grundlage von Digitalisierung. Eine zweite Bedeutung bezieht sich auf die Materialität als Gegenstand von Digitalität. Dies zeigt sich beispielsweise in der „Remediatisierung medialer Phänomene“ (ebd., S. 17) wie dem Scan eines analogen Fotos oder dem Sampling von Klängen, d. h. solchen Prozessen, in denen die zugrunde liegende physikalische Materialität digitalisiert wird. Eine dritte Bedeutungsebene der Materialität liegt in der digitalen Hervorbringung von Materialität, z. B. in Form von 3D-Druck, bei dem im Zusammenspiel von Software und Hardware algorithmisch gesteuert solche Produkte entstehen, die nicht mehr an handwerkliche Fähigkeiten gebunden sind, zum Teil aber auch auf konventionelle Weise gar nicht herstellbar wären. Die skizzierten Ansätze zeigen, dass die Digitalisierung in allen Lebensbereichen zu grundlegenden Veränderungen im Sinne gesellschaftlicher Transformationsprozesse führt. Mit ihren Analysen heben die unterschiedlich perspektivierten Ansätze verschiedene Aspekte ins Bewusstsein, die im Zusammenhang einer bildenden Auseinandersetzung mit (digitalen) Medien relevant sind. Dazu zählen Fragen danach, • wie sich technische, organisationale und institutionelle Bedingungen der Produktion und Distribution von Medienangeboten verändern, • welche formgebenden und inhaltlichen Merkmale digitale mediale Botschaften aufweisen, • welche individuellen und gesellschaftlichen Einflüsse, z. B. im Hinblick auf kommunikatives Verhalten, beobachtbar sind oder • wie sich die digitale Infrastruktur, z. B. in Bezug auf Vernetzung und Software, weiter entwickeln wird.
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Mit Blick auf den Umgang des Einzelnen mit Medienangeboten machen die skizzierten Entwicklungen auf weitere Fragen aufmerksam, z. B. • wie Information und Orientierung in einer komplexen informationellen Umwelt gelingen können oder • wie individuelles und gemeinschaftliches Verhalten durch algorithmische Systeme gesteuert und ggf. auch kontrolliert werden können. Die Auseinandersetzung mit solchen Fragen geschieht – wie skizziert – auf wissenschaftlicher Ebene in Disziplinen, wie beispielsweise der Medien- oder Kommunikationswissenschaft. Mit Blick auf die Anforderungen, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene heute in der digitalen Welt bewältigen müssen, welche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten dafür erforderlich sind und wie Bildungsinstitutionen dies pädagogisch unterstützen und fördern können, spielt die Medienpädagogik eine bedeutsame Rolle.
2 (Medien-)Pädagogische Perspektiven auf Medienentwicklungen 2.1 Medien, Bildung und Schule Ein bedeutsamer Ort, an dem eine bildende Auseinandersetzung mit Medien stattfindet bzw. stattfinden soll, ist neben dem Elternhaus die Schule. Neben Medien als inhaltlichem Gegenstand von Lern- und Bildungsprozessen spielt dort auch deren instrumentelle Nutzung eine Rolle. Als früher Ausdruck von (medien-) didaktischen Überlegungen, in welcher Form Inhalte an Lernende herangetragen werden können, kann das von Comenius (1658) herausgegebene bebilderte Lehrbuch „orbis sensualium pictus“ gesehen werden. Eine erste systematische Verortung solcher Überlegungen in der Didaktik erfolgte dann allerdings erst durch Paul Heimann (1962), der Medien als ein konstitutives Element von Unterricht beschrieb. Medien als Unterrichtsinhalt – auf konzeptionellen Überlegungen hierzu liegt im vorliegenden Beitrag der Fokus – sind insbesondere mit dem Aufkommen von Massenmedien in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die Entwicklung der ‚klassischen‘ Medien vom Schulbuch über Rundfunk und Fernsehen bis zum Video hat die Institution Schule in didaktischer und in erzieherischer Weise immer wieder herausgefordert und zu Weiterentwicklungen in der Gestaltung von Lehr- und Lernsituationen geführt. Dabei wurden die institutionellen Strukturen jedoch nicht grundsätzlich infrage gestellt. Vor dem
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Hintergrund einer alle Lebensbereiche durchdringenden Digitalisierung stellt sich diese Situation allerdings deutlich anders dar. Eine Trennung von schulischer und außerschulischer Lebenswelt, wie sie lange Zeit vorgenommen wurde (vgl. Diederich und Tenorth 1997, S. 18), wird heute in Bezug auf Medien zum einen dadurch zunehmend obsolet, dass Medien für Kinder und Jugendliche insbesondere in informellen Kontexten einen enorm hohen Stellenwert erlangt haben (vgl. MPFS 2021; Rauschenbach 2013). Dies bedeutet, dass die Heranwachsenden im Alltag mit einer Vielzahl von Medienangeboten konfrontiert werden, diese rezipieren, aktiv eigene Medienbeiträge produzieren und soziale und kulturelle Praktiken entwickeln, die sie in die Institution Schule hineintragen (vgl. Aßmann 2013). Zum anderen führt die Digitalisierung dazu, dass Medien kein dem Subjekt gegenüberstehendes Artefakt (mehr) darstellen, sondern dass digitale Medien, Individuum und Gesellschaft sich in ständiger wechselseitiger Verflechtung befinden. Ein wichtiger Entwicklungsprozess von Kindern und Jugendlichen (ebenso wie im weiteren Verlauf von Erwachsenen) besteht darin, das eigene Verhältnis zur dinglichen und zur sozialen Umwelt sowie zu sich selbst auszutarieren und zu bestimmen. Diese Fähigkeit, „sich mit der dinglich-stofflichen Welt, mit den kleinen und großen kulturellen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte, mit anderen Menschen und mit sich selbst auseinanderzusetzen“ (Rauschenbach 2013, S. 106), kann auch als Ausdruck von Bildung bezeichnet werden. Durch die angesprochenen Entwicklungen wird diese Aufgabe zunehmend erschwert und stellt auch für die Disziplin der Medienpädagogik eine besondere Herausforderung dar. Sie ist der Ort der Reflexion von Entwicklungen im Medienbereich sowie ihrer Auswirkungen auf die Erfahrungs-, Erlebens- und Handlungsformen von Kindern und Jugendlichen und der Entwicklung und reflexiven Absicherung wissenschaftlich fundierter Rahmenbedingungen pädagogischen Handelns im Medienkontext (vgl. Tulodziecki et al. 2019, S. 43 ff.). Ihr kommt die Aufgabe zu, Begriffsklärungen vorzunehmen, medienpädagogisch relevante Zustände zu beschreiben und zu überprüfen, Zielvorstellungen für pädagogisch-medienrelevantes Handeln zu formulieren und theoriegeleitet Konzepte für medienpädagogisches Handeln zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren. Nicht erst mit dem digitalen Transformationsprozess haben Medienentwicklungen auch eine pädagogische Positionierung provoziert. In ersten (medien-)pädagogischen Reaktionen wurde am Ende des 19. Jahrhunderts der Entwicklung der Printmedien, die als „Schmutz und Schund“ galten, mit einer bewahrpädagogischen Haltung begegnet. Damit war die Auffassung eines letztlich unmündigen und dem schädlichen Einfluss der Medien ausgesetzten Individuums verbunden, das es zu schützen gilt. Eine solche Haltung ist in
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der handlungs- und kompetenzorientierten Sichtweise auf das Verhältnis von Medium und Individuum zugunsten eines grundsätzlich als selbstbestimmt und kommunikativ kompetent handelnden Rezipienten bzw. Produzenten überwunden worden (vgl. Tulodziecki et al. 2019, S. 162 ff.), wenngleich auch hier einer grundsätzlichen Schutzwürdigkeit in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand Rechnung getragen wird. Gleichzeitig vermittelt ein solches Verständnis zwischen (teil-)autonom gedachten Individuen einerseits und Subjekten, die „durch ihr Engagement in sozialen Praktiken Welt- und Selbstverhältnisse ein[gehen], die es ihnen ermöglichen, nicht nur reproduzierend, sondern auch transformierend oder subversiv in der sozialen Welt tätig zu werden“ (Alkemeyer 2013, S. 33 f.) andererseits. Die hohe Dynamik der aktuellen und zukünftigen – ergebnisoffenen – Entwicklungen im Medienbereich lassen einen festen medienpädagogischen Inhaltskanon in der Schule wenig zeitgemäß erscheinen. Diesem Umstand trägt die Fokussierung auf Kompetenzen Rechnung, die sich in der Medienpädagogik seit längerem in der Debatte um Medienkompetenz niederschlägt (vgl. z. B. Groeben 2002; Schorb 2005; Tulodziecki 2007). Aber auch in Bezug auf den Kompetenzbegriff lässt sich fragen, ob dieser angesichts der Offenheit und Unbestimmtheit zukünftiger Entwicklungen nicht zu funktionalistisch ist und ob nicht eine stärker prozessbezogene Vorstellung von Medienbildung angemessener ist, die auf Fähigkeiten zum Umgang mit Kontingenz, zur Umorientierung, zum aktiven Erschließen neuer Erfahrungsräume und zum Einlassen auf Fremdes und Unbekanntes zielt (vgl. z. B. Marotzki und Jörissen 2010). Die Kompetenz- und Bildungsdiskussion lassen sich – so die hier vertretene Auffassung – konstruktiv miteinander verbinden, wenn man Medienbildung vornehmlich als Prozessbegriff verwendet und Ansätze zur Medienkompetenz als Grundlage für die Beschreibung wünschenswerter Kompetenzniveaus nutzt (vgl. Tulodziecki et al. 2019, S. 41 f., S. 192). Die mit der Mediatisierung und Digitalisierung einhergehenden Veränderungen und ihre grundsätzliche Bedeutung für eine (schulische) Medienbildung werden im Folgenden an zwei Beispielen konkretisiert. Dabei werden aus theoretischen Überlegungen heraus medienbildungsbezogene Fragestellungen sowie inhaltliche Ansatzpunkte für eine bildende Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen entwickelt. Es geht dabei um digitale Räume und um das Verhältnis von Struktur und Funktion digitaler Medien. Anschließend wird ein konzeptioneller Rahmen medienpädagogischer Inhalts- und Handlungsbereiche vorgestellt, in dem solche (schulischen) Aktivitäten systematisch verortet werden können (vgl. Kap. 3).
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2.2 Beispiele theoretischer Grundlagen medienpädagogischer Inhalts- und Handlungsbereiche Der produzierte digitale Raum Mit dem Begriff des Raumes wird im alltäglichen Sprachgebrauch in der Regel ein absoluter, feststehender materieller Raum bezeichnet. Häufig ist eine solche euklidische Container-Auffassung von Raum auch angemessen und hinreichend. Erweitert man den Begriff aber auf die Diskussion um digitale Räume, zeigt sich die Begrenztheit dieser Auffassung. Mit dem Konzept des „code/space“ haben Kitchin und Dodge (2011) auf spezifische Eigenschaften digitaler Räume und damit verbundener Erfahrungsmöglichkeiten aufmerksam gemacht. Sie gehen nicht von einem statischen Raumbegriff aus, sondern von einem dynamischen Raumverständnis, demzufolge sich in unserem Lebensraum auf vielfältige Weise „code/spaces“ entfalten, die zu sozialräumlichen Praktiken der alltäglichen Lebensgestaltung führen: „… spatialities and governance of everyday life unfold in diverse ways through the mutual constitution of software and sociospatial practices“ (ebd., S. 16). Durch die Nutzung eines digitalen Mediums mit Büro- und Kommunikationssoftware kann sich beispielsweise ein Wohnraum zu einem Büro wandeln, in umgekehrter Weise kann aber auch ein Ausfall von Software – z. B. in einem Reisebüro – dazu führen, dass der Raum seine Funktion und Bedeutung abrupt verliert: „[…] code is essential to the form, function and meaning of space“ (ebd., S. 71). Kitchin und Dodge (2011) machen darauf aufmerksam, dass digitale Medien Erfahrungsräume produzieren. Ein Raum erhält durch Software eine Bedeutung, die er vorher nicht hatte, er wird anders wahrgenommen, führt zu anderen – ggf. neuen – sozialen Praktiken und wird in einer spezifischen Weise angeeignet und erlebt. Für die Erfassung solcher Prozesse bietet sich eine Raumauffassung an, die nicht nach der Existenz des Raumes, sondern nach seiner Produktion fragt, wie es Lefebvre (1991) tut. Raum ist nach Lefebvre (1991) weder ein rein gedankliches Konstrukt noch ein fassbares Objekt, sondern Ergebnis eines Produktionsprozesses. Die Besonderheit dieser dynamischen Raumauffassung liegt in der Gleichzeitigkeit von drei Produktionsprozessen, die den Raum bestimmen: ein materieller Prozess, der einen wahrnehmbaren Raum produziert, ein wissensbezogener Prozess, der einen konzipierten Raum produziert, und ein bedeutungsbezogener Prozess, der einen erlebten oder gelebten Raum produziert (vgl. ebd., S. 40; vgl. Abb. 1).
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Abb. 1 Produktion des Raumes (vgl. Lefebvre 1991). (Quelle: Eigene Darstellung)
Mit dem wahrgenommenen Raum wird der Raum der praktisch-sinnlichen Welt beschrieben, „in den sich die Handlungen von kollektiven Akteuren in Form von dauerhaften Objekten und Wirklichkeiten einschreiben“ (Schmid 2005, S. 211). Das bedeutet, dass Räume Bezüge zu Materiellem, zu Wahrnehmbarem aufweisen, z. B. das Mobiliar eines Raumes oder in einem Raum beobachtbare Arbeitsprozesse. Lefebvre nennt diese Dimension auch die räumliche Praxis, in der sich soziale Praktiken wahrnehmen lassen, die sich zum Teil über lange Zeit entwickelt haben. So nimmt beispielsweise die wahrnehmbare Seite eines Onlineshops für Mode in Form der auf einem mobilen Endgerät dargestellten Webseite mit der Präsentation von Waren den Grundgedanken eines Bekleidungsgeschäftes auf. Waren werden ansprechend präsentiert, über den Touchscreen können diese in verschiedene Positionen und Blickwinkel gebracht, in einen Warenkorb gelegt werden usw. Mit der Dimension des konzipierten Raumes trägt Lefebvre dem Umstand Rechnung, dass dem wahrnehmbaren Raum eine Konzeption zugrunde liegt. Diese kann in der (Darstellungs-)Form von Texten, Bildern, Skizzen oder Grafiken vorliegen und beinhaltet häufig auch wissenschaftliche Erkenntnisse. Der konzipierte Raum vermittelt als Plan zwischen „der mentalen Aktivität, die erfindet, und der sozialen Aktivität, die ausführt“ (Schmid 2005, S. 218). Im Beispiel des Onlineshops liegen diesem unterschiedliche Konzeptionen zugrunde – von der textlichen Beschreibung von Funktionsumfängen und Interaktionsmöglichkeiten über Skizzen zur grafischen Gestaltung der Benutzerschnittstelle
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bis hin zur formalen Definition von Datenstrukturen. Dabei finden z. B. betriebswirtschaftliche Kenntnisse, Wissen aus der Werbepsychologie und der Informatik Eingang. Der – in der Terminologie von Lefebvre – gelebte Raum bezieht sich auf das Erleben des Raumes, seine Symbolik und Bedeutung. Als sogenannter Raum der Repräsentation stellt er etwas dar, er repräsentiert „gesellschaftliche Werte, Traditionen und Träume – und nicht zuletzt auch kollektive Erfahrungen“ (Schmid 2005, S. 223). Im Beispiel des Onlineshops zeigt sich der gelebte Raum in der Art, wie sich Menschen diese neue Form des Konsums erschließen und welchen Stellenwert sie dem Onlinegeschäft beimessen. Damit sind ggf. neue Praktiken verbunden, wie beispielsweise die Kleidungswahl – jenseits von haptischem Wahrnehmen und Anprobieren – oder das Kundenverhalten in Bezug auf den Umgang mit Umtausch und Rückgabe von Waren. Die drei analytischen Dimensionen des Raumes sind faktisch als Einheit zu denken, d. h. der produzierte Raum ist gleichzeitig ein wahrgenommener, ein konzipierter und ein erlebter Raum. Vor dem Hintergrund des Ansatzes von Lefebvre stellt sich der digitale Raum als Erfahrungsraum dar, der dann entsteht, wenn wir mit digitalen Medien – resp. mit Informatiksystemen und damit verbundener Software – interagieren. Insofern reicht es nicht, nur auf materielle Komponenten wie Rechner, Display, Sensoren oder Steuerungselemente zu fokussieren. Der digitale Erfahrungsraum wird erst dann zu einem solchen, wenn er auch erlebt wird und Ausdruck gelebter sozialer Erfahrung wird. Dies bedingt, dass diesem Raum eine kulturell, wissenschaftlich und gesellschaftlich begründete und gewachsene Konzeption zugrunde liegt. Für die Medienpädagogik bedeutet dies, sogenannte virtuelle Welten nicht als Parallelwelten zu betrachten, sondern als hybride Konstruktionen, die sich in den physischen Raum hinein entfalten (vgl. auch Rieger et al. 2021). Vor dem Hintergrund der Überlegungen von Lefebvre können Veränderungen in unserer physischen Umwelt im Zuge der Digitalisierung (und damit als Ausdruck des eingangs skizzierten Megatrends) unterrichtlich unter der Frage thematisiert werden, woran sich solche Veränderungen beobachten lassen, wodurch sie bedingt werden und wie sie sich auf unser Verhalten und Erleben auswirken. Wenn beispielsweise im Zusammenhang mit Smart Home Schüler*innen eine Überwachungsanlage mit (Bewegungs-)Sensoren, Aktuatoren (z. B. Tonsirene) und einem programmierbaren Microcontroller (z. B. Arduino oder Calliope) bauen, dann kann dies einerseits mit dem Ziel verbunden werden, die technischen Zusammenhänge zu verstehen und die Gestaltung in einzelnen Schritten selbst zu durchlaufen (von ersten skizzierten Ideen über den Zusammenbau mithilfe der Materialien bis zum fertigen Programmcode, z. B. in einer
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grafischen Programmierumgebung). Andererseits sollte es aber auch darum gehen zu reflektieren, wie ein solches System unseren Lebensraum, unsere sozialen Beziehungen und unser Verhalten verändert (vgl. Klar et al. 2018). Pädagogische Zugänge zu einer unterrichtlichen Auseinandersetzung mit den durch digitale Medien angereicherten oder produzierten Räume sollten • vom wahrnehmbaren und erlebten Raum und den damit verbundenen Erfahrungen ausgehen, • den digitalen Raum als gestalteten und produzierten Raum ins Bewusstsein heben und zur eigenen Gestaltung anregen, • die eigenständige Konstruktion von digitalen Medien als Modellobjekte ermöglichen und die damit verbundenen Modellierungsschritte erfahrbar werden lassen, • Möglichkeiten eröffnen, den digitalen Raum zu erleben und hinsichtlich der Bedeutung für die individuelle und gesellschaftliche Lebensführung einzuschätzen.
Struktur und Funktion digitaler Medien Ein weiteres Beispiel für einen medienpädagogisch relevanten Handlungsbereich wird über die Analyse der Interaktion deutlich. Medien lassen sich den sogenannten technischen Artefakten zurechnen, d. h. solchen Objekten, die vom Menschen entwickelt und für bestimmte Zwecke hergestellt wurden. Kroes (2012) beschreibt sie als „[…] physical structure with a for-ness which is captured by its technical function“ (S. 4) und rekurriert damit auf die duale Natur von technischen Artefakten, d. h. dass die Struktur in engem Zusammenhang zur Funktion steht (vgl. ebd., S. 5). Ein technisches Artefakt wird so, wie es ist, hergestellt, um eine bestimmte Funktion zu erfüllen. So dient beispielsweise das Buch der Speicherung und Darstellung von Texten und Bildern, der Fotoapparat der Belichtung von Filmmaterial bzw. der Speicherung des Messergebnisses (als Voraussetzung für die Erstellung von Bildabzügen) und das Funkgerät dem Empfang und der Wiedergabe von Funk- bzw. Tonsignalen. Neben der – aus Sicht des Entwicklers – mit der Struktur eines Artefakts intendierten Nutzungsfunktion spielt die Intention des Nutzenden selbst eine wichtige Rolle, „[…] since the function of a technical artefact is closely related to its physical structure on the one hand, and to human intentions with regard to that artifact on the other hand“ (ebd., S. 6). Dies bedeutet, dass in der Nutzung eines Artefakts nicht immer die Funktion zum Tragen kommt, die im Designprozess vorgesehen war. Während beim Buch die Funktion der Speicherung und Verbreitung von schriftsprachlichen Symbolen oder bildhaften Darstellungen
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relativ schnell zu erschließen und die Nutzung vergleichsweise selbsterklärend ist, lässt sich die Funktion bei technisch aufwendigeren Medien, wie beispielsweise dem Radiogerät oder dem (analogen) Fernseher nicht oder nur sehr bedingt (z. B. für Experten) aus der Struktur (z. B. den Schaltkreisen und der Anordnung der elektronischen Bauteile) erkennen. Häufig bildet die Struktur eine black box und die Funktion wird den Nutzenden über eine zusätzliche Ebene zugänglich, etwa eine Bedientafel mit Schaltern und Beschriftungen. In diesen Fällen wird die Funktion des Artefakts über eine Schnittstelle nach außen kommuniziert. Technische Artefakte zeichnen sich in der Regel also dadurch aus, dass die Struktur bestimmte Funktionen ermöglicht und diese entweder offensichtlich sind, durch Anleitung kommuniziert werden oder von Nutzer*innen durch Exploration gefunden werden. Im letztgenannten Fall kann die Nutzung dann auch in einer Weise erfolgen, wie sie nicht intendiert war. Auch beim Computer sind Funktion und Struktur unmittelbar miteinander verbunden. Die elektrischen Schaltkreise sind als das physikalisch-technische Kernstück in ihrer Funktion auf die Ausführung von Rechenvorgängen ausgelegt. Diese Funktion ist eine grundlegende – universelle – Funktion. Die spezifische Funktion wird durch das Programm festgelegt, das quasi auf einer Zwischenebene die universelle Funktion nutzt, um spezifische Funktionen zu realisieren. Grundsätzlich eröffnet also die Programmierbarkeit einen Möglichkeitsraum von Funktionen. Werden diese Funktionen über eine Schnittstelle – das Interface – kommuniziert, dann können Nutzende Eingaben machen oder sensorisch erfassen lassen, die verarbeitet werden und nach den Regeln des Programms zu einer festgelegten Ausgabe führen. Die Struktur des technischen Artefakts bleibt den Nutzer*innen – ähnlich wie bei anderen elektronischen Geräten – in der Regel verborgen, er ist auf Hinweise auf der Benutzeroberfläche angewiesen, um die konkrete Funktion zu erschließen. Der entscheidende Unterschied zu nicht-digitalen Medien liegt nun darin, dass beim digitalen Medium die nach außen kommunizierte Funktion gegebenenfalls nicht die alleinige Funktion ist, die bei der Nutzung realisiert wird. Mit anderen Worten, nicht nur die von den Nutzenden intendierte Funktion – beispielsweise die Beantwortung einer konkreten Suchanfrage – wird ausgeführt und über das Interface rückgemeldet, sondern ggf. werden weitere Funktionen realisiert. Diese führen dann zu unmittelbaren oder mittelbaren Effekten – beispielsweise personalisierte Werbung als Folge der Suchhistorie – und werden den Nutzer*innen nicht rückgemeldet. Das technische Artefakt ist hier selbst an der automatisierten Erstellung von Inhalten beteiligt, ohne dass die Nutzenden dies intendiert haben (vgl. Schelhowe 2007, S. 46). Dies kann auch so beschrieben werden, dass im digitalen Medium nicht nur ein Modell für die Bearbeitung z. B. einer Suchanfrage implementiert ist, sondern auch ein „Modell seiner eigenen Anwendung“ (Richter und Allert
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2017, S. 256). Dieses Modell (bzw. seine performative Funktion) ist von den Nutzer*innen nicht beeinflussbar und für sie in der Regel auch nicht transparent (zum Modellbegriff vgl. Mahr 2015). Für die medienpädagogische Auseinandersetzung mit digitalen Medien bedeutet dies, technische Artefakte bzw. Medien nicht nur aus der Perspektive der Funktion zu betrachten, sondern auch in Bezug auf ihre digitale mediale Architektur und die darin implementierten und implementierbaren Modelle und Prozesse. Damit werden Entwicklungen im digitalen Transformationsprozess aufgenommen, im Laufe derer Algorithmen zunehmend als black box hinter dem Interface verschwinden, in ihren Funktionen aber in erheblichem Maße in unmittelbare Lebensbezüge eingreifen. Dies gilt insbesondere auch für Methoden des maschinellen Lernens (sogenannte künstliche Intelligenz), durch die das digitale Medium eigenständig an der Produktion von Inhalten oder an der Entscheidungsfindung – resp. dem Treffen von Entscheidungen – beteiligt ist2. Dies kann sowohl positive Effekte als auch Problemlagen erzeugen. So kann beispielsweise in der Medizin durch maschinelles Lernen in der Musterkennung die diagnostische Expertise von Ärzt*innen unterstützt werden, während das Informationsverhalten eines Nutzers oder einer Nutzerin in einem sozialen Netzwerk durch Empfehlungsalgorithmen – im Sinne einer Filterblase – deutlich eingeschränkt werden kann. Menschliche und maschinelle Lernprozesse sind wechselseitig aufeinander bezogen. Auf der eine Seite beeinflussen Maschinen menschliches Verhalten – vom Ranking-Algorithmus über autonomes Fahren bis zur algorithmischen Steuerung von Wirtschaftsmärkten –, andererseits beeinflussen die Menschen das Verhalten der Maschinen: „We shape machine behaviours through the direct engineering of AI systems and through the training of these systems on both active human input and passive observations of human behaviours through the data we create daily“ (Rahwan et al. 2019, S. 480). Eine selbstbestimmte Nutzung digitaler Medien ist nur dann möglich, wenn Funktionen transparent sind. Entscheidungen für oder gegen Eingriffe von Algorithmen in individuelle Lebenszusammenhänge können nur auf der Basis solch transparenter Funktionen erfolgen. Hier deutet sich an, dass das Design
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bei klassischen Algorithmen die Lösung eines Problems schon bekannt ist (z. B. ein Algorithmus zur Berechnung der kürzesten Entfernung zwischen zwei Punkten in einem Wegenetz), werden Lernalgorithmen mit Beispielen für eine Problemlösung trainiert. So kann beispielsweise ein Lernalgorithmus anhand von Katzen- und Hundebildern darauf trainiert werden, Hunde von Katzen zu unterscheiden. Der Algorithmus lernt aus Erfahrung.
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von Algorithmen bzw. Software eine Vielzahl ethischer Fragen aufwirft und mit hoher Verantwortung verbunden ist, nicht zuletzt auch im Kontext selbstlernender Algorithmen bzw. maschinellen Lernens. Gleichzeitig drängt sich die Frage auf, bis zu welchem Grad der oder die Einzelne überhaupt kompetent sein kann und welche Aufgaben in diesem Zusammenhang regulierenden Akteuren wie dem Staat zukommen. Diese Überlegungen zeigen, dass aus medienpädagogischer Perspektive eine funktionale Sicht auf digitale Medien im Sinne der Bedienfertigkeit nicht ausreicht, sondern dass ebenso ein Blick ‚hinter das Interface‘ erforderlich ist, um beispielsweise auf die angesprochenen Aspekte der (verdeckten) Steuerung und Kontrolle aufmerksam zu werden, die grundlegenden Prinzipien zu verstehen und mit in die individuellen Handlungsentscheidungen einzubeziehen. Pädagogische Zugänge zu einer unterrichtlichen Auseinandersetzung mit der Struktur und Funktion digitaler Medien sollten • die Lernenden erfahren lassen, welche Prozesse, z. B. der Sammlung von Daten, bei Alltagsanwendungen digitaler Medien, z. B. der Nutzung von Suchmaschinen oder sozialen Netzwerken, im Hintergrund ablaufen, • Mechanismen und Prinzipien der algorithmischen Entscheidungsfindung, z. B. bei Empfehlungssystemen für Filme auf einer Videoplattform oder Nachrichten in sozialen Netzwerken, transparent machen, • Anregungen bieten, Formen der Beeinflussung durch algorithmische Systeme auf verschiedenen Ebenen, z. B. politischer Meinungsbildung oder Kaufverhalten, hinsichtlich ihrer Bedeutung zu reflektieren, • individuelle, staatliche und wirtschaftliche Möglichkeiten der Schaffung von Transparenz ausloten und einschätzen. Die verschiedenen Perspektiven auf gesellschaftliche Transformationsprozesse im Zuge der Digitalisierung haben deutlich gemacht, dass mit diesen Prozessen eine Vielzahl von Fragestellungen verbunden ist, die für eine zeitgemäße Allgemeinbildung relevant sind. Ein wichtiger Ort, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen, ist die Schule – neben der Familie, der Kita, außerschulischen und informellen Bildungsorten. Am Beispiel von digitalen Räumen und dem ambivalenten Verhältnis von Struktur und Funktion digitaler Medien wurden zwei Ansätze vorgestellt, die zum einen helfen, die Bedeutung der Phänomene für die Medienbildung ins Bewusstsein zu heben und die Phänomene selbst zu charakterisieren, zum andern aber auch Hinweise darauf geben, wie man sie medienpädagogisch zugänglich machen kann.
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Allerdings kann insgesamt noch nicht davon gesprochen werden, dass Medienbildung ein selbstverständlicher Bestandteil schulischer Allgemeinbildung ist. Dies gilt sowohl für Schüler*innen als auch für die Ausbildungssituation der Lehrkräfte (vgl. z. B. Herzig 2020, S. 39 ff.). Gerade in Bezug auf die mit der Digitalisierung verbundenen spezifischen Eigenschaften digitaler Medien besteht hier dringender Handlungsbedarf, dem auch die Kultusministerkonferenz mit ihrer Strategie zur Bildung in der digitalen Welt (KMK 2016) Ausdruck verliehen hat. Im Folgenden werden die skizzierten Beispiele in einen konzeptionellen Rahmen eingebettet, der für eine umfassende schulische Medienbildung mit dem Ausweis von zentralen Handlungs- und Nutzungsbereichen sowie Inhaltsbereichen Orientierung bieten soll.
3 Konzeptioneller Rahmen für die schulische Medienbildung Medienkompetenz stellt sich nicht automatisch ein, sondern bedarf der expliziten Förderung. Auch die Rede von den sogenannten digital natives, die in eine digitale Welt hineinwachsen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kinder und Jugendliche zwar über grundlegende Bedien- und Handhabungsfertigkeiten verfügen, in der Regel aber nicht über ein als wünschenswert oder notwendig erachtetes Niveau von Medienkompetenz (vgl. z. B. Eickelmann et al. 2019). An vielen Stellen wird – sowohl bildungspolitisch als auch (medien-)pädagogisch – als Ziel einer schulischen Auseinandersetzung mit Medien ein kompetentes Subjekt postuliert, das sich abhängig von seinem Entwicklungsstand sachgerecht, selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortlich in der digitalen Welt bewegt (vgl. Tulodziecki et al. 2019, S. 77 ff.; Tenorth 2017). Ein solches Subjekt wird als autonom, entscheidungs- und handlungsfähig und über Freiheit und Vernunft verfügend charakterisiert. Angesichts der technologischen Bedingungen, unter denen Alltagshandeln heute stattfindet, kann eine solche Auffassung durchaus in Zweifel gezogen und gefragt werden, ob es überhaupt noch realistisch ist, sich gegenüber automatisierten und algorithmisch getroffenen Einflüssen auf den individuellen Lebenszusammenhang souverän, d. h. distanziert reflexiv und entscheidungsoffen zu verhalten (vgl. Aßmann et al. 2016). Eine solche Skepsis hängt damit zusammen, dass • digitale Medien in zunehmendem Maße Einfluss auf das individuelle Leben nehmen, ohne dass dies aktiv vom Einzelnen intendiert ist, • die Komplexität der medialen Infrastruktur, insbesondere von Softwarearchitekturen, inzwischen so groß ist, dass sie vom Einzelnen nicht mehr verstanden und durchschaut werden kann,
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• Entscheidungen in zunehmendem Maße in automatisierter Form auf der Basis ausgewerteter Datenbestände und -flüsse getroffen und damit soziale und gesellschaftliche Prozesse gesteuert werden, • digitale Medien als – durch KI-Technologien – lernende Systeme eine Eigendynamik entwickeln, die nicht oder nur sehr schwer nachvollziehbar und kontrollierbar ist. Bei allen Einschränkungen, denen Entscheidungsfreiheit und Souveränität im Alltag unterworfen sind, erscheint es aber weiterhin gerechtfertigt und medienpädagogisch normativ wünschenswert, die Annahme eines gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts aufrechtzuerhalten, das sich – im Sinne von Subjektivierung und nicht vorgängiger Verfasstheit – „für die Schritte von SubjektBildungen ebenso interessiert wie für ihre Regelmäßigkeiten und die jeweils beteiligten Entitäten“ (Alkemeyer 2013, S. 34). Grundsätzlich ist das Subjekt in der Lage, entsprechende Einflüsse zu erfassen und in Handlungsentscheidungen einzubeziehen, wenn dies auch situativ und in Bezug auf die individuellen Voraussetzungen nicht immer erwartbar ist (zum medienpädagogischen Menschenbild vgl. Tulodziecki 2020). Vor diesem Hintergrund zielen schulische Bemühungen im Rahmen der Medienbildung darauf, Kinder und Jugendliche – mit Blick auf den jeweiligen Entwicklungsstand – zu befähigen, sich sachgerecht, selbstbestimmt, kreativ und sozial verantwortlich im Medienzusammenhang zu verhalten. Um ein möglichst breites Spektrum in der Auseinandersetzung mit (digitalen) Medien abzudecken, bietet es sich an, einen konzeptionellen Rahmen zu bestimmen, in dem dann (fach-)spezifische Umsetzungen verortet werden können. Grundsätzlich lassen sich Maßnahmen zur Medienbildung in einzelne Nutzungs- und Handlungsbereiche sowie verschiedene Inhaltsbereiche unterscheiden (vgl. Abb. 2). Eine Auseinandersetzung mit diesen Bereichen sollte Handhabungsfertigkeiten für eine funktionsgerechte Nutzung von Medien bzw. Hard- und Software, zu Kommunikationsfähigkeit im Sinne eines Verständnisses von Medienbotschaften und für eigene Gestaltungen, zu Recherche- und Strukturierungsfähigkeiten sowie zur Fähigkeit der Analyse und Bewertung von Medienangeboten führen. Hinzu kommen Gestaltungsfähigkeit mit Medien, Problemlösefähigkeit und Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit im Medienbereich. Schüler*innen sollten in den Nutzungs- und Handlungsbereichen Gelegenheit erhalten, in der rezeptiven, in der interaktiven und in der produktiven Form der Mediennutzung Erfahrungen zu sammeln. Diese Grundformen der Mediennutzung beziehen sich auf verschiedene Verwendungszwecke, z. B. bei einem interaktiven Lernprogramm, um zu lernen oder bei einer Fitness-App, um
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Abb. 2 Konzeptioneller Rahmen für die Medienbildung (vgl. Tulodziecki et al. 2019, S. 208). (Quelle: Eigene Darstellung)
individuelle Trainingsfortschritte zu analysieren. Insgesamt lassen sich folgende Handlungs- und Nutzungsbereiche unterscheiden: • Information und Lernen: Dieser Bereich umfasst Angebote aus der vielfältigen Medienlandschaft, die der Information und dem Lernen dienen; diese reichen von Buch-, Radio- und Fernsehbeiträgen über Werkzeuge der Recherche bis hin zu interaktiven netzbasierten Angeboten. • Analyse und Simulation: Digitale Medien können genutzt werden, um aus der Analyse von großen Datenmengen neue Erkenntnisse, z. B. in Form von bisher unbekannten Zusammenhängen, zu erhalten. Solche Analysen können sich auf bereits erhobene Daten beziehen (z. B. Kundendaten) oder auf
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Datenströme, die während der Analyse erzeugt werden (z. B. die Analyse von Online-Diensten). Durch die Simulation von komplexen Prozessen und Systemen können beispielsweise Vorhersagen getroffen werden (z. B. Wetterprognosen durch die Simulation von komplexen Modellen). Zudem können Simulationen im Kontext von Lernen genutzt werden (z. B. Wirtschaftssimulationen). • Unterhaltung und Spiel: Auch in diesem Bereich finden sich vielfältige Angebote von unterhaltender Literatur über Videoclips und Spielfilme von Streamingdiensten bis hin zu Spielekonsolen und immersiven Spielumgebungen, die mithilfe von Datenbrillen erzeugt werden. • Dienstleistungen: Mit zunehmender Digitalisierung wird auch die Palette von Dienstleistungen im Bereich von Handel, Banken, Haushalt, Verwaltung, Gesundheit und Verkehr breiter, die beispielsweise An- und Verkauf, Beratung oder Information anbieten – teilweise verbunden mit neuen Berufsbildern. • Steuerung und Kontrolle: Digitale Medien bieten viele Möglichkeiten, Prozesse und Verhalten zu steuern und zu kontrollieren. Dazu zählen sowohl selbst gewählte Möglichkeiten z. B. der Steuerung von Haushaltsfunktionen (SMART Home) oder der Überwachung von Körper- und Vitalfunktionen (z. B. im Zusammenhang mit Selbstoptimierung, quantified self) als auch subtile Formen der Beeinflussung z. B. durch personalisierte Werbung oder algorithmisch ausgewählte Informationsangebote (z. B. durch Empfehlungsalgorithmen). Über die skizzierten Nutzungs- und Handlungsbereiche sollte auch eine Auseinandersetzung mit spezifischen Inhalten angeregt und ermöglicht werden. Dazu zählen sowohl Inhalte, die aus der medienpädagogischen Diskussion heraus entstanden sind, als auch informatische Aspekte, die für ein Verständnis der digitalen Grundlagen der Medienwelt erforderlich sind (siehe auch Abb. 2): • Medienlandschaft und ihre digitale Infrastruktur: Dieser Inhaltsbereich umfasst die Medienarten und ihre Angebote, Aspekte der Medienkonvergenz sowie Fragen der Sensorisierung, Datafizierung und Algorithmisierung. Darüber hinaus geht es um grundlegende Fragen der Modellbildung, der Programmierung und der Vernetzung. • Gestaltungsmerkmale und Erzeugung medialer Botschaften: Für das Verständnis und die Gestaltung von Medienbeiträgen ist es wichtig, sich ihre Zeichenhaftigkeit bewusst zu machen und verschiedene Darstellungsformen und Gestaltungstechniken – insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Form und Inhalt – einer medialen Botschaft zu kennen. Darüber hinaus geht es in
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diesem Inhaltsbereich um verschiedene Formen der Erzeugung von medialen Botschaften, z. B. durch die Auftragung von Substanzen auf Trägermaterialien (z. B. Briefe oder Bilder), durch technische Einschreibungen in Materialien (z. B. Tonband oder Film) oder durch immaterielle Prozesse mithilfe von Algorithmen bzw. Software. • Medieneinflüsse auf Individuum und Gesellschaft: In diesem Inhaltsbereich geht es um Medieneinflüsse auf Emotionen, Vorstellungen, Verhaltens- und Wertorientierungen sowie auf soziale Zusammenhänge. Thematisiert werden beispielsweise Medien in ihrer Funktion als Stimmungsregulatoren und zum Ausdruck von Emotionen, die Einflüsse von Medien auf die Vorstellungsbildung über Wirklichkeitsbereiche und die verhaltens- und wertorientierenden Wirkungen von Medien, z. B. im Kontext von Gewaltdarstellungen oder exkludierenden und diskriminierenden Beiträgen. • Bedingungen der Medienproduktion und Medienverbreitung: Technische, rechtliche, ökonomische, personale, institutionelle, politische und gesellschaftlich-kulturelle Bedingungen markieren wichtige Voraussetzungen oder Rahmenbedingungen der Produktion und Verbreitung von Medien. Dazu zählen technische Aspekte von Informatiksystemen, Meinungs- und Pressefreiheit, Jugendschutz, Urheberrecht und Datenschutz, Monopolisierung und Datenkapitalismus, Medienkonzerne und ihre Strukturen oder bildungs- und parteipolitische Medienfragen, die in diesem Inhaltsbereich angesprochen werden. Ein solcher Kompetenzrahmen für die Medienbildung stellt eine Orientierung für die Planung und Umsetzung von schulischen Maßnahmen zur Medienbildung dar und soll entsprechende Anregungen geben. Die Kultusministerkonferenz hat in ihrer Strategie zur „Bildung in der digitalen Welt“(erneut) festgeschrieben, dass Medienbildung als integrativer Bestandteil der Fachcurricula zu verstehen sei und innerhalb der bestehenden Unterrichtsfächer und Lernbereiche umgesetzt werden soll (vgl. KMK 2016). Um allen Schüler*innen in ihrer Schullaufbahn angemessene Gelegenheiten zum Kompetenzerwerb bieten zu können, ist innerhalb der Einzelschule ein abgestimmtes Vorgehen notwendig. Dazu bietet es sich an, in einer Steuergruppe ein schulinternes Curriculum zu entwickeln, in dem – über die Klassenstufen – fachbezogene und überfachliche Lerngelegenheiten zu einzelnen Nutzungs- und Handlungsbereichen und Inhaltsfeldern der Medienbildung festgelegt und entwickelt werden. Dazu können verschiedene Kompetenzniveaus, z. B. für das Ende der Primarstufe oder der Sekundarstufe I, formuliert werden. Da in der Regel nicht alle Nutzungs- und Handlungsbereiche abgedeckt werden können, empfiehlt sich ein exemplarisches Vorgehen,
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sodass aber insgesamt alle Bereiche anhand eines oder mehrerer Inhaltsfelder angesprochen werden. Der Kompetenzrahmen kann in diesem Zusammenhang auch dazu dienen, eine systematische Bestandsaufnahme zu bereits bestehenden Aktivitäten durchzuführen und eventuelle Fortbildungsbedarfe im Kollegium auszumachen. Weitere Hilfestellung bieten die Kompetenzbereiche, die in der KMK-Strategie formuliert sind und auf deren Basis viele Bundesländer weitere Instrumente und Hilfsmittel entwickelt haben. Sie sind vergleichsweise konkret formuliert, allerdings im Wesentlichen an der Digitalisierung orientiert und rekurrieren weniger auf eine umfassende Medienbildung, die auch solche Kompetenzen einbezieht, die nicht allein im Zusammenhang von Digitalisierung bedeutsam sind.
4 Fazit Mediatisierung und Digitalisierung fungieren als Chiffren für weitreichende Veränderungen der Lebenswelt. Vielfältige Phänomene und Prozesse in Alltag, Freizeit und Beruf lassen sich heute ohne digitale Medien nicht mehr angemessen beschreiben und verstehen. Mit ihren jeweils spezifischen Blickwinkeln auf diese Veränderungsprozesse machen kultur-, medien- und kommunikationswissenschaftliche sowie informatische Konzepte deutlich, welche grundlegenden Anforderungen sich für alle Gesellschaftsmitglieder stellen, wenn auch in einer ‚digitalen Welt‘ aktive Teilhabe und Mitgestaltung sichergestellt werden sollen. Der disziplinäre Ort, sich als Wissenschaft und Lehre mit medienbezogenen lern-, erziehungs- und bildungsrelevanten Prozessen auseinanderzusetzen, ist die Medienpädagogik. Angesichts des interdisziplinären Charakters der mit der Digitalisierung verbundenen Transformationsprozesse besteht eine bedeutsame Aufgabe darin, die vielschichtigen Anforderungen in einen orientierenden (medien-)pädagogischen Kontext zu setzen und zu begründen. Ein solcher konzeptioneller Rahmen kann Ausgangspunkt für die Entwicklung konkreter schulischer Bildungsszenarien sein, die den Anspruch verfolgen, eine bildende Auseinandersetzung mit Medienfragen im Unterricht zu ermöglichen, sodass Schüler*innen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Einstellungen und Haltungen entwickeln, die eine orientierende und gestaltende Teilhabe in der digitalen Welt erlauben. Theoretische Ansätze und Konzepte wie die eingangs genannten sind mit ihren Analysen und Befunden sowohl eine wichtige Grundlage für die Konzeptionierung eines Orientierungsrahmens als auch für die weiterführende Entwicklung konkreter Umsetzungen. So kann die (alltägliche) Beobachtung, dass viele kommunikative, administrative oder auch ökonomische
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Handlungen sich von realen in virtuelle Räume verlagern, Anlass sein, dies auch zum Gegenstand der Medienpädagogik zu machen; allerdings würde eine Fokussierung auf einen statischen (euklidischen) Raumbegriff Bildungspotenziale verschenken. Eine Analyse des Raumes vor dem Hintergrund eines dynamischen Raumbegriffs hingegen weitet den Blick für den virtuellen Raum als Ergebnis eines softwarebezogenen Konstruktionsprozesses, als Ort der Manifestation von traditionellen und neuen Handlungsvollzügen und als ein Ort, den sich die Nutzenden in spezifischer Weise aneignen. In ähnlicher Weise sensibilisiert eine technikphilosophische Betrachtung von digitalen Artefakten dafür, dass ihre komplexe Struktur den Anwender*innen nicht mehr erlaubt, alle Funktionen unmittelbar zu erschließen. Das digitale Medium als black box birgt die Gefahr, dass bestimmte Prozesse ohne Kenntnis der Nutzenden ablaufen, aber unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf individuelle Lebenszusammenhänge haben. Medienpädagogisch bedeutet dies, die Balance zwischen den notwendigen (und möglichen) Kompetenzen in Bezug auf die Grundstrukturen und Funktionsweisen digitaler Medien, der Verantwortung bei der Gestaltung von Software und den Notwendigkeiten staatlicher Regulierung als Grundlagen und Voraussetzung digital souveräner Lebensführung auszuloten. Die enge Verschränkung technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, ihre hohe Dynamik und ihr weitreichender Einfluss auf individuelle und soziale Lebenszusammenhänge stellen an die Medienpädagogik hohe Anforderungen: Neben der Erwartung im Hinblick auf orientierende Vorstellungen zu Erziehungsund Bildungszielen sowie das damit verbundene Menschenbild kann sie Handlungs- und Inhaltsbereiche zu deren Umsetzung nur aus interdisziplinären Analysen ableiten. Dies gilt insbesondere, wenn Medienbildung sich nicht in begrenztem Regelwissen erschöpfen soll, sondern auf kategoriale Einsichten zielt, die neben der souveränen Bewältigung von Anforderungen in der digitalen Welt auch die Fähigkeit und Bereitschaft einschließt, an zukünftigen Entwicklungen gestaltend mitzuwirken.
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Computer-Supported Collaborative Learning: Die Rolle des Digitalen bei der Unterstützung von kooperativem Lernen Sebastian Strauß und Nikol Rummel Zusammenfassung
Kooperatives Lernen in Kleingruppen im Schul- und Hochschulkontext hat sich als lernförderliches Arrangement herausgestellt. Gleichzeitig zeigt die Forschung jedoch auch, dass kooperatives Lernen kein Selbstläufer ist und dass zusätzliche pädagogische Unterstützung Lernenden dabei helfen kann, die Potentiale der Kooperation mit anderen für das Lernen zu nutzen. Im Rahmen dieses Beitrags fokussieren wir auf Computerunterstützung für kooperatives Lernen (computer-supported collaborative learning, CSCL) und zeigen auf, welche Rolle digitale Technik bei der Unterstützung von kooperativem Lernen einnehmen kann. Anhand eines kurzen historischen Überblicks skizzieren wir, wie sich Computerunterstützung zuerst für individuelles Lernen und anschließend für kooperatives Lernen entwickelt hat. Unter Rückgriff auf das Konzept der „Affordanzen“ stellen wir dar, welche Rollen digitale Technik bei der Unterstützung kooperativen Lernens einnehmen kann. Abschließend diskutieren wir die Herausforderungen und Stärken digitaler Technik bei der Unterstützung kooperativen Lernens entlang von Fragen nach dem Zugang zu digitaler Unterstützung, ihrer Skalierbarkeit, ihrer Konfiguration, sowie der Frage nach einer Handlungsautonomie für die Lernenden.
S. Strauß (*) · N. Rummel Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Rummel E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_6
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Schlüsselwörter
Kooperatives Lernen · Computerunterstützung · Digitalität · Lernen in Gruppen · Kooperationsskript · Group Awareness
1 Einleitung Die Fähigkeit, im Team zu lernen und gemeinsam Probleme zu lösen, wird als eine wichtige Kompetenz wahrgenommen. So war „Problemlösen im Team“ bereits Bestandteil der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2015 (OECD 2017) und im US-Kontext findet sich die Fähigkeit zur Kooperation in den sogenannten „21st Century Skills“ (Partnership for 21st Century Skills 2008). Van Laar et al. (2017) verbinden die 21st Century Skills mit digital skills und fassen unter Kooperationskompetenz auch die Fähigkeit, Informations- und Kommunikationstechnik zu nutzen, um soziale Netzwerke aufzubauen, die dem Austausch von Wissen sowie der gemeinsamen Entscheidungsfindung dienen. Im vorliegenden Beitrag fokussieren wir darauf, dass digitale Technik nicht lediglich ein Medium für Kooperation sein kann, sondern gleichzeitig auch Kooperation, speziell Kooperation mit dem Ziel des Lernens, erlauben, erleichtern, und unterstützen kann. Spätestens seit der Covid-19 Pandemie haben digitale Medien auch im Bildungsbereich Einzug erhalten: Schulen und Universitäten nutzen Lernmanagement-Systeme wie Moodle, um Inhalte bereitzustellen oder Aufgaben bearbeiten zu lassen. Videokonferenzsoftware war zeitweise das einzige Kommunikationsmedium für Lerngelegenheiten wie etwa Unterricht, Hochschulveranstaltungen oder Workshops. Darüber hinaus dienten Web-2.0. Plattformen wie Diskussionsforen oder Wikis schon lange als Wissensspeicher und Orte der Wissenskonstruktion, die aus der Zusammenarbeit vieler verschiedener Nutzer*innen erwachsen sind. In unserem Beitrag nehmen wir kooperatives Lernen in den Blick, das sich in zweierlei Hinsicht als lernförderliches Arrangement herausgestellt hat. So bietet kooperatives Lernen sowohl die Gelegenheit, Inhaltsbereiche tiefer zu erschließen (Pai et al. 2015; Tenenbaum et al. 2020; Hattie 2009; Chen et al. 2018), als auch die Gelegenheit, domänenübergreifende Kompetenzen, wie Kooperations- oder Argumentationsfähigkeiten zu erwerben (Radkowitsch et al. 2020; Weinberger und Fischer 2006; Rummel und Spada 2005). Damit Lernende von Kooperation profitieren und dazu befähigt werden, sich in kooperativen Settings sicher zu
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bewegen, ist allerdings pädagogische Unterstützung notwendig. Als Forschungsund Entwicklungsfeld für diesen Zusammenhang hat sich der Bereich des Computer-Supported Collaborative Learning (CSCL) herausgebildet. Anliegen dieses Beitrags ist es, aufzuzeigen, welche Rolle digitale Technik bei der Unterstützung von kooperativem Lernen einnehmen kann. Anhand eines kurzen forschungshistorischen Überblicks wird dafür zuerst skizziert, wie Collaborative Learning (CL) und Computer Support (CS) zu einem Forschungsfeld und Paradigma in der technikgestützten Instruktion bzw. pädagogischen Unterstützung verschmolzen sind. Anschließend stellen wir sieben sogenannte „Affordanzen“ digitaler Technik dar. Diese Affordanzen beschreiben Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lerner*innen und der Lernumgebung und erlauben es die verschiedenen Rollen zu illustrieren, die digitale Technik bei der Unterstützung von kooperativem Lernen spielen kann. Abschließend werden verschiedene Stärken und Herausforderungen digitaler Unterstützung diskutiert. So ist eine Hoffnung gegenüber digitaler Technik etwa, dass sie, anders als menschliche Lehrende, individualisierte Unterstützung parallel für alle Lernenden ermöglicht – auch in Lehr-Lern-Settings, die die Größe regulärer Klassenzimmer oder Universitätsseminare übersteigen (Skalierbarkeit). Ein weiterer betrachtenswerter Aspekt ist die Möglichkeit, dass digitale Lernumgebungen den Lehrenden und Lernenden Zugriff auf Informationen zu Lernverhalten geben, die von den menschlichen Akteuren möglicherweise nicht erfassbar sind (Augmentierung). Im Verlauf dieses Kapitel argumentieren wir, dass das Digitale nicht an sich Lernen begünstigt, sondern dass digitale Technik pädagogisches Wissen auf eine Art und Weise orchestriert, sodass sie Lehr-Lern- und Kooperationsprozesse begünstigen kann. Vor diesem Hintergrund ist es unabdingbar, Unterstützungstechnik evidenzbasiert zu gestalten (Konfiguration). Zuletzt werfen wir die Frage nach dem Verhältnis von pädagogischer Intention und Handlungsautonomie auf und diskutieren den Einfluss der eigen-sinnigen Nutzung von Unterstützungstechnik durch die Lernenden.
2 Begriffsbestimmungen Das CL in CSCL: Begriff und Erkenntnisinteresse der Forschung Im Zentrum des Computer-Supported Collaborative Learning steht Collaborative Learning (CL). In seiner Minimaldefinition beschreibt Dillenbourg kooperatives Lernen als „[…] a situation in which two or more people learn or attempt to learn something together“ (Dillenbourg 1999, S. 1). Die Breite dieser Definition
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deutet bereits darauf hin, dass es viele Settings gibt, die unter diesen Begriff fallen können, zudem sind die Lernergebnisse vage definiert1. Zur Illustration der Bandbreite sollen im Folgenden die Bestimmungsstücke dieser Definition nacheinander illustriert werden. Die Gruppengröße – „two or more people“ – kann von Partnerarbeit in Paaren (Dyaden) bis zu Klein- und Peergruppen von vier bis sieben Personen reichen. Kooperatives Lernen umfasst aber auch Communities of Practice, wie etwa in Unternehmen, Knowledge-Building Communities wie Wikipedia, oder Kooperation auf Ebene einer Gemeinschaft wie einem Stadtteil (Dillenbourg 1999). Mit Blick auf die Ziele von kooperativem Lernen, „learn something“, kann grob zwischen domänenspezifischem Wissen und domänenübergreifendem Wissen unterschieden werden (vgl. Rummel 2018). Hierbei zeigte sich, dass kooperatives Lernen sowohl für den Erwerb von Fachwissen und dessen Transfer effektiv ist (z. B. Pai et al. 2015; Tenenbaum et al. 2020), aber auch domänenübergreifende Kompetenzen in Form von Kooperationsfähigkeiten erworben werden können (vgl. Radkowitsch et al. 2020). Während die Effekte beim Erwerb von domänenspezifischem Wissen auch unabhängig von zusätzlicher pädagogischer Strukturierung der Zusammenarbeit auftreten (siehe Meta-Analyse von Pai et al. 2015; vgl. dazu aber auch Radkowitsch et al. 2020), erwerben Lernende domänenübergreifende Kompetenzen wie Kooperationsfertigkeiten vor allem, wenn sie dabei pädagogische Unterstützung erhalten (Radkowitsch et al. 2020). Das nächste Bestimmungsstück der Definition fokussiert auf den Modus der Zusammenarbeit und die Rolle der Kooperation für das (gemeinsame) Lernen – „together“. Mit Blick auf den Modus der Zusammenarbeit kann kooperatives Lernen sowohl die gleichzeitige Interaktion mehrerer Lernender am selben Ort, als auch die medienvermittelte, zeit- und ortsunabhängige Zusammenarbeit von Lernenden umfassen. Die Interaktion zwischen den Lernenden entspinnt sich dabei stets um eine gemeinsame Aufgabe herum. Die Aufgabenstruktur kann verschiedene Formen der Zusammenarbeit erfordern, was im englischen Sprachraum
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weitere, einflussreiche Definition fasst kooperatives Lernen als „[…] coordinated, synchronous activity that is the result of a continued attempt to construct and maintain a shared conception of a problem“ (Roschelle und Teasley 1995, S. 70). Hier werden zusätzliche Bestimmungsstücke deutlich: Koordination, Synchronizität und das Ziel, ein gemeinsames Verständnis eines (gemeinsamen) Problems zu entwickeln und aufrecht zu erhalten. Wie in Dillenbourgs Definition steht auch bei Roschelle und Teasley (1995) die Interaktivität um ein gemeinsames Problem im Vordergrund.
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zur begrifflichen Trennung von cooperative learning und collaborative learning geführt hat (Dillenbourg 1999). Cooperative learning bezeichnet den Umstand, dass Lernende ein gemeinsames Problem in voneinander unabhängige Elemente aufteilen (können), diese jeweils individuell bearbeiten und abschließend zu einem gemeinsamen Endprodukt zusammenfügen. Das gemeinsame Arbeitsergebnis besteht hier aus der Summe der individuell erarbeiteten Teillösungen. Im Kontrast dazu zielt der Begriff collaborative learning auf den über-additiven Charakter von Kooperation ab: Es wird nicht bloß das individuelle Wissen der Gruppenmitglieder zusammengetragen, sondern innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens neues Wissen konstruiert, das über das initial bei den beteiligten Individuen vorliegende Wissen hinausgeht. Trotz dieses Unterschieds erfordern beide Formen die aktive, selbstgesteuerte und selbstverantwortliche Auseinandersetzung mit Lernmaterial innerhalb einer Gruppe sowie die Notwendigkeit, das Vorgehen gemeinsam zu planen, zu überwachen und die eigenen Vorannahmen und Lernprozesse zu reflektieren (Kreijns et al. 2003). Wenngleich mit den Begriffen auf unterschiedliche Momente im Zusammenarbeiten hingewiesen wird, so bleibt eine solche Trennung lediglich eine analytische, denn eine Lern- oder Problemlöseaktivität besteht nicht ausschließlich aus entweder cooperation oder collaboration: So kann es erforderlich sein, Einzelaspekte arbeitsteilig zu erledigen, um dann gemeinsam darauf aufbauend neues Wissen zu konstruieren. Im Deutschen hat sich diese begriffliche Trennung allerdings nicht etabliert und so bezeichnet der Begriff kooperatives Lernen sowohl collaboration als auch cooperation. Daher beziehen wir uns in unserem Beitrag mit dem Schlagwort kooperatives Lernen auf beide Formen der Zusammenarbeit. Das Bestimmungsstück „together“ verweist außerdem auf die Rolle der Gruppensituation für Lernen. Hier gilt es die Frage zu beantworten, ob und in welcher Form die Kooperation mit anderen Lernenden zu Lernen führt und welche Akteure lernen. Die Literatur zum kooperativen Lernen hat hier verschiedene theoretische Perspektiven hervorgebracht (siehe die Überblicksartikel von Stahl 2005; Renkl 2007; Slavin 1996; Dillenbourg et al. 1996). Wenngleich diese verschiedenen theoretischen Perspektiven kooperative Lernsettings auf unterschiedliche Weise konzeptualisieren, steht in ihrem Zentrum stets die Annahme, dass die Interaktion zwischen Personen maßgeblich für Lernprozesse, individuellen Wissenserwerb, sowie kollaborative Lernerfolge und gemeinsame Problemlösungen ist (interaction paradigm, Dillenbourg et al. 1996). Ansätze wie die Cognitive Elaboration Perspective (O’Donnell und Hmelo-Silver 2013) konzeptualisieren Kooperation lediglich als eine besonders günstige Randbedingung für individuelles Lernen, während soziokulturelle Ansätze (Vygotskij und Cole 1978) davon ausgehen, dass jedem individuellem
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Lernen eine interindividuelle Wissenskonstruktion vorausgeht. Daneben fasst der Group Cognition Ansatz (Stahl 2006) Lernen und Denken ausschließlich auf Ebene des Systems „Gruppe“. Im Group Cognition Ansatz wird das in der Gruppe konstruierte Wissen als emergent verstanden; das Wissen zeigt sich in der Interaktion zwischen den Individuen. Lernen und Denken der Gruppe sind somit nicht den einzelnen Individuen zuschreibbar, bzw. die Konstruktion des Wissens kann nicht auf Prozesse innerhalb der beteiligten Individuen reduziert werden. Zwischen diesen zwei Polen finden sich Konzeptualisierungen, die Gruppen die Fähigkeit zusprechen, auf Systemebene neues Wissen zu generieren, dieses Wissen wird dabei allerdings in den beteiligten Individuen generiert (sozial-konstruktivistische Ansätze, Renkl 2007) und auch von den Individuen internalisiert. Eine weitere relevante Unterscheidung kann zwischen sozio-konstruktiven und sozio-kulturellen Perspektiven auf kooperatives Lernen getroffen werden. Diese Trennung betrifft die Symmetrie zwischen den Gruppenmitgliedern. Während sozio-konstruktive („neo-piagetische“) Ansätze die Interaktion zwischen Lernenden mit ähnlicher Kompetenz hervorheben, betonen sozio-kulturelle („neo-vygotskische“) Ansätze die Interaktion zwischen Lernenden auf verschiedenen Kompetenzstufen (Renkl 2007). In ihrer MetaAnalyse finden (Tenenbaum et al. 2020) Belege für die Wirksamkeit beider Kooperationsarrangements. Das Lernen in und durch Kooperation kann folglich in Gruppen von verschiedener Größe und in verschiedenen Lernsettings stattfinden, wobei die Interaktion zwischen den Lernenden einer Gruppe zentral ist. Von einer pädagogisch-psychologischen Warte aus können kognitive Prozesse der Informationsverarbeitung (Webb 2013), oder metakognitive Überwachung- und Regulationsprozesse (Hadwin et al. 2011) betrachtet werden. Als besonders lernförderliche Prozesse hebt King (2007) das Erklären und Elaborieren von Ideen und Konzepten, das Stellen von gedankenprovozierenden Fragen, Argumentieren und das Auflösen von konzeptuellen Konflikten hervor. Zudem können Lernende in kooperativen Settings, Lern- und Problemlösestrategien der anderen Gruppenmitglieder beobachten und erhalten so die Möglichkeit, diese am Modell zu lernen und zu internalisieren (Modellierung kognitiver Prozesse, King 2007). Es wird davon ausgegangen, dass diese Prozesse unabhängig von der Sozialform des Lernens (individuell oder kooperativ) lernförderlich sind (vgl. etwa Forschung zu generativem Lernen, z. B. Brod 2020). Allerdings zeigt sich, dass individuell Lernende nur selten eigenständig auf solche lernförderliche Lerntechniken zurückgreifen, etwa weil diese stets mit einem größeren Arbeitsaufwand verbunden sind (Dirkx et al. 2019). In kooperativen Lernarrangements hingegen sind die genannten lernförderlichen Prozesse wahrscheinlicher, da die Notwendig-
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keit der Kooperation diese Prozesse einfordert. Beispielsweise müssen Lernende für eine Zusammenarbeit ihr eigenes Wissen für die anderen Gruppenmitglieder explizit machen, Erklärungen geben oder gemeinsam verschiedene Ideen diskutieren. Neben diesen kognitiven Prozessen beinhaltet kooperatives Lernen auch soziale, motivationale und emotionale Prozesse. Von besonderer Relevanz sind hier beispielsweise das Bestreben ein gemeinsames Verständnis von Konzepten oder Zielen der Zusammenarbeit zu erreichen (Common Ground, Clark und Brennan 1991; Baker et al. 1999), die Motivation zur aktiven Teilnahme wobei individuelle Gruppenmitglieder „Aufwand“ betreiben die eigenen Ressourcen zu teilen, um somit die gemeinsame Arbeit voranzubringen (Cress und Kimmerle 2013), sowie Emotionen während der Zusammenarbeit (Järvenoja und Järvelä 2009). Gleiches gilt für soziale Facetten wie Formen der Beteiligung an der Zusammenarbeit (Hrastinski 2008), Partizipation an der Gemeinschaft (Lave und Wenger 1991) oder der gemeinsame Aufbau von Wissen (Knowledge Building, Scardamalia und Bereiter 1996). Wie in diesem Abschnitt dargestellt wurde, ist die Interaktion zwischen den Lernenden einer Gruppe der Dreh- und Angelpunkt für Lernen und Problemlösen in Kleingruppen. Daraus folgt, dass Digitaltechnik nicht an sich unterstützend sein kann. Vielmehr kann digitale Technik Rahmenbedingungen schaffen, die wiederum lernförderlichen Prozesse wahrscheinlicher machen. Um dieses Ziel zu erreichen, beinhalten Bildungstechniken Wissen über Lernprozesse und Lernziele. Im nächsten Abschnitt skizzieren wir, wie sich Instruktionstechnologie historisch und im Spiegel verschiedener Lerntheorien veränderte, und wie sich Computer-Supported Collaborative Learning herausgebildet hat. Das CS in CSCL – Computerunterstützung für kooperatives Lernen Der zweite zentrale Aspekt von CSCL ist der Einsatz von unterstützender Technik – Computer Support (CS). Eine Technik ist niemals neutral, denn sie existiert stets, um einen Zweck zu erfüllen (Tchounikine 2019). Zur Erreichung ihres Zweckes werden in der Technik Wirkmechanismen (Phänomene) gezielt orchestriert (Arthur 2009). Eine Technik zur Unterstützung von (kooperativem) Lernen umschließt folglich relevante Erkenntnisse über Wahrnehmungsprozesse sowie (meta-)kognitive, soziale, emotionale oder motivationale Prozesse (Phänomene) und verschaltet diese derart miteinander, dass auf Seiten der Lernenden (oder Gruppen) pädagogisch erwünschte Resultate erzielt werden (Orchestrierung). Im historischen Rückblick wurden auf Basis von jeweils neu aufkommenden Lerntheorien verschiedene Arten von Bildungstechnik entwickelt, die seit
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ihrer Entstehung weiterentwickelt werden. Während frühe, maschinelle, und später digitale Unterstützungssysteme für Lernen auf individuelle Lernprozesse fokussierten, gewann Computerunterstützung für kooperatives Lernen seit den 1980er Jahren stetig an Popularität. Die Herausbildung von CSCL als neues Paradigma, wird von Koschmann (1996) sowie Stahl et al. (2006) anschaulich beschrieben. In den 1960er Jahren entstand auf Grundlage behavioristischer Lerntheorien die Computer-Assisted Instruction (CAI). Der Vorläufer von auf diesem Ansatz basierenden digitalen Lernumgebungen waren Skinners (1958) mechanische „teaching machines“. Diese Apparate sollten eingesetzt werden, um Rechtschreibung, Vokabeln, Gedichte oder Definitionen von Konzepten zu lernen. Entsprechend der behavioristischen Perspektive auf Lernen wird das zu lernende Wissen dazu in Elemente zerlegt, die von Lernenden durch Wiederholung und positive Verstärkung (Operante Konditionierung) so lange eingeübt werden, bis alle Elemente erfolgreich abgerufen werden können. Durch die positive Verstärkung bestimmter, nämlich korrekter, Verhaltensweisen (z. B. die richtige Übersetzung einer Vokabel), sowie durch ständige Wiederholung, werden Reaktionshierarchien derart umgeschichtet, dass die Lernenden vor allem diese korrekten Reaktionen zeigen. Zur Verstärkung kommen etwa Punkte für eine korrekte Antwort zum Einsatz. CAI erlaubt eine Individualisierung des Lernprozesses auf Ebene der Lerngeschwindigkeit: Das Lerntempo hängt dabei von der erbrachten Leistung ab; erst nach korrekter Beantwortung einer Frage werden neue Fragen zugänglich. Die konkrete Abfolge der Lerneinheiten sowie die Wiederholungsrate kann etwa auf Basis der Forschung zu Lernen und Wiederholung gestaltet werden (z. B. Dunlosky und Rawson 2015; Schorn und Knowlton 2021). Diese drill and practice Konzeptualisierung von Lernunterstützung findet sich gegenwärtig etwa in Vokabellernprogrammen. Angestoßen durch die kognitiven Wende in der Psychologie wurde Lernen in den 1970er Jahren nicht mehr als bloße Koppelung von Reizen und Reaktion verstanden, sondern als Informationsverarbeitungsprozess (z. B. Simon 1979). Vor diesem Hintergrund wurden sogenannte Intelligent Tutoring Systems (IST) entwickelt. Wie CAI dienen auch intelligente Tutorensysteme der Personalisierung von selbstgesteuertem, individuellem Lernen. Diesen Lernumgebungen liegt die kognitivistische Vorstellung zugrunde, dass Wissen in Form von mentalen Modellen und Schemata gespeichert ist. Beispielsweise verfügen Lernende über ein mentales Modell zu mathematischen Konzepten. Bei der Bearbeitung entsprechender Aufgaben leiten diese mentalen Modelle das individuelle Handeln. Im Umkehrschluss lässt sich aus dem Handeln der Lernenden auf ihre mentalen Modelle schlussfolgern. Intelligente Tutorensysteme stellen Lernenden komplexe
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Aufgaben, für die mehrere Lösungsschritte ausgeführt werden müssen. Die von den Lernenden in der Lernumgebung ausgeführten Schritte (learner model) werden kontinuierlich systemseitig mit einem Modell der korrekten Lösung (expert model) abgeglichen. Im student model sind neben den bereits ausgeführten Lösungsschritten auch typische Fehlkonzepte hinterlegt. Neben der einfachen Darstellung von korrekten oder inkorrekten Eingaben, etwa durch Farbgebung (grün = korrekt, rot = inkorrekt), können Tutorensysteme zudem Unterstützung, wie beispielsweise Reflexionsanregungen oder Erklärungen, versenden, die auf die der falschen Eingabe zugrundeliegenden Fehlkonzepte zugeschnitten sind (vgl. example-tracing tutors, Aleven et al. 2009). In den Folgejahren gewann die Vorstellung der Konstruiertheit von Wissen stärker an Bedeutung in der Lehr-Lernpsychologie. Digitale Systeme, inspiriert vom kognitiven Konstruktivismus der 1980er Jahre, fokussierten auf Discovery Learning (z. B. De Jong und van Joolingen 1998). Diesen Systemen liegt die Annahme zugrunde, dass Lernende durch Experimentieren und Problemlöseprozesse in einer wenig vorstrukturierten Umgebung aktiv Wissen konstruieren. In den dafür entwickelten Computersimulationen werden Lernende mit Variablen konfrontiert und sollen durch Experimentieren Zusammenhänge zwischen diesen Variablen aufdecken (z. B. Auftrieb in Flüssigkeiten, Wirth et al. 2009). Diese Simulationsumgebungen bieten zudem Unterstützung, die die kognitive Belastung für die Lernenden reduziert, sodass mehr kognitive Kapazität für Lernprozesse verfügbar bleibt. So kann der Prozess der Hypothesengenerierung etwa mithilfe von vorstrukturierten Textfeldern unterstützt werden. Dort dürfen die Lernenden nur bestimmte Begriffe einfügen, was automatisch zu syntaktisch korrekten Hypothesen führt (De Jong und van Joolingen 1998). Als Reaktion auf Computeranwendungen, die ausschließlich auf individuelles Lernen fokussierten, und auf der Woge der zunehmenden Verbreitung situierter, sozialkonstruktivistischer und sozio-kultureller Lerntheorien, gewann in den 1980ern das Computer-Supported Collaborative Learning (CSCL) an Bedeutung. Anders als die bisherigen Paradigmen zur Unterstützung von Lernen, erwuchs CSCL aus verschiedenen Wissenschaftstraditionen, die den Einfluss von Sprache, Kultur und anderen Aspekten des sozialen Kontexts für Lernen mit einbeziehen (Koschmann 1996). Beim kooperativen Lernen tauschen Lernende nicht bloß Meinungen aus, sondern erstellen gemeinsam ein Wissensartefakt, wie eine Theorie, eine Falldiagnose oder eine Präsentation (Koschmann 1996; Stahl et al. 2006). Aus dieser Perspektive soll Computerunterstützung die Kommunikation und die gemeinsame Konstruktion von Wissen ermöglichen. Die Rolle digitaler Unterstützung ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.
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3 Digitale Unterstützung für kooperatives Lernen: Affordanzen Auf einer allgemeinen Ebene können beim Einsatz von Computertechnik zwei Positionen unterschieden werden: Kooperation vermittelt durch („through“) den Computer, und Kooperation am („around“) Computer (Crook 1994; Lehtinen 2003). Bei Kooperation durch den Computer stellt die digitale Umgebung primär das Kommunikationsmedium dar, sodass die Kooperationspartner*innen nicht am selben Ort bzw. zeitgleich verfügbar sein müssen. Bei Kooperation am Computer befinden sich die Kooperationspartner*innen zeitgleich am selben Ort, während der Computer den Fokuspunkt der Interaktion bildet (Jeong und Hmelo-Silver 2016). Bei dem Gerät kann es sich um einen PC oder Laptop-Computer handeln, denkbar sind aber auch digitale Geräte, wie Smartphones (mobile CSCL/mCSCL, z. B. Zurita und Nussbaum 2007; Hsu und Ching 2013) oder smarte Einrichtungsgestände (z. B. Bachour et al. 2010). Während des kooperativen Lernens soll Computerunterstützung den Lernenden Gelegenheiten und Anregungen verschaffen, interaktiv Wissen zu konstruieren. Die Art und Weise, wie Lernende mit einer Lernumgebung interagieren (können), ergibt sich aus dem Zusammenspiel der Eigenschaften der Personen (z. B. Physis oder Wissen) und den (durch die Person wahrgenommenen) Eigenschaften der Lernumgebung. Die Möglichkeiten einer Person, mit Objekten in ihrer Umwelt in Interaktion zu treten, werden als „Affordanzen“ (von Englisch „affordance“; Einladungs-, Angebots- bzw. Aufforderungscharakter der Umwelt) beschrieben. Diesem Konzept liegt der Gedanke zugrunde, dass die Beschaffenheit der (materiellen) Umwelt das menschliche Handeln beeinflusst, gleichzeitig aber auch die (biologischen) Voraussetzungen des Menschen nur bestimmte Arten der Interaktion mit der Umwelt zulassen (Norman 1999). Jeong und Hmelo-Silver (2016) beschreiben sieben Affordanzen von digitalen Lernumgebungen, die kooperatives Lernen unterstützen können. Diese Affordanzen können von unterschiedlichen Geräten oder Anwendungen gleichermaßen realisiert werden, und abhängig von den Lernzielen müssen in einem Lernsetting nicht alle Affordanzen gleichzeitig realisiert werden (Jeong und Hmelo-Silver 2016). Im Folgenden geben wir einen Überblick über diese Affordanzen. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle von Interaktion, fokussieren wir bei der Darstellung von relevanten lerntheoretischen Grundlagen besonders auf die Förderung von lernförderlicher Interaktion, die Ko-Konstruktion von Wissen, sowie die Überwachung und Regulation der Kooperation.
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Abb. 1 Screenshot einer Videokonferenz (rechts, anonymisiert) und einem 3D-Gebäudemodell (mittig), das kooperativ überarbeitet werden muss. (Eigene Darstellung)
3.1 Eine gemeinsame Aufgabe etablieren Digitale Lernumgebungen wie Animationen, Videos, gemeinsame Zeichnungen, Simulationen oder (interaktive) Projektionen bieten Lernenden einen Fokuspunkt, um den herum sich Interaktion entfalten kann. In diesem Rahmen kann etwa ein 3D-Modell den Fokuspunkt für gemeinsames Problemlösen bilden (vgl. Abb. 1). Analoges Lern- oder Aufgabenmaterial ist häufig in seiner Reichhaltigkeit beschränkt und wissenschaftliche Versuchsaufbauten sind aufgrund verschiedener Kosten (Material, Zeit) mit Einschränkungen verbunden. Digitale Kooperationsumgebungen bieten im Vergleich eine reichhaltigere und authentischere Repräsentation von Inhalten. So können etwa Experimente, für die spezielles Material und Instrumente erforderlich sind, digital durchgeführt werden. Auch können Simulationen komplexe Informationen aufbereiten oder Raum und Zeit digital überbrücken (z. B. durch Zeitrafferdarstellungen).
3.2 Kommunikation zwischen Lernpartnern ermöglichen Für die gemeinsame Wissenskonstruktion ist es unabdingbar, dass Lernende miteinander kommunizieren können und ein geteiltes Verständnis von Annahmen,
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Zielen und Begriffen –einen Common Ground (Clark und Brennan 1991) – herstellen können. Computervermittelte Kommunikation erlaubt es Lernenden, synchron oder asynchron sowie orts- und/oder zeitunabhängig miteinander zu kommunizieren (vgl. „collaboration through computers“). Der Kommunikationskanal (z. B. E-Mail, Diskussionsforen, Chats, Video-Konferenz) muss abhängig von den Lernenden, dem Ziel der Zusammenarbeit und den dafür notwendigen Kooperationsprozessen mit Bedacht gewählt werden. Dies ist beispielsweise relevant, da das Kommunikationsmedium den Aufwand für den Aufbau und die Aufrechterhaltung eines geteilten Verständnisses beeinflusst. Clark und Brennan (1991) beschreiben verschiedene Medieneigenschaften und Kosten, die einen Einfluss darauf haben, wie ein geteiltes Verständnis erzeugt und aufrechterhalten werden kann (vgl. für einen Überblick Rummel und Deiglmayr 2016). Beispielsweise kann es zwar weniger aufwändig sein, Nachrichten synchron und hörbar zu verfassen (z. B. Videokonferenz), jedoch kann die Möglichkeit Kommunikationsbeiträge erneut anzusehen etwa E-Mails dabei helfen, ein geteiltes Verständnis aufzubauen und aufrechtzuerhalten – wenngleich das Verfassen eines Textes mehr Aufwand bedeutet.
3.3 Teilen von Ressourcen Ein zentraler Vorteil von Kooperation ist es, dass Gruppenmitglieder verschiedene Ressourcen einbringen können und diese zur Lösung eines gemeinsamen Problems genutzt werden können. Solche Ressourcen können etwa Wissen in Form von Text- und Bildmaterial oder programmierter Code sein. Digitale Anwendungen wie Cloudspeicher, Datenbanken oder Wikis erlauben es den Lernenden, die eigenen Ressourcen mit anderen zu teilen und auf die Ressourcen anderer zuzugreifen. Allerdings stellen die Motivation, das eigene Wissen zu teilen (vgl. Cress und Kimmerle 2013), sowie die Nutzung von Informationen, die nicht allen Gruppenmitgliedern vorliegen (Stasser und Titus 1985), zentrale Herausforderungen für den Erfolg kooperativen Lernens dar.
3.4 Lernförderliche Interaktion anregen Lernförderliche Aktivitäten zwischen den Lernenden sind entscheidend für die Effektivität von kooperativem Lernen („interaction paradigm“, Dillenbourg et al. 1996). Daher kommt der Erforschung von lernförderlicher Interaktion und der Entwicklung entsprechender Affordanzen gegenwärtig eine besondere
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Bedeutung zu. Lernförderliche Aktivitäten sind etwa gegenseitiges Erklären, das Elaborieren von Ideen, lautes Denken, kognitives Modellieren, das Stellen gedankenprovozierender Fragen und das gemeinsame Auflösen des daraus entstehenden kognitiven Konflikts (King 2007). Diese Lernaktivitäten werden durch die kooperative Situation erst möglich und gehen über die reine Wiederholung von Inhalten hinaus, was eine tiefere Verarbeitung von Lerninhalten erlaubt. Die gängigste Maßnahme zur Unterstützung von Interaktionsprozessen sind Kooperationsskripte (vgl. Kiemer et al. 2018). Der Begriff „Skript“ stammt aus der Kognitionspsychologie und beschreibt die mentale Repräsentation stereotyper Handlungsabläufe (King 2007). Kooperationsskripte enthalten dementsprechend Beschreibungen von Abläufen und Rollen für kooperatives Lernen. Dabei wird unterschieden, ob die Lernenden bereits über ein eigenes kognitives Skript verfügen (internales Kooperationsskript) oder ob das Skript in einem didaktischen Arrangement von außen an die Lernenden herangetragen wird (externales Kooperationsskript). Externale Kooperationsskripte sollen lernförderliche Interaktionen anregen und von den Lernenden in ihr bereits vorhandenes internales Kooperationsskript integriert werden. Dies erlaubt es den Lernenden schlussendlich, die zuvor unterstützte kooperative Situation ohne zusätzliche Hilfe zu bewältigen (Fischer et al. 2013). Kooperationsskripte können sowohl auf Ebene von Handlungsabläufen und Rollenverteilungen (Makroskript), als auch auf Ebene konkreter Handlungen (Mikroskript) unterstützen. Der Gestaltung eines externalen Kooperationsskripts unterliegen Hypothesen über die lernförderliche Wirkung bestimmter Interaktionen (Tchounikine 2016). So erzeugt das Makroskript Gruppenpuzzle (Aronson 1978) eine künstliche Abhängigkeit zwischen den Lernenden, indem das für die Aufgabenlösung notwendige Wissen auf verschiedene Personen verteilt wird. Lernförderliche Handlungen, wie das gegenseitige Erklären von Lerninhalten, werden wahrscheinlicher gemacht, da die Lernenden in Interaktion treten müssen, um die gemeinsame Aufgabe trotz verteilter Ressourcen zu lösen. Diesem Skript unterliegt folglich die Hypothese, dass Lernende während der Kooperation von- und miteinander lernen, wenn sie ein Problem aufgrund verteilter Ressourcen nicht allein, sondern nur als Gruppe lösen können. Ein Beispiel für ein Mikroskript findet sich bei Noroozi et al. (2013). Sie verwendeten neben einem Makroskript auch ein Mikroskript, um Argumentationsprozesse in Gruppen zu unterstützen. Dem implementierten Mikroskript unterliegt die Hypothese, dass Lernende durch das Befolgen gewisser Diskussionsaktivitäten lernen zu argumentieren und zudem durch den Argumentationsprozess domänenspezifisches Wissen über das Diskussionsthema erwerben. Zu diesem Zweck definierte das eingesetzte Kooperationsskript einer-
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seits eine Abfolge von Diskursaktivitäten während der Diskussion (Makroskript) und gab den Lernenden andererseits Beispiele für mögliche Formulierungen der verschiedenen Argumentationsschritte (Mikroskript). Beispielsweise könnte eine Rückmeldung zu einem vorgebrachten Argument wie folgt eingeleitet werden: „Ich verstehe den folgenden Aspekt deiner Position noch nicht. Könntest du das bitte weiter ausführen?“. Die computergestützte Umsetzung von externalen Kooperationsskripten erlaubt es, die Einhaltung der Handlungsabläufe und Rollen stärker einzufordern, als es in analogen Settings möglich ist. Beispielsweise implementierten Beers et al. (2005) Kommunikationsregeln in eine Lernumgebung, um Lernende bei der Entwicklung eines geteilten Verständnisses zu unterstützen. Indem die Lernenden (Universitätsstudierende) verschiedene Diskursaktivitäten in einer vordefinierten Reihenfolge ausführten, sollte Wissen, das anfangs nur einem der Gruppenmitglieder vorlag, expliziert und anschließend in das geteilte Wissen der Gruppe integriert werden. In den Versuchsbedingungen forderte die digitale Kommunikationsumgebung die Einhaltung der Kommunikationsregeln unterschiedlich stark ein. In der Bedingung mit dem geringsten Zwangscharakter erhielten die Lernenden lediglich Hinweise, welche Diskursaktivitäten noch auszuführen sind; die Lernenden konnten frei miteinander kommunizieren. In der strengsten Versuchsbedingung hingegen wurden Funktionen so lange gesperrt, bis die vorbestimmte Diskursaktivität abgeschlossen war. In der Studie zeigte sich, dass Gruppen in der am stärksten vorstrukturierten Lernumgebung expliziter über Beiträge verhandelten und den umfassendsten Common Ground entwickelten. Eine strenge Führung von Interaktion kann folglich unterstützend wirken. Beim Einsatz externaler Kooperationsskripts ist allerdings zu beachten, dass die Unterstützung stets auf die Kompetenz der Lernenden zugeschnitten sein sollte (Dillenbourg und Tchounikine 2007; Fischer et al. 2013). Zu wenig externale Unterstützung (underscripting) führt dazu, dass die Lernenden mit weniger stark ausdifferenzierten internalen Kooperationsskripten lernförderliche Interaktionsmuster nur lückenhaft zeigen und folglich weniger von der Lernaktivität profitieren können. Bei zu starker externaler Unterstützung (overscripting) hingegen besteht die Gefahr für Lernende mit gut ausdifferenzierten internalen Kooperationsskripten, dass das extern vorgegebene Kooperationsskript mit dem internalen Skript interferiert und Kooperationsprozesse negativ beeinflusst (expertise reversal effect, Kalyuga 2007). Lange Zeit wurde außerdem vermutet, dass zu strenge externale Kooperationsskripte die Motivation der Lernenden reduziert. In ihrer Meta-Analyse finden Radkowitsch et al. (2020) allerdings keine Evidenz für diese Annahme.
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Eine Anpassung der Unterstützung an die Bedürfnisse der Lernenden kann in digitalen Lernumgebungen mithilfe von adaptiven Unterstützungssystemen realisiert werden. Ähnlich wie bei Intelligenten Tutorensystemen für individuelles Lernen, beobachten adaptive Unterstützungssysteme für kooperatives Lernen das (Lern-)Handeln in einer Gruppe und stellen den Lernenden zusätzliche Unterstützung zur Verfügung, bzw. verändern die Menge oder Art der Unterstützung aufgrund zuvor festgelegter Bedingungen. Beispielsweise ergänzten Rau et al. (2017) ein adaptives Tutorensystem um Unterstützungsmaßnahmen für Dyaden. War die von der Dyade eingegebene Lösung inkorrekt, erhielten die Lernenden visuelle Rückmeldung, welcher Teil der Lösung inkorrekt war. Zudem wurden ihnen abhängig von ihrer Antwort Konzepte vorgeschlagen, die vor der nächsten Eingabe der gemeinsamen Lösung diskutiert werden sollten. Während diese Unterstützung auf kognitiver Ebene angesiedelt ist, implementierten Strauß und Rummel (2019) adaptive Unterstützung für die soziale Ebene der Kooperation. Während einer asynchronen, textbasierten Kooperation in einem Online-Kurs erhielten die Studierenden einen Hinweis, wenn die Verteilung der Beteiligung innerhalb der Gruppe (gemessen als Anzahl der gemessenen Worte) ungleich verteilt war. Wurde die Beteiligung als ungleichmäßig eingestuft, erhielt die Gruppe automatisch den Hinweis angezeigt, dass sie sich als Gruppe über die Verteilung der Beteiligung austauschen und explizit machen sollten, welches Gruppenmitglied wie viel beitragen soll.
3.5 Ko-Konstruktion von Wissen ermöglichen Ein Ziel von kooperativem Lernen ist es, dass Lernende gemeinsam Wissen konstruieren, das über das Wissen der einzelnen Gruppenmitglieder hinausgeht. Dies geschieht beispielsweise, indem Lernende mit ihren eigenen Beiträgen auf Beiträge anderer Gruppenmitglieder aufbauen, Beiträge erweitern oder einschränkende Bedingungen anfügen (argumentative knowledge construction, siehe z. B. Weinberger und Fischer 2006; Noroozi et al. 2013; Dubovi und Tabak 2020). Ergebnis dieser Ko-Konstruktion von Wissen kann etwa ein gemeinsam erstelltes Artefakt (z. B. Wiki-Artikel) sein. Der Prozess der Ko-Konstruktion ist auf sozialer und kognitiver Ebene anspruchsvoll. Zentrale Herausforderungen dabei bestehen im Aufbau und der Aufrechterhaltung eines geteilten Verständnisses und der Sicherung des gemeinsam konstruierten Wissens (Jeong und Hmelo-Silver 2016; Clark und Brennan 1991; Hadwin et al. 2018). Laut Jeong und Hmelo-Silver (2016) können digitale Anwendungen für Mind- oder Concept-Maps dazu genutzt
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werden, gemeinsam Ideen und Relationen zwischen Konzepten zu explizieren, zu sortieren und zu speichern. Anschließend können diese Maps den Ausgangspunkt für weitere Ko-Konstruktion bilden (für empirische Untersuchungen zu kooperativen Concept-Maps vgl. z. B. Hong Gao et al. 2007; Farrokhnia et al. 2019). Weiter argumentieren Jeong und Hmelo-Silver (2016), dass Funktionen, die es Lernenden erlauben, den gleichen Ausschnitt der Lernumgebung zu sehen, die Ko-Konstruktion von Wissen erleichtern. Können Lernende beispielsweise den eigenen Computerbildschirm während einer Videokonferenz für Kooperationspartner freigeben, bzw. mit mehreren Personen auf demselben Bildschirm arbeiten, sinken Interaktionskosten, sodass mehr Ressourcen für die Entwicklung eines geteilten Verständnisses verfügbar bleiben. Auf diesem Verständnis kann weiter aufgebaut werden, um neues Wissen zu konstruieren. Digitale Unterstützung für den Prozess der Entwicklung eines geteilten Verständnisses bietet etwa das oben beschriebene Kooperationsskript von Beers et al. (2005) oder von Noroozi et al. (2013). Eine Umgebung, die dediziert die Ko-Konstruktion von Wissen unterstützt ist das Knowledge Forum (Scardamalia 2004). Das Ziel des Knowledge Forums ist es, dass Lernende verschiedene Perspektiven auf ein Wissensgebiet entwickeln und die individuell und gemeinsam generierten Ideen weiterentwickeln. Zu diesem Zweck können Lernende multimediale Notizen mit Ideen, Informationen, Referenzen, Theorien und Modellen erstellen, die für alle Lernenden verfügbar sind. Diese Notizen bilden den Ausgangspunkt für einen gemeinsamen Diskurs. Hierfür unterstützt Knowledge Forum die Überarbeitung, Erweiterung oder Verknüpfung des gesammelten Wissens. Zentral ist die Möglichkeit, die Notizen unter verschiedenen Gesichtspunkten zu gruppieren und stets auf diese verschiedenen Perspektiven zugreifen zu können. Beispielsweise können Notizen zum Thema „Dinosaurier“ entlang einer Zeitlinie oder hinsichtlich der Ernährung der Tiere sortiert werden. Diese Gruppierungen und Notizen können stets überarbeitet werden, sodass die Wissensbasis wächst und die individuell und gemeinsam konstruierten Ideen stets weiterentwickelt werden können.
3.6 Überwachung und Regulation der Kooperation Im Vergleich zum individuellen Lernen entsteht in einer Gruppensituation die Notwendigkeit, nicht nur die eigenen Lernprozesse zu überwachen (selfregulation, vgl. z. B. Otto et al. 2011), sondern auch, dass sich Lernende gegenseitig bei ihrer Regulation unterstützen (co-regulation) und sich auf Ebene
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der Gruppe hinsichtlich der gemeinsamen Handlungen und Ziele abstimmen (socially-shared regulation, z. B. Hadwin et al. 2011; Järvelä et al. 2015; Borge et al. 2018). Zur Unterstützung solcher Regulationsprozesse können Kooperationsskripte eingesetzt werden (z. B. Hadwin et al. 2018). Alternativ zu dieser externen Strukturierung, können digitale Lernumgebungen den Lernenden Informationen zu ihrer Gruppenarbeit zur Verfügung zu stellen, mit denen sie ihre Zusammenarbeit selbstständig beobachten und wenn nötig regulieren können (vgl. Collaboration Management Cycle, Soller et al. 2005). Aufgrund der Eigenschaften des Kommunikationsmediums kann es in computervermittelter Kommunikation schwieriger als in einer face-to-face Kommunikation sein, Informationen zu sammeln, die für die Regulation der Kooperation notwendig sind. Darunter fallen beispielsweise Informationen dazu, welche Gruppenmitglieder aktuell für die Zusammenarbeit verfügbar sind, wer welche Arbeit erledigt hat, was die einzelnen Gruppenmitglieder wissen, oder ob sie mit der Gruppenarbeit zufrieden sind. Das Bewusstsein über Aspekte der Gruppe wird als Group Awareness bezeichnet (Dourish und Bellotti 1992; Schnaubert und Bodemer 2022) und dient als Ausgangspunkt für die Regulation der Kooperation. Die Entwicklung von Group Awareness kann in digitalen Lernumgebungen durch Group Awareness Tools (GATs) unterstützt werden (Bodemer et al. 2018). Diese Tools sammeln und verarbeiten Verhaltensspuren der Lernenden, um sie den Lernenden visuell widerzuspiegeln. Diese Verhaltensspuren können entweder passiv gesammelte Verhaltensdaten aus der Lernumgebung sein (z. B. Logins, eingegebener Text, angewählte Dateien), oder Selbstauskünfte von Lernenden (z. B. Wissenstests oder Fragebögen). Abb. 2 zeigt Beispiele für GATs. Janssen et al. (2011) spiegelten Gruppen Informationen zur Menge der Beteiligung und zur Häufigkeit der verschickten Nachrichten während einer asynchronen, computervermittelten Kooperation wider (vgl. Abb. 2a). Die Größe des Kreises repräsentierte die Menge der beigetragenen Worte, während der Abstand des Kreises zum Mittelpunkt die Anzahl der verfassten Nachrichten darstellte. Auch Bachour et al. (2010) spiegelten Lernenden das Beitragsverhalten wider (Abb. 2b). Allerdings integrierten sie das GAT in einen Besprechungstisch, um eine Echtzeit Zusammenarbeit im selben Raum zu unterstützen. Dabei zeichneten Mikrofone im Tisch die Sprache der Gruppenmitglieder auf. Die Redezeit der Gruppenmitglieder wurde durch farbige Lichtkreise auf der Tischoberfläche visualisiert: Je länger die Redezeit, desto mehr Kreise leuchten vor der jeweiligen Person auf. Beide Kooperationsumgebungen nutzten also Informationen, die durch die Kooperation selbst entstanden (Verhaltensspuren), um den Umfang der Beteiligung an der Kooperation
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a) “Participation Tool”
b) “Reflect”
c) „Radar“
d) (Meta-)Kognitives Group Awareness Tool
Abb. 2 Beispiele für Group Awareness Tools. a „Participation Tool“ (Janssen et al., 2011), welches die Anzahl der beigetragenen Worte, sowie die Anzahl der Nachrichten visualisiert. b Reflect (Bachour et al., 2010), das die gesprochene Zeit visualisiert. c „Radar“ (Phielix et al., 2011), das Mittelwerte der gegenseitigen Einschätzung der Gruppenmitglieder visualisiert. d (Meta-)Kognitives Group Awareness Tool (Schnaubert und Bodemer, 2019), welches kognitive Informationen zu Antworten auf Testfragen visualisiert, sowie Urteile der Lernenden zeigt, wie sicher sie sich bei der Antwort sind
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zu erfassen2. Andere GATs erfragen von den Lernenden aktiv Informationen, um sie anschließend zu visualisieren. Beispielsweise erfasste das von Phielix et al. (2011) entwickelte Tool eine gegenseitige Einschätzung der Gruppenmitglieder (u. a. Freundlichkeit, Zuverlässigkeit, Produktivität) und visualisierte die Umfragewerte (Abb. 2c). Neben sozialen Informationen über die Gruppe und die Gruppenmitglieder können wissensbezogene Informationen widergespiegelt werden. Schnaubert und Bodemer (2019) ließen Lernpartner auf einem Multi-Touch Tisch angeben, welche Antworten sie auf eine Quizfrage geben würden und wie sicher sie sich bei ihrer Antwort sind (Abb. 2d). Die Auswahl der Antworten wurde jeweils durch die farbige Markierung eines Kästchens angezeigt, die Sicherheit des Urteils wurde durch vollständiges Ausfüllen des Kästchens (sicher), bzw. unvollständiges Ausfüllen des Kästchens (unsicher) markiert. Zusätzliche Unterstützung kann bei GATs realisiert werden, indem den Lernenden die Interpretation der Visualisierung erleichtert wird (metacognitive tools, Soller et al. 2005). Beispielsweise spiegelten Jermann und Dillenbourg (2008) Dyaden die Balance zwischen getätigten Problemlöseschritten und der Umfang des Dialogs zwischen den Lernpartnern wider. Diese Balance wurde wie auf einem Tachometer dargestellt. Dort waren gewisse Bereiche grün, bzw. rot markiert, um die Lernenden bei der Interpretation des aktuellen Zustands zu unterstützen.
3.7 Bildung von Gruppen und Gemeinschaften Digitale Umgebungen ermöglichen es zudem, Lernende für eine Kooperation in Verbindung zu bringen. Beispielsweise bieten Web 2.0-Plattformen wie YouTube oder Wikipedia die Möglichkeit für Kooperation in sehr großem Maßstab (z. B. Dubovi und Tabak 2020; Kimmerle et al. 2015; Oeberst et al. 2014). Solche Plattformen erlauben es den Nutzer*innen, Wissen zusammenzutragen und
2 Bei
den von Janssen et al. (2011) und Bachour et al. (2010) eingesetzten GATs wird lediglich die Anzahl der beigetragenen Worte angezeigt. Während die Anzahl der beigetragenen Worte ein gängiger Indikator für Beteiligung an der Gruppenarbeit ist, bildet er lediglich einen Teil des Konzepts „Beteiligung an der Gruppenarbeit“ ab. Für weitere Dimensionen von „Beteiligung“, siehe Hrastinski 2008). Ein Diskussion möglicher Konsequenzen einer solchen Operationalisierung im Rahmen von GATs und dem Ziel einer gleichmäßigen Beteiligung während der Gruppenarbeit findet sich bei Strauß und Rummel (2021b).
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S. Strauß und N. Rummel
kontinuierlich zu erweitern. Bei der gemeinsamen Wissenskonstruktion im Rahmen von Wikis ist etwa die asynchrone Zusammenarbeit an gemeinsam verfassten Texten relevant (Wichmann und Rummel 2013; Heimbuch und Bodemer 2014; Ollesch et al. 2021). Eine zentrale Herausforderung solcher Settings ist beispielsweise die Motivation zur aktiven Teilnahme. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang untersucht wird, ist unter welchen Umständen Gruppenmitglieder bereit sind, ihr Wissen mit anderen zu teilen. Solche Situationen werden häufig als soziales Dilemma konzeptualisiert. In der Folge wird das Beitragsverhalten der Gruppenmitglieder anschließend vor dem Hintergrund spieltheoretischer Überlegungen untersucht (z. B. Matschke et al. 2014; Cress und Kimmerle 2013). Digitale Unterstützung kann überdies genutzt werden, um Gruppen entlang verschiedener Eigenschaften der Lernenden zusammenzustellen (vgl. Tsovaltzi et al. 2019). Beispielsweise auf Basis von Verfügbarkeit, Persönlichkeitseigenschaften, Vorwissen oder vergangener Beteiligung. Die gezielte Zusammensetzung einer Gruppe zielt darauf ab, das lernförderliche Interaktionsmuster wie Erklärungen geben, konzeptuelle Konflikte auflösen oder argumentieren wahrscheinlicher werden (exemplarisch siehe z. B. Lei et al. 2010; Price et al. 2006; Harding 2018; Wichmann et al. 2016). Auch können digitale Umgebungen dazu beitragen, dass sich Gruppenmitglieder kennenlernen und in die Gruppe hineinwachsen. So kann die Kooperationsumgebung beispielsweise dabei helfen, herauszufinden, welche Gruppenmitglieder über welches Wissen verfügen (transaktives Gedächtnissystem; Wegner 1995).
4 Diskussion Anliegen dieses Beitrags war es, aufzuzeigen, welche Rolle digitale Technik bei der Unterstützung von kooperativem Lernen einnehmen kann. Abschließend sollen ausgewählte Aspekte digitaler Unterstützungsmaßnahmen als Möglichkeiten und Herausforderungen, bzw. Spannungsfelder hervorgehoben und diskutiert werden. Zwar liegt eine umfassende Darstellung der vorzustellenden Aspekte außerhalb des Rahmens dieses Beitrags, jedoch hoffen wir, diese Aspekte für zukünftige Bearbeitung zugänglich machen zu können. Angemerkt sei, dass, während die Potentiale digitaler Lehr-Lern-Technologien durchaus attraktiv wirken, auch ethische Fragen bei der Nutzbarkeit und Nutzung solcher Technologien nicht aus den Augen verloren werden sollten. Ausgeklammert in diesem Beitrag haben wir die Fragen, ob die Nutzung solcher Lernerdaten ethisch vertretbar ist und ob, bzw. wie mit solchen Daten auf eine ethisch
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vertretbare Weise umgegangen werden kann. Die Forschung zu Learning Analytics und Artificial Intelligence in Education treiben die Diskussion zu diesen Themen in der jüngeren Vergangenheit stark voran (vgl. Holmes et al. 2021; Slade und Prinsloo 2013; Prinsloo und Slade 2017; Tzimas und Demetriadis 2021). Zentrale Themen in diesen Diskussionen sind Fairness, Verantwortung, Transparenz, systematische Verzerrungen, Autonomie, Agency und Inklusion (Holmes et al. 2021), sowie Macht und Überwachung, Speicherung und Interpretation von Daten, Datenschutz, Privatsphäre, De-Identifikation, sowie das Management, die Klassifikation und die Speicherung von Lernerdaten (Slade und Prinsloo 2013). Zugang zu und Skalierbarkeit von (unterstützter) Kooperation Findet kooperatives Lernen auf digitalen Plattformen statt, tritt der digitale Raum an die Stelle des physischen und erlaubt asynchrone, ortsunabhängige Kommunikation. Dadurch entstehen Zugänge und Freiräume für Lernende. Menschen, die ihr Lernen mit Familien- oder Erwerbsleben in Einklang bringen müssen, sowie Lernende mit eingeschränkter Mobilität können auf diesem Weg trotz schwieriger Randbedingungen an Kooperation teilhaben und von Unterstützungsmaßnahmen profitieren. Im digitalen Raum sind Kooperation und deren Unterstützung zudem skalierbar. So können viele Lernenden gleichzeitig miteinander oder in Kleingruppen auf einer digitalen Lernplattforme miteinander kooperieren. Zudem kann adaptive Unterstützung – Unterstützung, die auf die Bedürfnisse der individuellen Gruppe zugeschnittenen ist (siehe etwa Themenheft zu Intelligenter Unterstützung für kooperatives Lernen, Kumar und Kim 2014) – zentral über einen Server an die verschiedenen Gruppen, bzw. die Endgeräte der Lernenden verteilt werden. So erhalten Gruppen auf ihre konkrete Zusammenarbeit abgestimmte Unterstützung, unabhängig davon, wie viele Lernenden sich im Lernsetting befinden. Auf Seite der Lehrenden werden durch digitale Unterstützung Kapazitäten zur feingranularen Betreuung der Gruppen frei. Dies erleichtert beispielsweise den Einsatz von kooperativen Lernformen in Blended-Learning Arrangements, Vorlesungen oder Massive Open Online Courses (MOOCs). Gerade für MOOCs kann kooperatives Lernen als didaktisches Element gezielt genutzt werden, die als eingestaubt kritisierte Didaktik (Margaryan et al. 2015) aufzubrechen (z. B. Rosé und Ferschke 2016) und den spezifischen Herausforderungen dieser rein virtuellen Formate, wie etwa Gefühlen von Isolation oder fehlender sozialer Präsenz (Khalil und Ebner 2014; Richardson et al. 2017), entgegenzuwirken. Die Entwicklung und der Einsatz digitaler Unterstützungsmaßnahmen sind allerdings stets mit Kosten für Geräte, Infrastrukturen, Software, sowie deren Wartung verbunden. Diese Kosten können Zugang zu Technik und Lernunter-
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stützung beschneiden; etwa, wenn kooperatives Lernen erfordert, dass die Lernenden eigene Endgeräte mitbringen (bring your own device) oder Lizenzen erwerben. Augmentierung Wie oben dargestellt, besteht eine Möglichkeit zur digitalen Unterstützung von kooperativem Lernen darin, (digitale) Lernerdaten zu nutzen, um die Lern- und Arbeitsprozesse in einer Gruppe zu unterstützen (Learning Analytics, Long und Siemens 2011). Hierdurch können Unterstützungsmaßnahmen für kooperatives Lernen realisiert werden, die analog nicht oder nur beschränkt umsetzbar sind. So können (digitale) Verhaltensspuren genutzt werden, um Informationen zur Gruppenarbeit widerzuspiegeln (GATs) oder adaptive Unterstützung zu realisieren. Die Daten der Lernenden können jedoch auch den Lehrenden zur Verfügung gestellt werden – in Form von Teacher Dashboards (van Leeuwen und Rummel 2019; van Leeuwen et al. 2019). Diese unterstützen Lehrkräften bei der Beobachtung des kooperativen Lernens (Beobachtungskompetenz, vgl. Kaendler et al. 2015) indem sie Lerndaten visualisieren. Denkbar ist aber auch, dass das Teacher Dashboard die Lerndaten verarbeitet und die Lehrkräfte auf solche Gruppen hinweist, die besondere Aufmerksamkeit benötigen. So werden auf Seiten der Lehrenden Kapazitäten für die gezielte Unterstützung von Gruppen frei. Anwendungen wie GATs oder Teacher Dashboards können vor dem Hintergrund des Transhumanismus als human cognitive enhancement (vgl. Bayne 2015) im Sinne einer intelligence augmentation (vgl. Jordan 2019) konzeptualisiert werden, da diese Techniken natürliche Beschränkungen der menschlichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung durch den Einsatz von digitaler Technik potentiell kompensieren oder sogar erweitert können. So können beispielsweise Informationen zur Gruppenarbeit, wie etwa die Beteiligung oder Stimmung in der Gruppe in ko-lokalen Kooperationsumgebungen von Menschen möglicherweise zwar einfacher gesammelt werden, allerdings sind das präzise Erfassen und die korrekte Speicherung dieser Informationen mit hohem zusätzlichem Aufwand verbunden und können an Grenzen der menschlichen Kapazität der Informationsverarbeitung stoßen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang, dass Group Awareness Tools die Lernenden dabei unterstützt, Informationen über die Gruppenarbeit zu sammeln und dadurch Kapazitäten auf Seiten der Lernenden für die Bearbeitung der primären Aufgabe schafft (z. B. Informationen auszutauschen). Die Frage danach, ob durch eine solche Unterstützung tatsächlich kognitive Kapazitäten frei werden (analog zur Idee des cognitive offloading, vgl.
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Risko und Gilbert 2016), oder aber die Darstellung von Informationen wiederum wichtige Kapazitäten bindet (vgl. cognitive load theory, Sweller 2005), wurde bisher noch nicht intensiv beforscht. Eine Untersuchung zur Nutzung von Lernerdaten durch die Lehrkraft findet sich bei van Leeuwen (2015). Neuere Entwicklungen im Bereich der Lehrerunterstützung orientieren sich derzeit in Richtung der Kooperation zwischen Lehrkräften und intelligenten Unterstützungssystemen (Teacher/AI Co-Orchestration, z. B. Holstein 2018; Holstein et al. 2020). Diese Systeme fokussieren auf individuelles Lernen mit intelligenten Tutorensystemen; Systeme für die Ko-Orchestrierung von kooperativem Lernen gibt es derzeit noch nicht. Eine konzeptuelle Betrachtung zweier Entwicklungspfade für die Ko-Orchestrierung von kooperativem Lernen und ihrer Anwendung in Bildungseinrichtungen findet sich bei Rummel et al. (2016). Adaptive Unterstützungssysteme, wie sie in diesem Konzeptpapier entworfen werden, sind allerdings noch nicht ansatzweise verfügbar. Konfiguration digitaler Unterstützung Als Technik ist auch Bildungstechnik stets mit einem Zweck verstehen; sie ist nie neutral (Tchounikine 2016). Durch digitale Unterstützung sollen Lernende stärker von kooperativem Lernen profitieren und die Fertigkeiten erwerben, sich in Kooperationssettings sicher zu bewegen. Digitale Unterstützung hat also eine Daseinsberechtigung, die über den Selbstzweck hinausgeht: das Digitale dient der Erreichung pädagogischer Ziele (vgl. postdigitale Pädagogik, Macgilchrist 2019). Diese Ziele können, wie oben beschrieben, sowohl den Erwerb fachspezifischen Wissen umfassen, als auch domänenübergreifendes Wissen, wie beispielsweise Kooperationskompetenz. Um diese Ziele zu erreichen, werden wissenschaftliche Erkenntnisse mobilisiert und zur Unterstützung von Lern- und Kooperationsprozessen innerhalb der Technik orchestriert (Arthur 2009). Erkenntnisse, die in einer Technik eingeschlossen und orchestriert werden können, können sich etwa auf menschliche Wahrnehmungsprozesse, (Meta-) Kognition und Informationsverarbeitung, soziale Interaktion, Motivation oder Emotionen beziehen. Dabei sind es Lernziele und Lernervoraussetzungen, die maßgeblich darüber entscheiden, wie kooperatives Lernen gestaltet und unterstützt werden soll. Die Auswahl der Affordanzen und deren konkrete Gestaltung müssen folglich umsichtig stattfinden, damit die Unterstützung ihre Wirkung nicht verfehlt oder gar in eine nicht-intendierte Richtung „optimiert“ wird. Um das Risiko dafür zu verringern, muss die Frage nach der Validität der Operationalisierung von Indikatoren für „gelungene“ Kooperation der Frage nach der Umsetzbarkeit übergeordnet werden (Knight und Buckingham Shum 2017).
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S. Strauß und N. Rummel
Einerseits muss in diesem Zusammenhang entschieden werden, welche Affordanzen und Kommunikationskanäle bereitgestellt werden. Andererseits muss die konkrete Ausgestaltung der Unterstützung reflektiert werden. Rummel (2018) schlägt ein Rahmenwerk mit zwölf Gestaltungsdimensionen von Unterstützungsmaßnahmen vor, die bei der Gestaltung von Unterstützungsmaßnahmen vor allem vor dem Hintergrund der Lernervoraussetzungen und der Lernziele berücksichtigt werden sollten (vgl. Abb. 3). Auf einer übergeordneten Ebene sollte beispielsweise berücksichtigt werden, sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig (analoge zum Gedanken von over- und underscripting, Dillenbourg 2002) an Unterstützung zu vermeiden. Gleichzeitig sollte auch die Handlungsautonomie der Lernenden gewahrt bleiben (s. u.). So muss etwa bei der Gestaltung von Unterstützung entschieden werden, ob den Lernenden lediglich Informationen zur Gruppenarbeit bereitgestellt werden (Dimension Informationsbasis, z. B. über GATs), sodass die Lernenden selbst Handlungsfreiheit über die Gestaltung der Kooperation haben, oder ob konkrete Handlungsvorschläge angemessener sind (Dimension Direktivität, z. B. über Prompts oder Kooperationsskripte). Kooperationsskripte können adaptiv gestaltet werden, um die Unterstützung möglichst adäquat auf die Kompetenzen der Lernenden zuzuschneiden. GATs, Teacher Dashboard und adaptive Unterstützungsmaßnahmen basieren darauf, dass als relevant identifizierte Facetten von Kooperation „gemessen“ werden, um ein Modell der Lern- und Kooperationsprozesse zu erstellen (Knight und Buckingham Shum, 2017). Im Falle von GATs wird den Lernenden ein Modell ihrer Kooperation widergespiegelt (z. B. die Verteilung der Beteiligung). Diese Informationen sollen die Lernenden implizit dazu anregen, ihre Kooperation zu reflektieren und falls nötig zu regulieren. Adaptive Unterstützungssysteme gehen einen Schritt weiter: Sie bewerten den aktuellen Zustand der Kooperation vor dem Hintergrund eines Modells „optimaler“ Zusammenarbeit und bieten einer Gruppe im Falle eines „defizitären“ Zustands Unterstützung an, mit der der aktuelle Zustand in einen instruktional wünschenswerten Zustand überführt werden kann. Die Grundlage für adaptive Systeme wie kognitive Tutorensysteme für individuelles Lernen (z. B. Aleven et al. 2009), für kooperatives Lernen (z. B. Magnisalis et al. 2011; Walker et al. 2014), oder einfachere adaptive Systeme (z. B. Strauß und Rummel 2021b) bilden Annahmen darüber, welche Lern- oder Kooperationsprozesse zu einem pädagogisch wünschenswertem Ergebnis führen (Dimension „target“ aus dem Rahmenwerk von Rummel 2018). Diese Annahmen können sowohl theoretisch abgeleitet sein als auch auf empirischen Belegen beruhen. Die Erfassung von Kooperationsprozessen mit dem Ziel der Beurteilung der Zusammenarbeit beruht
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Was?
Warum?
Gestaltungsdimensionen 1) Ziel
7) Granularität
☐ Wissenserwerb
☐ Ebene der Aufgabe
☐…
☐ Ebene einzelner Äußerungen
☐ Zufriedenheit
☐ Ebene einzelner Lösungsschritte
2) Unterstützte Prozesse
8) Direktivität
☐ domänenspezifische Hilfe
☐
☐ Koordination der Kooperation
implizit
(Gestaltung
der
Lernumgebung)
☐…
☐ explizit: allgemeine Hinweise
3) Überbringer
9) Informationsbasis
☐ Lehrkraft
☐ Hinweis, dass etwas nicht
☐ explizit: spezifische Hinweise
☐ digitales System
stimmt ☐
☐ Lernende
Darstellung
aggregierter
Wie?
Wer und an wen?
Informationen ☐ Darstellung von Informationen samt Interpretation
4) Adressat
10) Timing
☐ Individuum
☐ vor der Gruppenarbeit
☐ Gruppe
☐ während der Gruppenarbeit
☐ nach der Gruppenarbeit
5) Mediation
11) Sichtbarkeit
☐ direkt (an Individuen/Gruppe)
☐ immer sichtbar
☐ indirekt (an Lehrende, Eltern)
☐ nur kurz nach Diagnose sichtbar (z. B. Pop-Up)
Wie?
☐ auf Abruf sichtbar 6) Implementation
12) Eingeforderte Reaktion
☐ fix/statisch
☐
☐ adaptiv
☐ adaptierbar
keine
spezielle
Reaktion
erforderlich ☐ einfache Reaktion erforderlich (z. B. „ok“ klicken) ☐ spezielle Reaktion erforderlich
Abb. 3 Gestaltungsdimensionen von Unterstützungsmaßnahmen inkl. möglicher Ausprägungen (übersetzt aus Rummel, 2018). Bei der Gestaltung von Unterstützung sind Entscheidungen zu diesen Dimensionen zu treffen
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S. Strauß und N. Rummel
auf einer Festlegung, anhand welcher Daten die jeweils ausgewählten Facetten von Kooperation gemessen werden können (Operationalisierung). Hierbei ist es wichtig, dass die ausgewählten Daten tatsächlich das messen, was gemessen werden soll (Validität der Messung). Hier ist Vorsicht geboten, da der Schein einer objektiven Messung schnell über die Frage nach der Validität der Messung hinwegtäuschen kann. So besteht folglich die Gefahr, dass durch unzureichende Validität der Operationalisierung nicht der eigentlich erwünschte Aspekt der Kooperation unterstützt wird. Beispielsweise ist die Anzahl der beigetragenen Worte eine gängige Operationalisierung für die Beteiligung an der Gruppenarbeit (Hrastinski 2009). Die Wortanzahl kann dann in einem GAT visualisiert werden. Zwar ist es ökonomisch, auf Daten wie Anzahl der Logins oder den eingegebenen Text zurückzugreifen, allerdings entsteht auf dem Weg „from clicks to constructs“ (Knight und Buckingham Shum 2017, S. 18) ein blinder Fleck: Eine gewisse Menge an Beteiligung ist zwar eine notwendige Voraussetzung für lernförderliche Interaktionsprozesse, allerdings erschöpft sich Beteiligung an der Gruppenarbeit nicht in der Beitragsmenge (Hrastinski 2008). Andere Facetten von Beteiligung, wie die Qualität der gemachten Beiträge, offline Arbeit, Arbeit außerhalb der digitalen Lernumgebung oder das Verfolgen der Beiträgen der anderen Gruppenmitglieder hinterlassen keine (eindeutigen) digitalen Spuren im System (Hrastinski 2008). Im Diskurs um das quantified self wird hier die Gefahr gesehen, dass die Regulation der Lernenden vor allem die Metrik betrifft, die widergespiegelt wird („become what you measure“, Duval und Verbert 2012, S. 3). Bei der Operationalisierung von Beteiligung als wordcount wäre folglich anzunehmen, dass die Gruppenmitglieder regulieren, wie viel Text sie beitragen. Bei der Gestaltung adaptiver Unterstützungssysteme besteht überdies die Herausforderung, instruktional (un)erwünschte Zustände angemessen zu definieren (operationalisieren). Übertragen auf das Beispiel der Beteiligungsverteilung muss eine Maßzahl definiert werden, die Gleichmäßigkeit der Beteiligung ausdrückt. Janssen et al. (2011) oder auch Strauß und Rummel (2021b) nutzten zur Bestimmung der Gleichmäßigkeit der Beteiligung den Gini-Koeffizienten (Dorfman 1979), der die Abweichung der aktuellen Verteilung der Beteiligung von einer perfekten Gleichverteilung der Beteiligung (gemessen als Anzahl der beigetragenen Worte) beziffert. Hierbei muss definiert werden, welche Werte darauf hinweisen, dass die Beteiligung als (un)gleichmäßig und damit als unterstützenswert einzustufen ist. Ausgangspunkt für die Festlegung der (un) erwünschten Zustände ist die Frage nach der angenommenen Wirkung des (un) erwünschten Zustands. Wird beispielsweise angenommen, dass ungleichmäßige
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Beteiligung zu Unzufriedenheit führt, muss entschieden werden, ab welchem Grad der Ungleichmäßigkeit mit einer Unzufriedenheit zu rechnen ist, die negative Konsequenzen für die Kooperation hat3. Handlungsautonomie Computerunterstützung für kooperatives Lernen soll Lernenden die gemeinsame Wissenskonstruktion ermöglichen und erleichtern. CSCL-Skripte reduzieren zu diesem Zweck die Komplexität für die Lernenden, etwa indem Handlungsvorschläge gemacht werden und der Handlungsspielraum für die Lernenden für die Zeit der Kooperation begrenzt wird (Dimensionen Direktivität und Eingeforderte Reaktion, vgl. Rummel 2018). Hier offenbart sich ein Spannungsverhältnis zwischen der pädagogischen Intention und der Autonomie der Lernenden: Sollte und darf die Autonomie der Lernenden (wenn auch zeitlich begrenzt) zugunsten lernförderlicher Interaktion reduziert werden, bzw. bis zu welchem Grad wenig förderlicher Interaktion ist es akzeptabel, den Lernenden keine zusätzlichen – autonomiereduzierenden – Strukturen anzubieten? Im Diskussionspapier von Wise und Schwarz (2017) wird ausgehend von der These, dass Handlungsfreiheit von Lernenden durch den Einsatz externaler Kooperationsskripte kompromittiert würde, argumentiert, dass externale Kooperationsskripte niemals blindlings von den Lernenden zu befolgen sind, bzw. befolgt werden. Stattdessen existiere ein Zusammenspiel zwischen den internalen Kooperationsskripten der Lernenden, der (eigen-sinnigen) Nutzung der Skripts durch die Lernenden (appropriation, Tchounikine 2016) und der Konfiguration des externalen Kooperationsskripts. Vor diesem Hintergrund seien der Einsatz eines Kooperationsskripts und die Wahrung der Handlungsfreiheit für die Lernenden keine sich ausschließenden Positionen, denn ein Kooperationsskript eliminiere nicht die Handlungsmöglichkeiten, sondern reduziere sie lediglich auf ein für die Lernenden handhabbares Maß. Dies diene dem Zweck, dass Lernende Interaktionsmuster erwerben, die es ihnen erlauben, sich in kooperativen Settings sicher und autonom zu bewegen. Sobald dieser Zustand
3 Zwar
kann davon ausgegangen werden, dass ungleichmäßige Beteiligung an der Kooperation mit Unzufriedenheit assoziiert ist (Strauß und Rummel 2021b), jedoch sollte hinterfragt werden, ob gleichmäßige Beteiligung tatsächlich ein erwünschter Zielzustand für eine Gruppenarbeit ist. Eine erste Diskussion dieser Frage findet sich in Strauß und Rummel (2021b). Um die Beteiligung an der Kooperation angemessen zu erfassen, ist es möglicherweise notwendig, weitere Lernerdaten heranzuziehen, die keine reinen Verhaltensdaten sind (multimodal learning analytics, Ochoa 2022).
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erreicht ist, verliere externale Unterstützung ihre Notwendigkeit und könne langsam zurückgenommen werden. Tchounikine (2019) fordert in seiner Antwort auf das Diskussionspapier, eine emanzipatorische Perspektive auf die Unterstützung von kooperativem Lernen einzunehmen. Aus dieser Perspektive sei der Einsatz adaptiver Skripte wenig zielführend. Um die Handlungsfreiheit der Lernenden zu stärken, müssten die Lernumgebung und die Unterstützungsmaßnahmen als solche durch die Lernenden selbst adaptierbar sein. Zudem solle den Lernenden die Möglichkeit für einen fluiden Wechsel zwischen Plattformen, bzw. Anwendungen sowie die Modifikation der Anwendungen geboten werden. Aus einer emanzipatorischen Perspektive seien Group Awareness Tools (vgl. Dimension Informationsbasis) einer adaptiven Kooperationsskripten vorzuziehen, da GATs den Lernenden lediglich Feedback bereitstellen, mit dem sie selbstständig über das (Lern-) Handeln entscheiden können. Um diese Autonomie nicht zu untergraben, sollten Learning Analytics Anwendungen keine Wertung des aktuellen Stands der Kooperation vornehmen, wie es bei sogenannten Metacognitive Tools (vgl. Soller et al. 2005) der Fall ist.
5 Fazit Wie in diesem Beitrag aufgezeigt, kann digitale Technik unterschiedliche Funktionen übernehmen, Lernenden die gemeinsame Konstruktion von Wissen zu ermöglichen und Gruppenprozesse zu unterstützen. Der Einsatz digitaler Technik sollte allerdings der Erreichung pädagogischer Ziele dienen und nicht bloß zum Selbstzweck eingesetzt werden. Zudem gehen digitale Kooperation sowie deren Unterstützung mit spezifischen Herausforderungen einher, die umsichtiges Vorgehen bei der Auswahl und der Gestaltung der Unterstützungsmaßnahmen erfordern. Neben den oben skizzierten Herausforderungen sind in Hinblick auf den Einsatz digitaler Lernerdaten zwei weitere wichtige Punkte zu nennen, deren ausführliche Betrachtung allerdings außerhalb des Rahmens dieses Beitrags liegt. So geht der Einsatz von Learning Analytics Anwendungen auch mit Fragen nach der Privatsphäre und informationeller Selbstbestimmung der Lernenden einher (Aßmann et al. 2017), da Lernerdaten aufgezeichnet, verarbeitet, aufbereitet und verfügbar gemacht werden. Außerdem hat der Einsatz von Lernerdaten zur Unterstützung von Lernen – aber auch dessen Bewertung und Erforschung (Big Data in Education) – durchaus einen orwell‘schen Beigeschmack von Überwachung oder eines pädagogischen Panopticons (Slade und Prinsloo 2013).
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Angesichts der Vielzähligen Herausforderungen ist festzuhalten dass die Erforschung von Kooperation, genau wie die Entwicklung von Unterstützungs maßnahmen, und die Bearbeitung der damit verbundenen Fragen keine rein pädagogischen Unterfangen sind. Stattdessen ist auch Expertise aus den Bereichen wie etwa Informatik, Sozial- oder Medienpsychologie notwendig. Ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt, in dem eine Zusammenarbeit von Forscher*innen aus diesen verschiedenen Disziplinen erfolgreich umgesetzt wurde, ist das BMBF-geförderte Projekt „Intelligente Unterstützung für Kleingruppen in der online-gestützten Hochschullehre“ (IKARion). Ziel des Projekts war es, intelligente und automatisierte Unterstützung für Online-Kleingruppen zu entwickeln und in seiner Wirkung zu untersuchen. Um dieses Ziel zu erreichen, war eine enge Kooperation zwischen den beteiligten Forscher*innen aus den Bereichen Pädagogische Psychologie, Kognitions- und Medienpsychologie, sowie (Medien-)Informatik nötig. Dieses Projekt umfasste nicht nur die arbeitsteilige Erledigung der einzelnen Arbeitspakete, sondern vor allem viele Treffen, in denen die Perspektiven auf das gemeinsame Ziel (d. h., die Unterstützung von Online-Kleingruppen) sowie die pädagogischen, psychologischen und informatischen Anforderungen und Forschungsinteressen ausgehandelt und aufeinander abgestimmt werden mussten. Diese Zusammenarbeit mündete schließlich in Publikationen, die die verschiedenen Perspektiven auf den gemeinsamen Forschungsgegenstand widerspiegelten. So entstanden Publikationen in den Bereichen Sozialpsychologie (z. B. Stoyanova und Krämer 2019), Informatik (Constapel et al. 2019; Hoppe et al. 2020), Medieninformatik (Brandenburger et al. 2020) und pädagogische Psychologie (Strauß und Rummel 2021b), sowie disziplinübergreifenden Publikationen (z. B. Strauß et al. 2018; Strauß und Rummel 2021a). Wie dieses Projekt zeigte, wird es erst durch die Zusammenarbeit von Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen möglich, pädagogisch angemessene, funktionsfähige und nutzerzentrierte Unterstützungsmaßnahmen für kooperative Lernsettings zu entwickeln. In anderen Worten, CSCL ist ein interdisziplinäres Feld und erfordert folglich selbst Kooperation im Sinne von collaboration.
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Zur Subjektivierung im Digitalen: Sozialisationstheoretische Perspektiven
Künstliche Intelligenz – vom Subjekt zur Umgebung Heidrun Allert und Christoph Richter
Zusammenfassung
Der Beitrag analysiert die Rolle Künstlicher Intelligenz als performativ wirksame kulturelle Form in der (Hochschul)Bildung. Er arbeitet die Eigenlogiken der Datafizierung, der Modellierung, des automatisierten Entscheidens und der formalen Wissensrepräsentation sowie ihre Implikationen für die Produktion und Vermittlung von Wissen heraus. Die Eigenlogiken der Automatisierung und Modellbildung, so die These, wirken performativ in Wissenskulturen und Lehr-/Lernprozessen. Technologie und Kultur nehmen dabei aufeinander Bezug. Der Beitrag basiert auf der Feststellung, dass die Automatisierung von Tätigkeiten auch in der Bildung weiter zunehmen wird, und beleuchtet, was informatorische Optimierung kann und was sich ihr entzieht. Datafizierung, Modellierung, statistische Verfahren und Wissensrepräsentation sind in der Forschung, d. h. in der Beschreibung von Phänomenen, bekannt. Doch was ändert sich, wenn sie in die Entwicklung von Bildungsinstitutionen und Bildungsprozessen hineinwirken? Ergänzen sie die bestehenden Institutionen, Prozesse, Bildungskonzepte und -szenarien oder stellen sie eine Transformation dar? Sind sie Werkzeuge, die Effizienz und Freiheiten schaffen, oder stellen sie eine umfassende Kultur dar? Vor dem Hintergrund einer detaillierten Darstellung der Rolle von Modellen in wissensbasierten und datengetriebenen Systemen wird Künstliche Intelligenz als Teil eines H. Allert (*) · C. Richter Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kiel, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Richter E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_7
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H. Allert und C. Richter
umfassenden kulturhistorischen Entwicklungsprozesses verstanden. Als Alternative zu bestehenden Learning Analytics und KI-Ansätzen wird ein umgebungszentrierter Ansatz, basierend auf der Idee der Stigmergie und artefaktbasierten Kollaboration, dargelegt. Schlüsselwörter
Modellierung · Automatisierung · Transaktional · Hochschulbildung · Stigmergie
1 Einleitung Was ändert sich, wenn eine bisher vom Menschen übernommene Aufgabe in Zukunft von einer Technologie, etwa Künstlicher Intelligenz (KI) übernommen, also automatisiert wird? Ist Künstliche Intelligenz (KI) ein Werkzeug, das sich zielgerichtet einsetzen lässt und tut, was es zu tun verspricht, oder handelt es sich um ein performatives Agens, das (Hoch-) Schule und Bildung unvorhersehbar transformiert? Performativ bedeutet hier, dass sein Einsatz seinen Kontext mit herstellt und seine Eigensinnigkeit – die Eigenlogik der Automatisierung – Prozesse grundlegend verändert und Neues erzeugt. Was genau ist der Unterschied und das transformative bzw. transaktionale Moment, das durch KI ins Spiel kommt? Was wird als KI wirksam? Social Media Plattformen werden heute als Intermediäre bezeichnet, als performativ wirksam in der Gesellschaft und als stetig in Entwicklung begriffen: „as performative intermediaries that participate in shaping the worlds they only purport to represent“ (Bucher 2018, S. 1). Bildungstechnologien hingegen werden weitestgehend noch als Werkzeuge begriffen, als abgeschlossene Entitäten, die tun, was sie zu tun versprechen, zielgerichtet eingesetzt werden können, mit deren Hilfe die erwünschten Ziele erreicht werden und darüber hinaus noch Freiheit für Lehrkräfte eröffnet wird. Weshalb werden Bildung und Unterricht überhaupt als Anwendungsfall von KI gedacht? Bildungsprozesse und (Hoch-)Schulentwicklung sind komplex, hochdynamisch, zukunftsoffen, nur unscharf messbar, nicht vollständig formalisier- und datafizierbar (Allert 2004; Selwyn 2019a). Wenn Bildung zum Anwendungsfall von KI werden soll, müssen notwendigerweise zentrale Konzepte von Bildung und Lernen bestimmt und datafiziert, Enti-
Künstliche Intelligenz – vom Subjekt zur Umgebung
169
täten, Prozesse und Strukturen in Modellen beschrieben werden.1 Modellierung und Datafizierung sind konstitutive Prozesse Künstlicher Intelligenz, die sowohl reduktiv2 als auch performativ auf ihren Gegenstand wirken. Künstliche Intelligenz umfasst in diesem Sinne nicht nur die jeweiligen technischen Objekte in Form von prozessierbaren Programmen und Datenbeständen, sondern auch die bildungsstrategischen, -administrativen und -praktischen Tätigkeiten, d. h. Strategien der Planung von Bildungspraxis und Bildungsadministration, vor deren Hintergrund ihr Einsatz überhaupt erst denkbar und sinnhaft erscheint. Nur gemeinsam werden sie als Künstliche Intelligenz wirksam. So schreibt Baker im Jahr 2000, dass Künstliche Intelligenz in der Schule in naher Zukunft wohl nicht zum Einsatz kommen werde, da sie einen individualisierten Unterricht voraussetze. Schule als Institution habe jedoch Verantwortung für den Lernprozess der Schüler*innen. Im hoch individualisierten Unterricht sei diese Verantwortung für die Lehrkräfte jedoch schwer wahrnehmbar, da Anschluss an individuelle Wissensstände gefunden werden müsse. Mit dem Einsatz von KI und damit einer Individualisierung von Lernprozessen könne der Einblick und Anschluss an den gegenwärtigen Wissensstand jedes*r einzelnen Schüler*in jedoch kaum gelingen. Der KI-Einsatz in der Schule habe damit ein Legitimations- und Verantwortungsproblem. Baker (2000) sieht nicht die Technologien als Hinderungsgrund für den Einsatz, sondern die Individualisierung im Unterricht. Heute ist Individualisierung hingegen bildungspolitisch erwünscht (vgl. KMK 2017). Der vorliegende Beitrag zeigt Komponenten und Verfahren von KI auf, die konstitutiv für Bildungsprozesse werden. Er betrachtet die Formen von Modellen und Daten, die in der Automatisierung von Bildung zum Einsatz kommen. In diesem Kapitel wird herausgearbeitet, wie diese performativ wirksam werden. Was genau wird als KI wirksam? KI-Mechanismen sind eingebettet in größere technische Zusammenhänge und Strukturen. In der Beschreibung werden Komponenten allerdings isoliert, um sie darstellen und besprechen zu können. In der Bildungspraxis zeigt sich KI nicht direkt und nicht isoliert als eigenständige Technologie oder App, die an- und ausgeschaltet werden kann. KI-Komponenten sind in Infrastrukturen der Bildungsadministration sowie in
1 Hierbei
ist es unerheblich, mit welcher Art von KI wir es zu tun haben. Auch Systeme, die auf maschinellem Lernen basieren, bedürfen eines bereits datafizierten Zugangs zur Welt sowie eines vordefinierten Zielhorizonts, an dem sie ihren Lernprozess orientieren. 2 Datafizierung wirkt reduktiv gegenüber einem Phänomen, da es in (numerischen) Daten nicht vollständig erfasst werden kann.
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(adaptive) Lehr-/Lernsysteme und -umgebungen eingebettet. Technologien, Strategien und Rationalisierungspraktiken in der Bildung sind aufeinander bezogen und bilden sozio-techno-ökonomische Konstellationen. So sind bereits einige der in den letzten Jahrzehnten entwickelten Perspektiven auf Bildung aufs engste mit technologischen Entwicklungen und der mit diesen einhergehenden Visionen einer „kalkulativen Objektivität“ (Beer 2017) verwoben. Diskurse über Bildung und die Entwicklung von Technologien werden für die Bildungspraxis gemeinsam wirksam. Die vermeintliche Machbarkeit von Bildung wird durch KI nicht nur plausibel gemacht, sondern die Plausibilität wird durch KI tatsächlich hergestellt. Biesta (2013) bezeichnet die Vorstellung, Bildung sei machbar, sie könne sichergestellt werden im Sinne einer Input–Output Relation, als „starke“ Bildung. Eine solche „starke“ Bildung sei von verschiedenen bildungspolitischen Akteuren erwünscht. Je mehr jedoch Bildung vermeintlich sichergestellt werde, desto weniger sei Bildung tatsächlich Teil des Prozesses. Starke Bildung ist nicht nur ein gedankliches Konstrukt, sondern wird mittels KI tatkräftig plausibel gemacht. Dies geschieht unter anderem durch die Suspension imaginativer, abduktiver und projektiver Schritte pädagogischen Denkens und Handelns, durch den Ausschluss von Unbestimmtheit in einer „emergenten Zeitlichkeit“ (Andrejevic 2020), durch die grundlegende Umkehrung von Prozessen sowie durch Modellbildung als Bestandteil der operativen Logik Künstlicher Intelligenz. Wenn das Konzept von Bildung dem angepasst wird, was KI kann, dann wird Bildung zugerichtet, sodass sie von KI erledigt werden kann. Yu und Couldry (2020) fordern: “broader rethinking of education through surveillance must itself be critiqued” (S. 1). Der Beitrag erörtert die oben genannten Aspekte und legt seinen Fokus auf zwei Fragen. Erstens: Welchen Unterschied weist die datenbasierte Analyse einer KI im Verhältnis zur (klassischen) sozialwissenschaftlichen Forschung und theoriebasierten Modellbildung auf? Zweitens: Welche Konzeption von Zukunft generiert Künstliche Intelligenz? Beide Fragen werden mit Fokus auf die Form von Modellen und Daten besprochen. Im Beitrag werden Begriffe verwendet und übersetzt, die primär im interdisziplinären Forschungsbereich der Artificial Intelligence in Education (AIED) und in den Publikationen ihrer bisher 22 Konferenzen (seit 1997) etabliert sind. Die Publikationen im Forschungsbereich sind englischsprachig. Die Übersetzung als Künstliche Intelligenz in der Bildung ist ungenau und angreifbar. Der vorliegende Beitrag wird sich in den entsprechenden Passagen eng an der Literatur dieses Forschungsbereichs orientieren. Wenn dort Begriffe wie Informationseinheit, Wissen, Bildung oder Lernen genutzt werden, so mag ihre Verwendung aus erziehungswissenschaftlicher Sicht gegebenen-
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171
falls fragwürdig erscheinen. Es scheint im Rahmen des vorliegenden Textes jedoch weder möglich noch sinnvoll, hier einen begrifflichen Abgleich mit der Terminologie des deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskurses vorzunehmen, da hierdurch ein wesentliches Moment der für die Genese dieser Technologien prägenden Denk- und Deutungsmuster verloren ginge. Dem Forschungsfeld der AIED ist nämlich in großen Teilen eine informationstheoretische Sichtweise eigen, die von expliziten, repräsentierbaren und eindeutig kodifizierbaren Wissensbeständen ausgeht und menschliches Denken und Lernen als eine Form der Informationsverarbeitung begreift (siehe hierzu auch Cabitza und Locoro 2014). Dies kann im Schreiben des vorliegenden Beitrags nicht ad hoc in eine Begrifflichkeit überführt werden, die den vielfältigen Theorien deutschsprachiger Bildungswissenschaft angemessen wäre, da sich die Sache an sich dadurch verändert würde.
2 Das „Management“ von Lernprozessen als Regelkreis: In the Loop! Künstliche Intelligenz und wissensbasierte Systeme werden nicht erst seit der Verfügbarkeit sehr großer Datenmengen (Big Data) im Hinblick auf ihre Möglichkeit zur Unterstützung von Lern- und Bildungsprozessen diskutiert. Was sich allerdings in den zurückliegenden Jahren verändert hat, ist der zunehmende Einsatz von Verfahren des maschinellen Lernens zur Entwicklung von Modellen. Die mit dem Wechsel von ›theoriebasierten‹ zu ›datengetriebenen‹ Modellen einhergehenden Transformationen sind dabei umso gravierender, je weiter sie in die Kontrolle und Regulierung von Lernprozessen eingreifen. Um zu zeigen, wie die Logik datengetriebener Technologien Einfluss auf Lern- und Bildungsprozesse nimmt, orientieren wir uns im Folgenden an dem von Soller et al. (2005) im International Journal of Artificial Intelligence in Education veröffentlichten Modell des „collaboration management cycles“. Dieses Modell, das von den Autor*innen als Rahmenmodell zur Typisierung von Technologien zur Unterstützung computergestützten kollaborativen Lernens angelegt war,3 lässt sich dabei als konzeptuelle Blaupause für den strukturellen Aufbau von Systemen zur Steuerung von Lernprozessen verstehen. Grundlage
3 Computerbasierte
Unterstützung kollaborativen Lernens in Gruppen zählte damals zu einer der Hauptrichtungen der Forschung und Entwicklung im Feld.
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H. Allert und C. Richter
des Modells bildet die Vorstellung des Lern- bzw. Kollaborationsmanagements als homöostatischem Regelkreis, in dem aktuelle Systemzustände, hier das aktuelle Verhalten der Lernenden, kontinuierlich mit einem vorgegebenen Zielzustand, hier das angestrebte, wünschenswerte Verhalten der Lernenden, abgeglichen werden. Kommt es zu Abweichungen im Sinne von Perturbationen, besteht das Ziel der pädagogischen Intervention in der Wiederherstellung des Equilibriums (ebd.). Der Prozess des Lern- bzw. Kollaborationsmanagements bildet dabei eine Rückkopplungsschleife, die die Autor*innen in fünf Phasen gliedern: Ausgangspunkt des Prozesses bildet die Aufzeichnung von Interaktionsdaten (Phase 1), die in einem ersten Analyseschritt in modellbasierte Indikatoren überführt werden, die es ermöglichen, den aktuellen Stand der laufenden Interaktion in einem Modell zu repräsentieren4 und zu visualisieren (Phase 2). In einem nächsten Schritt kommt es dann zum Abgleich des aktuellen mit dem wünschenswerten Zustand (Phase 3). Wünschenswerte Zustände sind in Modellen beschrieben (desired model of interaction; ebd.) und als Indikatoren für in Bezug auf einen möglichen Lernerfolg förderliche oder hinderliche Vorgänge definiert. Treten Diskrepanzen zwischen aktuellem und wünschenswertem Verlauf der Interaktion auf, werden sogenannte Abhilfe schaffende Maßnahmen (remedial actions, ebenda) initiiert (Phase 4). Die Auswahl der jeweils initiierten Maßnahme5 ist dabei wiederum über Indikatoren definiert, die mit dem jeweiligen Modell des aktuellen Verlaufs abgeglichen werden.6 Die fünfte Phase schließlich beschreibt eine Art Metaprozess, in der der Managementprozess selbst einer Evaluation und möglichen Revision unterzogen wird. Soller et al. (2005) gehen hierbei, durchaus im Einklang mit dem Mainstream der Fachcommunity und gestützt auf bereits verfügbare Technologien, davon aus, dass alle von ihnen beschriebenen Phasen von einer digitalen Technologie ausgeführt werden können, sofern diese über die hierfür nötigen Daten und Modelle verfügt. Entsprechend typisieren Soller et al. (2005) die zur Verfügung stehenden
4 Ein
„agreement indicator“ etwa registriert in diesem Sinne Aktionen auf dem System, die laut Modellierung eine Zustimmung repräsentieren. 5 Der „pädagogische Takt“ sozusagen. 6 Eine einfache Abhilfe schaffende Maßnahme wäre nach Soller et al. (2005) zum Beispiel: “Try letting your partner have control for a while”. Dieser Maßnahme könnte ein einfaches Modell zugrunde liegen, das nur einen einzigen Indikator enthält (z. B. Wörter oder Aktivitäten zählen) und direkt aus den vorliegenden Daten abgelesen wird. Eine komplexere Abhilfe schaffende Maßnahme wäre “Try explaining the concept of generalization to your partner using a common analogy”.
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173
Technologien entlang der von ihnen identifizierten Phasen. Sogenannte Mirroring Tools automatisieren dabei Phasen 1 und 2 und geben den Lernenden zum Beispiel in Form von Datenvisualisierungen eine deskriptive Rückmeldung zu ihrem Lern- bzw. Kollaborationsprozess. Metacognitive Tools automatisieren auch die Prozesse der Phase 3, gleichen die erhobenen Daten zudem mit Modellen wünschenswerter Zustände ab und signalisieren den Lernenden und/oder Lehrenden mögliche Abweichungen. Guiding Systems wiederum schließen auch die Phase 4 ein und initiieren selbsttätig entsprechende Interventionen im Sinne Abhilfe schaffender Maßnahmen. Die Automatisierung von Phase 5 schließlich würde den Steuerungsprozess selbst einer Optimierung unterziehen.7 Je mehr Phasen in einer digitalen Technologie realisiert werden, desto mehr Modelle werden benötigt – was nach Soller et al. (2005) in der Informatik als ausgefeilter gilt. Die automatisierte Steuerung von Lernprozessen geht insofern je nach dem entsprechenden Technologietyp mit der Notwendigkeit einer formalisierten Beschreibung von Interaktionsverläufen, wünschenswerten Zuständen wie auch Interventionsoptionen einher. Interessant an diesem Modell ist für uns im Folgenden allerdings weniger seine Grundstruktur, die letztlich einem klassischen Regelkreis entspricht,8 es sind vielmehr die Transformationen, die mit der Automatisierung der einzelnen Phasen verbunden sind. Der Fokus der Betrachtung liegt auf der transaktionalen Rolle formalisierter Beschreibungen in Form von Modellen, denn Modelle und Datensammlung formen die Welt performativ mit, anstatt sie zu repräsentieren. Vormals theoriebasierte Modelle werden zunehmend durch datenbasierte Modelle abgelöst. Die seit dem Jahr 2005 weiter voranschreitenden Entwicklungen im Bereich datengetriebener Technologien, lernender Algorithmen und Learning Analytics werden beispielhaft einbezogen, um die transaktionalen Momente herauszuarbeiten, in denen sich zugleich Identität, Bedeutung und Funktion der technischen Systeme wie auch der beteiligten Akteur*innen ausbilden und
7 Soller
et al. (2005) skizzieren die Möglichkeit eines solchen Systems, diskutieren aber nicht näher, wie ein solches System zu realisieren wäre. 8 Strukturierende Angebote sind bereits Teil klassischen pädagogischen Handelns, etwa wenn eine Lernumgebung gestaltet wird, Lerntechnologien ausgewählt werden, die Gruppengröße und -zusammensetzung bestimmt werden, noch bevor die Interaktion startet, oder wenn Lernende ermutigt werden, bestimmte Argumentationsschemata zu nutzen. Regulierende Angebote unterstützen die Kollaboration im Prozess selbst, während die Interaktion bereits läuft. Um die Interaktionen zu regulieren, muss ein Modell vorliegen, an dem die laufende Interaktion abgeglichen und ausgerichtet wird – bei Soller et al. (2005) das Modell wünschenswerter Interaktion (desired model of interaction) genannt.
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transformieren. Unter Transaktion verstehen wir hierbei im Anschluss an Dewey und Bentley (1949/1989) die co-evolutionäre Verwicklung eines Subjekts in seine technische wie auch nicht-technische Umwelt (siehe auch Emirbayer 1997; Garrison 2001).9
3 Datengetriebene Technologien und die Form der Daten Wie im Modell von Soller et al. (2005) beschrieben, bildet die Aufzeichnung und Aufbereitung von Daten den zentralen Grundbaustein aller Systeme zur automatisierten Steuerung von Lernprozessen. Ohne die Verfügbarkeit maschinell verarbeitbarer Daten sind entsprechende Technologien schlicht nicht einsatzfähig. Während auch die Steuerung von Lernprozessen durch die Lernenden selbst oder durch menschliche Lernbegleiter*innen auf Beobachtungen und somit letztlich auch auf Daten basiert, ändert sich mit der Einführung digitaler Technologien jedoch die Form der Daten. In der Logik der klassischen sozialwissenschaftlichen Forschung verweisen Daten auf Phänomene, welche auch ohne die Daten und die Datenerhebung existieren. Gütekriterien wie Reliabilität und Validität sind dazu gedacht, die Qualität dieser Beziehung zwischen Daten und Phänomenen bzw. empirischem Feld zu sichern. Die Daten jedoch, die mithilfe von datengetriebenen Technologien gesammelt bzw. produziert werden, haben eine andere Form: Sie sind die Sache selbst. Sie sind aus informatorischer Sicht diskrete Objekte (Allert und Richter 2018). Die Rhetorik von Daten als Rohstoffen, die man schürfen kann und die wertvoll sind, hat hier ihre Grundlage. Logfiledaten etwa gehören zu automatisch generierten Daten. Datenbasierte Technologien verschränken die Produktion und algorithmische Verarbeitung von Daten. So basiert etwa das, was Lernende als technologiegestütztes adaptives Lernen erleben, sowohl auf den einprogrammierten Entscheidungslogiken der Entwickler*innen als auch auf
9 Unseren
Überlegungen liegt dementsprechend ein starkes relationales Verständnis des Menschen zugrunde, das die vorgängige Unterscheidung von Subjekt und Objekt unterläuft und beide stattdessen als Produkt transaktionaler Beziehungen begreift. Oder wie es Slife (2004, S. 159) formuliert hat: “Things are not first selfcontained entities and then interactive. Each thing, including each person, is first and always a nexus of relations […] all things, including all practices, have a shared being and a mutual constitution in this sense. They start out and forever remain in relationship”.
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dem Nutzungsverhalten der Lernenden. Dieses Nutzungsverhalten wird von den datengetriebenen Technologien in Form von Interaktionsdaten gleichzeitig (mit) produziert, aufgezeichnet und als Lernprozess interpretiert. Daten sind Teil der Lauffähigkeit des Systems und entstehen nicht durch eine Datenerhebung zur Beschreibung von Phänomenen im Sinne sozialwissenschaftlicher Forschung. Sie haben nicht die Qualität einer Datenerhebung, bei der das Phänomen von der Datenerhebung unberührt bleiben soll. Sie haben eine andere Qualität. Sie entstehen überhaupt erst in einer Umgebung, die das Phänomen im Sinne soziotechnischer Systeme mitproduziert. Diese Umgebung ist gestaltet, modelliert, entwickelt, implementiert, d. h. etliche Designentscheidungen wurden getroffen. Daten als Objekte formen die Welt performativ mit, statt sie zu repräsentieren. Eine E-Mail etwa existiert nicht ohne die Daten, die sie konstituieren. Daten zur Verwendung im Rahmen von Learning Analytics werden nicht erhoben, sondern generiert, d. h. produziert und gesammelt. Im Prozess der Nutzung entstehen Interaktionsdaten, also Logfiledaten. Datengetriebene Technologien sind gestaltet, Entwickler*innen haben spezifische Designentscheidungen getroffen, Strukturen und Prozesse geschaffen, Tätigkeiten wie Lernen, Studieren, Administrieren wurden von Entwickler*innen modelliert. Ebenso sind die Nutzer*innen und die Nutzung des Systems modelliert. Nutzer*innen können nur mittels des implementierten Systems, also einer intentional gestalteten Umgebung, in Erscheinung treten. Auch KI-Systeme in der Bildung sind gestaltete Systeme. Die Frage, welche Idee von Bildung und Lernen, von Schüler*innen und Studierenden in die Gestaltung und Implementierung der Systeme und somit die Generierung der Daten eingeht, ist entscheidend für die Interaktionen, die möglich werden. Da Bildung aus ökonomischer und technologischer Perspektive auch schlicht ein weiterer Anwendungsfall von KI ist, sind die Algorithmen, Konzepte, Prozesse und Strukturen meist bereits für andere Felder entwickelt worden. Sie werden aus Feldern wie Marketing, Business Intelligence und Präzisionsmedizin in die Bildung übertragen (Wilson et al. 2017), lehnen sich an Grundideen von Fitness Apps an oder basieren auf dem Konzept der Gamification (Hartong 2019). In Form von bereits in anderen Feldern erzeugten Algorithmen werden sie nicht nur als Form des Denkens über Bildung, sondern ganz direkt als Struktur und Prozess eingebracht. Datenbasierte Modelle sind grundlegend von theoriebasierten Modellen zu unterscheiden. Datenbasierte Modelle generieren Daten auf Systemen, welche die möglichen Interaktionen bereits vor der tatsächlich stattfindenden Lernsituation definieren und formal beschreiben. Die Daten werden analysiert unter der Annahme, das System sei konform genutzt worden. Sie sind von solchen Modellen unterscheidbar, in denen ein*e menschliche*r Akteur*in situativ
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darüber entscheiden kann, auf welche Daten er oder sie zugreift und welche Bedeutung er oder sie ihnen beimisst. Die Modelle menschlicher Akteur*innen sind insofern ›theoriebasiert‹, als sie selbst zum Gegenstand einer reflexiven Auseinandersetzung (auch in der Situation selbst) werden können.
4 Modelle wünschenswerter Interaktion – von der Beschreibung zur Diagnose Technologien zur Steuerung von Lern- und Bildungsprozessen beschränken sich meist nicht auf die deskriptive Darstellung der von ihnen aufgezeichneten Ereignisse, sondern integrieren für gewöhnlich auch mehr oder minder komplexe Verfahren zur Diagnose, indem die beobachteten Ereignisse mit entsprechenden Referenzmodellen abgeglichen werden. Entsprechende Modelle sind dabei so ausgelegt, dass sie Auskunft darüber geben, ob der aktuelle Zustand im Hinblick auf einen zu erreichenden Lernerfolg als produktiv oder unproduktiv einzuschätzen ist. Der zunehmende Einsatz von Ansätzen des Maschinellen Lernens greift hier ein, indem er die Entwicklung der Referenzmodelle selbst automatisiert und auf Interaktionsdaten zurückführt. Soller et al. (2005) setzten als Modell wünschenswerter Interaktion noch „menschengemachte“ Modelle auf Basis von (wissenschaftlichen) Theorien ein. Theoriebasierte Modelle unterscheiden sich in wesentlichen Hinsichten von datenbasierten. Theoriebasierte Modelle bieten die Möglichkeit, auch Zustände zu beschreiben, die es in den Daten (noch) nicht gibt. Ein formales theoriebasiertes Modell (scientific model) beschreibt, welche Formen der Interaktion vorkommen können: „a model of cooperative problem-solving should predict what forms of cooperation can exist“ (Baker 2000, S. 125). Anhand dieses Modells kann nach Formen im tatsächlichen Verlauf der Interaktion gesucht und die Interaktion abgeglichen werden (ebd., S. 131). Ein theoriebasiertes Modell basiert auf einer erklärenden Theorie; aus ihr lassen sich mögliche Interaktionsformen ableiten. Theorien im adaptiven Lernen sind meist kognitionswissenschaftlich, aber auch sozio-historisch (z. B. Cultural Historical Activity Theory, CHAT) orientiert – neutral sind sie insofern nicht. Die Bestimmung der Beziehung zwischen einem Modell und einer Theorie sowie einem Modell und dem empirischen Feld (Abstraktion, Selektion und Validierung) entspricht wissenschaftstheoretischen Überlegungen sozialwissenschaftlicher Forschung und dort bekannten methodologischen Überlegungen. Die Beschreibung „wünschenswerter“ Zustände erfordert ein antizipatives, imaginatives, projektives Moment, ein Denken über das bereits Existierende hinaus. Antizipatives Denken, normative Entscheidungen, die Imagination von
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Zukunft, der abduktive Schritt aus der Analyse in den Entwurf einer Maßnahme sind Kern pädagogischen Denkens und Handelns. Das Modell wünschenswerter Interaktion kann laut Baker (2000) hyper-empirisch oder auch idealistisch, also mehr oder weniger in der Realität verankert sein. Die Kreativität pädagogischen Handelns, das Entwerfen normativer Horizonte wird in theoriebasierten Modellen bereits auf kodifizierte, formale Modelle reduziert. Dieser Schritt ist bereits gleichsam reduktiv wie performativ. In datenbasierten Modellen wird das Vorstellbare gänzlich auf das empirisch beobachtete und datafizierte eingeschränkt, wie es mittels Indikatoren bestimmt ist. Mittels lernender Algorithmen, und unter Einsatz von Verfahren des Maschinellen Lernens werden Modelle aus Daten generiert, etwa Datenanalysen tatsächlicher Bildungsverläufe, Lern- und Kollaborationsprozesse. Datenbasierte Modelle sind statistische Modelle, die Muster und Regelmäßigkeit in Daten aufzeigen, ohne den Gegenstand in seinem Inhalt oder seiner Bedeutung zu repräsentieren (Dourish 2016). Ein entscheidender Unterschied im bisher dargestellten Zusammenhang ist, dass ein theoriebasiertes Modell auch eine Form von Kollaboration vorhersagen kann, die entsprechend einer Theorie existieren kann, aber (noch) nie in der Realität beobachtet wurde (Baker 2000, S. 132). Bei der Verwendung datenbasierten Modellen wird der einzelne Verlauf an den Mustern aggregierter Verläufe endlich vieler Bildungsverläufe, Kooperationsoder Lernprozesse der Vergangenheit abgeglichen. Nicht die antizipativ möglichen Zustände, sondern die empirische Normalität wird zum wünschenswerten Modell. Es erscheint dabei legitim, den einzelnen Bildungsverlauf oder Lernprozess eines Individuums an den errechneten Regelmäßigkeiten der aggregierten Daten der Prozesse vieler anderer zu messen. Dies stellt nicht nur die bildungstheoretische und ethische Frage, ob dies legitim sei, sondern wirft auch die Frage nach dem Status von Regelmäßigkeit und Regeln auf. Es geht also um die Frage, was man gefunden hat, wenn man Regelmäßigkeit und Muster in Daten findet. Dazu später mehr in Abschn. 7.1.
5 Prozessierbare Erkenntnisse und automatisiertes Entscheiden Bereits in der Diskussion um Intelligente Tutorielle Systeme als einem Typ wissensbasierter Systeme ging es nicht nur um die Diagnose, sondern auch um Intervention. Ein besonderer Mehrwert dieser Systeme besteht gerade darin, dass sie die Lernenden eigenständig leiten können, indem sie etwa Pfade durch ein Themengebiet bahnen, geeignete Interaktionspartner*innen vermitteln, den
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Wechsel der Lernform initiieren oder auch zur Pause mahnen. Auch in Bezug auf die Entwicklung der entsprechenden Interventionsmodelle kommen zunehmend datengetriebene Ansätze zum Einsatz. Die Frage ist also, wie sich pädagogisches Handeln durch Automatisierung im Kern verändert und was hier als KI wirksam wird. Sowohl Analysieren, Untersuchen und Verstehen als auch Intervenieren, Maßnahmen entwickeln, durchführen und reflektieren sind Aufgaben der Bildungsforschung und des pädagogischen Handelns in der Bildungspraxis. Das Verhältnis von (deskriptiver) Analyse zu (normativer) Synthese ist vielfach diskutiert und sowohl als induktiv, deduktiv als auch abduktiv bestimmt worden (Shamiyeh 2010). Ein abduktiver Schritt erfordert Reflexion und Kreativität; eine Maßnahme, ein Programm, eine Intervention ist weder aus einer Datenanalyse noch aus einer Theorie direkt ableitbar. Die Automatisierung pädagogischer Prozesse mittels KI beinhaltet das Intervenieren, das Setzen von Maßnahmen basierend auf Datenanalysen. Das Intervenieren schließt sich innerhalb eines Systems unverzüglich an die Analyse an. Bedeutsam ist, dass der gesamte Prozess – von der Datensammlung über die deskriptive Analyse bis zur normativen Intervention – grundlegend verändert wird im Gegensatz zu Prozessen, in denen menschliche Reflexion und Entscheidung stattfinden. Darin spielt das Verständnis von Datenanalysen als ausführbaren Erkenntnissen (actionable insights) eine entscheidende Rolle. Um Automatisierung in der Bildung zu erläutern, sind zwei Aspekte von entscheidender Bedeutung: 1) eine spezifische Temporalität und 2) die Verschränkung der Produktion und der algorithmischen Verarbeitung von Daten. Beide sind aufeinander bezogen. Im Prozess sozialwissenschaftlicher Forschung finden zeitintensive Schritte statt (vgl. Seitz 2017). Auf die Datenerhebung folgen Tätigkeiten der Datenaufbereitung wie das Strukturieren, Clustern, Bereinigen, Transkribieren, Codieren und die Datenauswertung – Schritte, die arbeitsintensiv sind, Distanz zur Datenerhebung schaffen und menschliche Reflexion ermöglichen (ebd.). Sozialwissenschaftliches Forschen, das Entwerfen von Maßnahmen und das Intervenieren sind zeitintensiv und in einen praktischen Vollzug eingebunden. Als soziale Praktiken ereignen sie sich als temporale Abfolge von Jetztzeiten, sie „wiederholen sich nie auf vollkommen identische Weise. In ihrem gegenwärtigen Vollzug bauen sie stets auf vergangenen Praktiken auf und präformieren ihrerseits die zukünftigen“ (Seitz 2017, S. 23 mit Bezug auf Reckwitz, Bourdieu, Schmidt). Das Hervorbringen von neuen Ideen und Einfällen ist durch einen grundlegend kontingenten Charakter gekennzeichnet, der sich strikter Planung prinzipiell entzieht (Seitz 2017, S. 28).
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Um den transaktionalen Moment der Automatisierung zu erkennen, ist das Verständnis von Learning Analytics entscheidend. Man könnte dieses Verständnis als einen folgerichtigen Schritt des Einsatzes datenbasierter Modelle in automatisierten Lehr-/Lernsystemen verstehen: Die Definition von Learning Analytics hat sich mittlerweile ausdifferenziert in eine deskriptive und eine prädiktive Form. Die deskriptive Analyse soll erlauben, Lernprozesse zu verstehen: „Descriptive learning analytics: These types of analytics are reactive. They allow understanding of the past and, based on this understanding, influence the future“ (Omedes 2018, S. 3). Die prädiktive Form allerdings soll nicht nur Zukunft aus Datenanalyse vorhersagen, sondern prozessierbare Erkenntnisse liefern: „Predictive learning analytics: These types of analytics are proactive. They influence the present and, therefore, improve ongoing learning processes“ (ebd.). Daten und ihre Analyse fungieren demzufolge direkt als prozessfähige, prozessierbare, belangbare, anwendbare, ausführbare Erkenntnisse. „Data analysis is the process of obtaining actionable insights from the collected data“ (ebd.). Erkenntnisse und Anwendung entstehen direkt und automatisiert aus der Datenanalyse. Der Prozess wird (im Vergleich zur sozialwissenschaftlichen Forschung) so radikal umgekehrt, dass menschliches Entscheiden auch bei Anhalten des Prozesses keinen Platz hätte. Interventionen erfolgen unmittelbar in den gegenwärtig laufenden und analysierten Prozess (influence the present). Mark Andrejevic (2020) beschreibt diese Form der Temporalität als emergent. Zur Eigenlogik der Automatisierung erklärt er eine veränderte Zeitlichkeit, eine Vorwegnahme (pre-emption). Er bezieht sich nicht auf Lernprozesse, sondern auf den Bereich des predictive policing – der Anwendung analytischer Verfahren zur Identifikation vielversprechender Ziele der polizeilichen Intervention und Prävention von Verbrechen. Der Prozess müsse gerade weit genug vorangeschritten sein, um ihn als etwas identifizieren zu können, in das hinein dann interveniert wird, um ihn – etwa im Falle eines Verbrechens – im Voranschreiten bereits zu hindern. Seine Identifikation soll dazu führen, dass er gar nicht als solcher zum Vollzug gelangt, nicht als solcher realisiert wird, als der er (vermeintlich) erkannt worden ist. Ein als unproduktiv analysierter Lernprozess wird durch Intervention verhindert, noch bevor er vollendet ist. In Lernprozessen kann das Intervenieren in den laufenden Prozess ein unmittelbares Feedback sein. Die Identifikation führt direkt zur automatisierten Intervention, damit er nicht als solcher voranschreitet, als der er zeitgleich erkannt wird. Ein Prozess wird in seinem Vollzug identifiziert, wird jedoch aufgrund der Intervention, die durch diese Identifikation in der Gegenwart ausgelöst wird, gar nicht vollzogen. Es gibt für ihn deshalb keinen Beleg. Identifikation und Intervention werden auf der Annahme aus-
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geführt, in den Algorithmen, Modellen, Daten und Analysen sei bereits das Verständnis eines optimalen Lernprozesses enthalten. Alle Interventionen müssen sich auf messbare Indikatoren mappen lassen, sonst wüsste das System nicht, wie und wann es intervenieren soll. In das System sind das Erkennen und Intervenieren vollständig eingeschrieben, ebenso wie der pädagogische Takt, d. h. die Entscheidung, wann welche Maßnahme zur Ausführung kommt. Imaginative, reflektierende, interpretierende, projektive, pädagogische Schritte zwischen Datenanalyse und Intervention sind gänzlich eliminiert. Damit verändert sich der Datenverarbeitungsprozess grundlegend. Normative Synthese erfolgt nicht auf Datenerhebung und -auswertung in einem abduktivem Schluss, nicht kreativ und reflektiert, sondern wird direkt aus den Daten, der Datensammlung und -analyse prozessiert. Der Prozess ist so angelegt, dass man von einer normativen Analyse sprechen kann. Um Entscheidung und Intervention automatisiert, unmittelbar und direkt aus der Datenanalyse abzuleiten, sind Lernende und Vorstellungen von Bildung im System modelliert und repräsentiert. Die Lernumgebung, auf der die Daten produziert und verarbeitet werden, kodifiziert bereits das Verständnis des Lernprozesses, der Lernenden und die Passfähigkeit einer Intervention. In ihr sind bereits Denkweisen, Konzepte von Lernen und Bildung realisiert und implementiert. Das System ist in diesem Sinne eine Tatsache. Bereits vor Beginn des Lernprozesses liegt das Modell des Lernprozesses, der Intervention und somit fundamental die Antwort darauf vor, was Bildung sei. Es erfolgt eine automatisierte Reaktion aus der Datenanalyse selbst. Nach diesem Verständnis von Learning Analytics sind die Lernenden, der ideale Vorgang, die intervenierenden Maßnahmen und der pädagogische Takt in den Daten und Modellen bereits so repräsentiert, dass der optimale Lernprozess vermeintlich zielgerichtet gelingen kann. Der Prozess pädagogischen Handelns wird durch automatisiertes Entscheiden fundamental verändert: Es werden nicht einfach einzelne Prozessschritte an eine KI abgegeben. Daten dienen nicht alleine dem Analysieren, Beschreiben und Verstehen, sondern werden zu prozessierbaren Erkenntnissen (actionable insights). Datensammlung, Analyse, Entscheidung und Intervention liegen innerhalb eines Computersystems. Reflexion und Kreativität schließen sich nicht an die Datenauswertung an, sondern werden in Phasen der Gestaltung und Implementierung des Systems aufgebracht. Die Entscheidungen, die ein System trifft, liegen bereits im Design und in den Modellen des Systems, auf dem die Daten produziert und verarbeitet werden. Bereits lange bevor der Lernprozess überhaupt startet und vollzogen wird, werden sie getroffen und kodifiziert. Das System reagiert unmittelbar auf die Datenanalyse. Der gesamte Prozess ist so angelegt, dass eine
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menschliche Reflexion und Korrektur der datenbasierten Entscheidung innerhalb des Prozesses nicht möglich ist. Die unmittelbare Reaktion von Menschen auf Ereignisse ist unwillkürlich. Die unmittelbare Ausführung der Erkenntnisse aus Daten durch die Maschine – hier die Auswahl und das Setzen einer Intervention – liegt im Design des Systems und ist somit rational. Die Rationalität liegt bereits in der Modellierung und Implementierung des Systems, das Daten produziert und verarbeitet. Die entsprechenden Entscheidungen bezüglich Modellierung und Implementierung wurden lange vor dem eigentlichen Lernprozess, vor der sozialen Situation getroffen und werden systematisch und wiederholt reproduziert. Die Rationalität kann einer GamificationLogik, einer Business Intelligence-Logik, einer Marketing-Logik, einer Logik pädagogischen Handelns oder jedweder anderen Logik folgen, an der das Design des Systems orientiert wurde, auf das die Entwickler*innen sich implizit oder explizit geeinigt haben. Der Lernprozess wird nicht situativ hergestellt, sondern die möglichen Situationen werden definiert während der Entwicklungsphase der Systeme. Das KI-System definiert die möglichen Situationen lange bevor die jeweilige Situation realisiert wird. Da das Moment rational wird, wird es auch verhandelbar. Die Frage, wer sich an diesen (Implementierungs-)Entscheidungen beteiligen kann, ob sie transparent sind, reflektiert und verhandelt werden können/dürfen, ist für alle Beteiligten am Lernprozess wichtig. Für diese Beteiligungsprozesse müssten (demokratisch legitimierte) Prozesse und Foren definiert werden und die Lernenden und Lehrenden involviert werden, die die Entscheidungen betreffen. Was als und im Lernprozess erkannt wird, basiert auf der Selektion und Datafizierung der als wesentlich erachteten Konzepte, die in Modellen repräsentierbar werden. In einem Lernprozess müssen Konzepte wie „motiviert“, „engagiert“, „interessiert“, „verwirrt“, „überfordert“ etc. datafiziert und erkannt werden (vgl. Selwyn 2019a). Oftmals sind es jedoch einfache Konzepte wie Aufmerksamkeit, die etwa aus der Messung von Augenbewegungen geschlossen werden. Nicht nur die Setzung einer Maßnahme, sondern auch die Auswahl der jeweils initiierten Maßnahme, also der pädagogische Takt, muss dabei wiederum über Indikatoren definiert werden: Worauf achtet das System, wo schaut es hin. Beim Intervenieren in den laufenden Lernprozess auf Basis prozessierbarer Erkenntnisse wird Zukunft bestimmbar, weil sie unverzüglich hergestellt wird. Durch die neue Form der Temporalität werden Unbestimmtheit und offene Prozesse gänzlich suspendiert, denn Zukunft wird ohne Verzug wünschenswert hergestellt. Es vergeht keine Zeit, in der Lernende überraschende Wendungen vollziehen können, in der Einfälle reifen, etwas entsteht oder sich entwickelt. Nicht einmal durch das Voranschreiten in der Zeit selbst kann Unvorhergesehenes
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geschehen. Der Output wird hergestellt wie geplant. Das System versucht, das Nicht-Eintreten des wünschenswerten Prozesses zu verhindern. Machbarkeit und Planbarkeit werden plausibel, weil sie direkt hergestellt werden.
6 Modelle als Komponente – wie wird Machbarkeit plausibel? Wie in den vorangegangenen Abschnitten erläutert, hat sich die Entwicklung von Modellen zur Beschreibung, Diagnose und intervenierenden Steuerung von Lern- und Bildungsprozessen zunehmend in die digitalen Systeme selbst verlagert. Modelle als Komponenten von KI-Systemen sind Computermodelle, die mit einem Aspekt eines Lehr-/Lernprozesses korrespondieren (Baker 2000). Sie werden im System dynamisch generiert. Modelle als Komponenten finden sich etwa in Wissensbasierten Systemen, z. B. Intelligenten Tutoriellen Systemen (ITS), in Form der Modellierung des aktuellen Wissensstands der einzelnen Nutzer*innen (user models). Dieses kann mit einer von Expert*innen erzeugten Ontologie, d. h. einem Modell der Wissensdomäne (domain model) abgeglichen werden. Lernende sind dem System in der Weise bekannt, wie sie innerhalb des Systems modelliert werden. Der Zustand der oder des Lernenden ändert sich dynamisch durch die Nutzung des Systems, die kontinuierlich beobachtet und repräsentiert wird. Das Modell verzeichnet die Interaktionen einer*s Lernenden mit den Informations-/Lerneinheiten, schließt auf den kognitiven, physiologischen und emotionalen Zustand der*s Lernenden als Ergebnis der Präsentation spezifischer Informations-/Lerneinheiten durch das adaptive Lehr-/Lernsystem und bildet diesen im Modell ab (Baker 2000, S. 132). Der Zustand des Modells ist Ausgangspunkt für die Anzeige weiterer Informationseinheiten und die Adaption auf den im Modell repräsentierten Zustand der*s Lernenden. In der Gruppe oben skizzierter kollaborativer Systeme repräsentiert ein ›group model‹ die Kollaboration der Gruppe, die das System detektieren konnte, beschrieben in formalisierter Weise. Das Modell korrespondiert mit dem menschlichen Lernprozess in den gewählten Indikatoren und Metriken und auf Basis der Annahme, das KI-System sei affirmativ genutzt worden. Modelle als Komponente von Technologien stellen einen wesentlichen Unterschied zwischen konventionellen digitalen Werkzeugen und wissensbasierten Systemen (einer Form von KI) dar. Wie wird die Machbarkeit von Bildung plausibel? Repräsentieren kann das Modell als Komponente nur die Aspekte von Welt bzw. der Lernenden, welche als Systemkomponente modellierbar gemacht wurden, also das, was im Sinne
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des Systems erwartbar ist. Wenn Anna eine Lerneinheit auf ihrem Computer aufruft, sich dann abwendet und von ihrer Mitschülerin Vashid den Inhalt erklärt bekommt, wird das KI-System dennoch annehmen, dass die aufgerufene Lerneinheit die Grundlage für das Verstehen sei, denn nur diese Aktivität (Lerneinheit aufrufen und betrachten) ist modelliert. Die tatsächliche, hier: soziale, Lernerfahrung wird nicht aufgezeichnet und in Daten repräsentiert, denn es muss angenommen werden, dass die modellierte (im Modell repräsentierbare) Lernerfahrung stattgefunden habe. So wird plausibel, dass jene Interaktionen stattgefunden haben, die das System vorsieht und erkennen kann, und dementsprechend, dass Bildung machbar und planbar sei. Im Modell kann nur repräsentiert werden, was vorher bereits als beschreibbar erachtet wurde. Etwas anderes kann nicht repräsentiert werden. Es kann sich nichts ergeben, was nicht als Konzept datafizierbar gemacht wurde, nicht schon als relevant erachtet, bekannt und repräsentierbar ist. Soweit etwas nicht datafiziert oder modelliert wurde, kann es laut System nicht stattfinden. Der Lernprozess erscheint als reibungslos funktionierend. Es kann keine Situation, kein praktischer Vollzug eintreten, der nicht schon bei der Entwicklung des Systems mit entsprechenden Konzepten definiert wäre. Das Verständnis der Situation kann nicht mehr von allen Beteiligten während des praktischen Vollzugs gemeinsam erzeugt werden, denn das KI-System hat die Situation bereits definiert und die Daten entsprechend analysiert. Die KI wird so zum Agens, denn die Definition der Situation und die Analyse der Daten auf Basis der Definition wirkt performativ. Mit datengetriebenen Technologien haben sich Modelle als Komponenten von praktischen und wissenschaftlichen Theorien gelöst, sowohl von den Modellen der pädagogischen Praktiker*innen, die auf Basis eines situierten praktischen Wissens Lernprozesse kreativ und taktvoll begleiten, als auch von wissenschaftlichen, formalisierten Modellen, die situationsübergreifende Handlungs- und Orientierungsrahmen bieten. Die Modellbildung ist selbst zu einem Bestandteil der operativen Logik entsprechender digitaler Systeme geworden. Eine unabhängige Bewertung der Modelle ist im Prinzip nicht mehr erforderlich. Anstelle einer dezidierten Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Konzepten, Modellen und Annahmen genügt dann letztlich die Überwachung des Systemoutputs und ein mögliches Nachjustieren der Zielparameter. Alles Übrige kann dann, wenn man diese Idee weiterdenkt, den Selbstoptimierungsmechanismen der entsprechenden Algorithmen überlassen werden. Die Systeme optimieren sich selbst. Baker (2000) argumentiert, dass Modelle als Komponenten von Systemen nicht an der Realität validiert werden müssten. Stattdessen müssten sie in Hinsicht auf ihren Erfolg, d. h. ihre Zielerreichung (criteria of success) evaluiert werden, etwa entlang der Frage, ob Lernen verbessert werde.
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Der Erfolg legitimiert in dieser Sichtweise die Komponente und den Einsatz des KI-Systems. So wird gerade nicht das Verständnis von Lern- und Kollaborationsprozessen mittels Daten und Modellen gefördert oder die Prozesse selbst unterstützt, sondern die Input–Output Relation optimiert. Modelle werden automatisch erzeugt und die Automatisierung wird automatisch optimiert. Die Automatisierung wird selbst reflexiv und fokussiert nur noch auf die Daten, die das System selbst produziert und verarbeitet. Mithilfe von Learning Analytics werden aus den Daten direkt Indikatoren und Metriken gebildet. Die Frage ist nicht mehr, was bestimmte Daten in den Logfiles bedeuten; vielmehr werden sie als Indikatoren für etwas gesehen. Abfragen an das System können nun lauten: Suche mir Hinweise auf Aufmerksamkeit! Oder: Welche Indikatoren sagen einen erfolgreichen Studienabschluss voraus? Indikatoren für Aufmerksamkeit und Studienabschluss werden dann in den Daten gesucht. Allgemeiner: Liefere mir Indikatoren, sodass bestimmte Zielzustände erreicht werden bzw. Chancen auf Erreichung statistisch hoch sind. Daraufhin können diese Indikatoren wiederum normativ gesetzt werden; z. B. wenn Studierende, die sich früher als andere am Lernmanagementsystem (LMS) angemeldet haben, sicherer das Studium abschlossen, dann wäre folgerichtig wünschenswert, dass Studierende sich früher am LMS anmelden. Das System diagnostiziert, evaluiert und steuert sich dann selbst, um herauszufinden, ob es erreicht hat, was es erreichen sollte. Das Bemühen um informatorische Optimierung eben jener Systeme zielt auf eine immer höhere Datendichte und hochgradig komplexe Datenanalysen, etwa die Einbeziehung von Daten verschiedener Systeme (Lehr-/Lernsysteme, administrative Systeme, Social Media Profile der Lernenden), feingranulare und sensible Daten, die vollständige ›Learning Experience‹, die sich über informelle und formale Lernkontexte erstreckt (vgl. den Standard xAPI10). Zur Aufzeichnung der Interaktionsdaten sind (körperbezogene) Verhaltensanalysen (Behavioral Analytics bzw. Bioanalytics) und Identifizierungsszenarien (Identificatory Analytics) hinzugetreten: Tracking von Körperhaltung und Augenbewegungen, gesundheitsbezogene Metriken, Tastaturanschläge sowie Gesichts-/ Emotionserkennung. Das Streben nach Erhöhung der Datendichte sowie die Idee der Optimierung von Input–Output Relation spielen eine performative Rolle im Lernprozess und in Bildungssystemen. Instrumente zur Datenerfassung müssen installiert, ausgerichtet und aufrechterhalten werden.
10 Zum
Standard xAPI siehe Richter et al. (2021).
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Informatorische Optimierung im Sinne der Optimierung der Input–Output Relation steht der Idee von Bildung direkt entgegen. Biesta (2013) erklärt, dass eine Bildungstechnologie im Sinne einer optimierten Input–Output-Relation weder möglich noch wünschenswert sei, weil sie letztendlich Bildung gänzlich ausschlösse: “[…] educational technology, that is, a situation in which there is a perfect match between ›input‹ and ›output‹, is neither possible nor desirable. And the reason for this lies in the simple fact that if we take the risk out of education, there is a real chance that we take out education altogether” (Biesta 2013, S. 16).
7 Alternativen: Die Form der Modelle Die Verfügbarkeit von Daten und Datenanalysen baut Machtungleichheiten aus. Wer Daten hat, hat Macht. Es genügt allerdings nicht, den Lernenden Einsicht in die gesammelten Daten zu gewähren. Solange die Modelle oder Konzepte intransparent bleiben, sind die Daten begrenzt aussagefähig. Konzepte sowie die aus einfachen Indikatoren abgeleiteten komplexeren Konstrukte sind aus Daten allein nicht erschließbar. Um mit sehr großen Datenvolumina zu arbeiten und sie zu analysieren, werden immense Ressourcen benötigt. Nur wer die nötigen technischen Kapazitäten, also Dateninfrastrukturen, aufbauen kann, wird Lernstandsdiagnosen, Early Warning-Systeme und Vergleichbares anbieten oder nachvollziehen können. Automatisierung und Datenanalysen in sozio-technischen Systemen werden zunehmen und Bildung wird aller Voraussicht nach ein Anwendungs- und Entwicklungsfeld für KI-Systeme bleiben. Eine kritische Perspektive auf Künstliche Intelligenz in der Bildung würde wenig bewirken, wenn sie das Ideal autonomer Subjekte rehabilitiert, also der Annahme folgt, dass Individuen die Technologien von außen betrachten, im Einzelfall gut begründet annehmen oder ablehnen, den Einsatz abwägen und Freiräume durch KI in der Bildung erwarten können. Ebenso wenig realistisch ist es, die Gestaltbarkeit der KI-Systeme von Grund auf, aus pädagogisch didaktischen Überlegungen heraus zu wünschen. Auch die Forderung nach einer vollständigen Transparenz der KI-Systeme ist nicht einlösbar. Es geht nicht um die Hoffnung auf die Entwicklung des nächsten und innovativeren adaptiven Lehr-/Lernsystems mit neuen Funktionalitäten, um differenziertere Bildungskonzepte zu unterstützen. Es geht nicht allein um die wichtige Forderung nach Dataownership oder um den Wunsch, die Konzeption der neu zu entwickelnden Technologien nun wirklich an Erfordernissen der Bildung auszurichten. Leider greift auch
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die Vorstellung zu kurz, definieren zu können, welche Daten für die Bildungsforschung relevant seien und Systeme zu entwickeln, die genau solche Daten sammeln würden. All das greift zu kurz, weil das Problem davor liegt. Zum einen sind Entwicklungen nicht nur in der Modellierung einzelner Systeme, sondern bereits zuvor in technologischen Standards wie xAPI für das Tracking von Lernprozessen (vgl. Richter et al. 2021), in verfügbaren Entwicklungsumgebungen oder auch in der Form informatischer Modellierung zu verorten. Zum anderen sind Grundlagen und Wirkungen Künstlicher Intelligenz nicht allein auf Technologien, sondern auch auf bildungsstrategisches Denken, Planen und Handeln zurückzuführen.11 Weiters liegen sie in den Eigenlogiken der Automatisierung (vgl. Andrejevic 2020), in spezifischen epistemischen Kognitionen, in der Vorstellung, soziale Praxis würde Regeln folgen sowie im Wunsch nach Machbarkeit von Bildung. In all diesen Aspekten sind Vorentscheidungen getroffen worden, noch bevor ein einzelnes System konzipiert und entwickelt worden ist. Eine kritische Perspektive kann eher eine grundlegend andere Option entwickeln, die besser erlaubt, vielfältige Wissenspraktiken zu unterstützen. Wenn die sichere Input–Output-Relation, das automatisierte Berechnen und Korrigieren dem Prozess von Bildung mit seiner inhärenten Unsicherheit, dem Ausprobieren und dem demokratischen Ringen, um eine wünschenswerte Zukunft entgegensteht, braucht es grundlegend andere Systeme und Modelle. An dieser Stelle sollen drei Grundannahmen diskutiert werden, zu denen es aus unserer Sicht gilt Alternativen zu entwickeln: 1) die Vorstellung von Regeln und Regelmäßigkeit, 2) die Form der Modelle, 3) die spezifische epistemische Kognition bzw. Epistemologie.
7.1 Die Vorstellung von Regeln und Regelmäßigkeit Diesbezüglich unterscheiden sich insbesondere informationstheoretische und praxistheoretische Ansätze voneinander. Was hat man aus praxistheoretischer Sicht gefunden, wenn man Regelmäßigkeiten in Daten gefunden hat? Erst einmal nur die Regelmäßigkeit eben dieses praktischen Vollzugs. Wenn alltägliches Handeln regelmäßig und regelhaft abläuft, so ist dies eine fortwährende soziale Leistung in der Praxis selbst und nicht die bloße Ausführung von unabhängig davon existierenden Regeln. Die Koordination sozialer Abläufe durch erwartbare Wiederholungen, Konventionen und Routinen (Bickhard 2008) erzeugt
11 Vgl.
hierzu auch den Begriff des Milieus bei Simondon (2011).
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Regelmäßigkeit, hält jedoch die Möglichkeit offen, dass die Akteure „jederzeit andere Deutungsmuster ins Spiel bringen, neue Spielzüge entwickeln und auch das Spielfeld verändern“ (Richter und Allert 2017, S. 243). Demzufolge gibt es keinen identifizierbaren Satz an Regeln, der einen Bildungs- oder Kollaborationsprozess in seinem Kern erfassen, erkennen oder in Gang bringen könnte. Wenn Lernende Deutungsmuster hinterfragen und neue ins Spiel bringen, wenn sie im Wissen um die Modelle und Datengenerierung der Technologien auf eben jene reagieren, so kann Normalität und Regelmäßigkeit nicht implementiert oder zugrunde gelegt, sondern nur neu erzeugt werden. Regelmäßigkeiten und Muster in Daten zu erkennen bedeutet deshalb nicht, man hätte Regeln gefunden, anhand derer man zukünftiges Handeln vorhersagen oder regulieren kann. Jede soziale Situation bleibt ergebnisoffen und potenziell unsicher. Soziale Situationen werden durch das gemeinsame Handeln in ihnen erst konstituiert und verstanden. Die Feststellung einer Regelmäßigkeit bedeutet nicht, dass es eine Regel geben müsse, die sich formalisieren und kodifizieren ließe oder anhand derer man das Handeln der Einzelnen ausrichten könne. „Im Gegensatz zu Handlungstheorien analytischer Provenienz kann Praxis meiner Auffassung nach nicht im Ausgang von einem autonomen Subjekt beschrieben werden, das sich kultureller Muster gleichsam von außen zur Verwirklichung seiner Intentionen bedient“ (Hetzel 2002, S. 10).
Praxis, so Hetzel, lasse sich nicht auf die bloße Anwendung bzw. Befolgung kulturell kodierter Regeln reduzieren. „Eine solche objektivistische Position würde Kultur in ähnlicher Weise verdinglichen wie die Handlungstheorie das Subjekt verdinglicht. Kulturelle Praxis ereignet sich demgegenüber als eine Regel aussetzendes, von Regeln ablassendes Handeln, das ex negativo gleichwohl auf Regeln verwiesen bleibt. Sowohl das Individuum als auch die kulturelle Praxis finden ihren Platz genau dort, wo Regeln und Grenzen handelnd überschritten werden“ (ebd.).
Pädagogische Praxis ist ebenso als Praxis zu verstehen. Informationstheoretisch gesehen müssen die Regeln hingegen als der Praxis vorausgehend angesehen werden. In Daten gefundene Regelmäßigkeiten und Muster scheinen auf ebendiese Regeln zu verweisen. Die Regeln scheinen auch ohne den Vollzug der Handlung zu existieren (vgl. Gräber 2016). Demzufolge können Regelmäßigkeiten und die ihnen zugrunde liegenden Regeln durch Datenanalyse aufgefunden werden. Sie können erkannt und im Sinne der Vorhersage der
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Zukunft genutzt werden. Nur aus diesem Verständnis macht es Sinn, den Lernprozess oder die Bildungsbiografie einer Person an den aggregierten Daten der Bildungsbiographien anderer zu messen oder sogar auszurichten.
7.2 Die Form der Modelle Die Grundlagen der informationstheoretischen Modellierung bilden bereits Vorentscheidungen für die Modellierung einzelner Systeme. Die in den vorangegangenen Kapiteln aufgezeigten Modelle eint ihre Form. Die Modelle sind subjektzentriert und handlungstheoretisch strukturiert. Ihr Einsatz zielt auf die Regulierung der Lern- und Kollaborationsprozesse von Individuen und Gruppen. Ein handlungsorientiertes Modell legt ein Verständnis von Handlung zugrunde, das von einem Ursprung zu einem Ziel strebt, wobei den Handlungsträger*innen ein Motiv unterstellt wird. In dieser Logik setzen das Motiv und die Orientierung am Ziel die Handlung in Gang, Regeln gehen dem Vollzug voraus und strukturieren die Handlung. Regeln werden objektiviert und als gegeben angenommen. Adaptive Lehr-/Lernsysteme sind handlungstheoretisch modelliert mit Aussagesystemen in der Form: Akteur X führt Aktion Y unter Zuhilfenahme von Mittel M aus, um das Ziel Z zu erreichen. Sie beschreiben eine Input–Output Relation und rekonstruieren Lernprozesse als eine Kette von Handlungen, die ein Akteur vollzieht. Sowohl die handelnden Akteur*innen, die Mittel wie auch die Lerngegenstände sind dabei eindeutig identifizierbar und können als solche immer wieder neu ›adressiert‹ werden. Subjekt und Objekt sind entsprechend voneinander getrennt; das Lesen eines Textes oder die Beantwortung einer Multiple-Choice-Aufgabe verändern diese nicht. In ihrer zugrunde liegenden Ontologie unterscheiden sich handlungstheoretische Modelle damit etwa von relationalen Ansätzen, die Lernen als einen reflexiven Prozess verstehen, in dem sich das Verhältnis von Lernenden und Lerngegenstand im Prozess des Lernens transformiert, etwa dann, wenn das wiederholte Lesen eines Textes zu einem neuen Verständnis führt oder die Sinnhaftigkeit von Prüfungen thematisch wird. Kurt Röttgers verdeutlicht die Grenzen handlungstheoretischer Modelle am Beispiel von Finanzmärkten. „(…) gerade dann, wenn alle an vermeintliche Regelmäßigkeiten glauben und sie erkannt zu haben glauben und ein Handeln rational daran ausrichten möchten, wird genau dadurch ein neues chaotisches Verhalten der Finanzmärkte hervorgerufen“ (Röttgers 2015, S. 57).
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Im Folgenden versuchen wir einen entsprechenden Gegenentwurf zu skizzieren, in dem Lernen als ein ergebnisoffener, irreversibler und transaktionaler Prozess gefasst wird. Das Konzept der Stigmergie tritt hier konzeptionell an die Stelle von Handlungen und Subjekten. „Stigmergie ist ein Konzept zur Beschreibung einer besonderen Form der Koordination von Kommunikation in einem dezentral organisierten System, das eine große Anzahl von Individuen umfasst. Dabei kommunizieren die Individuen des Systems nicht unmittelbar, sondern nur indirekt miteinander, indem sie ihre lokale Umgebung modifizieren. Das gemeinsam Erstellte wird gleichsam zum Auslöser (vergl. Emergenz) von Anschlussaktivitäten und zur allgemeinen Anleitung dafür, wie mit dessen Erstellung fortzufahren ist“ (https://de.wikipedia.org/wiki/ Stigmergie. Zugegriffen: 13. Juli 2021).
Praktisch besteht der Unterschied darin, nicht die Lernprozesse einzelner Individuen oder Gruppen zu diagnostizieren und zu regulieren, sondern Änderungen in Umgebungen, an Dokumenten und Artefakten mittels KISystemen beobachtbar und nachvollziehbar zu machen – auch für die Lernenden selbst. Reichelt et al. (2019) beschreiben die Koordination sehr großer Gruppen und das Konzept artefaktbasierter Kollaboration. Großgruppen zeichnen sich dadurch aus, dass Individuen sich nicht mehr mittels direkter Kommunikation koordinieren können. Individuen kommunizieren nicht unmittelbar, sondern indirekt miteinander, indem ihre Arbeit Modifikationen und Spuren in der gemeinsam genutzten verteilten Umgebung hinterlässt, die von anderen gelesen werden können. Learning Analytics könnte die Beobachtung sich stetig verändernder Lern- und Forschungsumgebungen unterstützen und wissensgenerierende, forschende Prozesse unterstützen.12 Eine Alternative zu bestehenden Systemen kann so aussehen: Lerntechnologien unterstützen Wissensgenerierungsprozesse und machen den Prozess der Entwicklung von Wissensartefakten und -umgebungen nachverfolgbar. Sie unterstützen Einzelne, in kollektiven Wissensprozessen anschlussfähige Beiträge zu leisten. KI-Systeme in der Bildung ermöglichen, Veränderungen in einem kollaborativ geschriebenen Dokument oder in einer kollaborativ genutzten Umgebung angezeigt zu bekommen. Sie markieren beispielsweise Aktivitäts12 Designkonzepte
für die Entwicklung entsprechender Umgebungen sind im Rahmen eines vom BMBF geförderten Forschungs- und Entwicklungsprozesses von Christine Bussian, Lars Raffel, Norma Reichelt, Christoph Richter und Heidrun Allert hier beschrieben worden: https://scorelfc.github.io/gestaltungsbericht3/designkonzepte/ Siehe auch: Bussian et al. (2021).
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schwerpunkte, identifizieren wiederkehrende Interaktionsmuster, oder markieren nicht weiter verfolgte Argumentationslinien. Im Gegensatz zu Ontologien, die finale Ordnungen repräsentieren, werden entstehende Ontologien dynamisch dokumentiert. Daten und Modelle erlauben Versionskontrollen und zeigen die Differenz zwischen zwei Zuständen auf. Lernende könnten durch Daten und Datenanalysen erfahren: Was hat sich am Dokument oder einer Umgebung geändert, seit ich mich zuletzt an ihrer Erzeugung beteiligt habe? Woran kann ich mich beteiligen? Wo finden Aktivitäten statt? Diese Form von Modellen nennt der vorliegende Beitrag umgebungszentrierte, situationsgebundene Ansätze, kurz umgebungszentrierte Ansätze. Sie sollen die Reflexionsfähigkeit der Lernenden fördern, die Entwicklung eines Wissensartefakts oder einer großen Gruppe von Dokumenten beobachtbar machen und unterstützen. Selbstdokumentierende Prozesse erlauben, kollektiv Qualität zu sichern. Lernen würde bedeuten, netzbasierte Praktiken zu erproben, z. B. in einer Umgebung forschungsbasierten Lernens und kollaborativen Schreibens. Nicht das Verhalten von Subjekten soll aufgezeichnet und reguliert werden, sondern Veränderungen in verteilten Umgebungen sollen beobachtbar werden, um Beteiligungsmöglichkeiten auszuloten und Beteiligung zu fördern.
7.3 Epistemische Kognition bzw. Epistemologie Die Frage der Repräsentation von Wissen in Modellen, sei es Wissen über den kognitiven Zustand und die Bildungsverläufe der Lernenden, sei es die Repräsentation der Strukturen und Konzepte einer Wissensdomäne (Ontologie), setzt eine repräsentationale und räumliche Epistemologie voraus. Entsprechend ist “[t]he object of knowledge […] assumed to exist separately from the knowledge itself” (Osberg et al. 2008, S. 1). Repräsentationale Modelle stellen finale Ordnungen und eine vermeintlich fertige und stabile Welt dar. Eine grundlegend andere Epistemologie, die sich an Deweys Transaktionalem Realismus orientiert, eine temporale und emergentistische Epistemologie, geht davon aus, dass Ordnungen nie statisch und final sind und dass die Arbeit mit Wissen eine Teilhabe an der Gestaltung eines stets unfertigen Universums darstellt (vgl. ebd.). Produktion und Vermittlung von Wissen sind (ko)konstitutiv auf Technologien verwiesen: “Under conditions of digitality, the production of knowledge is subject to a new and, in a strict sense, epistemo- or phenomena-technical process logic whose technicity captures and unhinges subjects and objects alike. This does not only foreground – more emphatically than ever before – the technological condition of knowledge
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and its production, for the question of reason now seems to more than mere human reason, and the broader implications of this have yet to be conceptualized” (Hörl et al. 2021, S. 8 f.).
Erkennende Subjekte, soziale Praktiken und Technologien sind konstitutiv verwoben in die Wissensgenerierung. Strohm Kitchener (1983) unterscheidet drei Ebenen der Kognition: Kognition, Metakognition, und Epistemische Kognition. Letztere befasst sich mit der Legitimität und Gültigkeit bestimmter Wissensformen. So gibt es etwa erhebliche epistemische Unterschiede im Problemlösen, der Kognition und Metakognition verschiedener Forschungszugänge und Disziplinen. Werden nun in der (Hochschul-)Bildung wissensbasierte Systeme eingeführt, so müssen in jeder Disziplin Ontologien (im Sinne repräsentationaler Modelle) erzeugt werden. Für Disziplinen anderer epistemischer Kognitionen sind dies transaktionale Prozesse, wenn sie informationstheoretisch strukturierte Ontologien erzeugen müssen. Es würde bedeuten, vielfältige Disziplinen in die epistemische Kognition der Informatik zu überführen. Die Vermittlung zumindest der Grundlagen einer Disziplin mittels repräsentationaler Modelle klingt zunächst plausibel. Aber das Basiswissen einer Disziplin basiert auf grundlegenden Annahmen, Axiomen, Setzungen und Fundierungen, die gemeinsam zu hinterfragen und zu diskutieren im Lernprozess wichtig und hilfreich ist. Einerseits um eine Disziplin zu verstehen, andererseits weil diese Diskurse zu disziplinären Selbstverständnissen, Versicherungen und Entwicklungen beitragen. Gerade dort darf Bildung nicht auf die Vermittlung kanonischer Wissensbestände reduziert werden, sondern muss das Gewöhnliche, das Einfache, das Selbstverständliche und scheinbar Gegebene diskutieren, argumentieren und befragen. Bildung bedeutet auch die Teilhabe und Einsicht in die Entstehungsprozesse von Wissen.
8 Fazit Der imaginative Schritt im Vollzug eines pädagogischen Prozesses erfordert nicht nur die Erfüllung von Erwartung und das Lösen von Problemen, sondern erlaubt auch Formen der Kritik, etwa das Formulieren von Problemen oder eines anderen Miteinander-Tuns. Bildung bedeutet nicht, sich an existierenden Regeln oder
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empirischer Normalität auszurichten, sondern sich im Interesse an Demokratie mit ihnen auseinanderzusetzen: „In den Worten Robert Brandoms: ›Nicht die Regel oder Norm selbst veranlasst unser Handeln, sondern die Tatsache, dass wir sie anerkennen.‹ Sie anzuerkennen besagt aber gerade, dass wir sie auch verletzen, transformieren, verschieben, kurz: uns von ihr distanzieren können und müssen“ (Hetzel 2002, S. 11).
Hetzel sieht dies als das schöpferische Potenzial der alltäglichen Praxis (ebd.). Bildung müsste in diesem Sinne anstreben, bestehende Technologien im Sinne einer sicheren Input–Output-Relation stetig zu überschreiten und sich nicht in affirmativer Weise an sie anzupassen. Bildung und Technologie dürfen nicht in eins fallen, sondern müssen in Differenz stehen. Künstliche Intelligenz (KI) wird heute zunehmend als Lösung für strukturelle Probleme vorgestellt. In der Bildung sind dies in der Regel Probleme, deren Lösung als äußerst wünschenswert gilt und die mit Zielen verknüpft werden wie etwa Chancengleichheit, die Förderung von individuellen Stärken, die Realisierbarkeit angemessener Prüfungsformate trotz großer Studierendenzahlen sowie Bildung für alle. Da gerade die Entwickler*innen der Technologien in Vorhabenbeschreibungen, Projektanträgen und Zukunftsvisionen dies versprechen, erscheint es im Sinne eines „technological solutionism“ (Selwyn 2019b, S. 18) plausibel, dass solche Ziele mit Technologien erreichbar sind. Die formulierten Ziele sind bildungspolitisch erwünscht. Es sind jedoch nicht allein die Technologien selbst, sondern auch kulturelle, soziale und bildungspolitische Entwicklungen, die den Raum für sie eröffnen. Die Machbarkeit von Bildung erscheint möglich und wird bildungspolitisch erhofft (vgl. Biesta 2013). Heute werden weniger die kollaborativen Systeme der 2000er-Jahre realisiert als die Individualisierung des Lernens bildungspolitisch gefördert. Die Idee, digitale Technologien könnten ergebnisoffene, partizipative und letztlich am Leitbild einer deliberativen Demokratie orientierte Prozesse des Lernens und der Bildung befördern, ist weitgehend ins Hintertreffen geraten. So hält David Wiley bereits (2003) zum Thema der technischen Standardisierung von datengetriebenen Lernumgebungen fest, dass nicht alle Lernmodelle als gleichwertig behandelt werden würden, sondern dass auf individualisierte Instruktion ausgerichtete Modelle bevorzugt würden. Eine entsprechende ›eins-zu-eins Instruktion‹ könne man sich allerdings in Form menschlicher Interaktion in „large-scale“ oder „massive-scale“ Szenarien ökonomisch nicht leisten, weshalb die Automatisierung mittels intelligenter instruktionaler Systeme die einzig realisierbare Lösung sei. Die
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Automatisierung von Bildung und Unterricht ist nicht pädagogisch neutral. Es wird ein bestimmtes Modell von Unterricht bevorzugt, welches eine Maschine dann tatsächlich besser realisieren kann als ein menschlicher Instruktor. Die Unbestimmtheit zukunftsoffener Bildungsprozesse wird durch die Automatisierung systematisch reduziert, indem Zukunft unmittelbar und unverzüglich hergestellt wird. Der imaginative, projektive Schritt, der Entwurf einer (besseren) Zukunft als Moment pädagogischen Handelns, wird so unmittelbar und sicher realisiert. Die Modelle setzen dabei nicht bestimmte Werte fest, vielmehr wird die Festsetzung von Werten gänzlich für irrelevant erklärt. Die Beschreibung und die Steuerung der Lernprozesse werden vom Vollzug der Lernprozesse getrennt. Die Aushandlung von Werten ist nicht mehr Teil eines Lernprozesses, denn die Modelle sind rein evidenz- oder theoriebasiert beschrieben. Bildung und Bildungsziele erscheinen nicht mehr als konflikthaft, sie sind scheinbar nicht mehr der Auseinandersetzung würdig. Ebenso wird die Analyse als in sich geschlossen angesehen. Das widerspricht einer praxeologischen Sicht auf pädagogische Prozesse derzufolge Regeln in der Praxis immer neu hervorgebracht werden müssen und Analyse und Gestaltung emergent verwickelt bleiben. Auch wenn die Regulierung und Sicherstellung eines Lernprozesses durch prozessierbare Erkenntnisse (actionable insights), die Reaktion eines Systems, die schneller ist als eine menschliche Entscheidung, für die Lernform des ReizReaktions-Lernens, etwa beim Erlernen des Zehnfingersystems des rationellen Maschinenschreibens, als brauchbar erachtet werden kann, würden doch durch die Verallgemeinerung oder Erweiterung dieser Form durch ein KI-System andere Lernformen auf diese reduziert. Automatisierung zielt auf die Einhaltung des aktuell Denkbaren und der bereits vollzogenen Praxis. Die Leistung der Automatisierung richtet sich auf die Anpassung des tatsächlichen Lern- und Kollaborationsprozesses an das Modell, denn die Maschine kann lediglich die Anpassung an das Modell optimieren. Regeln werden nicht jeder situativen Bedingung gerecht. Der Aufwand für die Durchsetzung von Regeln bzw. für die Anpassung an ein Modell steigt ins Unermessliche, wollte man sie komplett durchsetzen. Das führt vom eigentlichen Lern- und Bildungsprozess weg. Optimierung kann nur die Anpassung an das Modell und die Regeleinhaltung erreichen, nicht die Beförderung des Lern- oder Kollaborationsprozesses an sich. Gestaltbarkeit und Reflexion würden so aus dem Vollzug im Unterricht herausgenommen und in die Entwicklung der Systeme verlegt. Wer gestalten kann, ist an der Herstellung von Zukunft beteiligt.
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Selbstinszenierungen im virtuellen Raum: Das Ringen um Anerkennung Christina Schachtner
Zusammenfassung
Christina Schachtner thematisiert in ihrem Beitrag die Selbstinszenierung im Digitalen. Dabei werden theoretische Überlegungen durch Ergebnisse aus eigenen empirischen Arbeiten zu Subjektkonstruktion und Transnationalität veranschaulicht. Selbstinszenierung wird als Selbstkonstitution verstanden und unter Berücksichtigung der intersubjektiven Theorie mit Anerkennung in Relation gesetzt. Das wachsende Interesse an Selbstfindungsfragen wird durch gesellschaftlich-kulturelle Transformationsprozesse begründet; virtuelle Räume werden dabei zu „neuen Bühnen“ der Inszenierung. Nach der Erörterung der Risiken digitaler Selbstinszenierung wird die Frage aufgeworfen, wie die Pädagogik auf den Diskurs der Selbstinszenierung reagieren kann. Der Bildungsbegriff wird hierbei eng an Erziehung, Anerkennung und Unterstützung gekoppelt. Schlüsselwörter
Digitale Selbstinszenierung · Selbstkonstitution · Bildung · Anerkennung
C. Schachtner (*) Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_8
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1 Einleitung Einleitend möchte ich das von einer 24-jährigen Bloggerin gezeichnete Bild präsentieren, das die Selbstinszenierung in virtuellen Räumen in den Mittelpunkt rückt (Abb. 1). Die 24-Jährige hat das Bild als Antwort auf die Frage „Wer bin ich online?“ gezeichnet. Die Bloggerin will in ihrem Blog sichtbar werden, körperlich sichtbar. Der Selbstpräsentation im Netz geht ein intensives Fotoshooting voraus, das erst beendet wird, erzählt sie, wenn das Bild für sie stimmt. Ihr Vorbild ist Asuka, eine japanische Comic-Figur aus der Mangaszene. Das Bild zeigt eine mit sog. weiblichen Attributen ausgestattete junge Frau: lange Haare, große Augen, volle Lippen, kurvenreich, hochhackige Schuhe. Die Bloggerin bevorzugt ein Outfit, das „sehr rosa und sehr glitzernd“ ist, ergänzt sie das Nicht-Sichtbare verbal. Mit dieser Inszenierung orientiert sie sich an gängigen weiblichen Schönheits-
Abb. 1 Wer bin ich?. (Bloggerin, 24 Jahre, eigene Quelle)
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standards. Sie versucht, ihnen zu entsprechen, wodurch sie das Gefühl „ich bin ja nichts (…)“ vertreiben will, das sich tief in ihr eingenistet hat, seit sie, die Migrantin, in der Schule fortwährender Entwertung ausgesetzt war. Auf diesem Bild mischen sich Gesten der Unterwerfung mit widerständigen eigenwilligen Gesten, die durch bestimmte Gegenstände repräsentiert sind, auf die ich später eingehe. Für Fragen des Selbst und der Selbstkonstitution gibt es derzeit in der Wissenschaft, in den Medien und in der Kunst eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Woraus resultiert dieses Interesse? Wie hängen Selbstkonstitution und Selbstinszenierung miteinander zusammen? Warum wird über dieses Thema unter Bezug auf digitale Mediennutzung so intensiv diskutiert? Welche Tücken stecken in digitalen Formen der Selbstinszenierung? Wie könnte sich die Pädagogik positionieren? Mein Beitrag wird sich mit diesen Fragen beschäftigen. Ich werde sie einerseits auf einer theoretischen Ebene diskutieren und andererseits empirische Ergebnisse einblenden. Diese stammen aus zwei eigenen Forschungsprojekten, aus dem abgeschlossenen Projekt „Subjektkonstruktionen und digitale Kultur“1 und aus einem laufenden Projekt, das sich mit transnationalen Lebensformen und medialen Praktiken befasst. In das erste Projekt waren 32 Jugendliche und junge Erwachsene aus sechs europäischen Ländern, aus der arabischen Region und den USA einbezogen; in das zweite 36 Migrant*innen, die aus neun europäischen, fünf arabischen Ländern und aus sechs afrikanischen Ländern in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind und hier eine mittel- bis langfristige Lebensund Arbeitsperspektive haben. In beiden Projekten wurden primär Methoden aus dem Spektrum des verstehend-interpretativen Paradigmas genutzt wie thematisch strukturierte Interviews, Visualisierungen und Netzanalysen.2
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handelt sich um ein Verbundprojekt, bei dem die TU Hamburg-Harburg, die Universitäten Bremen, Münster und die Alpen-Adria-Universität Klagenfurt miteinander kooperierten. An der Alpen-Adria-Universität wurde das Teilprojekt „Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace“ (Projekt I 237–617) bearbeitet, bei dem sich das Forschungsinteresse auf die digitalen Praktiken und die Selbstkonstruktion von Netzuser*innen und Blogger*innen richtete. Dieses Projekt wurde vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert. Forschungsteam: Nicole Duller, Katja Koren Osljak, Christina Schachtner, Heidrun Stückler. Die Ergebnisse wurden u. a. in den Buchpublikationen „Digitale Subjekte“ (2014) und „Das narrative Subjekt“ (2016) veröffentlicht. 2 Erste Ergebnisse wurden in dem Aufsatz „Transnational leben. (Digitale) Medien als Instrumente, Räume, Produkte bewegter Zugehörigkeiten und Selbstkonzepte“ zusammengestellt, der in dem Buch „Migration und Gesellschaft“ (Hrsg. K. Peterlini und J. Donlic 2020) veröffentlicht wird.
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2 Selbstinszenierung als grundlegendes Muster der Selbstkonstitution Die theoretischen Ausführungen im Folgenden beschäftigen sich mit der Frage „Was haben Selbstinszenierung und Selbstkonstitution miteinander zu tun?“. Meine These vorweg: Das Selbst entwickelt sich in und durch Beziehungen. Die Angewiesenheit auf Andere provoziert Selbstinszenierungen, die auf soziale Resonanz zielen. Zur Begründung dieser These rekurriere ich auf Argumente der intersubjektiven Theorie, einem neueren psychoanalytischen Denkansatz, den ich mit Argumenten aus dem phänomenologisch begründeten Ansatz von Käte Meyer-Drawe und dem kulturwissenschaftlichen Ansatz von Andreas Reckwitz ergänze. Das Bedürfnis nach Spiegelung und Widerhall steht nach Martin Altmeyer (i.E.), einem Vertreter der intersubjektiven Theorie, am Beginn jeder seelischen Entwicklung. Es basiert auf der Erfahrung, dass die Trennung von Selbst und Anderen nahezu vom ersten Moment des Lebens an beginnt (Altmeyer und Thomä 2006, S. 7). Die Hauptentwicklungsaufgabe des Kindes bestehe in der Gegensteuerung. Von Geburt an hat das Kind nicht nur den Wunsch, sondern auch die Fähigkeit, so Jessica Benjamin (1990, S. 19), einer weiteren Vertreterin der intersubjektiven Theorie, sich mit der Welt in Beziehung zu setzen. Intersubjektivität sei eine Bedingung für die Entwicklung von Subjektivität. Das Kernstück von Intersubjektivität ist, wie Benjamin (1990, S. 117) betont, die Anerkennung, die uns von Anderen zuteilwird, anders gesagt: das Gesehenund Wahrgenommen-Werden. Anerkennung mache unser Handeln, ja, unsere Existenz erst sinnvoll. Der Blick des Anderen reicht an das heran, schreibt Käte Meyer-Drawe (1990, S. 117), was ich selbst nicht sehen kann, es sei denn durch die Resonanz seines Blicks. Um diese Blicke bemühen wir uns von klein auf in den Lebenswelten, in denen wir uns bewegen; heutzutage auch in den virtuellen Lebenswelten, die eine besondere Anziehungskraft ausüben. Die Gründe für diese Anziehungskraft werden im Abschn. 3.1 diskutiert. Um gesehen zu werden, müssen wir uns sichtbar machen; daraus resultiert die Aufforderung zur Selbstinszenierung, die intuitiv oder intentional erfolgen kann. Anerkennung bedeutet Gesehen-Werden, das seinen Ausdruck nicht unbedingt in Zustimmung findet und finden muss. Die Mutter sollte nicht nur ein Spiegel sein, sondern die unabhängige Andere, die auf ihre eigene Weise auf das kindliche Selbst reagiert (Benjamin 1990, S. 27). Auch im späteren Leben sind wir auf die Unabhängigkeit unseres Gegenübers angewiesen. Wir können uns im Anderen nur erkennen, wenn er uns als lebendiger Anderer begegnet, der auch
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widerspricht, der sich kritisch auf uns bezieht. Wir brauchen das Nicht-Ich, um von ihm zu lernen, aber auch, um uns von den Blicken der Anderen distanzieren zu können, denn diese Blicke können verkennende Blicke sein, worauf Norbert Ricken (2013, S. 249) hingewiesen hat. Wir sind Souverän und Untertan zugleich; wir haben nicht die Wahl, argumentiert Meyer-Drawe (1990, S. 151), uns zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu entscheiden. Beides bestimme unser Sein. Andreas Reckwitz (2008, S. 12) bezweifelt die dem Subjekt zugeschriebene Unabhängigkeit als den anderen Pol von Abhängigkeit. Ihm zufolge ist das Subjekt nur vorgeblich autonom, denn auch Autonomie zähle zum gesellschaftlichen Kriterienkatalog, dem sich das Subjekt unterwerfen müsse. Sehr wahrscheinlich können wir den gesellschaftlichen Werte- und Normsystemen, die uns als Bedingung, als Aufforderung, als Grenze umgeben, nicht entkommen. Um zu einem anerkannten Subjekt zu werden, sei der Einzelne gefordert, sich die in einem spezifischen historisch-kulturellen Kontext geltenden Codes und Körperroutinen einzuverleiben (Reckwitz 2008, S. 14). Aber bedeutet das schon, dass wir immer Unterworfene sind, die sich den Blicken der Anderen fügen, die ihre Selbstinszenierungen ausschließlich auf diese Blicke ausrichten? Judith Butler (2003, S. 10) bringt unter Bezug auf Michel Foucault ein Argument ins Spiel, das ich für bedenkenswert halte und das lautet: Gesellschaftliche Normen können nicht wirksam ein Selbst hervorbringen, ohne einen reflexiven Bezug auf diese Normen. Die reflexive Aneignung, die sich in der Frage „Was soll ich tun?“ widerspiegle, eröffne Spielräume. Das Erfordernis zur Reflexion ergibt sich auch daraus, so ergänze ich, dass die gesellschaftlichen Codes weder eindeutig und einheitlich sind noch für immer und ewig gelten. Wir beobachten derzeit eine Erosion tradierter gesellschaftlicher Codes. Das löst einerseits Verunsicherung aus und erschwert die Selbstinszenierung, weil unklar ist, was Anerkennung findet und zugleich enthält diese Instabilität die Möglichkeit für Selbstexperimente. Es könnten sich im Zuge dieser Experimente Persönlichkeiten herausbilden, deren Selbst sich aus neuartigen Kombinationen zusammensetzt. Als empirische Illustration solcher Kombinationen verweise ich auf die Visualisierung (Abb. 1) der 24-jährigen Bloggerin in der Einleitung. Neben den weiblichen Schönheitsstandards, die ihr Bild verkörpert und die als Zeichen der Unterwerfung gesehen werden können, gibt es noch etwas Anderes zu sehen: Pinsel, Stifte, eine Kamera in ihrer linken Hand. Die Gegenstände symbolisieren ihren Wunsch, Webdesignerin zu werden; sie stehen für selbstgesetzte Ziele, für den Anspruch auf ein eigenständiges Leben. Stehen sie auch für Freiheitsmomente? Dagegen spricht, dass beruflicher Erfolg auch von Frauen erwartet wird. Das Besondere an diesem Bild ist, dass es keine Festlegung auf das
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eine oder andere zeigt. Die Bloggerin will beides: Gefallen-Wollen und Eigenwilligkeit gehen eine Kombination ein, die das eigentlich Widerständige ausmacht. Meine theoretischen Überlegungen zusammenfassend, soll festgehalten werden: Selbstinszenierung ist ein Geschehen, in dem das Selbst Gegenstand der Inszenierung ist. Sie ist immer auf ein soziales Gegenüber in der Erwartung auf Resonanz gerichtet. Sie ist Teil eines unverzichtbaren Prozesses, in dem wir Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erwerben und uns zugleich als spezifische Subjekte konstituieren. Durch dieses Doppelspiel, das der Selbstinszenierung eigen ist, werden wir in den Widerspruch zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit verwickelt, dem wir nicht entrinnen können. Es ist ein notwendiger Widerspruch, was nicht heißt, dass er ohne Risiken ist. Wie eingangs erwähnt, existiert gegenwärtig ein erhöhtes Interesse für Fragen der Selbstpräsentation, Selbstkonstruktion, Selbstfindung. Mögliche Ursachen hierfür sehe ich zum einen in dem gesellschaftlich-kulturellen Wandel, der sich weltweit abzeichnet und mit neuen Herausforderungen an Subjektivierungsprozesse einhergeht und zum andern in den neuen Räumen und Instrumenten, die uns die technisch-mediale Entwicklung beschert und die den Menschen erweiterte Optionen für ihre Selbstwerdung eröffnen.
3 Gesellschaftlich-kultureller Wandel und strukturelle Erosionen Der Wunsch gesehen zu werden, ist existentiell für unsere Selbstwerdung, jedoch unter dem Eindruck von Globalisierung und der damit verbundenen Erosion tradierter Strukturen in Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Jedenfalls beherrscht die Sorge, in der hochkomplexen, unübersichtlich gewordenen Welt übersehen zu werden, eine nicht unbedeutende Zahl von Menschen. Es ist das Verschwinden der Gewissheiten, der Stabilitäten, der unbestrittenen Ideale, die wir für unsere Selbstwerdung zu brauchen glauben, das das Interesse an den Möglichkeiten der Selbstwerdung schürt. Wenn ich zunächst, bevor die digitalen Praktiken der Selbstinszenierung vorgestellt werden, auf die gesellschaftlich-kulturellen Veränderungen eingehe, so folge ich der Empfehlung von Michel Foucault, ein geschichtliches Bewusstsein vom menschlichen Sein zu entwickeln. Die entscheidende Frage lautet für Foucault (1987, S. 250): „Wer sind wir in diesem präzisen Moment der Geschichte?“. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp (2015, S. 7) konstatiert ein zunehmendes Auseinanderklaffen von gesellschaftlichen Strukturen und den Bedürfnissen
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des Individuums. Es sei, so der Soziologe Zygmunt Baumann (2003, S. 14), zu einer Totalverflüssigung des Alltags gekommen. Diese Verflüssigung äußert sich in der abnehmenden Gültigkeit tradierter Orientierungsmuster, an denen sich Lebenspläne und damit verbundene Selbstkonstruktionen orientieren konnten, vor allem aber im Verlust sozialer Netze im Zuge gewünschter oder erzwungener Mobilitäten. Individualisierung, ein Strukturmerkmal gegenwärtiger Gesellschaften, bedeutet eben nicht nur Befreiung aus tradierten Fesseln, sondern auch, dass wir ganz auf uns selbst gestellt sind, dass uns die Anderen abhandenkommen und damit die sozialen Resonanzen, die unverzichtbar sind. In einem gesteigerten Maß erfahren den Verlust sozialer Beziehungen Menschen, die ihr Land oder ihren Kontinent verlassen. Wir sind in beiden Forschungsprojekten, die ich anfangs erwähnt habe, auf die damit verbundene Verunsicherung und Angst gestoßen. Ein türkischer Austauschstudent, der nach Wien gekommen war, setzte alle Hebel in Bewegung, um dort neue Freunde zu finden. Er trug diesen Wunsch in verschiedene soziale Netzwerke hinein, postete in türkischer, englischer und deutscher Sprache und stellte der Interviewerin die ihn bedrängende Frage: „Was mache ich, wenn ich keine Freunde finde, was mache ich?“ Ein 21-jähriger syrischer Flüchtling aus dem laufenden Forschungsprojekt formulierte seine Verlusterfahrung gleich zu Beginn des Interviews: „Ich bin gewohnt, mit meiner Familie zusammenzuleben und jetzt, ich bin einfach alleine“. Er nutzt die Bildtelefonie, um seiner Familie näher zu sein. „Du hörst die Stimme, du siehst das Bild, du siehst einfach das Gesicht, es ist besser als nichts“, räsoniert er. Es ist besser als nichts, aber längst nicht alles, was er sich wünscht. Seine Versuche, im Aufnahmeland Deutschland neue Freunde zu finden, waren bislang nicht erfolgreich. Nicht selten treffen solche Versuche auf Skepsis oder Ablehnung. Migrant*innen müssen aber auch erst herausfinden, wie in der neuen Umgebung Kontakte geknüpft werden, in welchen Situationen, mit welchen Worten. Luka, der zu Beginn des Krieges im ehemaligen Jugoslawien 1991/1992 aus Serbien geflüchtet war, hat für sich einen Weg, genauer ein Modell gefunden, an dem er sich bei der Aufnahme von Kontakten orientiere: die Katze (Abb. 2). Er verhalte sich wie eine Katze, die ihre Umgebung genau beobachte und auf der Basis ihrer gesammelten Beobachtungen offen und kommunikativ auf Menschen zugehe. Migration ist kein Randphänomen. Die deutsche Gesellschaft ist eine Einwanderungsgesellschaft. Immer mehr Menschen leben hier, deren soziale Bindungen brüchig geworden sind. Und das unterscheidet sie nicht prinzipiell von denen, die schon lange hier leben. Vertreibung aus gewachsenen Lebensverhältnissen, aus Wohnmilieus und Heimat ist, wie erwähnt und wie Oskar Negt (1998, S. 34) schrieb, ein konstitutives Element der Gegenwartsgesellschaft. Der Entzug subjektivitätsstiftender Strukturen ist ein Anschlag
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Abb. 2 Die Katze als Beobachterin des Sozialen. (Migrant, 44 Jahre, eigene Quelle)
auf das Selbstwertgefühl, ist ein Anschlag auf die Möglichkeiten der Selbstkonstitution. Aber nichtsdestotrotz ist der Einzelne mit der gesellschaftlichen Erwartung konfrontiert, sich als ein perfektes starkes Ich zu präsentieren. Man soll sich behaupten in der Arena der Erfolgreichen und Sorglosen, soll sich einen guten Platz in der Hierarchie der Leistungsstarken und Schönen sichern. Je komplexer die Welt, je anonymer und isolierter der Einzelne, desto mehr Techniken der Sichtbarmachung sind nötig, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, die die eigene Existenz als eine erfolgreiche beglaubigen. Es überrascht nicht, wenn die ländervergleichende Studie „Selfiecity“, bei der über 120 000 gepostete Fotos3 auf Instagram ausgewertet wurden, zu dem Ergebnis kommt, dass sich die Schöpfer*innen dieser Selfies überwiegend glücklich und lustig in Szene setzen (Kürzinger 2016, S. 104). Verletzliche Seiten des Selbst werden ausgeblendet; gepostet werden „Bilder, die das eigene Leben als schön, spannend und erfüllt darstellen“ (a.a.O., S. 110). Eine 22-jährige Bloggerin stellt in diesem Bild einen Vergleich zwischen dem Ich an, das sie in der Öffentlichkeit präsentiert, und dem Ich, das hinter ihrem „Öffentlichkeits-Ich“ steht (Abb. 3). Sie bezeichnet das eine Ich als pompös und das andere als schlicht, aber menschlicher. Geert Lovink (2012) beobachtet eine „Religion des Positiven“, die sich in den sozialen Netzwerken breitmacht. In dieser Religion hat keinen Platz, was nicht gefällt. Fotos, die ihr nicht
3 Die
Fotos kamen aus New York City, Bangkok, Sao Paulo, Moskau und Berlin.
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Abb. 3 Das „pompöse“ und das „schlichte“ Ich. (Blogger, 22 Jahre, eigene Quelle)
gefallen, werden aussortiert, wenn sie ihre Online-Präsentation plant, erzählt die Bloggerin. Im Hinblick auf Selfies hat Ramón Reichert (2017, S. 115 f.) festgestellt, dass diese sich als sozial geteilte Bilder bestimmten Schönheitsidealen unterordnen und insofern als gesellschaftliche Mechanismen der sozialen Kontrolle fungieren. Das Aussortieren von Schwächen, vermeintlichen Fehlern, Beschränkungen, kurz von Negativität, ist ein allgemeines Phänomen zeitgenössischer Selbstinszenierungen, so Norbert Ricken (2013, S. 251 ff.). Nur – so ebenfalls Ricken (2013, S. 253) – die vollständige Positivierung ist unmöglich und deshalb kommt es zur Wiederkehr von Negativität in Form von Erschöpfung und Depression, die als zeitgenössische Pathologien beschrieben werden. „Wer wir sind in diesem präzisen Moment der Geschichte“ – ich erinnere an die von Foucault (1987, S. 250) gestellte Frage – hat wesentlich damit zu tun, in welcher gesellschaftlichen Situation wir uns derzeit befinden. Es ist eine paradoxe Situation. Droht einerseits der Entzug von Strukturen, die zwar auch unsere soziale Abhängigkeit konkretisieren, aber zugleich unsere Selbstwerdung befördern, sind wir andererseits aufgerufen, ein optimiertes perfektes Selbst auszubilden. Wer wir sind, ist ein Resultat dessen, wie wir mit diesem Widerspruch umgehen. Zu beobachten sind derzeit sowohl Versuche, bedrohte soziale Strukturen neu zu beleben durch die Gründung neuer Communities, durch neue Zugehörigkeiten verschiedenster Couleur als auch Tendenzen der sozialen Marginalisierung.
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4 Neue Bühnen: Virtuelle Räume Die digitalen Medien und die virtuellen Räume, die sie konstituieren, existieren nicht jenseits des gesellschaftlich-kulturellen Wandels; sie sind vielmehr Produkte dieses Wandels, die auch als Hinweise gelesen werden können, was Menschen bewegt, grundsätzlich und heutzutage im Besonderen. Sie materialisieren das Bedürfnis nach Gesehen-Werden und Verbundenheit und liefern gleichzeitig das Versprechen, das sich dieses Bedürfnis erfüllt. Das hat sie, wie Sherry Turkle (2008, S. 7) es ausdrückt, zu neuen Identitätsworkshops gemacht. Vor dem Hintergrund der geschilderten Gefährdung der Strukturen einerseits, die die Subjektbildung sichern, und der existentiellen Bedeutung von Subjektbildung andererseits, ist es nicht verwunderlich, dass die neuen digitalen Räume, die dem Subjekt so viel versprechen, großes Interesse auf sich ziehen und Fragen gestellt werden wie: Was passiert da? Was machen die Menschen mit diesen Medien und die Medien mit den Menschen? Geben die digitalen Medien Anlass zu Hoffnungen oder stellen sie eine Bedrohung dar? Der öffentliche Diskurs verläuft kontrovers und das hat mit den Möglichkeiten digitaler Medien zu tun, die vielfältige und widersprüchliche subjektivitätsrelevante Nutzungspraktiken evozieren.
4.1 Sich-Zeigen in der Hoffnung auf Resonanz Als Kommunikationsmedien evozieren digitale Medien kommunikative Praktiken, die dazu dienen, soziale Verbindungen herzustellen und sich in diesen Verbindungen zu präsentieren. Für Mr. Strictlyintimate, einem 23-jährigen Blogger aus Wien, ähnelt seine digitale Selbstpräsentation einem Auftritt in einem Filmstudio. Er sagt „das ist irgendwie, als würden Kameras auf einen gerichtet sein und man dreht eine Episode einer eigenen, persönlichen Serie“. Gesichtsbilder werden in der digitalen Kommunikation immer wichtiger (Reichert 2017, S. 113). Vielleicht folgt das dem Trend in der visuellen Kultur, in der alles zum Bild wird, was beeindrucken soll, rasch und für jeden verständlich. „Ja, ich zeige mich gerne her“, erklärt ein 29-jähriger Netzakteur aus unserer Studie. Wenn es Facebook, seine Bühne, nicht mehr gäbe, wäre das für ihn eine „mittelschwere Katastrophe“. Man zeigt sich her in der Hoffnung, dass andere darauf reagieren. Wie er sich herzeigt und wie er sich ins Verhältnis zu seinem Publikum setzt, visualisiert er auf diesem Bild (Abb. 4).
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Abb. 4 „Ich zeige mich gerne her“. (Netzakteur, 29 Jahre, eigene Quelle)
Der 29-Jährige hat sich auf einem Berg von Statussymbolen, bestehend aus Laptop, Auto und Basketball positioniert. Triumphierend steht er da, er selbst bezeichnet sich als „Übertyp“. Jegliche Negativität ist aus diesem Bild verbannt. Er inszeniert sich für ein Publikum, auch wenn er dieses Publikum gar nicht anblickt; er blickt in einen Spiegel, sucht sein Spiegelbild wie einst Narziss sein Bild in einem See suchte. Sein Publikum platziert er hinter sich zu seinen Füßen, sodass es zu ihm aufblicken muss. Er will bewundernde Blicke auf sich ziehen, die er als „Balsam für die Seele“ empfinde. Diese oder ähnliche Formulierungen hörten wir oft; auch Blogger*innen aus anderen Untersuchungen bedienten sich solcher Worte (Cwielong 2014, S. 202; Unger 2014, S. 53). Unsere Interviewpartner*innen aus der schon abgeschlossenen Untersuchung nannten uns immer wieder die Zahl ihrer Follower*innen, obwohl wir nicht danach gefragt hatten. Diese Zahl war ihnen wichtig, weil sie dokumentiert: Ich werde gesehen, ich werde wahrgenommen, ich bin. Sie rangen um das Gesehen-Werden, hofften auf Zustimmung, aber auch Kritik sei erwünscht, meinten sie. Der Andere darf sich im Sinne von Benjamin (1990) auch als Nicht-Ich zeigen. An dieses Nicht-Ich werden aber Ansprüche gestellt; die Kritik soll „nett formuliert“ und „konstruktiv“ sein. Die Blicke der Anderen sollen darin unterstützen, sich
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mit Selbstbewusstsein, Mut und neuen Ich-Ideen aufzuladen. Wer nur negativ kommentiert, ist nicht erwünscht. Eine 22-jährige Bloggerin warnt lästige Kritiker*innen: „Wenn das weiterhin so geht, dann werden deine Kommentare einfach ignoriert und gelöscht“. Die digitalen Medien enthüllen einmal mehr, dass Menschen keine Monaden sind, dass sich das Selbst nicht von innen her konstituiert, sondern auf Umweltresonanzen angewiesen ist (Altmeyer 2016, S. 31). Schon der mögliche Zugriff auf das Kommunikationsmedium kann von existentieller Bedeutung sein, wie Francesca Melandri (2018, S. 85) in ihrem Roman „Alle, außer mir“ schildert. Sie schreibt über einen Flüchtling aus Äthiopien, der sich auf dem Weg nach Europa befindet: „(…) das Einzige, was sie ihm nicht hatten nehmen können, denn einem Verbrannten kann und wird man alles rauben, bis auf das eine: seine E-Mail-Adresse. (…) Als er das Gefühl hatte, unter den Sternen des Mittelmeers vor Durst, Übelkeit oder Kälte zu sterben, hatte er sich innerlich die eigene E-Mail-Adresse wiederholt (…). Sie war seine letzte Verbindung zum Rest der Welt (…)“ (ebd.). Für alle Interviewpartner*innen aus der eignen Migrationsstudie ist das Smartphone die ständig genutzte elektronische Brücke, die sie mit den Menschen in ihrem Herkunftsland verbindet. „Es bringt die Freunde und das Gefühl von Zuhause ein bisschen in die Nähe“, erklärte Rogers aus Uganda und fährt fort; „es zeigt, sie denken an mich, es ist gut, ein gutes Gefühl“. Die digitalen Kommunikationsmedien haben sich zu einer riesigen, weltweiten Resonanzbühne entwickelt (Altmeyer i.E.), die sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Bühnen der Selbstdarstellung unterscheidet. Wir sind alle bildwürdig geworden, lautet eine der Botschaften, mit der das Netz lockt. War es früher Herrschern und Heiligen vorbehalten, dass ihr Bild für die Nachwelt gesichert wurde, so kann in den digitalen Netzwerken jeder sein Bild der Öffentlichkeit dauerhaft präsentieren und Resonanz einfordern. Mit jedem verschickten Selfie ruft der Sender dem Empfänger auf: „Schaut her! Hier bin ich! So bin ich! Was haltet ihr davon? Wie findet ihr mich? Antwortet mir!“ (Altmeyer i.E.). Im Fluss des digitalen Lebens „enthüllt die zeitgenössische Psyche (…), dass Menschen keine Monaden, sondern aufeinander bezogen sind; dass Individuen nicht autonom, sondern voneinander abhängig sind; dass persönliche Identität nicht von innen entsteht, sondern auf Umweltresonanzen angewiesen ist“ (Altmeyer 2016, S. 31). Eine zweite Besonderheit digitaler Bühnen besteht darin, dass meine Sichtbarkeit nicht auf den Nahbereich beschränkt ist. Das Internet verkörpert als globales Medium den Entwurf eines weltumspannenden Raums (Ries 2007, S. 11). Die weltweite Sichtbarkeit und die damit verbundene Chance, zu einer globalen Netzberühmtheit zu werden, verdrängt etwaige Gefühle des Unbedeutendseins zugunsten der Hoffnung, in die Arena der Schönen und Erfolgreichen aufgenommen zu werden.
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Die Möglichkeit zur interaktiven Nutzung des Mediums erlaubt, die eigene Selbstinszenierung ständig zu verändern, zu perfektionieren und zu aktualisieren. Diese Einladung trifft auf Zustimmung, wie Turkle in ihren Studien über Netzuser festgestellt hat. Sie resümiert: „They’re constantly performing their perfectly polished selves“ (Nolau 2012, S. 10). Eine ihrer Interviewpartnerinnen formulierte: „I don’t want to talk on the phone because I want to be able to perform the perfectly polished self. That’s why I like Facebook. I can be the self I want to be“ (ebd.). Das digitale Medium ruft zur permanenten Ich-Gestaltung auf, auch durch das multimediale Repertoire, das es dafür zur Verfügung stellt. Damit kommt es nicht nur den Wünschen der Netzuser entgegen, sondern bedient auch gesellschaftliche Erwartungen an das flexible Ich, ohne den Ich-Gestalter*innen das Gefühl zu nehmen, Schöpfer*innen ihres Online-Ichs zu sein. Die interaktiven Gestaltungsmöglichkeiten erlauben darüber hinaus, sofern das dafür nötige technische Know-how zur Verfügung steht, das Spiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu steuern. Ich komme auf das Bild des 29-jährigen Netzakteurs zurück, das dieses Spiel visualisiert (Abb. 5).
Abb. 5 Das Spiel zischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. (Netzakteur, 29 Jahre, eigene Quelle)
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Das Publikum ist hinter eine Fensterscheibe verbannt, was der 29-Jährige wie folgt kommentiert: „Manche dürfen, können durchschauen. Andere stehen ganz hinten, die sehen nichts“. Außerdem hat er sich in seiner Visualisierung die Möglichkeit eingeräumt, das am Fenster angebrachte Rollo herunterzulassen, um sich den Blicken der Anderen entziehen zu können. Will er sich damit beweisen, dass er das Spiel zwischen Zeigen und Verbergen unter Kontrolle hat? Schließlich verspricht die Vernetzungsstruktur des Mediums in Verbindung mit seinem Tempo rasches Feedback. Das Subjekt im Netz will nicht lange auf Reaktionen warten. Die schnelle Resonanz soll uns signalisieren: „We are wanted. Somebody wants us, somebody needs us (…), somebody remembered us“ (Turkle 2012, S. 6). Der 29-jährige Netzakteur aus Wien hat ein zweites Bild gezeichnet, das die Intensität des Wunsches nach Resonanz vor Augen führt (Abb. 6). Auf diesem Bild ist er nicht der überlegene Sieger; dieses Bild zeigt ihn sehnsüchtig auf Feedback wartend. Wenn er es nicht mehr erwarten könne, nutze er Facebook wie eine Angel und hole sich den gewünschten Anderen aus dem elektronischen Teich heraus, erzählt er. Diese Sehnsucht, ja, die Gier nach Resonanz sei zu einer Droge geworden, „von der du nicht loskommen willst“,
Abb. 6 Sehnsüchtig auf Feedback wartend. (Netzakteur, 29 Jahre, eigene Quelle)
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erklärt er der Interviewerin, „weil du Angst hast, über zu bleiben“, d. h. losgelöst von sozialen Verbindungen zu leben. Das dürfte eine sehr tiefsitzende Angst, in die frühe Kindheit zurückreichende Angst sein, wenn man sie aus der Perspektive der intersubjektiven Theorie betrachtet, die durch den gesellschaftlich-kulturellen Wandel noch verstärkt wird. Das ständige Posten und Empfangen kann zu einer Droge werden, oder, wie es der Psychotherapeut Aaron Balick weniger dramatisch ausdrückt, zu einer wohlschmeckenden Süßigkeit, die aber den Hunger nach Verbundenheit nicht stillen kann (Emanuel 2014).
4.2 Zu den Risiken digitaler Selbstinszenierung Nun sind wir bei den Tücken der digitalen Selbstinszenierung angelangt. Das digitale Ich ist notwendig ein fragmentiertes Ich, das zwar als körperliches Ich in Erscheinung treten kann, aber dieses Ich ist nicht anfassbar, der Körper bleibt ein statisches oder bewegtes Bild. Ich verweise auf die von Helmuth Plessner (1961, S. 199 ff.) getroffene Unterscheidung zwischen Körperhaben und Körpersein. Die virtuellen Bühnen erlauben, den Körper wie ein Objekt auszustellen und zu gestalten, einen „Leibtraum“ zu präsentieren, wie Meyer-Drawe (1996, S. 178) es ausdrückt. Das heißt aber noch lange nicht, dass jemand dieser Leib/Körper so ist, denn aus dem zum Objekt gewordenen Leib/Körper ist in der Regel ausgeblendet, was zum Leibsein/Körpersein gehört: die Verletztlichkeit, die Zeitlichkeit, die Negativität der leiblichen/körperlichen Existenz (Ricken 2013, S. 250 ff.). Weitere Tücken stecken in der medialen Distribuierung von Selbstinszenierungen, auf die ihre Schöpfer*innen keinen Zugriff mehr haben. Konkret bedeutet das, dass das eigene Ich der Weiterbearbeitung durch Andere ausgesetzt ist und sich gegen seine Schöpfer*innen wenden kann (Paus-Hasebrink und Ortner 2008, S. 62). Eine Bloggerin visualisiert ihre Befürchtungen diesbezüglich (Abb. 7). Die Bloggerin fühlt viele unbekannte Hände aus der anonymen Welt des Internets, die auf sie zugreifen. Um sich zu schützen, hat sie sich verpuppt; sie ist das „Püppchen mit ihrem Mac“, wie sie sich selbst beschreibt, ein Wesen, das sich in sich zusammenzieht. Schließlich ist zu fragen, ob in den digitalen Selbstinszenierungen angesichts von Untersuchungsergebnissen, die zeigen, dass Jugendliche vorrangig den normativen Erwartungen der medialen Jugendkultur entsprechen wollen, nicht doch die Unterwerfungsgesten dominieren (Cwielong 2014, S. 195). Turkle (Nolau 2012, S. 317) berichtet, dass es ihren Interviewpartner*innen sehr wichtig war, für ihre Online-Profile die „richtige Band“ oder das „richtige
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Abb. 7 Bedrohliche Zugriffe aus der anonymen Welt des Internet. (Blogger, 19 Jahre, eigene Quelle)
Buch“ als Lieblingsband bzw. Lieblingsbuch auszuwählen d. h. Vorlieben zu signalisieren, die allgemein anerkannt sind. Der Medienwissenschaftler Waldemar Vogelgesang (2014, S. 146) sieht im Gebrauch digitaler Medien durch Jugendliche kontrastierend zu den Risiken der Autonomiebeschränkung neue Individualisierungschancen. Seinen Studien zufolge gerät die Selbstinszenierung in digitalen Kommunikations- und Spielräumen zu einer „Auffächerung von Alternativen individueller Selbstentwürfe, (sie) wird zu einer fiktiven Erkundung des Möglichen, des Anders-sein-Könnens“ (ebd.). Wie stellen sich die Netzakteur*innen selbst zu den Risiken digitaler Selbstinszenierung? Die Bloggerin, die sich vor den anonymen Zugriffen aus dem Netz zu schützen sucht, zeigt eine kritische Reflexion dieser Risiken. Gibt es weitere Hinweise einer kritischen Auseinandersetzung? Sind z. B. die Sellotape-Selfies Gegenbilder zur Selfie-Kultur? Sellotape-Selfies sind Inszenierungen, bei denen das Gesicht mit einem transparenten oder intransparenten Tesaband umwickelt wird und damit unsichtbar oder verzerrt dargestellt wird. Das Tesaband stellt das Gesicht als Medium des Selbstausdrucks infrage, es dient, wie Ramón Reichert (2017, S. 124) bemerkt, der De-Mediatisierung des Gesichts. Reichert reiht die
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Strategien des Defacements dennoch nicht in das Spektrum widerständiger Praktiken ein, denn sie dienen aus seiner Sicht ebenfalls dem Imageaufbau (ebd.). Man macht sich unsichtbar oder entstellt sich, um sich sensationell in Szene zu setzen. Ich halte abschließend fest: Viele suchen im Netz, was sie außerhalb vergeblich suchen: Aufmerksamkeit, Anerkennung, Selbstbestätigung. Mit ihren Versprechen und ihrem Angebot berühren die digitalen Medien die Tiefenstrukturen der Seele. Sie antworten dem Erfordernis nach Selbstkonstitution, das im Kontext des gesellschaftlich-kulturellen Wandels vor neuen Herausforderungen steht. Sie bieten allen, die sich des Angebots zu bedienen wissen, digital basierte Strategien der Selbstinszenierung, demokratisieren quasi den Prozess der Selbstwerdung. Aber sie bleiben dem Selbst nicht äußerlich. Sie formen das Selbst mit. Daraus resultieren Risiken insbesondere das Risiko, Anerkennung um den Preis des Verzichts auf Selbstexperimente und auf eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Codes zu sichern.
5 Positionierung der Pädagogik Was könnte die vorangegangene Analyse für die Pädagogik bedeuten? Wie könnte sie sich positionieren? Ich beschränke mich auf einige stichpunktartige Anmerkungen. Norbert Ricken (2013, S. 254) hat eine Idee ins Spiel gebracht, die sehr grundsätzlich ansetzt. Er schlägt vor, „Erziehung aus einem Rahmen, in dem Selbst- und Fremdbestimmung konträr gegenüberstehen, herauszulösen und in einem intersubjektivitätstheoretischen Rahmen zu situieren“. Eine solche Situierung drängt zu einer verstehenden Perspektive, die zuallererst fragt: Warum verhalten sich Menschen im Netz so oder so? Warum tun sie alles, um zu gefallen? Warum bürden sie sich ein Übermaß an Positivität auf? Warum versuchen sie zu verstecken, was ihnen als Schwäche erscheint? Diese Fragen rücken ins Blickfeld, wie sich Menschen in ihrem Verhältnis zu Anderen sehen, was diese Anderen für sie bedeuten, was sie glauben sein zu müssen, um Anerkennung zu finden, was sie dafür in sich selbst unterdrücken, ob und warum sie um ihre Verbundenheit mit Anderen bangen, von welchen Gefühlen dieses Bangen begleitet ist und warum Beziehungsversuche gelingen oder fehlschlagen. Aus den Antworten auf Fragen dieser Art lassen sich Hinweise ableiten, worin Menschen Unterstützung brauchen, nicht nur für ihr Handeln im virtuellen Raum, sondern generell. Die Situierung von Erziehung in einem intersubjektivitätstheoretischen Rahmen favorisiert Fähigkeiten wie Dialogfähigkeit im Modus des Gebens und Nehmens, der zum Aufbau und zur Stabilisierung von Beziehungen
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beiträgt ebenso wie Empathiefähigkeit, um die Perspektive der Anderen einnehmen zu können. Sie fordert Reflexionsfähigkeit, um Situationen einschließlich der eigenen Motive und des eigenen Handelns durchschauen und verändern zu können. Sie verweist auf die Notwendigkeit eines Selbstbewusstseins, das die Angewiesenheit auf Andere anerkennt, ohne sich ihr auszuliefern. Gelernt werden will auch die Fähigkeit, aus Reaktionen der verschiedenen Anderen auszuwählen, Prioritäten zu setzen und sich distanzieren zu können. Von den aufgelisteten Fähigkeiten profitieren Menschen der Gegenwartsgesellschaft generell, nicht nur Netzakteur*innen und Blogger*innen. Schließlich kommt es darauf an, in der kritischen Auseinandersetzung mit der Digitalisierung moderner Lebenswelten, den virtuellen Raum als omnipotentes Resonanzsystem zu dekonstruieren und zu lernen, daneben andere Resonanzsysteme wahrzunehmen und aufzubauen, die ebenfalls zu Quellen der Anerkennung werden können.
Literatur Altmeyer, M. (i.E.). Zeige, wer du bist! Auf der Suche nach Resonanz: eine Zeitdiagnose der digitalen Moderne. Altmeyer, M. 2016. Auf der Suche nach Resonanz. Wie sich das Seelenleben in der digitalen Moderne verändert. Göttingen: V&R. Altmeyer, M. und H. Thomä. 2006. Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität, In Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, Hrsg. M. Altmeyer und H. Thomä, 7–34. Stuttgart: Klett Cotta. Baumann, Z. 2003. Flüchtige Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Benjamin, J. 1990. Die Fesseln der Liebe. Frankfurt/Main: Stroemfeld/Roter Stern. Butler, J. 2003. Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Carstensen, T., Ch. Schachtner, H. Schelhowe und R. Beer (Hg.) 2014. Digitale Subjekte. Praktiken der Subjektivierung im Medienumbruch der Gegenwart. Bielefeld: transcript. Cwielong, I. A. 2014. Digitale Jugendkulturen – ein Raum der Anerkennung. Wahrnehmung und Anerkennung am Beispiel der Manga- und Animészene. In Digitale Jugendkulturen, Hrsg. K.-U. Hugger, 195–207.Wiesbaden: Springer. Emanuel, C. 2014. Interview with Aaron Balick about his new book. http://iarpp.net/article/ interview-with-aaron-balick-abouthis-new-book/. Zugegriffen: 29. Oktober 2019. Foucault, M. 1987. Von der Subversion des Wissens. Frankfurt/Main: Fischer. Keupp, H. 2015. Reflexive Sozialpsychologie. München: unveröffentlichtes Papier. Kürzinger, K. 2016. „bei glücklichen Selfies hast deine ruhe“. Selfies als Gradmesser des Glücks der aktuellen Jugendgeneration? Eine empirische Analyse. In Selfie – I like it. Anthropologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung, Hrsg. T. Gojny, K. S. Kürzinger und S. Schwarz, 103–114. Stuttgart: Kohlhammer. Lovink, G. 2012. Das halbwegs Soziale. Eine Kritik der Vernetzungskultur. Bielefeld: transcript.
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An digitalen Medienkulturen partizipieren. Eine kritische Betrachtung des Konzepts der participatory culture Valentin Dander, Olga Neuberger und Sandra Aßmann It is always disorienting when something you thought you loved becomes loved by those whom you do not love so much. We have loved participation for a very long time, and have fought fiercely to gain and secure it. Now we (or, at least, some of us) have managed to attain it. And just as we have begun to exercise it intensively and ubiquitously, it turns out that others love it too: bureaucracies, police forces, security and intelligence agencies, and global commercial enterprises, among others. (Barney et al. 2016, S. xxxi f.)
Zusammenfassung
Der Beitrag nimmt, ausgehend von dem vor etwa 30 Jahren entwickelten Konzept der „participatory culture“, handlungstheoretisch gefasste Konzeptionen digitaler Medienkulturen kritisch in den Blick. Unter Rückgriff auf postsouveräne, relationale Denkrichtungen wie Subjektivations- und Praxistheorien, Dispositiv- bzw. Apparatustheorien, Positionen Neuer Materialismen sowie der Kritischen Politischen Ökonomie werden alternative Lesarten einer participatory culture entwickelt. Es wird danach gefragt, welche Bedeutungsverschiebungen V. Dander (*) Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Neuberger · S. Aßmann Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Aßmann E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_9
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und Konsequenzen sich aus diesen theoretisch-konzeptionellen Relationierungen für den Partizipations- und Handlungsbegriff sowie für bildungsbezogene Anschlüsse ergeben. Der Beitrag mündet in einer Systematisierung potenzieller Analysedimensionen und skizziert ein Verständnis postsouveräner Handlungsfähigkeit des Subjekts in einer participatory condition. Schlüsselwörter
Participatory culture · Participatory condition · Medienforschung · Subjektivation · Soziale Praktiken · Dispositiv · Neuer Materialismus · Politische Ökonomie · Handlungstheorien
1 Participatory culture & soziale Medien – auf den Spuren eines Konzepts Der US-amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins prägte bereits Anfang der 1990er-Jahre das Konzept „participatory culture“ im Zusammenhang mit seinen Forschungsarbeiten zu Fankulturen und in Abgrenzung von der passiven Figur des Zuschauers bzw. der Zuschauerin. Partizipation bezieht sich hier zunächst vor allem auf die Beteiligung an kultureller Produktion und Zirkulation – in Abgrenzung von ‚Beteiligung durch (Medien-)Konsum‘. In den nachfolgenden Jahren wurde das Konzept sowohl von ihm selbst als auch von anderen in sich verschiebenden Bedeutungen auf entstehende, neue digitale Medienkulturen übertragen (vgl. Jenkins et al. 2016a, b, S. 1 ff.). Im Rahmen einer Studie, in welcher Jenkins und Kolleg*innen (2009, S. 5 f.) die Bedingungen digital-vernetzter partizipativer Kultur medienpädagogisch wenden, wird participatory culture anhand der folgenden Merkmale beschrieben: 1. „Relatively low barriers to artistic expression and civic engagement, 2. strong support for creating and sharing creations with others, 3. some type of informal mentorship whereby what is known by the most experienced is passed along to novices, 4. members who believe that their contributions matter, and 5. members who feel some degree of social connection with one another (at the least, they care what other people think about what they have created).“ (Jenkins et al. 2009, S. 5 f.; unsere Zeilenumbrüche).
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Die genannten Merkmale lassen sich pädagogisch übersetzen in Beteiligen, kreatives Gestalten, selbstgesteuertes und selbstorganisiertes informelles Lernen in heterogenen Communities of Practice, intrinsische Motivation und wechselseitige Anerkennung. Sie drücken damit ein ‚quasi-pädagogisches’ Verhältnis zwischen den Beteiligten aus. Die Zielsetzungen decken sich zudem über weite Strecken mit pädagogischen Kernanliegen. Unter anderem deshalb wurde das Konzept der participatory culture in Zeiten des „Web 2.0“ zu einem Kernbegriff der englisch- wie deutschsprachigen Medienpädagogik und kann rückblickend gleichermaßen als Symbol für die wissenschaftliche und professionelle Interneteuphorie gelesen werden, die auf Potenzialen wie Demokratisierung und Emanzipation aufsetzte. Enger als bei Jenkins wird das Schlagwort Partizipation in der deutschsprachigen Debatte überwiegend als politische Partizipation, etwa im Sinne zivilgesellschaftlichen Engagements, ausgelegt (vgl. etwa Lutz et al. 2012 oder Gräßer und Hagedorn 2012). Bereits die Möglichkeit zum erweiterten Austausch durch soziale Medien wird dabei als eine Vorbedingung demokratischen Engagements ausgewiesen (Dahlgren 2005). Die deutschsprachige Medienpädagogik schließt unter dem Begriff des partizipativen Lernens an die Diskussion um Potenziale des Web 2.0 an – z. B. mit Blick auf die Verzahnung formaler und informeller Kontexte und der Bedeutung sozialer Medien für medienpädagogisches Handeln (Mayrberger 2012). Mittlerweile liegt eine Reihe von Forschungsergebnissen vor, die verdeutlichen, dass die zugeschriebenen Potenziale an das Social Web nur bedingt eingelöst werden konnten: Das Internet wirkt sich teilweise gar verstärkend auf soziale Ungleichheiten aus (vgl. Hargittai 2002; Zillien 2009, 2018). Entsprechend mahnt Wagner (2015, S. 18) an, dass medienpädagogische Projekte soziale Ungleichheit stärker im Blick haben sollten. Auch Jenkins und Kolleg*innen (2009) problematisieren einen „participation gap“: Technische Zugangsvoraussetzungen sowie Fähigkeiten und Wissen im Umgang mit Anforderungen einer participatory culture seien unter Kindern und Jugendlichen ungleich verteilt bzw. unterschiedlich ausgebildet. Als Antwort auf die Frage, wie dem medienpädagogisch begegnet werden kann, wird ein elf (Medien-)Kompetenzen umfassender Katalog vorgelegt (vgl. Jenkins et al. 2009, S. XIV). Darunter finden sich z. B. die Fähigkeiten, Medieninhalte sinnvoll miteinander zu kombinieren (Appropriation), Wissen zu bündeln und mit anderen auf ein gemeinsames Ziel hin zu vergleichen (Collective Intelligence) oder Informationsflüssen über mehrere Modalitäten hinweg zu folgen (Transmedia Navigation).
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Über die Perspektive auf soziale Ungleichheiten und aufseiten der Subjekte benötigte Kompetenzen hinaus formulieren Jenkins et al. jedoch bereits 2009 eine erweiterte Analyseperspektive, die einen medienökologischen Blick rahmt: „[W]e would do better to take an ecological approach, thinking about the interrelationship among different communication technologies, the cultural communities that grow up around them, and the activities they support. Media systems consist of communication technologies and the social, cultural, legal, political, and economic institutions, practices, and protocols that shape and surround them.“ (Jenkins et al. 2009, S. 7)
Dass die Konzeption in den Folgejahren auf verschiedene Weisen Verwendung fand, wird anhand des dialogisch angelegten Buchprojekts „Participatory Culture in a Networked Era“ (2016) deutlich. Henry Jenkins diskutiert darin mit seinen Kolleginnen Mizuko Ito und Danah Boyd Verwendungsweisen des Konzepts, etwa • als diskrete oder diskontinuierliche Kategorie, • als deskriptives oder präskriptives Modell (und damit verbunden: anwendbar auf ethisch-politisch fragwürdige Fälle der ‚Partizipation’ – oder nicht), • als allgemeine Diagnose von kulturellen oder als spezifische Beschreibung von digital-vernetzten Praktiken, • mit einer hohen oder niedrigen Beteiligungs-Schwelle für die Bezeichnung als ,Partizipation‘, • mit einem Fokus auf subkulturelle oder mainstream-förmige, populärkulturelle Praktiken u.v.m. (vgl. ebd., S. 22, 183 f., 13, 25 f., 182; siehe auch Jenkins et al. 2013, S. 157 f.). Die Autor*innen sind sich darin einig, dass eine partizipative Kultur nicht durch (technische) Plattformen hervorgebracht werden kann, sondern stets und in erster Linie ein kulturelles Phänomen darstellt. Barney et al. (2016, S. ix) verfolgen eine ähnliche Stoßrichtung, wenn sie in ihrem Sammelband eine Verschiebung von einer participatory culture zu einer „participatory condition“ (unsere Herv.) vornehmen und Partizipation unter Berücksichtigung des neoliberalen Zeitgeistes kritisch diskutieren (vgl. ebd., S. xxxi). Unser Anliegen im vorliegenden Beitrag besteht darin, ähnlich wie Barney und Kolleg*innen, im Austausch mit weiteren theoretischen Perspektiven an einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf participatory culture weiterzuarbeiten. Hierfür soll insbesondere der Zusammenhang von Subjektivität,
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Digitalität und Bildung betrachtet werden, denn selbst unter Berücksichtigung der genannten Relativierungen wird deutlich, dass in affirmativen Bezugnahmen auf participatory culture ein relativ optimistisches Handlungsverständnis dominiert. Insbesondere in medienpädagogischer Perspektive und in Übereinstimmung mit zahlreichen etablierten Konzeptionen der deutschen Medienpädagogik (z. B. Medienkompetenz, Medienaneignung) (vgl. etwa Baacke 1997, S. 53; Schorb 2008, S. 75; Hüther und Podehl 2017, S. 125) wird das aktive Handeln in Abgrenzung zur Vorstellung eines passiven Rezipienten definitorisch vorausgesetzt. Im Fokus steht hierbei die Frage, wie ‚die Subjekte‘ ‚die sozialen Medien‘ nutzen. Zu dieser dichotomen Konzeption von Subjekt und Medium kommt eine lineare Vorstellung des Handelns: Es wird angenommen, dass Medienhandeln aus Interessen und bewussten Entscheidungen hervorgeht und das Partizipieren mit zunehmend verfügbaren Kompetenzen steigt. Gleichwohl bleibt unseres Erachtens zu fragen, inwieweit diese handlungs- und subjekttheoretischen Grundannahmen in einen fruchtbaren Dialog mit jüngeren Entwicklungen allgemeiner Sozial- und Kulturtheorien zu bringen sind. Entsprechend wird mit diesem Beitrag das Ziel verfolgt, eine kulturwissenschaftliche sowie polit-ökonomische Perspektive einzunehmen, die nach entsprechenden Bedingungen einer participatory culture sowie ihrer (permanenten) performativen Wiederherstellung unter besonderer Berücksichtigung der Subjekte fragt. Das Vorgehen im Beitrag ist multiperspektivisch angelegt. Es werden unterschiedliche theoretische Perspektiven entfaltet, die einen engen handlungstheoretischen Rahmen durchkreuzen und zu einer Präzisierung unseres Gegenstands – eines Begriffs von ‚participatory culture‘ – beitragen sollen. Im Anschluss an die Erläuterung dieser Perspektiven werden analytische Fragen an eine participatory culture abgeleitet. So wird bspw. diskutiert, auf welche Weise die restringierte Handlungsfähigkeit des Subjekts in einer participatory condition konzipiert und in einen an Bildungsprozessen interessierten Blick übersetzt werden kann.
2 Theoretische Perspektiven auf participatory culture 2.1 Subjektivation und soziale Praktiken Spätestens seit dem von Schatzki, Knorr-Cetina und Savigny (2001) proklamierten practice turn setzte eine umfassende sozial- und kulturwissenschaftliche Theoriebewegung ein, die um Begriffe wie Praxistheorien, Theorien sozialer Praktiken
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und Praxeologie kreist. Theorien sozialer Praktiken ist ein Verständnis von sozialer Welt inhärent, demzufolge diese Welt durch sinnhafte Wissensordnungen und Symbolsysteme sowie kollektive Formen des Verstehens strukturiert sei (Reckwitz 2003, S. 287). Im Unterschied etwa zu einer frühen, strukturalistischen Diskurstheorie bei Foucault werden Kultur und das Soziale in praxeologischen Perspektiven in erster Linie auf der Ebene von Praktiken verortet – also nicht bzw. nicht primär auf der Ebene der Normen, Symbole, Diskurse oder des Handelns. Wenngleich von keiner einheitlichen und konsensual geteilten Praxistheorie die Rede sein kann (für eine Systematisierung siehe Schäfer 2016), lassen sich soziale Praktiken mit Reckwitz (2003, S. 289) als „know-how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen [verstehen], deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen.“ Für eine praxeologische Perspektive sind folglich zwei analytische Dimensionen von besonderem Interesse: die Materialität des Sozialen sowie die implizite Logik und Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und Können (ebd., S. 290). In dieser Perspektive werden zwei materielle Instanzen betont – der Körper sowie die Artefakte: „Praktiken [stellen] nichts anderes als Körperbewegungen dar und […] Praktiken [bedeuten] in aller Regel einen Umgang von Menschen mit ‚Dingen‘, ‚Objekten‘“ (ebd.). Dabei wird der Körper nicht auf ein ausführendes Gehäuse eines inneren mentalen Systems reduziert. Vielmehr wird angenommen, dass eine Praktik „aus bestimmten routinisierten Bewegungen und Aktivitäten des Körpers [besteht]“ (ebd., H.i.O.). Betont wird, dass es sich um eine „skillful performance“ (ebd.) des Körpers handelt: „Wenn ein Mensch eine Praktik erwirbt, dann lernt er, seinen Körper auf bestimmte, regelmäßige und ‚gekonnte‘ Weise zu bewegen und zu aktivieren oder besser: auf eine bestimmte Art und Weise Körper zu ‚sein‘“ (ebd.). Für den Vollzug derartiger Praktiken wird ein bestimmtes inkorporiertes Wissen vorausgesetzt. Dieses Wissen umfasst interpretative, methodische, motivational-emotionale Komponenten in Form von Ablauf-, Deutungs- und Bewertungsschemata (Reckwitz 2003; 2009). Es handle sich dabei nicht um ein implizites (kognitives) Regelwerk, das im Inneren als Steuerungsinstanz angelegt ist und dann zur Performanz gebracht wird. In praxeologischer Perspektive liegt die Betonung vielmehr auf der körperlich-leiblichen Mobilisierung desselben, für das angenommen wird, dass es meist weder explizierbar ist noch einer Explikation bedarf (vgl. Reckwitz 2003). Darüber hinaus wird angenommen, dass Handlungsvollzüge in ein Netzwerk von Artefakten eingespeist sind. Wesentliche Impulse für diese Perspektive stammen von Bruno Latour und anderen Ver-
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treter*innen der Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Latour 2007 sowie Abschn. 2.3: Relationen zu nicht-menschlichen Akteuren). Der analytische Fokus liegt hierbei auf dem sinnhaften Gebrauch von Artefakten, also deren praktischer Verwendung. Subjekte begegnen Artefakten demzufolge mit einem gewissen Verständnis, das zwar nicht durch die Artefakte determiniert, aber dennoch an das Artefakt gebunden ist, da der Gebrauch und das Verstehen des Artefakts nicht beliebig sind (Reckwitz 2003). Das hier interessierende Phänomen partizipativer Medienkulturen wird mit Theorien sozialer Praktiken als ein situativ-körperliches lesbar, innerhalb dessen menschliche Körper und technische Medien gleichermaßen berücksichtigt werden. Es stellen sich beispielsweise Fragen wie: Was heißt es zu partizipieren? Was tun die (physischen und virtuellen) Körper, wenn sie partizipieren? Wo halten sie sich auf? Was sind Verhaltensroutinen? Welches implizite Wissen leitet Praktiken der Partizipation an? Mit dieser Lesart wird Partizipation als routinierter Verhaltenskomplex beschreibbar, welcher nicht in einer Zuordnung zu aktiven und passiven Beteiligungsformen aufgeht oder auf kognitive Prozesse und Voraussetzungen beschränkt ist. Eng mit Theorien sozialer Praktiken verbunden ist die Frage, wie Subjekte zu denken sind. Konkret richtet sich der Blick auf die Prozesse der Subjektwerdung, die auf der Ebene von Praktiken verortet werden. Analytisch wird eine Dezentrierung des Subjekts verfolgt, indem sich der Blick vom ‚handelnden Subjekt‘ zur Teilnahme des Subjekts an sozialen Praktiken wendet (Alkemeyer 2013). Im Anschluss an poststrukturalistische Theorien der Subjektivierung (oder Subjektivation1), die insbesondere mit den Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler assoziiert werden, liegt der Fokus auf dem Werden und GewordenSein von Subjekten. Dies impliziert die Annahme, dass das Subjekt bzw. Subjektivität nicht – etwa von Natur aus – gegeben ist. Subjekte werden demgegenüber als gemacht, erzeugt und produziert verstanden (Foucault 1994 [1975], S. 243; Saar 2013). Sie treten nicht als autonome, zeitlich überdauernde Entitäten auf, sondern zeigen sich als Mitspieler:in und durch soziale Praktiken. Das Augenmerk liegt dementsprechend auf Prozessen der Herstellung, Entwicklung und Veränderung von Ordnungen des Selbst in und durch soziale Praktiken
1 Im
Folgenden werden die beiden Begriffe synonym gebraucht. Die Verwendungsweisen in der Literatur figurieren uneinheitlich (vgl. Ricken 2019). Neben dem Begriff der Subjektivierung und Subjektivation taucht der Begriff Selbst-Bildungen (Alkemeyer et al. 2013) auf. Die diskutierten Differenzen erweisen sich für unsere Argumentation jedoch als unerheblich.
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(Alkemeyer 2013). Mit der Dezentrierung des Subjekts ist jedoch nicht gemeint, dass Individuen die Möglichkeit abgesprochen wird, sich in der sozialen Praxis selbst zu positionieren (Alkemeyer 2013), denn Subjektivierung meint weder ein lineares Entfaltungs- oder Produktionsgeschehen noch eine sozial determinierte Herstellung von Subjekten. „Vielmehr markiert ‚Subjektivierung‘ eine wirkliche Hervorbringung, eine Epigenesis, die ihrerseits relational verfasst ist und insofern Selbst- und Anderenverständnisse miteinander verschränkt“ (Ricken 2019, S. 99 f.). Das schließt die Annahme ein, dass Menschen sich als Subjekte erlernen und verstehen (lernen) (Ricken 2019). Wenn die Epigenesis des Subjekts an Andere gebunden wird, wird verständlich, dass es sich um einen machtanalytischen Zugriff handelt, welcher sich grundlegend von einem modernen, bürgerlich-aufklärerischen Subjektverständnis unterscheidet, das die Aspekte Handlungsfähigkeit und Autonomie gegenüber den ,Objekten‘ in den Vordergrund rückt. Wie Butler betont, fällt der Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht mit dem Prozess der Subjektivation zusammen: „Ins Leben gerufen wird das Subjekt […] durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht.“ (Butler 2015 [1997], S. 8). Subjektivierung ist insofern als mehrdimensionaler Prozess in einem machtvollen Netzwerk zu begreifen, das z. B. historisch spezifische Wissens-, Macht- und Selbstführungsordnungen umfasst (Saar 2013; siehe auch Abschn. 2.2). Insofern ist Subjektivierung auch ein Prozess, der einem historischen und kulturellen Wandel unterliegt. Zu Subjekten gemacht zu werden und sich selbst dazu zu machen heißt dann, zu historisch und kulturell spezifischen Subjekten gemacht zu werden und sich selbst dazu zu machen. Wenn von ‚Werden und Machen‘ die Rede ist, wird die Prozesshaftigkeit dieses Geschehens betont. Das machtvolle Netzwerk wird handelnd stabilisiert, reproduziert, wiederholt, aber auch umgedeutet (Reckwitz 2017). Unter Rückgriff auf diese Theoriestränge werden partizipative Medienkulturen in ihrer Bedeutung für Subjektwerdung analysierbar. Unter den genannten Prämissen verschiebt sich die Frage, inwiefern Subjekte partizipieren, mitunter zu der Frage, inwiefern sich Subjekte als (zu) partizipierende Subjekte erlernen. Barney et al. (2016, S. xxxi) argumentieren, dass Partizipation längst zum Motor für Handel, Zustimmung und Kontrolle geworden sei, und sprechen daher von participatory condition anstelle von participatory culture. In einer gouvernmentalitätstheoretischen Lesart wäre Partizipation insofern als Steuerungstechnologie des sich selbst regierenden Subjekts zu deuten. Medienpraktiken werden damit nicht mehr allein dem Subjekt zugeschrieben oder gar als willentliche, bewusste Handlungen konzipiert. Das Subjekt wird stattdessen als Mitspieler einer Praktik betrachtet, welches sich selbst im Tun performativ hervorbringt. Die Subjekt-Werdung vollzieht sich dementsprechend in Abhängigkeit von medialen Techniken und normativen Ordnungen (Bublitz 2014, S. 173).
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Gleichwohl erlaubt es eine derartige analytische Folie, den Blick dafür offen zu halten, welchen Anteil die Menschen an der Hervorbringung, aber auch Veränderung sozialer Ordnungen haben. Wenn die Gleichzeitigkeit von Ermächtigung und Unterwerfung des Subjekts betont wird, werden auch transformierende oder subversive Momente theoretisch denkbar, wie sie etwa im Begriff der Selbstpositionierung (Alkemeyer 2013) ihren Ausdruck finden. Auf diese Weise wird das Subjekt dezentriert, ohne dass ihm die Möglichkeit abgesprochen wird, sich in sozialen Spielen selbst zu positionieren und Ordnungen zu unterlaufen. Dies macht sie nicht zuletzt für bildungstheoretische Anschlüsse interessant.
2.2 Relationen in Dispositiven/Apparaten: Dispositivtheoretische Perspektive Wie in 2.1 am Rande angeklungen, lässt sich ,Diskurs‘ in einer poststrukturalistischen Lesart nicht als rein sprachliche, immaterielle oder strukturelle Kategorie geltend machen. Diskurse werden, insbesondere mit den späteren Arbeiten Michel Foucaults (vgl. etwa 1994 [1975]; 1978), als diskursive Praktiken aufgefasst und mit praxeologischen Ansätzen verwoben (vgl. Wrana und Langer 2007). Regulierte, jedoch nicht final determinierbare Praktiken werden auf diese Weise zum ‚Schauplatz‘, zum Kreuzungspunkt von vermachteten Relationen, in welchen die Verstrickung von Subjekten in Macht-/ Wissen-Komplexe gleichermaßen reproduziert und transformiert wie subvertiert werden kann. Gerade der Aspekt der verändernden Potenziale diskursiver Praktiken wird bei Judith Butler hervorgehoben sowie in seiner Performativität, Körperlichkeit bzw. Materialität und Politizität präzisiert (vgl. etwa Butler 2015 [1997]). Diskurs rückt somit dem näher, was Butler allgemein als kulturelle Rahmen (frames) fasst (Butler 2010, S. 10 ff.). Allerdings formuliert etwa Tanja Gnosa ein bedingtes Ungenügen an Diskursanalysen. Wenn nämlich „ein Wissen als Macht-Wissen oder als vermitteltes Wissen in den Blick geraten [soll], verbleiben reine Diskursanalysen notwendig fragmentarisch und auf gleich zwei Augen, dem institutionellen und dem medialen Auge blind.“ (Gnosa 2018, S. 348; H. i. O.)2
2 Zur
Diskussion der analytischen und empirischen Produktivität des Dispositiv-Konzepts für medienbezogene Phänomene, vgl. etwa Caborn Wengler et al. (2013) sowie Othmer und Weich (2015).
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Das Dispositiv-Konzept bei Foucault verkompliziert die diskursbasierte Anordnung insofern, als hiermit expliziert wird, auf welche Weise dieses Geschehen diskursiver oder kultureller (Re-)Produktion mit alltäglichem Tun, institutionellen Rahmensetzungen, politischen Strategien, architekturalen und anderen Artefakten usw. verknüpft ist. Die ,Mikrophysik der Macht‘ erhält somit eine präzisere Anbindung an eine institutionelle oder gouvernementale sog. ,Meso-Ebene‘ der Gesellschaft, ihre Rationalitäten, Machteffekte, (Regierungs-) Technologien und, schließlich, hierin produzierte oder forcierte Subjektivitäten. Im medienwissenschaftlichen Diskurs wird in der „Apparatustheorie“3 nach Jean-Louis Baudry (vgl. 1993, 1994) vor dem Hintergrund ideologiekritischer und psychoanalytischer Annahmen und am Beispiel des Kinos ebenfalls nach dem Zusammenwirken verschiedener Elemente gefragt: Medien, Räume, Abbildungen, Ideologien, Subjekte. Jedoch steht weniger die wechselseitige Relationalität der Anordnung im Fokus. Vielmehr richtet sich die theoretische Perspektive auf die psychologischen Effekte der ersteren Elemente auf die Subjekte und ihre Konstitution: „Man kann hier gut die spezifische Funktion, die das Kino als Träger und Instrument von Ideologie erfüllt, profilieren: es konstituiert das ‚Subjekt‘ durch die illusorische Abstreckung einer zentralen Stellung [...]. Ein Apparat, der dazu bestimmt ist, einen ideologischen Effekt zu erzielen, der für die dominante Ideologie bündig und notwendig ist: indem es eine Fantasmatization des Subjekts kreiert, kollaboriert das Kino mit einer markanten Wirkungskraft in der Aufrechterhaltung des Idealismus.“ (Baudry 1993, S. 42)
Analog zur Konzeption der Anrufung bei Louis Althusser finden wir in dieser Bestimmung der Relationen zwischen Subjekt und ,Welt‘ einen hohen Grad der Determiniertheit (durch Ideologie als ,in letzter Instanz‘ abhängiger Variable der ökonomischen Basis) der Subjekte (vgl. Althusser 2016 [1970]; zur Kritik daran
3 Im
französischen Original wird von „dispositif“, in der englischsprachigen Übersetzung von „apparatus“ und in der deutschsprachigen von „Dispositiv“ gesprochen. Im früheren Text (vgl. 1993 [1970]) schreibt Baudry von „l’appareil de base“ (dt. „Basisapparat“) und präzisiert 1975: „Wir unterscheiden allgemein den Basisapparat [appareil de base], die Gesamtheit der für die Produktion und die Projektion eines Films notwendigen Apparaturen und Operationen, von dem Dispositiv, das allein die Projektion betrifft und bei dem das Subjekt, an das die Projektion sich richtet, eingeschlossen ist.“ (Baudry 1994, S. 1052)
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vgl. Butler 2015 [1997], S. 101 ff.). Nach Möglichkeiten der Kritik, der Subversion, der Widerständigkeit oder auch der Verschiebung bestehender (hier: ideologischer) Herrschaftsstrukturen wird zunächst nicht gefragt. Selbst das Schließen der Augen oder das Verlassen des Kinosaals kann nicht handelnd auf den „Gegenstand seiner Wahrnehmung [des Subjekts; Anm.]“ einwirken (vgl. Baudry 1994, S. 1069). Die Zuschauer*innen-Subjekte im Kino – Baudry vergleicht die Situation mit dem Platonischen Höhlengleichnis – zeichnen sich demzufolge in erster Linie durch ihre Immobilität und Passivität aus (ebd., S. 1068; eine ausführliche Diskussion der Konzeption bei Baudry finden sich etwa in Gnosa 2018, S. 197–217). Im Gegensatz dazu versteht Foucault Subjekte stets in Dispositive verwoben, die kein ,Außen‘ markieren: „Aus Dispositiven gehen zudem stets Subjekte hervor, die von ihnen nicht bloß einseitig determiniert werden, sondern – aufgrund ihrer performativen Rolle im Zusammenhang mit Macht- und Aussagepraktiken – selbst als produktive Faktoren des Dispositivs verstanden werden müssen, deren Handeln entweder das Fortschreiben von Dispositiven oder dispositive Umbrüche verursachen oder dazu beitragen können.“ (Gnosa 2018, S. 338)
Demnach stellt Foucault den von ihm konzipierten Subjekten die restringierte Potenzialität von Kritik in Aussicht (vgl. insb. Foucault 1992). Kritik als kunstvoller, ästhetisch-verkörperlichter Vorgang richtet sich gegen die vermeintliche Determiniertheit durch Regierungsrationalitäten und -technologien, gegen jene Dispositive der Macht, die bestimmte Subjektivitäten, Selbstverhältnisse und Praktiken nahelegen und strategisch durchzusetzen suchen (vgl. Foucault 1992). Zugleich sperrt sich eine solche Kritik als Haltung und Praxis gegen Instrumentalisierungs- und Steuerungsversuche, bleibt also dem planenden Zugriff unverfügbar. An dieser Stelle setzen nun bildungstheoretische Anschlüsse ein und spüren in diesem Moment der Entunterwerfung theoretisch wie empirisch Möglichkeiten eines nicht-kontrollierbaren, kaum pädagogisierbaren und nicht teleologisch gerichteten ,Anders-Werdens‘ nach (vgl. Lüders 2007; Koller 2012a; Hoffarth 2012; Missomelius 2018; Dander und Münte-Goussar 2018; Zahn 2020). Doch in jeder Bildungsbemühung finden sich Residuen der Unterwerfung; jeder partizipativen Subjektkonzeption ist stets ein Hauch von Komplizenschaft mit herrschaftlichem Regierungshandeln inhärent (etwa als Ich-AG als Ausformung eines unternehmerischen Selbst; vgl. Bröckling 2007, S. 65 ff.). Der Generalverdacht hat Einzug in sämtliche Vorstellungen von Emanzipation (z. B. durch Bildung) gehalten. Diese Ambivalenzen gelten in ähnlicher Weise für das
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Konzept der participatory culture, wie auch für „Partizipation“ allgemein: „we are hailed as participants by multiple elements of our environment across the domains of culture, politics, and social life. Recognizing ourselves in that hail, we act accordingly: We participate“ (Barney et al. 2016, S. x). Wie Käte Meyer-Drawe (vgl. 2008, S. 48 f.) in ihrer bildungstheoretischen Diskussion des Höhlengleichnisses schreibt, bleibt in der Erzählung offen, wie die Entfesselung derjenigen Person, die die Höhle verlässt (und damit in den schmerzhaften Prozess der Bildung eintreten kann), zustande kommt. „Lernen und Bildung bedeuten Bewegung.“ Und die Bewegung liegt stets in einem Dazwischen, in einer Relation. „Diejenigen, die gebildet werden, sind keinem charismatischen Geschick ausgeliefert. Aber ihre eigenen Initiativen reichen ebenfalls nicht. Sie werden schmerzhaften Zumutungen ausgesetzt, die ihrem unüberlegten Dafürhalten jede Sicherheit nehmen.“ (ebd., S. 51)4 Das bedeutet für unsere Überlegungen: Sollen Subjektivation und Bildung über ein hermetischdeterminierendes Moment hinausragen können, müssen auch theoretische Zugriffe die Baudry’sche, strukturalistische Deutung des Kinos als Höhlengleichnis überschreiten.
2.3 Relationen zu nicht-menschlichen Akteuren: Perspektiven der Science and Technology Studies und der Neuen Materialismen Dispositivanalysen beziehen, so wurde oben dargelegt, die machtvolle Wirksamkeit der Dinge in ihre Kulturanalysen mit ein. Jedoch geraten diese Dinge eher in Form von sedimentierten diskursiven Praktiken in den Blick. Die Eigenlogiken etwa technischer Artefakte und – angesichts der technologischen Entwicklungen der jüngeren Geschichte – auch ihre ,Handlungen‘ zwischen Automatisierung und Algorithmisierung nahmen hierbei keine vorrangige Position ein. Eine präzise Verhältnisbestimmung von Bildung und Digitalität ist jedoch auf einen detaillierten Blick auf diese technischen Artefakte angewiesen, welchen wir in diesem Abschnitt aus Arbeiten zur Rolle nicht-menschlicher Akteure gewinnen wollen.
4 Ein
herzliches Dankeschön gilt Käte Meyer-Drawe für den freundlichen Hinweis im Anschluss an den Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung.
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Bereits seit den 1970er-Jahren entwickelte sich, vorrangig im englischsprachigen, sogenannten globalen Norden das Forschungsfeld der Science and Technology Studies (STS). Dieses speist sich aus Beiträgen diverser Fachdisziplinen – von Wissenschaftsforschung über Philosophie und Soziologie bis hin zur Quantenphysik – und fragt nach der Fabrikation, nach der ‚Gemachtheit‘ von (insb. natur)wissenschaftlichem Wissen anhand von je situiertem Wechselwirken etwa von forschenden Praktiken und technologischen Artefakten (vgl. Bauer et al. 2017a, S. 7 f.). In ihrem einführenden Handbuch versammeln Bauer et al. so unterschiedliche Positionen wie jene der Laborstudien von Latour und Woolgar wie auch die Akteur-Netzwerk-Theorie, feministische und postkoloniale Positionen – mit Haraway und Verran – oder auch den „Agentiellen Realismus“ nach Barad (vgl. 2017). Ähnlich gestaltet sich die Bandbreite auch in einem der vielen englischsprachigen Einführungsbände (vgl. Sismondo 2010). Wie an in ähnlicher Weise überblickenden Bänden zu Praxistheorie(n) deutlich wird, bestehen in den Bezugstheorien deutlich sichtbare Schnittmengen zwischen den STS und praxistheoretischen Perspektiven (vgl. etwa Hillebrandt 2014, S. 16 ff.; Schatzki et al. 2001). Vielen dieser Ansätze ist gemein, dass sie von einem starken Interesse für die Materialität und die Ansprüche der Dingwelt geleitet sind. An verschiedentlichen Geschehen beteiligte, menschliche wie nicht-menschliche Elemente gehen – so die Grundannahme – prozessuale Verbindungen ein, die je situativ und kontextuell zu Wechselwirkungen und Anschlussprozessen führen. Mit Bezug auf die Laborstudien schreiben Bauer et al. (2017a, S. 19): „Es sind nicht allein die Subjekte, die technische Geräte bedienen und anwenden, sondern die Geräte selbst verlangen nach bestimmten Nutzungsweisen oder erlauben nur spezifische, begrenzte Einsichten. Damit einher geht eine Verschiebung des empirischen Fokus weg von menschlichen Subjekten hin zu technischen Geräten oder allgemeiner hin zur Bedeutung der Interaktion zwischen materiellen Artefakten und handelnden Menschen in der Genese wissenschaftlichen Wissens.“
Und selbst die scheinbar klare Trennung von Subjekt/Objekt wird einer grundlegenden Kritik unterzogen, wie auch die strikte Aufteilung der Welt in Soziales/ Natur oder Kultur/Natur – markiert etwa durch den Begriff der „naturecultures“ (Haraway 2003, S. 3). An die Stelle einer einseitigen Betrachtungs-, Einwirkungs- oder Handlungsrichtung treten verschiedene Modellierungen von Relationalität als Netzwerk, Assoziation, Assemblage, Verschränkung etc., die entsprechend einer praxistheoretischen Denkweise prozessual gedacht werden (als ein Netzwerken, Assoziieren, Versammeln, Verschränken).
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In Konsequenz leiten diese Annahmen etwa die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) dazu an, „nicht-menschliche Entitäten mit den gleichen Methoden und dem gleichen Vokabular zu beschreiben“ (ebd., S. 20) wie das Handeln menschlicher Subjekte. Auch digitalen Artefakten und Inskriptionen kommt somit ein in Vermittlungen zu denkender, ,handlungsfähiger‘ Wirksamkeitscharakter zu. Im Vordergrund stehen jedoch stets Verflechtungen anstatt der Isolation von einzelnen Elementen eines Aktions- oder Akteurs-Zusammenhangs (vgl. etwa Bettinger 2018, S. 112 f.; Schüttpelz 2013, S. 10). Den Grundgedanken der frühen ANT stellt Schüttpelz in einem in ihre medientheoretische Übersetzung einführenden Text wie folgt dar: „Alles, was als ,Akteur‘ in Aktion tritt oder dadurch als Handlungsgröße wirksam und erkennbar wird, dass es andere Größen in Aktion treten lässt, tritt in ein ,Akteur-Netzwerk‘ ein und kann nur als Handlungsverflechtung wirksam werden – ,Akteure sind ,Akteur-Netzwerke‘ oder Verknüpfungen. Und im Gegenzug gilt: Verflechtungen, egal welcher Art, sind nur als ,Aktions-Netzwerke‘ in ihren verschiedenen Verknüpfungen wirksam – ,Netzwerke‘ sind sukzessiv agierende ,Akteur-Netzwerke‘.“ (ebd., S. 10)
Entsprechend plädiert Schüttpelz auch dafür, den Begriff „agency“ nicht mit einer Handlungsmacht zu übersetzen und ihn so aufzufassen, sondern stattdessen im Deutschen von „Handlungsinitiative“ zu sprechen (ebd.). Hierdurch wird deutlich, dass eine umfassende Vorstellung der Handlungsmacht oder -fähigkeit von einzelnen Subjekten abgelöst wird. Neben den menschlichen Akteuren als Träger von Wissen sind meist Artefakte in Handlungsverflechtungen eingebettet, ohne die eine Praktik nicht (immer wieder) vollzogen werden kann. Artefakte lassen sich entsprechend als Teilelement von sozialen Praktiken begreifen. Insofern ermöglichen und begrenzen sie (neue) Praktiken, ihren Vollzug und ihre Reproduktion (vgl. Hillebrandt 2014; Reckwitz 2014). Allerdings wird Artefakten in Theorien sozialer Praktiken weder ein allein materieller noch ein allein kulturell-symbolischer Stellenwert beigemessen.5 Noch einen Schritt weiter geht etwa Karen Barad in ihrer Konzeption des „Agentiellen Realismus“ (2017), welcher der Theorieströmung der „Neuen
5 Die Verhältnisbestimmung zwischen ANT und Theorien sozialer Praktiken wird verschieden gedeutet. Bettinger (2020) weist darauf hin, dass sowohl Interpretationen der ANT als Praxistheorie (vgl. etwa Hillebrandt 2014, Reckwitz 2003) als auch von der ANT als bzgl. ihres Handlungsbegriffs gegenüber Praxistheorien deutlich different (vgl. Schäffer 2013) vorliegen.
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Materialismen“ zugerechnet wird (so etwa in Bauer et al. 2017b, S. 551, 553). Ihre Perspektive auf Materialität schließt zwar Artefakte mit ein, bezieht sich jedoch explizit auf die gesamte materielle Dingwelt und damit verbundene ontologische Grundannahmen.6 Hierbei versucht sie als Physikerin und Philosophin zwischen den Bohr’schen Annahmen der Quantenmechanik sowie Bohrs Reflexionen über Methoden und Erkenntnismöglichkeiten der Physik einerseits und poststrukturalistischen Arbeiten – insbesondere von Michel Foucault und Judith Butler – zu vermitteln. Auf diese Weise zielt sie zunächst, wie poststrukturalistische und praxeologische Performativitätstheorien, auf eine Kritik eines sprachfixierten Repräsentationalismus. Allerdings weitet sie diese Kritik bspw. auch auf Arbeiten von Butler aus (insb. Butler 1993), wenn sie moniert, dass diese nicht nur der Materie einen passiven Status gegenüber Diskurspraktiken zuweisen, sondern performative Materialisierung lediglich auf menschliche Körper beziehen (vgl. ebd., S. 595 f., 602 ff.).7 Barad vertritt in beiden Fällen die gegenteilige Ansicht, was an ihrem Begriff der „Intraaktionen“ deutlich wird: „Intraaktionen umfassen die weitere materielle Anordnung (d.h. die Menge materieller Praktiken), die einen agentiellen Schnitt zwischen ,Subjekt‘ und ,Objekt‘ vollzieht [...]. Der agentielle Schnitt trifft eine Entscheidung innerhalb des Phänomens der vorgegebenen ontologischen (und semantischen) Unbestimmtheit. Mit anderen Worten, die Relata existieren nicht schon vor den Relationen; vielmehr entstehen Relata-in-Phänomenen durch spezifische Intraaktionen.“ (ebd., S. 586; H. i. O.)
Die wechselseitige Beziehung von Materialität (Dingwelt) und Sprache/Kultur (Begriff) oder Messgerät (Apparat) ist von vornherein durch wechselseitige Unbestimmtheit geprägt und wird als die materialisierende Praxis der Intraaktion aufgefasst. (vgl. ebd.) All diese Annahmen und Theoriebausteine aus den STS, die hier nur selektiv und kursorisch wiedergegeben werden können, wurden auf verschiedene Weisen in ethisch-politische Überlegungen übersetzt. Wie Barad (ebd., S. 638) betont,
6 Zudem
bezieht Barad (vgl. 2017, S. 633) in ihre Überlegungen Machtverhältnisse mit ein, während sie in einer Randnotiz der ANT vorwirft, diese zu vernachlässigen (vgl. ähnliche Kritiken in van Dyk 2010, S. 188 f.; Dander 2018). 7 In Bezug auf die Notwendigkeit materieller Dinge für die Reproduktion menschlicher Körper im Kontext von andauernden politischen Protestformen wie Protestcamps vgl. etwa Butler (2011).
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ist die eingeschränkte Singularität menschlicher Handlungsfähigkeit keinesfalls als Befreiung von jeglicher Verantwortung misszuverstehen, denn „menschliche Subjekte haben eine Rolle zu spielen, und zwar eine konstitutive Rolle, aber wir müssen uns über die Eigenart dieser Rolle im Klaren sein.“ Bruno Latour (1993, S. 142 ff.) schlägt vor, diese radikale Kritik am wissenschaftlichen (und politischen) Anthropozentrismus in ein „Parliament of Things“ zu übersetzen. Donna Haraway reflektiert über das Zusammenleben von Mensch, Hund und anderen, nicht-menschlichen Arten (vgl. 2003) und auch eine Theoretikerin des Posthumanismus, Rosi Braidotti (2018, S. 28 f.), zielt mit ihrer Konzeption einer „nomadischen Subjektivität“ in Verbindung mit einer immanent und relational gedachten Nachhaltigkeit auf die ethisch-politische Inklusion von „Tiere[n], Insekten und Maschinen“ als „Kraftfelder und Territorien des Werdens.“ Für subjektivations- und bildungstheoretische Überlegungen in der erziehungswissenschaftlichen Medienforschung resultieren aus den skizzierten Theoriesträngen und Ansätzen weitreichende ,Verunsicherungen‘: So stellt sich etwa auf neue Weise die Frage, welche Wirksamkeit menschliche Akteure als ,Subjekte‘ in Akteur-Netzwerken entfalten und wie sich die Relationen zu anderen vernetzten Elementen gestalten. Zusätzlich verstärkt durch das ,Zusammenleben‘8 mit technischen Artefakten (etwa Algorithmen, Software, aber auch Hardware, digitale Endgeräte, Roboter etc.) sehen sich die imaginierte individuelle Autonomie und Handlungsmacht Einschränkungen einer neuen Qualität gegenüber. Gleichwohl bestehen individuelle oder kollektive Spielräume für das Tun und die prozesshafte Entwicklung (,Bildung‘) menschlicher Akteure. Deren Weltverhältnisse, die möglicherweise Transformationen erfahren, vervielfachen sich in eine Vielzahl von Relationierungen. Eine Veränderung einer dieser Relationen (zu Menschen oder Dingen) impliziert zugleich eine Transformation für ein jeweils anderes Element. Müsste Bildung somit per se als ein Prozess der Ko-Transformation gedacht werden?9 Bildungsprozesse wären demnach notwendig von einer Kultur wechselseitiger Partizipation getragen, welche zwar zunächst ahistorisch zu konzipieren wäre, jedoch durch einen hohen
8 Donna
Haraway (2003, S. 4) spricht in diesem Zusammenhang u. a. von „co-habitation“ und bezieht dies sowohl auf das Mensch-Tier-Verhältnis als auch auf das Verhältnis zu Cyborgs etc. 9 An anderer Stelle wurde argumentiert, dass Bildung als Verknüpfung von Habitus- und Feldtransformation (Selbst und Welt sowie das Verhältnis dazu) zu denken sei (vgl. Dander 2020a). Feld bzw. Welt würden anhand der Ansätze aus den STS demnach in einzelne Relata und Relationen zu ihnen ausbuchstabiert.
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Grad digitaler Vernetzung deutlicher hervortritt. Die Studie von Patrick Bettinger legt das konzeptionell wie empirisch nahe, wenn in den von ihm untersuchten Fällen etwa eine enge Beziehung zwischen den biografischen Erzählungen von Bloggenden und der konkreten Entwicklung/Ausgestaltung der Blogs selbst nachgezeichnet wird. Medienbildung wird somit „als verteilter bzw. sich verteilender, diffundierender Prozess mit wechselnder agency verstanden“ (Bettinger 2018, S. 400). Wie aber wären Bildung und Pädagogik allgemein jenseits des für sie an vielen Stellen fundamentalen Anthropozentrismus zu denken? Und welche ethischen Implikationen gingen mit einer solchen Reperspektivierung einher? Ohne diese Fragen hier beantworten zu können, dient der nun folgende Abschnitt immerhin einer Kontrastierung der ausgeführten Ansätze der ,new materialisms‘ durch solche einer etwas älteren materialistischen Auffassung von Mensch, Gesellschaft und Techologie:
2.4 Relationen der Produktion: Perspektive der Kritischen Politischen Ökonomie Verschiedene Perspektiven auf Subjekte in Relation zu Medien und Gesellschaft lassen sich mitunter anhand der Rollen/Subjektivitäten nachzeichnen, die ihnen zugewiesen werden: Während eine passive Vorstellung vom Publikum etwa in der Rede von Konsument*innen von (Massen-)Medien oder Kulturindustrie evoziert wird, zielt der Fokus auf Partizipation an kultureller Produktion und Zirkulation bei Jenkins und anderen in Tradition ihrer historischen Vorläufer (vgl. im deutschsprachigen Diskurs bspw. Brecht, Enzensberger etc.), aber auch die Schwerpunktsetzung auf Artikulation (Jörissen und Marotzki 2009) oder Selbstausdruck (Niesyto 2006), auf eine Bestimmung der lernenden, sich bildenden oder ermächtigenden Subjekte als Produzent*innen. Dies gilt insbesondere anhand der Entwicklung des Internets und Formen seiner Nutzung. Einen grundsätzlicheren Anspruch erhebt die berühmte Formel „Encoding/ decoding“ von Stuart Hall (1980), die in komprimierter Form ausdrückt, was nicht nur in den Cultural Studies (vgl. Fiske 2010 [1989]), sondern auch in der deutschsprachigen wie internationalen Medienpädagogik als gesetzt begriffen wird: „decoding“, also die Rezeption (oder ,Konsumtion‘) von Medienprodukten durch ,the audience‘ ist kein passiver, sondern ein aktiver Vorgang (vgl. Baacke 1997, S. 56 f.; Livingstone 2019). Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Aussage Halls: „The consumption or reception of the television message is thus also itself a ‘moment’ of the production process in its larger sense“ (Hall 1980, S. 130). Dass er das Konzept am Beispiel Fernsehen erläutert, verdeutlicht, dass
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die konkreten medialen Figurationen (etwa Fernsehen oder Internet) für diese Ansicht nicht maßgeblich sind. Freilich ergeben sich im Einzelnen medienspezifische Nutzungsformen, aber wenn selbst in Bezug auf Fernsehen der produktive Charakter des Rezipierens gesetzt erscheint, gilt dies für stärker auf interaktive Nutzungssettings ausgerichtete mediale Architekturen wie das Internet und verschiedene Plattformen oder Netzwerke um so mehr. Die vielzitierte Figur des „Prosumers“ – obwohl zunächst in einem anderen Kontext entstanden (vgl. Toffler 1980)10 – bezieht sich seither auf die Figur der (v. a. Internet-)Userin, die Inhalte produziert und konsumiert – in Form von ,usergenerated content‘. Axel Bruns (2007) hatte stattdessen den Ausdruck „produser“ ins Feld geführt, um – in Abwendung oder Abwandlung von Tofflers Kofferwort – die Spezifika des kollaborativen, gemeinwohlorientierten Teils des Web 2.0 konzeptionell zu fassen. In all den genannten Perspektiven verbleibt die Analyseebene jedoch in einer vorrangig kulturellen Logik. Es handelt sich um Produktion (und ggf. Konsumtion) von Bedeutungen bzw. Kultur. Eine polit-ökonomische Perspektive richtet sich stattdessen – oder, je nach Ansatz, in Ergänzung dazu – auf die folgende Befragung medialer Konstellationen, die Sebastian Sevignani (2017, S. 43) am Beispiel Social Media formuliert: „Ist die Nutzung von Sozialen Medien eine Form von Arbeit? Werden die Nutzer_innen vom Kapital kontrolliert? Sind Nutzer_innen ausgebeutet?“ Es geht hierbei um die für die Kritische Politische Ökonomie zentralen Kategorien Arbeit, Kapital, Mehr-/Wert, Profit, Ausbeutung – und ihre analytische Relationierung zu Mediennutzung. Auch wenn Sevignanis Text deutlich macht, wie uneinheitlich die Antworten auf diese Fragen ausfallen, reicht der Verweis auf den aktuellen Marktwert der größten internetfokussierten Tech-Konzerne aus, um die ökonomische Relevanz von Internet-Nutzung zu unterstreichen. Die englischsprachige Wikipedia führt in der Liste der, gemessen an ihrer Gesamtkapitalisierung, wertvollsten börsennotierten Unternehmen weltweit Microsoft an der Spitze, direkt gefolgt von Apple, Amazon.com, Alphabet, Alibaba, Facebook und Tencent. Unabhängig davon, ob dieser Wert durch die Ausbeutung der Internet-Nutzer*innen (etwa
10 Vgl.
to produce & to consume; Toffler bezieht das Konzept u. a. darauf, „[g]etting the customer to do part of the job“ (Toffler 1980, S. 270) – self-service-Tankstellen sind eines der genannten Beispiele. An anderer Stelle wurde mit Blick auf Big Data Analysen vorgeschlagen, das Verhältnis und damit den Sinn umzukehren: consume & produce, wodurch ,to conduce’ – engl. für etwas dienen oder etwas förderlich sein – entsteht (vgl. Dander 2020b, S. 85).
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am Beispiel von kommerziellen Social Media und also von Werbeeinnahmen) in Form von unbezahlter Arbeit11, als Rohstoff oder als Rente gedeutet wird, gerät die positive Deutung ihrer produktiven Partizipation in eine deutliche Schieflage (am Bsp. von Big Data Analytics vgl. Dander 2020b). Die Betonung der kulturellen Prosumtion/Produsage, die – unter erheblichen Einschränkungen durch Copyright/Urheberrecht – zunächst von allen Beteiligten wieder genutzt werden kann, lässt diese ausbeutenden Relationen tendenziell außer Betracht (vgl. Fuchs 2013, S. 82). Insbesondere der Prozess der Monopolisierung, der u. a. aufgrund des Netzwerkeffekts (mehr Nutzer*innen = höherer Gebrauchswert) begünstigt wird, reduziert gleichermaßen die Anzahl der zu wählenden kommerziellen Plattformen, wie auch jene der nicht-kommerziellen, die auf eine „commons-based peer-production“ im engeren Sinne setzen: „radically decentralized, collaborative, and nonproprietary“ (Benkler 2006, S. 60). Je nach konkreter theoretischer polit-ökonomischer Grundierung steht der Regler auf der Subjektkonzeption-Skala zwischen ,schwach‘ (strukturalistisch determiniert) und ,stark‘ (emanzipatorisch oder klassenkämpferisch) auf deutlich unterschiedlichen Positionen. Beide Extreme bringen ihre Schwierigkeiten – auch für pädagogische Anschlüsse – mit sich, wie Daniel Burghardt (2018, S. 224 f.) in einem Text über die Bedeutung der Neuen Marx-Lektüre für die Pädagogik herausstreicht. In jedem der möglichen Fälle erlangen die etablierten Subjektivitäten der Prosumer bzw. der Produser jedoch eine entschieden andere Bedeutung, wenn ihre Position in den kulturellen und ökonomischen Produktionsverhältnissen in Analyse, Bewertung und Kritik einfließen. So leitet die dargestellte Perspektive dazu an, solche Formen, Praktiken und Gemeinschaften einer participatory culture forschend in den Blick zu nehmen, die sich dem ubiquitären Verwertungsregime entziehen wollen oder sich dagegen sträuben. Des Weiteren weist eine polit-ökonomische Perspektive über eine Individualisierung von sozialer Ungleichheit respektive Ausbeutungsverhältnissen hinaus und rückt ihre (klassen-)strukturelle Form in den Vordergrund, die konzeptionell kollektive Formen der Widerständigkeit als politische Handlungsoptionen nahelegt (vgl. Dander 2020a). Mit Blick auf Bildung als gesellschaftlich institutionalisierter oder informeller, selbstorganisierter Form der Vergesellschaftung wird der macht-
11 Die Deutung als „Arbeit“ findet sich stark vertreten von Christian Fuchs, der sich hierbei auf Arbeiten von Dallas Smythe aus den 1970er-Jahren bezieht. Smythe spricht, hier mit Fokus auf das Fernseh-Publikum, von „audience commodity“, insofern das Fernsehpublikum durch das Rezipieren des Fernsehprogramms und der eingeblendeten Werbeeinschaltungen, unbezahlte Arbeit’ leiste (vgl. Fuchs 2013, S. 131 f.).
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kritische Blick auf ihre stets auch unterwerfende Wirksamkeit (vgl. etwa Ricken 2006; Meyer-Drawe 2015) um jenen auf eine Zurichtung der (Medien-)Bildungssubjekte für den Arbeitsmarkt ergänzt (vgl. etwa Sesink 1997, 2014; Reitz 2015).
3 Zur multiperspektivischen Problematisierung einer participatory culture Wie im ersten Kapitel dargelegt wurde, handelt es sich bei der participatory culture um eine Konzeption, die über die Jahre durch sehr unterschiedliche Verwendungsweisen erheblich an begrifflicher Schärfe verloren hat. Im Kern schließt diese jedoch konsequent an Theorielinien an, die von einer relativ starken Subjektfigur und, damit einhergehend, einem hohen Grad an individueller Handlungsfähigkeit ausgehen. An diesem Punkt setzen unsere theoretischen Befragungen an (Kap. 2), die insbesondere danach trachteten, Limitationen einer solchen Subjektkonzeption und solchen Vorstellungen von Handlungsmacht kenntlich zu machen. Aus vier aggregierten Theorieperspektiven wurden Ansätze vorgestellt, die Deutungsweisen der in einer participatory culture partizipierenden Subjekte verkomplizieren und differenzieren: als zugleich unterworfen/handlungsmächtig und situativ-körperliche (Abschn. 2.1), als institutionell und diskursiv verwobene (Abschn. 2.2), als symmetrisch mit nicht-menschlichen Akteuren vernetzte (Abschn. 2.3) und schließlich als teilweise im Prozess der Kapitalakkumulation objektivierte (Abschn. 2.4). Diese theoretischen Ansätze – so sehr sie sich im Einzelnen unterscheiden mögen12 – stoßen in einem Punkt in dieselbe Richtung: sie eröffnen ein Denken in Relationen und erlauben damit einen Perspektivwechsel von ,der‘ participatory culture zu Subjektivation, Praktiken, Netzwerken, Agency etc. ,in‘ der participatory culture oder genauer: in einer participatory condition. Werden die Theorien und deren Konzepte als Analyse-Folie betrachtet, gehen daraus neue Fragen hervor, die nicht zuletzt die erziehungswissenschaftliche Medienforschung zu bereichern vermögen. Darunter fallen Fragen wie: Was wird wie gemacht bei doing participation? Welche Praktiken werden ermöglicht (z. B. Rezeptions-, Nachahmungspraktiken)? Was wird im doing participation implizit gewusst? Inwiefern vermitteln (soziale) Medien Subjektivierungsangebote und
12 Uns geht es an dieser Stelle nicht darum, eine friktionsfreie Verschränkung der hier dargestellten Theorielinien anzustreben oder gar sie in einer Art Metatheorie zu versöhnen, sondern einen multi-theoretisch informierten Blick auf ein eingewöhntes Verständnis von Partizipation bzw. participatory culture zu eröffnen.
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inwiefern werden diese von den Subjekten angeeignet? Wie formen medientechnische Dispositive Welt- und Selbstbilder? Inwiefern sind partizipative Praktiken in soziale, institutionelle, mediale Machtverhältnisse eingebunden? Und – den Partizipationsbegriff anders gewendet – welche Relata partizipieren an möglichen Bildungsgeschehen? Diese und ähnliche Fragen können neue, bildungsbezogene Untersuchungen im Feld der Medienpädagogik bzw. der erziehungswissenschaftlichen Medienforschung anstoßen, die von einer relationalen und machtsensiblen Perspektive geprägt sind. Macht ist hierbei nicht als die einseitige Durchsetzung eigener Interessen gegenüber Anderen, sondern im Sinne einer Beobachtungskategorie als die wechselseitige Abhängigkeit von Anderen und Anderem zu verstehen. Die verschiedenen theoretischen Perspektiven verweisen mit ihren Schwerpunktsetzungen auf teilweise quer zu ihnen liegende Dimensionen bildungsförmigen Geschehens, die in weitere Überlegungen oder auch in empirische Arbeiten eingedacht werden müssten: Korporalität (Körperlichkeit) ist bedeutsam, insofern dem Körper in Handlungsvollzügen, aber auch als Träger schweigenden Wissens und routinisierter Praxisformen eine gewisse Eigenlogik zukommt, die sich in Praxis- und also Bildungsgeschehen genauso einschreibt, wie er sich dem rationalisierenden, intentionalen Zugriff einer starken Handlungstheorie entzieht. Materialität schließt direkt an diesen Gedanken an und nicht nur menschliche Körper, sondern auch die materielle Dingwelt in ihrer Gesamtheit ein. Mit den Theoremen der neuen Materialismen lässt sich ein rein passiver, objekthafter Charakter der Dinge nicht aufrechterhalten. Während eine solche Annahme auch für einen Schultisch zutrifft, tritt sie in Auseinandersetzung mit dynamischen, automatisierten oder ,selbstlernenden‘ digital-technischen Dingen wie Prüfungssoftware oder Learning-Analytics-Systemen überdeutlich hervor. (Mit dem ,älteren Materialismus‘ Marx’scher Prägung wird jedoch gesetzt, dass sich mehrwertförmige Ausbeutung zunächst nur an menschlicher Arbeitskraft vollziehen lässt.) Situativität verweist auf die radikale Kontextgebundenheit von Bildungsgeschehen: Auf welche Weise genau sich Bildungsgeschehen, etwa in Auseinandersetzungen mit Körpern und Dingen, entfalten (können), ist einem berechnenden, prognostischen, isolierenden und universalisierenden Zugriff nicht zugänglich. Bildungsbezogene Praktiken erfordern situationsbezogene Deutungen und Analysen unter Berücksichtigung der je spezifischen Relata. Sozialität und Kollektivität von Bildungsprozessen werden insofern thematisch, als vor ihrem Hintergrund kein Bildungsgeschehen als rein individuelles gedacht werden kann. Auf welche Weise verschiedene (menschliche
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wie nicht-menschliche) Akteure in diesem Geschehen sowie Bildungsprozesse der beteiligten menschlichen Akteure zueinander zu relationieren sind, obliegt wiederum einer je situativen Analyse.13 Die Politizität und Subversivität partizipativen Bildungsgeschehens leitet sich schließlich aus dem Anspruch ab, dass Beteiligung im Allgemeinen wie politische Partizipation im Besonderen vielfach als normative Zielsetzungen von Bildungsgeschehen formuliert werden (vgl. etwa Krucsay 2009; Autenrieth und Nickel 2020, S. 4; kritisch zur Kritischen Erziehungswissenschaft siehe Masschelein 2003, S. 126 f.). Im ambivalenten Verhältnis von einzelnen ,zu Bildenden‘ und universellen Beteiligungsbestrebungen oder -rechten, darauf verweist nachdrücklich Mai-Anh Boger (2019, S. 9, 8) am Beispiel der Menschenrechte, wird die Doppelfigur von Unterwerfung und Entunterwerfung auf eine weitere Weise deutlich: „Stellt sich ein Universalismus als ein falscher, ein unterdrückerischer Universalismus heraus, ist die Partizipation an diesem ebenso kein Mittel zur Befreiung und Emanzipation, sondern viel eher eine Unterwerfung und Anpassung. [...] Ist ein Universalismus jedoch tatsächlich ein emanzipatorischer, gilt es nach wie vor, das universelle Recht auf Teilhabe an diesem einzufordern. [...] Dazu lohnt es sich nach wie vor, in Aporien und Dilemmata zu denken“.
Insbesondere normative Vorstellungen von Partizipation können auf diese Weise dekonstruiert werden, sodass für das komplexe Zusammenwirken von gesellschaftlichen Größen und individuellem Handeln, wie auch für die inhärenten Machtasymmetrien zwischen divergenten normativen Ansprüchen, sensibilisiert werden kann. Emanzipatorisch können solche Ansprüche lediglich sein, wenn sie für weitere Aushandlungen durch ,alle‘ Beteiligten geöffnet bleiben, anstatt einer herrschaftlichen Subsumptionslogik zu folgen (vgl. ebd., S. 7 f.). Medialität (wie auch Digitalität) steht stets in einem engen Bezug zu Spatialität und Temporalität, also Räumlichkeit und Zeitlichkeit (vgl. Winkler 2004, S. 19). Die Trias der Medienfunktionen nach Kittler – Übertragen, Speichern, Prozessieren (vgl. Winkler 2015, S. 119 ff.) – verweist auf diesen Zusammenhang. Post-digitale Netzwerkmedien legen multiple Überlagerungen von physikalischen und topologischen Räumen bzw. Raumwahrnehmungen nahe. Grenzen, etwa von
13 Interessanterweise
zeigen sich in der Denkfigur eines aktualisierten partizipativen Designs auffällige Parallelen, die Pelle Ehn (vgl. 2013) in Auseinandersetzung u. a. mit Latour und Haraway entwickelt.
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formalen ,Bildungssituationen‘ (vgl. oben Situativität), werden damit schwierig zu ziehen (vgl. Aßmann 2013). Sowohl auf einer Formebene (Code, Software, Protokolle) als auch auf einer Inhaltsebene (Daten, Informationen) weisen postdigitale Netzwerkmedien darüber hinaus einen temporalen Charakter auf, insofern sie vergangene Zustände konservieren, speichern. Digitale Dinge erweisen sich zudem – mit Einschränkungen – als hochtransformabel (vgl. Manovich 2013, S. 32): als (auch automatisiert) prozessierbar. Im letztgenannten Aspekt scheint die Dimension der Algorithmizität auf. Bildung kann mit diesen Dimensionen als Beobachtungsbegriff gefasst werden. Zum Gegenstand wird dann die prozessuale (Trans-)Formation von Welt-Selbst-Verhältnissen, die unter Berücksichtigung der oben genannten Dimensionen konsequent relational zu fassen ist. Dies stellt gewiss keinen neuen Einsatzpunkt dar, da Bildung bereits sowohl kategorial relational bestimmt (Koller 2012a, 2012b) als auch dementsprechend empirisch erschlossen wird (Bettinger 2018). Gleichwohl stellt sich unter den dargestellten Theorielinien und der mit ihnen einhergehenden analytischen Dimensionen aus bildungstheoretischer Perspektive in neuer Weise die Frage, ob und wie die Handlungsfähigkeit einzelner Subjekte zu denken ist – insbesondere dann, wenn etwa die ,machtvolle‘ Zurichtung von Subjekten (siehe Abschn. 2.1) oder die symmetrische Vernetzung von Dingen und Menschen (siehe Abschn. 2.3) zu Prämissen der Forschung erklärt werden. Derartige Einsätze irritieren die mit dem Bildungsbegriff verknüpfte Idee einer gegen gesellschaftliche Zwänge gerichteten Mündigkeit und Emanzipation (Lüders 2007). Die hier entworfene, multitheoretisch informierte Betrachtung einer participatory culture muss gewiss noch weiter ausdifferenziert werden, eröffnet aber auch Potenziale, eingewöhnte bildungstheoretische Konzeptionen zu befragen und anders über Bildung nachzudenken und zwar derart, dass es gerade nicht um eine aufklärerische Befreiung des Menschen zu sich selbst gegenüber ökonomischen Zwängen und gesellschaftlicher Bevormundung geht (siehe hierfür auch Ricken 2019). Das einzelne Subjekt erscheint dann nicht mehr als souveräne, kritische, widerständige Instanz (Lüders 2007). Zahn (2020) führt diesen Gedanken am Beispiel gegenwärtiger ästhetischer Praktiken unter besonderer Berücksichtigung des Kritikbegriffs weiter aus. Eine kritische Haltung wird von ihm mit Foucault als ,Grenzhaltung‘ bestimmt, „die präzise historische Analysen der jeweiligen gesellschaftlich gesetzten Grenzen mit der beständigen Probe ihrer Überschreitung oder Subversion zusammenführt.“ (Zahn 2020, S. 217 f.) Das Subjekt ist somit nie eine von sozio-kulturellen, ökonomischen, politischen, technischen Verhältnissen losgelöste Instanz, sondern stets in sie verwickelt (und konsequenterweise
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als ,In-Dividuum‘, als Unteilbares, nicht mehr zu denken). Bildung wird so als Grenzgang denkbar. An die Stelle von Distanzierung und kognitiver Einsicht treten Nähe und Vernetzung (Zahn 2020). Im Feld der Medienpädagogik werden die in diesem Text nachgezeichneten Theorielinien bislang wenig rezipiert (vgl. Dander 2017; Bettinger und Hugger 2020). Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass sich ein konsequent relationales Denken auf all den genannten Ebenen als herausfordernd bis unmöglich erweist: Bereits auf sprachlicher Ebene stoßen wir an Grenzen, wenn wir von Subjekten sprechen möchten, ohne ihnen per se einen bestimmten Subjektstatus zuzuweisen oder sie als in sich abgeschlossene Entität zu begreifen. Zudem irritieren derartige Theorien etablierte pädagogische Selbstverständnisse, in deren Mitte ,der Zögling‘ steht. Eine fruchtbare Produsage der skizzierten Theorielinien im medienpädagogischen Kontext wird sich deshalb auch daran messen lassen müssen, inwiefern ein (produktiver) Anschluss an etablierte Handlungs- und Interaktionstheorien sowie Leitkonzepte wie Medienhandeln, Medienbildung usw. gelingt. Bisher fehlen entsprechende Arbeiten. Werden die oben skizzierten Potenziale berücksichtigt, erscheint ein solches Unterfangen allerdings als ebenso angezeigt wie lohnenswert.
Literatur Alkemeyer, T. 2013. Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik. In Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Hrsg. T. Alkemeyer, G. Budde und D. Freist, 33–68. Bielefeld: transcript. Alkemeyer, T., G. Budde, und D. Freist. 2013. Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld: transcript. Althusser, L. 2016 [1970]. Ideologie und ideologische Staatsapparate (1. Halbband, Gesammelte Schriften, Hrsg. Frieder Otto Wolf) 2. unveränd. Aufl. Hamburg: VSA. Aßmann, S. 2013. Medienhandeln zwischen formalen und informellen Kontexten: Doing Connectivity. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. Autenrieth, D., und S. Nickel. 2020. Kultur der Digitalität = Kultur der Partizipation? Medienimpulse 58 (4). doi: https://doi.org/10.21243/mi-04-20-13. Baacke, D. 1997. Medienpädagogik. Grundlagen der Medienkommunikation 1. Tübingen: Niemeyer. Barad, K. 2017. „Agentieller Realismus“. In Science and Technology Studies. Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Hrsg. S. Bauer, T. Heinemann und T. Lemke, 574–643. Berlin: Suhrkamp. Barney, D., G. Coleman, C. Ross, J. Sterne, und T. Tembeck. 2016. „The Participatory Condition: An Introduction“. In The participatory condition in the Digital Age, Hrsg. D. Barney, G. Coleman, C. Ross, J. Sterne und T. Tembeck, vii–xxxix. Minneapolis: University of Minnesota Press.
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Interaktion im digital mediatisierten Unterricht. Situative Ethnographien sozialisatorischer Praktiken und Strukturen Sven Thiersch und Eike Wolf Zusammenfassung
Der Beitrag präsentiert Forschungsergebnisse zur pädagogischen Interaktion im digital mediatisierten Unterricht. Nach einer einleitenden Thematisierung des mitunter ideologisch geführten Diskurses, rahmen konstitutions- und gegenstandstheoretische Bestimmungen zur Digitalisierung von Schule und Unterricht die folgenden Analysen situativer Ethnographien in Tabletklassen. In der Auswertung konkreter Unterrichtssituationen zeichnen wir neue Praktiken der digitalisierten Verteilung des Rede- bzw. Hilferechts und der klassenöffentlich sichtbaren unterrichtlichen Beteiligung nach. Auf dieser empirischen Grundlage wird die These entworfen, dass die Digitalisierung die kommunikativen Bezüge im Unterricht erweitert und neue sozialisatorische Unterrichtpraktiken hervorbringt, es dabei aber gleichermaßen zu einer Konsolidierung der unterrichtlichen Interaktionsstruktur kommt.
Der Beitrag entstand in einer frühen Phase des BMBF-Projekts „Zur sozialen Praxis digitalisierten Lernens“. Im Zuge der weiteren Erhebungen und Auswertungen in dieser Untersuchung entwickelten wir in den Ansatz einer Rekonstruktiven Situationsanalyse (Wolf und Thiersch 2022). S. Thiersch (*) · E. Wolf Universität Osnabrück, Osnabrück, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Wolf E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_10
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S. Thiersch und E. Wolf
Schlüsselwörter
Digitalisierung · Schule · Unterricht · Interaktion · Sozialisation · Praktiken · Strukturen · Mediatisierung · Situative Ethnographie
1 Diskurse zur Digitalisierung von Schule und Unterricht Die Diskurse zur Digitalisierung von Schule und Unterricht bilden ein bekanntes und tief verwurzeltes gesellschaftliches Spannungsfeld von Technik- und Fortschrittsnarrativen einerseits und entsprechender Skepsis andererseits ab. Vor allem in bildungspolitischen und pädagogisch-praktischen Diskursen proklamiert man aktuell für den Reformpol eine digitale „Bildungsrevolution und -offensive“ (Dräger und Müller-Eiselt 2015; BMBF 2016; Burow 2017, 2019) mit der programmatischen Orientierung, mithilfe digitaler Medien eine Optimierung des Lehrens, Lernens und Organisierens in der Schule zu bewirken (u. a. Heinen und Kerres 2015; Kerres 2018; Tulowitzki und Gerick 2018). Diesem Legitimationsdiskurs der zunehmenden Digitalisierung von Schule und Unterricht steht eine kritische Diskussion derselben Steuerungs- und Nützlichkeitsvorstellungen gegenüber. Auch die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung formulierte „Prämisse“, dass „im Mittelpunkt des staatlichen Bildungsauftrags (…) auch in Zeiten des digitalen Wandels der Mensch“ und der „Primat der Pädagogik“ über „den Einsatz digitaler Technik bestimmen“ muss und „nicht umgekehrt“ (BMBF 2016, S. 3), bringt exemplarisch diese zwei Argumentationspole zum Ausdruck. In der bloßen Notwendigkeit der Formulierung einer solchen Prämisse dokumentiert sich eine mit der Implementation digitaler Technologie offenbar angenommene Befürchtung: Annahmen der grenzenlosen Möglichkeiten (Augmented Reality, Big Data, Internet of Things) bzw. der linearen Wirkungszusammenhänge der Technik auf den Menschen könnten die soziale Konstitution von Bildung unterschlagen. So wird die Sorge artikuliert und auf die Folgen davon aufmerksam gemacht, dass technologische Entwicklungen die soziale und pädagogische Funktion von Schule auflösen und die Lehrenden teilweise oder gar ganz ersetzen könnten, wie in schulischen Zukunftsszenarien antizipiert (Seydel 2019; Burow 2017, 2019; Muuß-Merholz 2019). Während in medienpädagogischen Diskursen und Forschungen zu Medienkompetenz und -erziehung das Verhältnis von schulischen Akteuren und Medien sehr differenziert betrachtet worden ist (z. B. Tulodziecki und Herzig 2002; Martin 2018), fällt in einer holzschnittartigen Betrachtung der aktuellen Untersuchungsfelder auf, dass sich die beschriebenen Perspektiven auch im wissenschaftlichen
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Diskurs reproduzieren. Fokussiert werden überwiegend der Outcome und die Effekte neuer Informations- und Kommunikationstechnologien zur Verbesserung des fachlichen Lernens (z. B. Herzig und Grafe 2007), im Erwerb von Medienkompetenzen (z. B. Bos et al. 2014; Eickelmann et al. 2019) sowie für didaktische Möglichkeiten neuer Formen des Unterrichtens, des Lernens und der individuellen Förderung (z. B. Bertelsmann-Stiftung 2015; Bastian und Aufenanger 2017; Holmes et al. 2018). Andere Studien hingegen kritisieren in der Analyse diskursiver Ordnungen und Praktiken die Digitalisierung von Schule als Dispositiv zwischen neoliberaler Modernisierung, reformpädagogischen Überlegungen (z. B. die Individualisierung und Selbststeuerung der Lernprozesse) und Technologisierbarkeit schulischen Unterrichts und seiner Bildungsmedien, mit der die Verantwortung für den Lernerfolg auf den Lernenden selbst übergeht (Fey et al. 2015; Höhne 2018; Wunder 2018; Macgilchrist 2018). In der Diskussion und Forschung bislang weniger in den Blick kommt die empirische Frage, wie digitale Medien im Unterricht handlungspraktisch integriert werden und ob sich damit gleichermaßen die pädagogische Sozialität von Schule transformiert. In diesem Beitrag möchten wir uns auf der Grundlage sozialisations- und medientheoretischer Überlegungen und erster Ergebnisse eines aktuellen Forschungsprojekts dieser Frage annähern. Wir entwickeln dabei die These, dass im Zusammenspiel mit bereits veränderten Organisationsund Sozialitätsformen des (individualisierten) Unterrichts (z. B. in Lernbüros oder -studios) digital mediatisierter Unterricht und die Generativität neuer Informations- und Kommunikationstechnologien zwar neue Interaktionspraktiken des Unterrichts und neue Ausdrucksformen des Lehrer- und Schüler-Seins hervorbringen, die sozialisatorische Struktur unterrichtlicher Interaktion indes aber stabil bleibt und sich – darüber hinaus – verfestigt.
2 Zur Sozialität des Digitalen Anders als Untersuchungen, die Digitalisierung als „technische, gesellschaftliche und kulturelle Infrastruktur“ und „unabhängige Variable voraussetzen“ (Nassehi 2019, S. 14, 16), um dann ihren Einfluss auf andere Messgrößen zu analysieren, folgen wir konstitutionstheoretisch in diesem Beitrag Ansätzen der Techniksoziologie (Castells 2017; Helbing 2019; Nassehi 2019). Diese gehen davon aus, dass „Technologien und Techniken nur dann erfolgreich sein können, wenn sie anschlussfähig genug für die Struktur einer Gesellschaft sind“, weil sie eine Funktion zur Lösung gesellschaftlicher Probleme übernehmen (Nassehi 2019, S. 16). Grundlegend stellt sich damit die Frage, für welches Problem die
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Digitalisierung eine Lösung ist. Nassehi (2019, S. 28) stellt die These auf, dass „das Bezugsproblem der Digitalisierung (…) die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst“ sein muss, da die Radikalität der „Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur“, die uns vertraut ist (ebd., S. 18). Folgt man dieser Überlegung, ist das dialektische Verhältnis von Technologie und Gesellschaft zu betrachten: Technologien verweisen dann zwar auf gesellschaftliche Entwicklungen, bestimmen diese aber nicht. Gleichzeitig determiniert Gesellschaft nicht die technologische Innovation (Castells 2017, S. 5 f.). Dieser Argumentation folgend, operieren bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme bereits in einem ‚digitalisierten‘ Modus, der wiederum lange schon bestehende soziale Strukturen der Gesellschaft inkludiert und mithin besonders sichtbar macht (Nassehi 2019, S. 29). Neben der entgrenzten und beschleunigten Seite wird durch die Digitalisierung damit zugleich eine gesellschaftliche Trägheit und Regelmäßigkeit produziert. Die von Menschen in die Technologie gegebenen Daten und deren Rekombination müssen schließlich wieder in die analoge und sinnhafte Welt transformiert werden, was nicht nur eine Kontingenz- und Komplexitätssteigerung zur Folge hat, sondern auch zur Perpetuierung gesellschaftlicher Muster führt. Das Digitale ist so kein medialer Sonderfall, digitale Medien folgen vielmehr den Strukturen einer allgemeinen „Mediatisierung“, mit der Krotz (2001, 2008) einen Metaprozess (wie Globalisierung und Individualisierung) der beständigen Veränderung sozialer und kultureller Praxis beschreibt. Ihm zufolge sind soziale und kulturelle Phänomene ohne die Medien nicht mehr zu verstehen, weil sie Kommunikation etwas hinzufügen (auch Hepp 2020). Neben dieser transformatorischen Kraft der Mediatisierung verweist aber auch Krotz auf die Stabilität des Sozialen selbst, das den handlungspraktischen Umgang mit analogen wie digitalen Medien erst mit Sinn ausstattet. Im Anschluss an diese Überlegungen der in Sozialität entstandenen und strukturierten Praxis der Digitalisierung gehen wir gegenstandstheoretisch mit Bezug auf interaktions- und strukturtheoretische Ansätze davon aus, dass Handeln, Erleben und Kommunizieren von Menschen in sozialen Beziehungen auch in einer digitalen Umgebung sinnhaft strukturiert sind (Mead 1968; Krotz 2008, S. 33). Unterrichtinteraktionen als Grundlage für Lehr-Lern-Prozesse stellen so eine besondere Form dieser symbolvermittelten Praktiken dar. Im Rahmen schulischer Erwartungs- und Anforderungsstrukturen erschließen sich die Akteure Bedeutungen kommunikativ und interpretativ, in Beziehungen mit und zu anderen Menschen. Diese Sinnreservoirs liegen auch Objekten und Dingen zugrunde. Technologien wie Tablets, Lernsoftware oder Interaktive Whiteboards sind in sprachliche oder auch körperliche Handlungs- und Sinnmuster von Menschen integriert und wirken nicht kausal auf Lernen oder Bildung. Sie sind in ihrer „Rolle in der sozialen
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Anwendung“ zu verstehen (Hienzsch und Prommer 2004, S. 148). Technikbezogene und digital mediatisierte Unterrichtsinteraktion als soziale Praxis stützt sich bereits auf soziale und pädagogisch-didaktische „Handlungsrelevanzen und -dispositionen“ (Hillebrandt 2002, S. 32). Auf der anderen Seite bringt ein sich auf Informations- und Kommunikationstechnologien beziehendes soziales Handeln aber auch neue Ausdrucksformen des Unterricht(en)s hervor, weil Medien eine generative Funktion haben und unterrichtlicher Kommunikation etwas hinzufügen (Wagner 2014, S. 19). Kommunikation mittels digitaler Medien ist so als eine spezifisch modifizierte Form unmittelbarer Kommunikation in Face-to-Face-Situationen zu begreifen, die aufgrund des technologischen Settings und eines damit spezifisch strukturierten Interaktionsrahmens eine Transformation erfährt (Krotz 2001, S. 65), denn: „Medien erweitern, verändern, gestalten, ermöglichen also Kommunikation“ (Krotz 2008, S. 43). Unterricht ist in dieser Perspektive nicht durch die Anwesenheit von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien in einem Klassenraum digitalisierungsspezifisch mediatisiert. Erst die interaktive Bezugnahme der unterrichtlichen Praxis auf das digitale Medium und die damit verbundenen Möglichkeiten bspw. des Distribuierens, Recherchierens, Darstellens und Sicherns von Inhalten bringt einen Unterricht hervor, den wir digital mediatisierten Unterricht nennen. Mit der Formulierung „digital mediatisiert“ wollen wir so zweierlei zum Ausdruck bringen: Einerseits verweist sie darauf, dass Unterricht als Handlungsrahmen und -praxis sich einer genuin medialen Transformation ausgesetzt sieht. Die konkret in Frage stehende Entwicklung und Modifikation ruht dabei auf einer technologischen Spezifik auf, die sich als digital beschreiben und sich so von ähnlichen Transformationen unterscheiden lässt, bspw. dem Einzug von Tageslichtprojektoren oder Videorekordern in den schulischen Unterricht.
3 Medien im Unterricht aus der Perspektive der Sozialisationsforschung und -theorie Während in außerschulischen Lebenswelten Mediennutzung bzw. -aneignung recht gut erforscht sind und aufgezeigt wird, wie digitale und mobile Medien neue Formen sozialer Integration (z. B. Neumann-Braun 2000; Vollbrecht 2003) aber auch sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung (z. B. Cybermobbing und Hate-Speech) hervorbringen (z. B. Paus-Hasebrink 2017), ist die Trias von Schule, Sozialisation und Medien bislang sowohl theoretisch als auch empirisch kaum in den Blick genommen worden. Aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive werden hier zwar eine Reihe sozialisationstheoretisch relevanter Fragestellungen aufgeworfen (Hoffmann und Mikos 2010; Vollbrecht und Wegener 2010; Hoffmann et al. 2017), die jedoch nur ansatzweise
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mit schulischen Strukturen und Funktionen und der schulischen Sozialisationsforschung in Zusammenhang gebracht werden (z. B. als Ausnahme Spanhel 2010). Medientheorien zielen vielmehr auf das situationsspezifische Medienhandeln und auf die Beweggründe für deren Nutzung (Hoffmann 2010, S. 20). Sie thematisieren insofern, ob und wie im Zuge der Mediatisierung der Lebenswelt digitale Medien als „allgegenwärtige Sozialisationsagenturen“ (Vollbrecht 2003, S. 13) und als „Instrumente der Sozialisation“ (Schorb 1997, S. 338) in ihrer zentralen kommunikativen Mittlerfunktion in und zwischen Familien, Schulen und Peer-Groups Veränderungen produzieren, indem sie Kommunikation und Beziehungen vernetzen, durchmischen und beschleunigen. Medienpädagogische Untersuchungen weisen mit dem Fokus auf das Verhältnis zwischen Schulen und anderen Sozialisationsräumen darauf hin, dass Grenzlinien wie die „räumliche Trennung, soziale Separierung, professionelle Betreuung, thematische Konzentration und eigene Form der Kommunikation“ undurchsichtiger werden und im Zuge dessen von einer „Entgrenzung“ der Institution Schule auszugehen ist (Aßmann 2016, S. 521). Diese schulischen Entfremdungs- und Entgrenzungsphänomene der sozialen und pädagogischen Interaktion im medienkulturellen Wandel werden genauso beobachtet und beschrieben wie neue Schließungspraktiken und -mechanismen (Böhme 2006; Herzig und Aßmann 2014a, S. 45). Der Schule als Erziehungs- und Sozialisationsinstanz wird auch in einer Netzwerkgesellschaft eine wichtige Schalter- oder Knotenfunktion zugeschrieben, die Kindern und Jugendlichen die Anschlussfähigkeit und Übersetzungsleistung sowohl von globalisierten Wissensnetzwerken als auch von informellen Erfahrungs- und Lernwelten ermöglicht (Herzig und Aßmann 2014b, S. 651 f.). Schon vor dem breiteren gesellschaftlichen Digitalisierungsdiskurs findet man dabei kaum Betrachtungen zu Medien und zur Mediatisierung in allgemeinen und schulbezogenen Sozialisationsmodellen. Sie werden lange Zeit gar nicht (z. B. Faulstich-Wieland 2002; Grundmann 2006; Tillmann 2010; Hummrich und Kramer 2017) oder vereinzelt diskutiert (z. B. Lange 2015). Der Einfluss von (digitalen) Medien auf die schulische Sozialisation sei begrenzt, so eine These, da in den Medien „diffuse“ und keine „sozialisationsrelevanten Wirklichkeitserfahrungen“ gemacht werden und kein „Feedback“ in „wechselseitige(n) bzw. reziproke(n) Beziehung(en)“ zur „Rollenidentifikation“ möglich sei (Hoffmann 2010, S. 15 f.). In der Schulpädagogik bzw. -forschung, Allgemeinen Didaktik und Lehrer*innenbildung liegt ebenso ein traditionell distanziertes Thematisierungsverhältnis der „Neuen“ Medien vor. Es fehlen bislang Ansätze, die die Relevanz mediensozialisatorischer Prozesse und medienbezogener
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symbolischer Ausdrucksformen für die Beziehungen und Kommunikationen in der Schule erforschen (Niesyto 2010, S. 63; Bettinger und Aßmann 2017).
4 Situative Ethnographien im Projekt „Zur sozialen Praxis digitalisierten Lernens“ Die empirisch offene Frage nach der Integration und Anschlussfähigkeit digitaler Medien in Schule und Unterricht hinsichtlich sozialer Interaktionspraktiken steht im Zentrum des Erkenntnisinteresses eines Forschungsprojekts, auf das wir uns im Folgenden beziehen werden. Wir fokussieren die sozialisatorische Praxis im digital mediatisierten schulischen Unterricht und fragen danach, wie Unterricht, der sich auf digitale Medien stützt, interaktiv hergestellt wird und in welchem Verhältnis Face-to-Face- und digital mediatisierte Kommunikation stehen. In der Analyse zielen wir auf eine Bestimmung der Transformationsprozesse pädagogischer Sozialität ab, aber auch darauf, welche Interaktionsstrukturen stabil bleiben oder sich verfestigen. Die Untersuchung stützt sich methodisch auf eine sechsmonatige Ethnographie in den 5. bis 8. Jahrgangsstufen an einem Gymnasium und einer Gesamtschule, in der Situationsbeschreibungen im digital mediatisierten Unterricht angefertigt und Audioprotokolle dieses Unterrichts aufgezeichnet wurden. Wir betrachten die sinnstrukturelle „Bedeutung sozial geteilter Bezugsrahmen, in denen der kulturell definierte Sinn typischer Situationen“ mit digitalen Technologien im Unterricht „zum Ausdruck kommt“ (Kroneberg 2005, S. 345 f.) und verstehen unser Forschungsprogramm entsprechend als situative Ethnographie. Uns geht es im Anschluss an symbolisch-interaktionistische Ansätze und Goffman (1971, S. 9) „nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen“. Wir schließen so an sein gesellschafts- und interaktionstheoretisches Konzept an, für das Situationen einen Kulminationspunkt darstellen: „Eine soziale Situation ist nicht die Unschuld vom Lande. Man könnte behaupten, daß soziale Situationen […] eine Realität sui generis sind […] und daß sie daher eine Analyse kraft eigenen Rechts verlangen und rechtfertigen“ (Goffman 1982, S. 202). In dieser Perspektive (ko-)konstruieren Akteure in Situationen die sinnhafte Ordnung der sozialen Welt (vgl. Rawls 2002), eine Situation „is used by the interactants to structure and shape their shared social experience“ (Rettie 2009, S. 424). Kehrt man diese interaktions- bzw. handlungstheoretische Perspektivierung um, wird es möglich, die Situation als „die basale Untersuchungseinheit aller Sozial- und Kommunikationswissenschaft“ (Reichertz 2013, S. 164) zu deuten und nicht etwa
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„das Handeln oder das Handlungssubjekt“ (ebd.). Für unsere Zwecke sind diese Hinweise hilfreich, da sie auf die Annahme verweisen, dass sich in einer konkret situativen (Interaktions-)Praxis immer auch eine bereits vorhandene, situierte Sinnstruktur zeigt, über die die soziale Welt vor der singulären Reaktualisierung durch einen konkreten Akteur immer schon entschieden hat. Ihre Sinnhaftigkeit kommt der Situation dadurch zu, dass sie als Kontinuum von Handlungs- und Objektebene darstellbar ist, sie „ist nicht die Lage, in der jemand an einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt (objektiv) ist, sondern ›Situation‹ ist die subjektive Wahrnehmung und Deutung all der oben genannten Faktoren zu einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt“ (ebd., S. 159). Friedrichs (1974, S. 51) deutet Situationen so als „Bindeglied von gesellschaftlicher Struktur und dem Verhalten einzelner Akteure“ bzw. „Verknüpfung makro- und mikrosoziologischer Ansätze“, da er „von der Annahme ausgeht, alles Handeln vollziehe sich in Situationen“ (ebd., S. 47). In Situationen wird Bedeutung (re-)produziert, die je nach Handlungs- oder Analyseperspektive unterschiedliche Anschlüsse ermöglicht: „›Situationen‹ werden produziert im Wahrnehmungs- und Handlungszusammenhang – und interpretiert im Verweisungs- und Zuschreibungszusammenhang – mit einem Netzwerk (ebenfalls produzierbar) vorangegangener oder antizipierter ›Situationen‹ und der mit ihnen verbundenen Wahrnehmungsund Handlungsprozesse“ (Soeffner 2000, S. 22). Die Situation stellt sich so als Sinnträgereinheit dar, „vor dem Hintergrund einer kommunikativ erarbeiteten, also gemeinsam artikulierten Situation: Menschen stellen für sich und für andere fest, was jeweils der Fall ist, und diese Artikulation der Situation ist ganz entscheidend für das weitere Handeln. Nur Menschen stellen verbindlich fest, was für alle in der Situation gegeben ist – alles andere ist nicht verbindlich, und dies kann weder Technik noch ein Biosystem leisten“ (Reichertz 2013, S. 178). Mit Reichertz’ Hinweis lässt sich so die o. a. Perspektivierung von digitalen Medien im Unterricht forschungspragmatisch fassen, da die Nutzung besagter Technologien im Handeln der Akteure erst in den entsprechenden sozialen Situationen eine sinnhafte Rahmung erfährt. Diese Rahmungen wiederum sind in ihrem Sinnhorizont bezogen auf die sie umgebende Bedeutungswelt; in unserem Fall ergibt sich damit die Kombination der Rahmen Schule, Unterricht und digitale Medien. Gegenstandstheoretisch schließt diese Heuristik an die skizzierten techniksoziologischen Prämissen an. Unsere ethnographischen Erhebungen folgen der Annahme, dass die Akteure die medien- bzw. mediatisierungsbezogene Spezifik ihrer Praktiken erst im handlungspraktischen Vollzug herstellen, wobei diese Produktion notwendig auf bereits vorhandene Sinnfiguren und -strukturen angewiesen sind. Unterricht ist in dieser Perspektive nicht durch die bloße
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Existenz bspw. von Tablets in einem Klassenraum digital mediatisiert. Erst wenn sich die unterrichtliche Praxis auf das digitale Medium in und als soziale(r) Interaktion bezieht, lässt sich – wie oben beschrieben – von digital mediatisiertem Unterricht sprechen. Diese Sozialität sowie die gegenstandslogische Pädagogizität fassen wir terminologisch als soziale Situationen digital mediatisierten Unterrichts. Der Situationsbegriff bietet uns so einen Erhebungs- sowie Analyserahmen, dessen Fokus „auf der Situiertheit von sozialen Phänomenen“ liegt, „die immer als je konkrete, d. h. unmittelbar gegebene analysiert werden“, ohne „die Eigenlogik der Situation in ein Korsett“ zu zwängen (Idel und Meseth 2018, S. 74 f.). In den Protokollen beschreiben wir damit soziale Situationen, die sich auf digitale Artefakte im Klassenzimmer beziehen, um in der Auswertung zunächst die sozialen Praktiken und die zeitlichen und räumlichen Ordnungen des Unterrichts in der Nutzung des digitalen Mediums herausarbeiten zu können. Die in Audioaufnahmen protokollierte sprachliche Handlungspraxis der Akteure analysieren wir in einem nächsten Schritt sequenzanalytisch mit der Objektiven Hermeneutik (z. B. Wernet 2006), um die den Praktiken zugrunde liegende Sinnstruktur zu rekonstruieren. Im Anschluss werden die Schüler*innen unserer Basisschulen sowie jüngere und ältere Schüler*innen aus unterschiedlichen Schulformen (z. B. Grund- und Berufsschulen) in Gruppendiskussionen zu ihrer Perspektive auf soziale Kommunikations- und Beziehungsaspekte im Unterricht und im Lernen mit digitalen Medien befragt, die wir in Anlehnung an die Dokumentarischen Methode rekonstruieren werden (z. B. Bohnsack 2010). Mit den Schulformen des Gymnasiums und der Gesamtschule eröffnen sich Kontrastierungsmöglichkeiten hinsichtlich der Interaktionsstrukturen im klassenöffentlichen und im individualisierten Unterricht. Die Gesamtschule arbeitet bereits seit vier Jahren, im Schulprogramm fest verankert bezüglich einer heterogen und inklusiv zu beschulenden Schülerschaft, in allen Jahrgängen mit Tablets im Unterricht. Im Gymnasium verfolgen wir unmittelbar die begrenzte Einführung der Geräte in den 5. und 7. Klassen. In diesem Beitrag möchten wir zunächst übergreifende und von diesen Kontrastierungskriterien unabhängige typische Phänomene darlegen.
5 Beobachtungen zur sozialisatorischen Interaktion im digitalisierten Unterricht Unabhängig davon, ob unterschiedliche Sozialisationsmodelle ihr Bezugsphänomen als wechselseitigen Prozess von Persönlichkeitsbildung und Vergesellschaftung, als eine soziale Praxis zwischen Struktur- und Subjektbildung oder als ein sub-
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jektivierendes und anerkennendes Geschehen betrachten und verstehen, stimmen sie darin überein, dass sich Sozialisationsprozesse in sozialen Interaktionen vollziehen. Interaktion wird so zum zentralen Untersuchungsgegenstand, an dem sich Sozialisationsprozesse im Allgemeinen und sozial-interaktive Transformationsprozesse im Besonderen untersuchen lassen. Entsprechend unseres ethnographischen Untersuchungsfokus bedeutet das: Wenn im Kontext von Digitalisierungsprozessen tatsächlich ein Wandel schulischer Sozialisationspraxis vonstattenginge, müsste damit auch ein Wandel der sozialen Interaktion im Unterricht bzw. von Unterricht selbst einhergehen. Entsprechend fragen wir, wie das Subjekt im digitalisierten Unterricht konstituiert und wie es in welche soziale Ordnung einsozialisiert wird. Wie ist die digitale Technik anschlussfähig an die pädagogische Sozialität der Schule und welche Bezugsprobleme löst sie dabei? Wir konzentrieren uns im Folgenden auf zwei typische Situationen des digital mediatisierten Unterrichts. Während die erste Situation des Anmeldens in digitalen Wartelisten exemplarisch für eine neue Form der digitalen Koordination von Rede- und Fragerechten steht, verweist die zweite in der extensiven Nutzung von Tablet und Beamer auf neue Formen der öffentlichen Sichtbarkeit im Unterricht.
5.1 Vom Melden zum Anmelden – Situationen der digitalen Koordination von Rede- und Fragerechten Die sozialisatorische Bedeutung des Meldens und die Verteilung von Rederecht wurden lange Zeit kaum erforscht (Lipowsky et al. 2007; Budde 2011, S. 131). Als naturwüchsig angenommene Bestandteile von Unterricht interpretierte man sie, trotz ihrer Relevanz für die Herstellung von Ordnung im Unterricht, gewissermaßen als nicht beachtenswert. Gerade im Melden drückt sich aber die rollenförmige Beteiligung von Schüler*innen am Unterricht aus, dem eine zentrale Sozialisationsfunktion zukommt, wie Parsons (1959) und Dreeben (1980) es aus strukturfunktionalistischer Perspektive beschrieben haben. Es ist hier Teil einer Interaktionspraxis des klassenöffentlichen und zumeist frontalen Unterrichts, bei der auf eine Initiation (in der Regel) der Lehrkraft, eine Antwort erfolgt, die wiederum von der Lehrkraft evaluiert wird, wie es Mehan (1979) im I-R-E-Schema formuliert hat. Prinzipiell statusgleiche Schüler*innen stehen damit in einem konkurrierenden Wettbewerb um die quantitativ knappe Ressource Antwortmöglichkeit einerseits und deren qualitative Wertigkeit andererseits. Diese Struktur führt im Sinne eines „hidden curriculum“ (Jackson 1968; Dreeben 1980) nicht nur zum Aufbau einer Leistungsorientierung der Schüler*innen, sie lernen so auch ihre partikularen Interessen zurückzustellen
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und im Sinne einer Orientierung an Interaktionsstrukturen einer empirischen Allgemeinheit und universalistischen Handlungsstrukturen zu antworten. Wenzl (2010, 2014) konnte auf der Grundlage dieser theoretischen Überlegungen in seinen Analysen „die inhärente Spannung zwischen individuellem Schülerinteresse und klassenöffentlichem Unterrichtsgespräch“ über die unterschiedlichen Jahrgangsstufen aufzeigen: von der „Durchsetzung der Melderegel in der 1. Klasse“ über die „strenge Einhaltung der Melderegel in der 4. Klasse“ bis hin zur „situativen Brechung der Melderegel“ in der Sekundarstufe I, die durch den Sprechakt „Eine Frage“ eingeleitet wird (Wenzl 2010, S. 33 ff.). Die Verteilung des Rede- und Fragerechts und das Melden sind damit bekannte und implizit vorausgesetzte Praktiken der Unterrichtskoordination, deren interaktionsstrukturelle Voraussetzung sich zugleich immer wieder als ein tendenziell prekärer Prozess darstellt (Herrle und Dinkelaker 2018, S. 104). In den letzten Jahren wird dieses Thema im Kontext des Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurses in überwiegend ethnographischen Unterrichtsstudien über die Transformation des klassenöffentlichen und frontalen Unterrichts hin zu offenen und individualisierten Unterrichtsformen diskutiert. In diesen Unterrichtssettings beobachten Dorow et al. (2012, S. 77) ein „Anstellen statt Melden“, das Warteschlangen produziert. Das Strukturproblem im individualisierten Unterricht wird so als die „knappe Ressource Lehrkraft“ gedeutet, das handlungspraktisch durch die „mobile Lehrkraft“ oder die „Vervielfältigung von helfenden Schüler*innen“ bearbeitet wird (Breidenstein 2014, S. 36; Breidenstein et al. 2017, S. 66 ff.). Die Öffnung der unterrichtlichen Interaktion erzeuge dabei – so Breidenstein (2014, S. 49) – aber auch neue Kontrollformen, Regulierungen und Standardisierungen des „Dran-Kommens“. In anderen Studien wird mit Blick auf die Schüler*innen im offenen und individualisierten Unterricht das sowohl reformpädagogische als auch neoliberale Ideal des selbstständigen, sich selbst präsentierenden und reflektierenden Schülers hinterfragt. Vermehrt werden Praktiken mit performativem Charakter beobachtet und darauf hingewiesen, dass Schüler*innen zunehmend zu Entscheidungsträgern ihrer eigenen Bildungsprozesse werden. Im Anschluss an Honneth und Foucault wurden diese und ähnliche Entwicklungen als institutionelle Mechanismen der Selbstverdinglichung und Selbstführung beschrieben (Rabenstein 2007, S. 56 ff.; Reh 2013; Rabenstein 2016). Der Lehrkraft kommt nun in diesen Unterrichtsformen die Rolle zu, zu diagnostizieren, Aufgaben zu stellen, zu beraten, zu betreuen und zu bewerten, was Bräu (2007, S. 178 f.) als Steuerungs- und Kontrollverlust deutet. Auch in ihren Beobachtungen wird dieser Entwicklung durch ein Mehr an Kontrolle und Standardisierung der Arbeits- und Lernprozesse seitens der Lehrkräfte begegnet.
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Der Komplex der Rechte und Pflichten des Meldens bzw. Redens ist auch in unseren Erhebungen ein relevanter Bestandteil des beobachteten Geschehens. Dabei fragt sich, welche Rolle hierbei Medien spielen (können). Im Folgenden möchten wir eine Situation darlegen, die sich inhaltlich als unauffällig, sinnstrukturell jedoch als folgenreich erweist.
Situation 1: Lernbüro1 Mathematik, 6. Jahrgang, Gesamtschule Im Lernbüro werden am Anfang der Stunde die Schüler*innen gebeten, sich im Fall einer Frage in ein gemeinsames Text-Dokument einzutragen, welches für alle sichtbar über den Beamer an die Wand projiziert wird. Der Lehrer werde dann nach und nach zu den entsprechenden Schüler*innen an den Platz kommen und die Liste abarbeiten. Die Schüler*innen sollen daraufhin beginnen an ihren individuellen Lernpfaden weiterzuarbeiten. In den nächsten fünf Minuten erscheinen nach und nach ca. 10 Vornamen auf der Liste. Der Lehrer bearbeitet die Anliegen der Einzelnen, indem er zu diesen hingeht und mit ihnen spricht. Was sehen wir in dieser Situation? Zunächst haben wir in dem gemeinsam zu bearbeitenden Dokument die Etablierung einer digitalen Koordination des „DranKommens“ und eine vergleichsweise unscheinbare Änderung des klassischen Meldens insofern vorliegen, als sie sich analog zu der bereits skizzierten Warteschlange gestaltet. Auf struktureller Ebene ändert sich zunächst nicht viel: das Problem der Verteilung von Rederecht, Hilfebedürftigkeit und Aufmerksamkeit bleibt bestehen, es geht um die „Verteilung der knappen Ressource Lehrkraft“ (Breidenstein 2014, S. 36). Im Gegensatz zum Melden als klassischer Form der Anzeige von Redewunsch oder Hilfebedarf haben wir bei der digitalisierten Variante jedoch eine folgenreiche Modifikation der „Entscheidungsregel“, die die daran anschließende Praxis leitet. Diese Entscheidung muss die – wie Goffman (1974, S. 63) sagt – „Reihenposition“ festlegen. In seinen Arbeiten zu Interaktionsordnungen von öffentlichen Situationen bestimmt er diesen Begriff als eine Facette des Territoriums des Selbst und als „die Ordnung, nach der ein Ansprucherhebender in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Gut im Verhältnis zu anderen Ansprucherhebenden bekommt“ (ebd.). Verstehen wir
1 Ein
Lernbüro ist eine didaktische Organisationsform an der untersuchten Gesamtschule, bei der im offenen und individualisierten Unterricht über den Klassenverband hinaus Schüler*innen individuell an sogenannten Lernpfaden arbeiten sollen. Diese Lernpfade sind gewissermaßen in Themen- und Schwierigkeitsstruktur konsekutiv aufgebaute Aufgaben- und Textsammlungen.
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den Erhalt des Rederechts oder von Hilfestellung als dieses Gut und die sich meldenden Schüler*innen als Ansprucherhebende, so könnte man zunächst annehmen, dass die digitale Dran-Kommens-Liste eindeutig zurechenbare Transparenz und Fairness produziert. Diese Eindeutigkeit kann sie jedoch nur um den Preis herstellen, dass mit der Festlegung „eine eindeutige, aber paradoxe Dominanz“ einhergeht, „da alle anderen Präferenzregelungen dadurch ausgeschlossen werden“ (ebd., S. 65) und zwar sowohl auf Lehrer- als auch auf Schülerseite. M.a.W.: Aus der Schülermeldung durch Handzeichen wird die Anmeldung auf der digital einsehbaren Schüler*innenliste, die der Reihe nach von der Lehrkraft abgearbeitet wird. Die Modifikation wirft unsere Überlegungen also zunächst auf das klassische schüler*innenseitige Melden zurück: Aus der „Masse“ des Klassenkollektivs müssen Schüler*innen hierbei körperlich aktiv werden, um zu Wort zu kommen oder eine Hilfestellung zu erhalten. Diese körperliche Disziplinierungstechnik etabliert in der industriellen, kapitalistischen Gesellschaft eine klare Interaktionsstruktur, in der die Lehrperson als sozialisatorischer Agent der Entfremdung (Adorno 1977) eine sozialisatorische Funktion erfüllt. Er repräsentiert personal, was die Schule in ihrer institutionellen Gesamtgestalt überformt repräsentiert: die spezifisch-universalistische Struktur der asymmetrisch-rollenförmig organisierten gesellschaftlichen Handlungssphäre (Wernet 2003). Diese Struktur des Meldens im klassenöffentlichen Unterricht als Sozialisation in die Formen einer „öffentlichen Rede“ (Wenzl 2010) eröffnet für die*den Lehrer*in interaktionsstrukturell verschiedenste Optionen des anschließenden DranNehmens: Es kann Willkür herrschen oder auch im Sinne eines „fair play“ nach dem Windhund-Prinzip verfahren, also der Zeitpunkt der Meldung als Entscheidungskriterium festgelegt werden. Demgegenüber gibt es genuin pädagogisch strukturierte Entscheidungskriterien: Wie auch immer man diese bewertet, lassen nur diese es zu, bspw. zuerst sonst eher stille Schüler*innen das initiale Antwortrecht zuzusprechen oder aber abzuwarten, bis ein als „geeignet“ erscheinender Kandidat sich zu Wort meldet. Unabhängig davon, was von der Lehrperson individuell favorisiert wird, lässt die gängige Praxis der Wortmeldung durch Handzeichen eine – und das ist in diesem Fall der springende Punkt – situativ flexible Entscheidungsvarianz in der Kriterienanwendung zu. Diese Varianz lässt sich mit Goffman (1974, 63 f.) als funktionale Metaregel fassen: „Unter Umständen können sich der Lösung von Standardproblemen dienende Metaregeln herausbilden, die bestimmen, was zu tun ist, wenn keine Regel anwendbar zu sein scheint, oder wenn eine, die eigentlich zur Anwendung kommen müßte, nicht anwendbar ist, oder wenn miteinander unvereinbare Regeln anwendbar sind“. Die Metaregel besteht für gewöhnlich in der situativen Ent-
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scheidungsgewalt der Lehrperson und ließe sich in der Deutungsfigur einer Lehrerzentralisierung kritisieren. Interaktionsstrukturell aber perpetuiert sie die kommunikative Ordnung und deren Stabilität der sozialen Praxis und lässt sie so erst erkennbar werden, denn: „Individuen – so läßt sich allgemein sagen – identifizieren eine soziale Ordnung oft auf Grund einer in ihr zur Geltung kommenden wohlbekannten Regel, aber die Lebensfähigkeit dieser Regel hängt häufig von einem Komplex zusätzlicher Regeln ab, die den natürlichen Spielraum von Zufälligkeiten zu erfassen suchen“ (ebd.). In der beobachteten Situation entfällt die durch die Entscheidungshoheit der Lehrperson gegebene Varianz nun, da die Reihenfolge an die Wand projiziert und damit gewissermaßen in Stein gemeißelt ist. Der Lehrperson bleibt zwar durchaus noch die Option, die Liste in einer anderen als der projizierten Reihenfolge abzuarbeiten, jedoch nur unter Legitimationszwang, da die Liste und die durch sie institutionalisierte Entscheidungsregel sonst funktionslos wären. Ihrer Struktur nach stellt die digital produzierte, für alle sichtbare „Dran-Kommens-Liste“ eine Entscheidungstechnologie dar, die für das pädagogische Handeln paradoxerweise eine genuin pädagogische Entscheidungsfindung legitimationsbedürftig werden lässt. Im Grunde genommen wird mit der Einführung eines solchen Instruments eine pädagogische Deprofessionalisierung insofern betrieben, als den handelnden pädagogischen Akteuren schlicht die Handlungsoptionen entzogen werden. Goffmans Betrachtung macht uns jedoch noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Die Kopplung der Reihen- und Territorialitätsbegriffe an die Kategorie des Selbst. Dort, wo das Windhund-Prinzip im Modus eines „first come, first serve“ die Allokationsregel von Ressourcen darstellt, haben wir es tendenziell mit universalistisch bzw. stark rollenförmig verfassten Settings zu tun, bspw. in Bürgerämtern oder in Waren-Abholbereichen schwedischer Möbelhäuser. So wird einerseits Transparenz hergestellt: mit der Wartenummer in der Hand weiß der Einzelne zwar nicht, wann genau er an der Reihe ist, aber immerhin, wie viele Personen noch vor ihm dran sind. Andererseits wird so jedoch auch die Anforderung der Einnahme einer Kundenrolle etabliert, in der alle Akteure diesseits der Ladentheke denselben Regeln unterworfen sind: „one at a time“. Eine dergestalt stabile Rollenorientierung setzt jedoch das voraus, was aus theoretischer Perspektive u. a. eben des klassenöffentlichen Unterrichts als Spiel- und Ermöglichungsraum der identitären Einfindung in öffentliche Handlungssphären bedurfte. M.a.W.: Die durch die digitale Liste installierte ReihenpositionsLogik verstärkt implizit den sozialisatorischen Charakter klassenöffentlichen Unterrichts in Richtung einer rollenförmig universalistischen Orientierung im individualisierten Unterricht, indem sie dessen situative Brechung durch pädagogische Motive delegitimiert. Durch die digitale Ersatztechnologie wird
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der ‚fremde‘ Agent der Sozialisation ersetzt durch ein mediatisiertes Selbst: Selbstdisziplin und -regierung treten an die Stelle der personalen Repräsentanz von Lehrer*innen. Die soziale Interaktionspraxis zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen wird vom Klassengeschehen entkoppelt und Teil einer Reihe von Service-Angelegenheiten. Der Lehrende mutiert zum Dienstleister und Sachbearbeiter einer für alle einsehbaren Liste im Lernbüro.
5.2 Beameröffentlichkeiten – Situationen der digitalen Sichtbarmachung und Sichtbarkeit Eine auch in der ersten Situation bereits enthaltene und sowohl schulform- als auch klassenübergreifend omnipräsente Praxis im Unterricht von Tabletklassen ist die Nutzung von Beamern und Smartboards als Visualisierungswerkzeuge. Alle beteiligten Akteure haben im Klassenraum via WLAN die Möglichkeit, ihre Tablets mit Projektoren zu verbinden und ihre Bildschirminhalte öffentlich sichtbar zu präsentieren. Die digitalen Geräte fungieren so als Ersatz für andere Visualisierungsmedien wie Tafeln, Overheadprojektoren oder Whiteboards. Die Möglichkeit der Projektion des eigenen Bildschirms wird jedoch auch zur Erweiterung dieser ‚klassischen‘ Praktiken der Produktion von Sichtbarkeit und interaktiver Fokussierung genutzt. Wir konnten durchgehend die Praxis beobachten, dass Schüler*innen ihre (Haus-)Aufgaben nicht nur vorlesen, sondern nach Aufforderung der Lehrkräfte gleichzeitig die schriftliche Form (z. B. digital ausgefüllte Arbeitsblätter) für die Klassenöffentlichkeit sichtbar an die Wand projizieren. Exemplarisch für diese Praxis steht die folgende Situation:
Situation 2: Deutschunterricht, 5. Klasse, Gymnasium Die Schüler*innen sollen in einer Gruppenarbeit ein Arbeitsblatt zum Thema Präteritum auf ihren iPads beantworten. Die Bearbeitungszeit wird digitalisiert an die Tafel projiziert (Abb. 1 und 2). Nach Ablauf der Zeit fordert der Lehrer eine Schülerin auf, sich über AirDrop mit dem Beamer zu verbinden und die Ergebnisse der Gruppe an die Tafel zu projizieren und diese zu präsentieren. Die Schülerin kommt den Aufforderungen nach und liest dann ihre Ergebnisse vor. Der Lehrer fordert sie anschließend auf, Beispiele des Präteritums zu nennen und mit anderen Farben im Dokument zu ergänzen. Nach dem Erscheinen der Beispiele melden sich einzelne Schüler*innen und weisen auf orthographische Fehler hin. Die Schülerin verbessert diese Fehler sofort und für alle sichtbar in ihrem Dokument.
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Abb. 1 Digitale Uhren und Arbeitsaufträg. (Fotos: Sven Thiersch)
Abb. 2 BeamerProjektionen zur Sichtbarkeit individueller Leistungen
Was sehen wir nun in dieser zweiten Situation? Zunächst lässt sich analog zum ersten Beispiel eine unscheinbare Deskription einer Praxis festhalten, die dokumentiert, dass Schüler*innen im digitalisierten Unterricht nicht mehr nur mündlich Ergebnisse vortragen. Ebenfalls analog zu Situation 1 aber erscheint uns auch dies auf sinnlogischer Ebene als folgenreich. Markant ist zunächst der Umstand, dass die Lehrer*innen den schüler*innenseitigen Zugang zu dem die visuelle Öffentlichkeit konstituierenden Medium kontrollieren. Analog zum Exklusivrecht von Lehrer*innen, an die Tafel zu schreiben, lässt sich hierin eine Reproduktionsfigur der heteronomen Struktur unterrichtlicher Interaktion identi-
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fizieren, wie sie bspw. beim Vorlesen der Hausaufgaben oder klassischen LehrerSchüler-Interaktionen entlang des bereits angeführten I-R-E-Schemas (Mehan 1979) gegeben ist und wie sie in Situation 1 hinsichtlich des Meldens bereits diskutiert wurde: Die Lehrpersonen verteilen das Recht, sich via kabellosen Netzwerks mit dem Beamer zu verbinden und die eigenen Bildschirminhalte zu projizieren, analog zur Distribution des Rederechts, das aufgrund der heteronomen Dauerprüfungsstruktur von Unterricht auch eine Redepflicht beinhaltet. Die daraus resultierende Form dieses Rederechterwerbs und der Umfang der Redepflichtbestandteile jedoch stellen eine Erweiterung eben dieser ‚klassischen‘ Interaktionsstruktur insofern dar, als sie nicht nur mündliche Partizipation, sondern ebenso die Präsentation schriftlicher Ergebnisse beinhalten. Dies bedeutet eine Modifikation der Exponierung von Schüler*innenbeiträgen: In der o. a. Problematik der knappen ‚Ressourcen‘ Lehrkraft und Rederecht sind die mündliche Partizipation und das gesprochene Wort zentralthematisch. Während das An-die-Tafel-Schreiben von Schüler*innen zwar eine gängige, jedoch zeitökonomisch durchaus umfassendere Praxis darstellt, liegt im Vorlesen ein genuin mündlich-interaktiver Fokus vor. In der Forschung zum Melden und zum klassenöffentlichen Unterrichtsdiskurs wird dieser Fokussierung auf das gesprochene Wort bisher wenig Beachtung geschenkt und vor allem differenzanalytisch als einer von verschiedenen Modi von Unterrichtsgesprächen thematisiert (Ausnahmen bilden z. B. Ehlich und Rehbein 1986; Becker-Mrotzek und Vogt 2001; Pohl 2016; einen Überblick bieten Hee und Pohl 2018): Das An-die-Tafel-Schreiben von Schüler*innen stellt im nicht digital mediatisierten Unterrichtsgespräch eine Besonderheit dar. Denn während die Verteilung des Rederechts kehrseitig die Verpflichtung beinhaltet, dass Schüler*innen nach lehrer*innenseitiger Aufforderung auch etwas sagen, vorlesen oder beantworten müssen, ist damit nicht gleichzeitig die visuelle Darstellung bspw. der Hausaufgaben verbunden. Mit der vorliegenden Praxis wird diese Exklusivität einer lehrer*innenseitigen Visualisierungspraxis getilgt. Es potenziert sich der situative Handlungsrahmen, da nicht nur der mündliche Beitrag der Schüler*innen in der sich daran anschließenden, qualitativen Evaluation eine Rolle spielt, sondern ebenso die zugrunde liegende schriftliche Arbeit. In unserem Beispiel wird nicht etwa die von der Schülerin verlesene Aufgabenlösung diskutiert, sondern der Lehrer und die anderen Schüler*innen stellen primär deren schriftliche Grundlage zur Disposition. Der Einsatz digitaler Medien bedeutet für Schüler*innen somit eine modifizierte Form der Herstellung von Öffentlichkeit, die das Präsentieren der eigenen schriftlichen Ergebnisse und die individuelle Sichtbarkeit zu Normalmodellen machen. Die visuelle Darstellung des Eigenen wird normalisiert und
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gewissermaßen zum Bestandteil des Umfangs der Schüler*innen obliegenden Partizipationsagenda, die im klassenförmigen Unterricht in dem Umstand besteht, der potenziellen Bewährung des Dran-Kommens ausgesetzt zu sein. Aus der Rede- wird eine Präsentationspflicht, in deren Rahmen nicht nur die Güte der inhaltlichen Replik, sondern auch deren korrekte schriftliche Darstellung evaluiert wird. Für Schüler*innen steht mit der Erweiterung auf visueller Ebene mehr auf dem Spiel als zuvor, während der unterrichtlichen Interaktion und damit gleichermaßen auch der lehrer*innenseitigen Evaluation kommunikativ tendenziell mehr Bezugspunkte zur Verfügung stehen und eine sinnlogisch konsequente Zuspitzung der Orientierung an der „Kategorie der konzeptionellen Schriftlichkeit als übergeordnetes Ziel schulisch initiierter Spracherwerbsprozesse“ (Hee und Pohl 2018, S. 261) zu konstatieren ist. In performativer Hinsicht erweitert das Digitale den subjektrelevanten Bereich der Reichweite interaktiver Beteiligung und erhöht die soziale Komplexität im Unterricht, indem ein höheres Maß an Entäußerung und (Selbst-)Kontrolle des Subjekts im Rahmen der Klassenöffentlichkeit evoziert wird.
6 Die Digitalisierung von Unterricht zwischen modifizierenden Praktiken und konsolidierenden Interaktionsstrukturen Die situativen Ethnographien machen deutlich, wie das technologisch Neue dem sozialen Alten manifest etwas hinzufügt, ohne dass es auf sinnstruktureller Ebene emergente Effekte der sozialisatorischen Interaktion im Unterricht impliziert. Digital mediatisierter Unterricht bringt in Bezug auf die dort vorzufindenden Interaktionsmuster manifest neue Praktiken als Transformation einer Lehr- und Lernkultur hervor. Auf der Ebene der strukturellen Verfasstheit aber zeigt sich zugleich die Interaktionsordnung von Unterricht persistent. Diese Erkenntnis wollen wir abschließend zu den eingangs skizzierten Diskursen einer digitalen Transformation ins Verhältnis setzen. Unsere Rekonstruktionsergebnisse verweisen erstens auf eine Interdependenz von bereits modifizierten Organisations- und Sozialitätsformen von Unterricht und neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Ein Wandel unterrichtlicher Sozialisationsprozesse bezieht sich, wie wir gesehen haben, insofern nicht allein auf deren Einsatz und Nutzung. Es bestehen vielmehr ein Zusammenhang und eine Verwobenheit des Wandels im Kontext der Digitalisierung mit anderen Transformationen auf unterschiedlichen Schulebenen, die zunächst wenig technologische Bezugspunkte besitzen. Bereits Praktiken der Öffnung
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und Demokratisierung, der Neuen Steuerung im Kontext eines New Public Managements und nicht zuletzt im Heterogenitäts- und Inklusionsdiskurs transformieren Schule und Unterricht (z. B. der Wandel vom klassenöffentlichen Frontalunterricht zum offenen und individualisierten Unterricht). Diese Entwicklungen von Schule, die wiederum in gesellschaftliche Transformationsprozesse eingebettet sind, ermöglichten überhaupt erst die Digitalisierung von Schule und Unterricht. Das Digitale ist – so die These – ein Ausdruck und zugleich ein Katalysator der Fortschreibung eben dieser analog-sozialen Prozesse und wird hier zum Diskurszentrum auch des schulischen Wandels. Zweitens bringt dieser Wandel, wie wir es exemplarisch an den zwei Situationen herausarbeiteten, neue Ausdrucksformen des Unterrichts hervor. Die unterrichtliche Digitalisierung führt zu einer additiven Erweiterung und Ersetzung in der Organisation von Sozialität, Zeit und Raum wie im Anmelden oder in der individuellen Sichtbarkeit der schriftlichen Arbeiten als Normalmodell rekonstruiert. Digitale Tools sind praktisch und vereinfachen die Unterrichtskoordination, weil sie strukturieren und selektieren. Auf der Ebene der Praxis sehen wir neue Anforderungen und Erwartungen an das Handeln von Lehrenden und Lernenden. Neue Handlungszusammenhänge im Unterricht bilden sich so als eine „Ausdrucksgestalt“ ab (Oevermann 2002), die Kausalität und Einwirkung nahelegt, die aber, wie wir gezeigt haben, angesichts sozialer Lagerungen des Unterrichts nicht beliebig sind (vgl. auch Nassehi 2019, S. 53). Dieser Zusammenhang ist abseits einer inhaltlichen Komponente bezeichnend für die Zwischenlage, die sich uns empirisch aufschließt: Während sich Unterricht dem Beobachter weiterhin als Unterricht präsentiert, gibt es neue digitalisierungsspezifische Praktiken, die zentrale sozialisatorische Dimensionen von Schule betreffen. Folglich ist drittens eine Modifikation unterrichtlicher Praxis festzuhalten, die sich diesen medialen Gegebenheiten anpasst, die aber in ihrer Struktur konstant bleibt. Wir sehen hierin ein Phänomen, das Nassehi (2019, S. 42) als gesellschaftsstrukturellen Zusammenhang diskutiert: „Digitale Praktiken und Routinen, Detektorfunktionen und Anwendungsgebiete werden zwar als disruptive, geradezu verflüssigende Erscheinungen diskutiert, aber sie verweisen exakt auf das Gegenteil, auf die merkwürdige Stabilität des gesellschaftlichen Gegenstandes, seine Musterhaftigkeit und seine Struktur“. Der „gesellschaftliche“ ist in unserem Falle ein schulischer und pädagogischer Gegenstand und seine Struktur unterliegt einer perpetuierenden Manifestation. Sowohl das digitale Anmelden, als auch das Präsentieren des Eigenen via Beamer ‚überbieten‘ sogar die analogen Entsprechungen des Meldens und Vorlesens. Der Einsatz digitaler
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Medien erzeugt in unseren Situationen neue Kontroll- und Selbsttechnologien, die einen subjektivierten Arbeitsethos sowie universalistische Handlungsstrukturen repräsentieren und sozialisatorisch wirksam sind. Der „Schülerjob“ (Breidenstein 2006) wird auf handlungspraktischer Ebene jobmäßiger. Diese Deutung bringt unsere Modifikationsthese auf den Punkt: Das Soziale erfährt im Kontext der Digitalisierung einen Wandel im Sinne gängiger Diagnosen einer Subjektivierung, Individualisierung und neuen Steuerung unternehmerischer Selbstoptimierung. Dieselbe datenbezogene Modifikation, die zwischen vereinfachender und kontrollierender Steuerung vom vormals eher interaktiven Modus Operandi schulischen Unterrichts aufscheint, zeitigt viertens auf struktureller, gleichsam latenter Ebene dabei die Konsolidierung sozialisatorischer Dynamiken. In Bezug auf digitale Mediatisierungsprozesse von Unterricht lässt sich so offenbar weder eine stabile Modifikations- noch eine Konsolidierungsthese aufrechterhalten. Für die durch die Digitalisierung erneuerte „Entdeckung der Gesellschaft“ konstatiert Nassehi (2019, S. 48) so auch „zugleich die Entdeckung ihrer Veränderbarkeit wie die Entdeckung ihrer geradezu veränderungsresistenten Trägheit“. Die soziale Praxis des Unterricht(en)s folgt pädagogischen, nicht technologischen Programmen. So bleibt die empirische Frage nach der Relation und Verhältnisbestimmung: Wie richtet das Soziale das Technische bzw. das Pädagogische das Mediale zu oder vice versa? Unseres Erachtens ist eben diese antinomische Struktur eines als ‚Megathemas‘ im öffentlichen Diskurs präsenten Prozesses ein Kernproblem desselben, gerade auch in Hinblick auf seine sozialisatorischen und sozialisationstheoretischen, pädagogischen sowie didaktischen Folgen.
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Zum Wissen im Digitalen: Wissens- und bildungstheoretische Perspektiven
Klassisch – Modern – Digital? Eine kleine Geschichte und Systematik des Wissensbegriffs, mit einer Note zur digitalen Bildung Helmut Pulte „Das Problem ist (wie so oft in der Philosophie), daß es schwerfällt, die Verständlichkeit zu verbessern, Ohne die Begeisterung zu verlieren.“ (Donald Davidson)
Zusammenfassung
Der Beitrag entwickelt anhand eines ‚vordigitalen‘ Wissensbegriffs eine Reflexion über ‚digitale Bildung‘. Nach einer systematischen Orientierung über erkenntnistheoretische Kategorisierungen von Wissen der Philosophie (1) wird ein auf Platon und Aristoteles zurückgehender ‚klassischer‘ Wissensbegriff dargestellt (2). Anhand des Wandels wissenschaftlicher Wissensverständnisse im Übergang vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert (3) wird eine ‚moderne‘ Wissenskonzeption systematisiert (4), die den Rechtfertigungsbegriff als Bedingung von Wissen in den Fokus der Überlegung rückt. Mit Anschluss an die Wissenskonzeption Davidsons, die eine Verbindung aus internalistischen und externalistischen Rechtfertigungstheorien stark macht, nimmt der Autor eine kritische Sichtung von Positionen vor, die eine neue ‚digitale‘ Wissenskonzeption propagieren (5). In Abgrenzung dieser Positionen wird erörtert, was ein ‚moderner‘ Wissensbegriff unter Rückgriff auf ‚digitale Bildung‘ zu leisten im Stande sein sollte (6).
H. Pulte (*) Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_11
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Schlüsselwörter
Moderner Wissensbegriff · Digitale Bildung · Rechtfertigungstheorien
„Alle Menschen streben von Natur nach Wissen.“ (Aristoteles 1995 V, 1; Met. 980a 21). Der berühmte Einleitungssatz von Aristoteles‘ Metaphysik dürfte allen, denen es um Wissensprozesse und erfolgreiche Prozesse der Wissensvermittlung in theoretischer Absicht geht, als hoffnungsstiftende philosophische Einsicht begegnen: Wissen gewinnen zu wollen ist demnach eine anthropologische Grundbestimmung, gehört unverzichtbar zu unserem Menschsein. Für den Praktiker der Wissensvermittlung aber mag Aristoteles‘ Diktum auch (oder sogar: eher) als eine philosophische Phantasmagorie mit Potenzial zu pädagogischem Selbstzweifel erscheinen, scheitern doch Vermittlungsprozesse immer wieder (auch) am Unwillen, Wissen erwerben zu wollen, der Unfähigkeit, wissen erwerben zu können, oder aber an Problemen des Lehrenden und seiner ‚Sache‘, Wissen über diese tatsächlich vermitteln zu können. Wissensvermittlung ist nicht der einzige, aber einer der zentralen Aufträge von Schulen, Universitäten und anderen sog. ‚Bildungseinrichtungen‘. Dabei scheint der Wissensbegriff heute zugleich wichtiger wie auch unbestimmter und fadenscheiniger zu sein denn je: Nachdem die entwickelte westliche Zivilisation in ihrer sozialen Verfasstheit als ‚Wissenschaftsgesellschaft‘ beschrieben und analysiert wurde, weil wissenschaftliche Erkenntnisse und mit ihnen zusammenhängende technologische Errungenschaften als Hauptmomente von Innovation und Produktion identifiziert wurden (s. etwa Kreibich 1986), dominiert spätestens seit der Jahrtausendwende das Signum der ‚Wissensgesellschaft‘ (s. u. a. Weingart 2001). Diese Verschiebung ist primär in zweifacher Hinsicht für eine Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff im Kontext ‚digitaler Bildung‘ von Interesse1: Zum einen weist sie darauf hin, dass Wissen allgemein im postindustriellen Zeitalter zum neuen und wichtigsten ‚Rohstoff‘ unserer Gesellschaften geworden ist. Zum anderen beleuchten die ganz heterogenen und
1 Sekundär
kommt ein dritter Aspekt ins Spiel, auf den später (vgl. die Teile 2 und 3) zurückzukommen sein wird: Spätestens mit der Bewusstseinsverschiebung, die durch die Ersetzung von ‚Wissenschaftsgesellschaft‘ durch ‚Wissensgesellschaft‘ sprachlich markiert wird, geht eine weitgehende Lösung eines (allgemeinen) Wissensbegriff vom Begriff des wissenschaftlichen Wissens einher. Letzteres ist, wie im Weiteren ausgeführt wird, für traditionelle Wissenskonzeptionen sehr einflussreich.
Klassisch – Modern – Digital? Eine kleine Geschichte …
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oftmals diffusen Verwendungen von ‚Wissensgesellschaft‘, dass in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung die ubiquitäre Verfügbarkeit, die instantane Distribuierbarkeit und die funktionale Wirksamkeit von etwas, das als ‚Wissen‘ bezeichnet wird, gesellschaftliche Strukturen und Prozesse bestimmen, wobei Unterscheidungen wie die zwischen Wissen und Meinung bzw. (epistemischem) Glauben, Wissen und Wahrnehmung, Wissen und Information oder Wissen und Daten schlicht irrelevant zu werden scheinen. Nicht selten wird heute, besonders von kultur- und medienwissenschaftlicher Seite, auch die These vertreten, dass das digitale Zeitalter einen qualitativ völlig neuen Wissensbegriff hervorgebracht hat, oder aber zumindest eine entsprechende Neubestimmung erfordere. Um solche Thesen und Forderungen begründet prüfen zu können, erscheint es angeraten, zunächst ‚vordigitale‘ Wissensbegriffe in den Blick zu nehmen. Nach einer kurzen systematischen Orientierung im nächsten Abschnitt geschieht dies in schematischer Form in zwei der folgenden Teile (2 und 4) dieses Beitrags. Diese Teile behandeln die sog. ‚klassische‘ bzw. ‚moderne‘ Wissenskonzeption, womit eine grobe, aber sowohl historisch als auch systematisch vertretbare Unterscheidung einhergeht. Man wird den Übergang von der einen zur anderen Konzeption kaum ohne einen kurzen Blick darauf verstehen können, wie sich das Verständnis wissenschaftlichen Wissens gewandelt hat; s. hierzu den Teil 3. In Teil 5 erfolgt eine kritische Sichtung von Positionen, die eine neue, ‚digitale‘ Wissenskonzeption propagieren. Den Schlussteil 6 bildet eine kurze Erörterung der Frage, was vom Standpunkt eines modernen Wissensbegriffs ‚digitale Bildung‘ heißen könnte: Wissens- und Bildungsbegriff hängen ja eng miteinander zusammen, haben aber offenbar unterschiedliche Schicksale. Während der Wissensbegriff heute inflationär gebraucht wird, ist der Bildungsbegriff – m. E. sehr zu Unrecht – durch eine Reduktion der Funktionen sog. ‚Bildungseinrichtungen‘ auf empirisch (leicht) Zugängliches heute bei manchen Zeitgenossen geradezu in Verruf geraten. Vorweg sei zu den folgenden Ausführungen gesagt: ‚Wissen‘ ist einer der zentralen Begriffe und Untersuchungsgegenstände der Theoretischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Eine Orientierung hierüber muss daher zwangsläufig in recht allgemeiner und schematisierender Weise erfolgen; es geht also im Folgenden mehr um eine historisch-systematisierende Typisierung als um eine differenziertere, an spezifischen Einzelfragen der heutigen Theoretischen Philosophie orientierte Erörterung dieses weiten Feldes.
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1 Einführende systematische Bemerkungen: Wissen, Meinen, Wahrnehmen und einige wichtige Wissensarten Es gehört zur Aufgabe und zum Selbstverständnis der Philosophie, eine Erörterung des Wissensbegriffs zunächst nicht an spezifischen Wissensbeständen, etwa an besonderen Wissensbezügen des Alltagslebens oder den Inhalten von Einzelwissenschaften, zu orientieren, sondern diese in einer gewissen Allgemeinheit anzugehen. Die hierfür verantwortliche Teildisziplin ist die Erkenntnistheorie, die sich für den Ursprung, die Bedingungen, die Begründung und auch die Grenzen menschlicher Erkenntnis im Allgemeinen interessiert (s. etwa Baumann 2002; Gabriel 2019). Aber nicht erst die entwickelte Erkenntnistheorie, sondern bereits unsere Alltagssprache gibt uns gewisse Fingerzeige, worum es genauer geht. Zuerst: Menschliche Erkenntnis, nicht menschliches Wissen? Im Deutschen verfügen wir über diese zwei eng verwandten Wörter, wobei ‚Erkenntnis‘ oft in einem prozesshaften Sinn gebraucht wird (‚Ich erkenne immer mehr, dass …‘), während ‚Wissen‘ gewöhnlich eher einen Zustand benennt, der am Ende eines Erkenntnisprozesses steht (‚Jetzt weiß ich endlich, dass …‘), aber auch die Fähigkeit, Dinge angemessen zu erfassen oder mit ihnen erfolgreich umzugehen. Die Wortunterscheidung von ‚Wissen‘ und Erkenntnis‘ kann daher nützlich sein, wird aber – auch in der Philosophie – oft nicht trennscharf gebraucht, um Prozess und Zustand bzw. Fähigkeit auseinanderzuhalten; im Englischen wird beides im Begriff ‚knowledge‘ zusammengebracht und nach Bedarf durch Hilfswendungen differenziert. Eine zweite Unterscheidung, die wir in der Alltagssprache bewusst oder unbewusst ständig vollziehen, ist für die weitere Erörterung wichtiger, nämlich die von Wissen und Meinen bzw. Glauben (in einem epistemischen, nicht in einem religiösen Sinne): Es macht auch in unserem Alltagsverständnis einen Unterschied, etwa zu sagen: ‚Ich meine (oder glaube), dass alle Schwäne weiß sind‘, oder ob ich sage, ‚Ich weiß, dass alle Schwäne weiß sind‘. Der Satz mag falsch sein, und ist es in der Tat, wie uns etwa die schwarzen Schwäne Neuseelands vor Augen führen. Der epistemische Zustand des Meinens (bzw. Glaubens) beinhaltet, dass es sich anders verhalten kann: Möglicherweise existieren nichtweiße Schwäne. Behauptet eine Person, bewusst und ohne täuschende Absicht, Wissen über etwas zu haben, so beinhaltet diese Behauptung jedoch nicht die Option, dass es sich wohl auch anders verhalten könne. Sie hat die Überzeugung, dass es sich so und nicht anders verhält. Wissensansprüche werden deshalb gewöhnlich in Form ‚behauptender Rede‘ vorgetragen und diese bringt eine subjektive Gewissheit bezüglich des Behaupteten zum Ausdruck.
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Bereits der Alltagssprache lässt sich, wenn man sie aufmerksam verfolgt, drittens auch entnehmen, dass es offenbar ganz verschiedene Arten von Wissen gibt. Dazu drei Beispiele: (1) ‚Ich weiß, dass 4 plus 3 gleich 7 ist‘; (2) ‚Ich weiß, wie man einen Laptop bedient‘; (3) ‚Ich weiß, wie es ist, Hunger zu haben.‘ Diesen drei Beispielen korrespondieren die drei wichtigsten Wissensarten, die es auseinanderzuhalten gilt (vgl. Bernecker 2003, S. 151 f.): Erstens geht es um propositionales Wissen, das in Form von Aussagesätzen, die wahr oder falsch sein können, daherkommt (Wissen, dass). Zweitens kennen wir praktisches Wissen oder Können, das sprachlich oft nur unzureichend oder gar nicht artikuliert werden kann (Wissen, wie): Ein Akrobat etwa mag wissen, wie man auf dem Hochseil balanciert und dabei noch eine Anzahl von Bällen zirkulieren lässt, aber es dürfte ihm schwerlich möglich sein, dieses Wissen sprachlich präzise und vollständig kundzutun. Schließlich steht das dritte Beispiel für phänomenales Wissen, das sprachlich ebenfalls nicht oder nur unzulänglich vermittelt werden kann (Wissen, wie etwas ist): Sollte eine Person A noch nie eine Kiwi gegessen haben, wird eine Person B, die diese Erfahrung schon gemacht hat, keine adäquate sprachliche Beschreibung vorbringen können, die A vermittelt, wie es ist, eine Kiwi zu kosten. Diese erste und grobe Unterscheidung von Wissensarten deutet bereits auf einen bestimmten Vorzug des propositionalen Wissens hin, nämlich die sprachliche Kommunizierbarkeit von Wissensansprüchen, die die Grundlage für deren objektive Überprüfbarkeit darstellt: Dieser Wissensart zufolge weiß ein Erkenntnissubjekt S etwas, wenn es eine richtige Überzeugung in Form einer Proposition P vertritt. Innerhalb einer Sprachgemeinschaft oder auch – beim Vorhandensein geeigneter Übersetzungsmanuale – über die Sprachgemeinschaft hinaus kann ein anderes Erkenntnissubjekt S‘ die Richtigkeit von P überprüfen. P kann wahr (w) oder falsch (f) sein, und die Kriterien, die über den zutreffenden ‚Wahrheitswert‘ (w oder f) entscheiden, können zu weiteren Differenzierungen propositionalen Wissens Anlass geben. So wird man für die Wahrheit einer historischen Aussage andere Maßstäbe heranziehen, als etwa für einen Satz der Mathematik. Grundsätzlich wichtig ist aber allgemein deren Wahrheitswertfähigkeit. Die intersubjektive Überprüfbarkeit propositionalen Wissens ist ein Grund, warum dieses Wissen auch als objektiv bezeichnet werden kann, aber zugleich nicht ohne ein Erkenntnissubjekt als ‚Wissensträger‘ zu denken ist.2
2 Diese ‚objektive Variante von Wissen‘ wird, auch unter wesentlich differenzierterer Darlegung des zugrunde liegenden Objektivitätsverständnisses, ausführlich und differenziert dargestellt in Ernst (2002, S. 83–113, bes. S. 94).
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In den beiden folgenden Abschnitten wird es ausschließlich um propositionales Wissen als historisch wichtigste und systematisch herausforderndste Wissensart gehen. Zuvor soll jedoch eine weitere wichtige Unterscheidung vorgenommen werden, die auch von Autoren, die zum (digitalen) Wissen ganze Bücher verfassen, nicht beachtet wird: Es wird dort zuweilen, etwa im Kontext der ‚Konstruktion von Wissen und Wahrnehmung‘ oder einer behaupteten ‚spezifischen Medialität‘ allen Wissens und aller Wahrnehmung (Bächle 2016, S. 53, S. 64, vgl. S. 66 und S. 68), so getan, oder doch zumindest suggeriert, als seien Wissen und Wahrnehmung einerlei. Wahrnehmung meint nun aber gewöhnlich sinnliche Wahrnehmung wie Sehen, Hören, Tasten etc. Die meisten Erkenntnistheoretiker stimmen in der Auffassung überein, dass es sich bei der Sinneswahrnehmung um die wichtigste Quelle für das Zustandekommen menschlichen Wissens handelt. Diese erkenntnisgenetische These sollte aber nicht mit der erkenntnisbegründenden These verwechselt werden, alles menschliche Wissen beruhe auf sinnlicher Wahrnehmung; letztere ist in der Erkenntnistheorie lebhaft umstritten. Und schon gar nicht sollte diese Auffassung zu einer undifferenzierten Gleichsetzung von Wissen und Wahrnehmung Anlass geben, weil dies an einer wesentlichen Eigenschaft unseres wichtigsten Wissens, dem propositionalen Wissen, vorbeiginge, nämlich der oben bereits angesprochenen Wahrheitswertfähigkeit: Wenn ich etwas sehe oder höre, gibt es kein wahr oder falsch. Wissensansprüche können fehlgehen, bloße Sinneserlebnisse nicht. Kant hat das in seiner Kritik der reinen Vernunft so auf den Punkt gebracht: „Man kann also zwar richtig sagen, daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urtheilen, sondern weil sie gar nicht urtheilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrthum […] nur im Urtheile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserm Verstande anzutreffen.“ (Kant 1968 III, S. 234; B350) Mit der Unterscheidung von Wissen und Wahrnehmung betritt also ein weiterer großer Begriff die Bühne der Argumentation: Wahrheit. Ihm kommt eine entscheidende Bedeutung zu, wenn es darum geht, den klassischen Wissensbegriff zu charakterisieren und seine Ablösung durch einen modernen Wissensbegriff zu verstehen.
2 Die klassische Wissenskonzeption und ihre Bedingungen Das Haben von bzw. Verfügen über Wissen wird bereits in der frühgriechischen Philosophie unter verschiedenen Begriffen ausgiebig erörtert (Snell 1924). Die oben bereits grob umrissene Unterscheidung von Wissen, Meinung bzw. Glauben und sinnlicher Wahrnehmung wird ab Platon gewöhnlich unter den Begriffen
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epistéme, doxa und aisthésis vollzogen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass bei Platon und auch in der späteren antiken Philosophie epistéme (lat.: scientia) nicht allein ‚allgemeines‘, sondern auch wissenschaftliches Wissen meint; eine begriffliche Unterscheidung von Wissen und Wissenschaft findet überhaupt erst in der Neuzeit statt. Generell wird Wissen (epistéme) ein erkenntnistheoretischer Vorrang gegenüber der bloßen sinnlichen Wahrnehmung (aisthésis) aufgrund seiner Stabilität und gegenüber der bloßen Meinung (doxa) aufgrund seines Geltungscharakters zuerkannt. Platon kann, wenn auch mit einigen Einschränkungen (s. Hardy 2001, S. 286– 301), als früher Exponent eines Wissensbegriffs verstanden werden, der in diesem Beitrag klassisch genannt wird. Im Dialog Theaitetos lässt er Sokrates zu Wissen bzw. Erkenntnis folgendermaßen Stellung beziehen:3 „Wenn nun jemand ohne Erklärung eine richtige Vorstellung von etwas empfinge, so sei zwar seine Seele darüber im Besitz der Wahrheit; sie erkenne aber nicht. Denn wer nicht Rede stehen und Erklärung geben könne, der sei ohne Erkenntnis über diesen Gegenstand. Wer aber die Erklärung auch dazu habe, der sei des allen mächtig, und habe alles vollständig zur Erkenntnis beisammen.“
In nuce finden sich hier die drei Bestimmungen, die den klassischen Wissensbegriff ausmachen: Es ist hier geschenkt (implizit vorausgesetzt), dass eine Person, die Wissen hat, auch eine Überzeugung hat, und diese muss Wahrheit mit sich führen, d. h. vorläufig: zumindest beanspruchen. Nicht jede Person aber, die eine wahre Überzeugung hat bzw. beansprucht, besitzt Wissen – so etwa spricht Platon im Menon den ‚Orakelsprechern und Wahrsagern‘ Wissen ab, obwohl sie viel Wahres sagen. Hinzu tritt die Forderung des ‚Rede stehen und Erklärung geben‘-Könnens, d. h. der Wissende muss in der Lage sein, seinen Wissensanspruch auch durch eine Rechtfertigung zu untermauern. Im Sinne des präpositionalen Wissensbegriffs, der hier am Werke ist, lässt sich der klassische Wissensbegriff allgemein so explizieren (vgl. Bernecker 2003, S. 152): Eine Person (ein Erkenntnissubjekt) S weiß eine Proposition P, wenn 1. die Proposition P wahr ist (Wahrheitsbedingung), 2. das Erkenntnissubjekt S überzeugt ist, dass P (Überzeugungsbedingung), 3. S über eine hinreichende Rechtfertigung für die Überzeugung verfügt, dass P (Rechtfertigungsbedingung). 3 Theaitetos
202b-c (Platon 1990 VI, S. 189); vgl. hierzu auch Menon 98c–99d (ebd. II, S. 593–597).
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Das ‚wenn‘ in dieser Explikation ist erläuterungsbedürftig: Gemeint ist, dass jede der drei Bedingungen erfüllt sein muss, wenn Wissen vorliegen soll. In der Sprache der Logik: Jede einzelne Bedingung ist notwendig, zusammen sind die drei Bedingungen hinreichend für Wissen im klassischen Sinne. Es handelt sich, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, um einen sehr starken, voraussetzungsreichen Wissensbegriff, der in der fortgeschrittenen Moderne befremdlich, jedenfalls kaum einlösbar erscheinen mag. Denn nur auf den allerersten Blick sieht es so aus, als könne der Besitz von Wissen nach dieser Bestimmung einfach anhand einer ‚Abhakliste‘, d. h. durch Überprüfung der Erfüllung jeder der drei Bedingungen, festgestellt werden. Tatsächlich aber ergeben sich eine Reihe von Fragen, die an den Begriffen Wahrheit, Überzeugung bzw. Glauben und Rechtfertigung hängen. So ist z. B. Platons Wahrheitsverständnis eng mit seiner Ideenlehre verbunden, die von vielen späteren Philosophen – etwa seinem Schüler Aristoteles – nicht geteilt wurde. Wahrheit als ‚Teilhabe an Ideen‘ abzulehnen heißt aber nicht, Wahrheit selber abzulehnen: In der Erkenntnistheorie wurden und werden verschiedene Begriffe von Wahrheit gehandelt und für die Prüfung der Wahrheitsbedingung herangezogen. In diesem Sinne handelt es sich bei der klassischen Wissenskonzeption um eine allgemeine ‚Dachkonzeption‘, die grundsätzlich verschiedene Einzelbestimmungen von (stets als wahr beanspruchtem) Wissen zulässt: Wahrheit kann als Übereinstimmung einer Proposition mit dem von ihr behaupteten Sachverhalt aufgefasst werden (Korrespondenzauffassung – scheinbar trivial, aber höchst komplex in der Ausführung), sie kann als rational herbeigeführte Übereinstimmung von ‚Wissenden‘ über eine Aussage verstanden werden (Konsensauffassung), oder – um nur noch eine dritte unter den wichtigsten Auffassungen zu nennen – als Widerspruchsfreiheit in einem größeren System kohärenter Aussagen (Kohärenztheorie). Wahrheit zählt bis heute zu den grundlegendsten und kontroversesten Begriffen der Theoretischen Philosophie überhaupt (s. Künne 1991; Skirbekk 1997; Gloy 2004). Dem klassischen Wissensbegriff zufolge ist das einmal ‚wirklich Gewusste‘ unbedingt und unverbrüchlich wahr: Wissensrevision im eigentlichen Sinne ist danach nicht möglich, denn wenn ein Wissensbestand – etwa im Lichte neuer Erfahrungen oder rationaler Argumente – nicht mehr als wahr anerkannt werden kann, handelte es sich gar nicht um wirkliches Wissen, sondern um Scheinwissen. ‚Diamantene Wahrheit‘ aber ist nicht leicht zu haben. Auch die Überzeugungsbedingung versteht sich nicht von selbst. Ob man von Meinen, Glauben oder Überzeugtsein spricht – im Kontext des propositionalen Wissensbegriffs geht es um einen epistemischen Zustand von S des Inhalts, ‚dass
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P‘. Gemeint ist damit ein subjektiver Zustand des Fürwahrhaltens von P. Eine Frage liegt nahe: Warum sollte Fürwahrhalten als Wissensbedingung erforderlich sein, wo doch von Wissen selber bereits Wahrheit verlangt wird?4 Es ist hier aber wichtig zu sehen, dass weder Wahrheit per se ein Fürwahrhalten impliziert, noch das Fürwahrhalten von etwas dessen Wahrheit. Die Überzeugungsbedingung knüpft offenbar das Vorhandensein von Wissen an ein erkennendes Subjekt S, das über den propositionalen Gehalt von P verfügt. Ohne eine solche Verbindung wäre ein Wissensbegriff vertretbar, wonach es Wissen gibt, das von Niemandem gewusst wird – eine recht kontraintuitive, wenngleich in der Philosophie gelegentlich vertretene Auffassung. Ein solcher Wissensbegriff würde auch einen Aspekt verlieren, der seit Brentano – wenngleich etwas missverständlich – als ‚Intentionalität‘ bezeichnet wird (Baumann 2002, S. 109–112). Gemeint ist eine Gerichtetheit des Erkenntnisprozesses auf ein Erkenntnisobjekt. Handelt es sich bei diesem Objekt um einen Sachverhalt, der in Form einer Proposition darstellbar ist, wird diese Gerichtetheit als ‚propositionale Einstellung‘ bezeichnet, etwa das Hoffen, Wünschen, Befürchten, Überzeugtsein in Bezug auf den fraglichen Sachverhalt. Streben wir, wie Aristoteles sagt, stets nach Wissen, geht es hier vorzugsweise um eine Haltung, die darauf abzielt, eine Übereinstimmung zwischen P und dem behaupteten Sachverhalt (etwa, s. o.: ‚Alle Schwäne sind weiß‘) herzustellen, d. h. die Wahrheit von P zu erweisen (um sagen zu können: ‚Ich weiß, dass alle Schwäne weiß sind.‘). Diese Haltung, dieses Abzielen auf die Wahrheit von P, ist aber etwas anderes als die Wahrheit von P. Hier kommt ins Spiel, dass wir über unsere begrifflich verfassten Überzeugungen nicht nur extensional verfügen (d. h. auf den Gegenstand bzw. die Gegenstände unserer Überzeugungen bezogen), sondern auch intensional (d. h. über deren Bedeutungen, auch in weiteren Kontexten, Bescheid wissen). Schließlich – und keinesfalls erschöpfend – sei auf folgenden Aspekt der Überzeugungsbedingung für den Wissensbegriff hingewiesen: Das Fürwahrhalten von etwas kommt für uns gewöhnlich in verschiedenen Graden bzw. Abstufungen
4 Tatsächlich
ist diese Frage zwingend und ihre negative Beantwortung naheliegend für den, der Wahrheit selber nicht epistemisch auffasst, d. h. für den sie nicht an ein Erkenntnissubjekt gebunden ist. Gottlob Frege etwa gehörte zu den schärfsten Kritikern einer solchen epistemischen Wahrheitsauffassung, weil er sie für eine psychologistische Verirrung hielt: „Wahrsein ist etwas anderes als Fürwahrgehaltenwerden, sei es von Einem, sei es von Vielen, sei es von Allen, und ist in keiner Weise darauf zurückzuführen. Es ist kein Widerspruch, dass etwas wahr ist, was von Allen für falsch gehalten wird.“ (Frege 1893, S. XV f.).
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daher; dies drücken wir sprachlich u. a. in Unterscheidungen von ‚Meinen‘ und ‚Wissen‘ etc. aus. Diese epistemischen Abstufungen sind uns oftmals präsent, wenngleich nicht immer leicht zu begründen. Auch kann deren Einschätzung fehlgehen: Fast zwei Jahrtausende lang etwa galt es (nahezu allen ‚Wissenden‘) als gesichertes, unverbrüchliches Wissen, dass die Erde im Zentrum des Weltalls steht, aber mit dem heliozentrischen Weltbild Kopernikus‘ ist nicht nur dieses Wissen, sondern auch die Gewissheitsüberzeugung ‚zweiter Stufe‘ über dieses Wissen zerbrochen. Gleichwohl ist es häufig wichtig für unseren theoretischen und praktischen Umgang mit Wissen, Grade des Fürwahrhaltens mitzubedenken, auch wenn deren Einschätzung fehlgehen kann. Dem klassischen Wissensbegriff zufolge ist von eigentlichem, idealerweise erreichbarem Wissen der höchste Grad des Fürwahrhaltens, nämlich unbedingte Gewissheit, zu fordern. Hierin liegt, wie sich zeigen wird, eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zum modernen Wissensbegriff. Die Rechtfertigungsbedingung hat bereits bei Platon die Funktion, eigentliches Wissen über etwas von bloßen ‚propositionalen Glückstreffern‘ über etwas, wie sie dem Wahrsager oder Gaukler gelingen mögen, zu unterscheiden, d. h. Aussagen, die zufällig wahr sind, und eigentliche Wissensaussagen auseinanderzuhalten. Dadurch, dass diese Bedingung erklärende Gründe für das fordert, was behauptet wird, verankert sie unsere Wissensansprüche in bereits Gewusstem und verleiht ihnen so im Falle gelungener Rechtfertigung eine ‚epistemische Stabilität‘, die den einzelnen Wissensansprüchen abgeht. Prima facie sind für eine solche Rechtfertigung mindestens zwei Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens muss der Rechtfertigungsgrund per se ‚gut‘ sein, zweitens muss er mit dem fraglichen Wissensanspruch in einer spezifischen, eben rechtfertigenden Beziehung stehen. In Bezug auf den propositionalen Wissensbegriff bedeutet dies erstens, dass der Rechtfertigungsgrund idealerweise selber eine wahre und gerechtfertigte Proposition ist, von der die ansprucherhebende Person einen guten Grund (oder mehrere gute Gründe) hat, überzeugt zu sein.5 In Bezug auf die Rechtfertigungsbeziehung bedeutet dies zweitens und sehr verkürzt gesagt, dass sie überzeugungshervorbringend in dem Sinne sein sollte, dass der rechtfertigende Grund
5 Die Begründung dieser Forderung ist mit einem Knäuel von Problemen verbunden, das hier nicht auseinandergelegt werden kann. Allgemein gesprochen, geht es um die Beziehung von Sprache und Sache, in Bezug auf die ein Wissensanspruch besteht.
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(d. h. die rechtfertigende Proposition) die zu rechtfertigende Proposition – die uns per se suspekt erscheinen mag – zu einer Überzeugung macht.6 Man sieht bereits an einfachen Beispielen, dass ein rechtfertigender Grund sich selber auf eine Reihe von Überzeugungen stützen kann, von denen zumindest einige der weiteren Rechtfertigung bedürftig sind. Dies führt zu der bereits in der Antike diskutierten Frage, ob die Rechtfertigung mancher Überzeugungen nicht zu einem unendlichen Begründungsregress führe, dem jede rechtfertigende Kraft abgehe.7 Eine andere, ebenfalls früh als rechtfertigungsuntauglich angesehene Begründungskette wäre der Zirkel, d. h. der Fall, dass die Folge der rechtfertigenden Gründe zu der Wissensbehauptung zurückführt, die es zu begründen gilt.8 Für die Vertreter des klassischen Wissensbegriffs, der auch die Erfüllung der Rechtfertigungsbedingung in einem starken Sinne verlangt, ergibt sich hier ein Problem, das in der jüngeren Philosophiegeschichte als ‚Münchhausen-Trilemma‘ bezeichnet wird: Die Suche nach zureichender Begründung aller Überzeugungen führt entweder auf einen infiniten Regress, auf logische Zirkel oder auf einen Abbruch des Verfahrens. Dieser Abbruch besteht darin, ‚erste‘, nicht weiter hinterfragbare Rechtfertigungsgründe auszuweisen,
6 Um
ein einfaches Beispiel zu geben: Ein rechtfertigender Grund für die Wissensbehauptung, dass die Summe zweier Primzahlen niemals eine Primzahl ist, kann nicht darin bestehen, ein Beispiel für diese Aussage (wie 3 + 5 = 8) beizubringen. Ein einzelnes Beispiel wäre deshalb kein überzeugender Grund, weil es die Allgemeinheit der Aussage nicht rechtfertigen kann. Ein angemessener Grund wäre dagegen, zu sagen, dass alle Primzahlen ungerade Zahlen sind und die Summe zweier ungerader Zahlen immer eine gerade Zahl ist. Dieser Grund vermag in Bezug auf die eigentliche Wissensbehauptung zu überzeugen, denn keine gerade Zahl größer als 2 ist eine Primzahl, und keine Summe zweier Primzahlen ist gleich 2 (da die 1 definitionsgemäß keine Primzahl ist). 7 So etwa bei Aristoteles, der im Organon zur Apodeixis, der Rechtfertigung durch Beweis, schreibt: „Läßt sich also durch Beweis etwas schlechthin wissen, nicht auf Grund einer Annahme, wie beim indirekten Beweis und nicht auf Grund einer Anleihe bei einer übergeordneten Wissenschaft, so muß es mit den Aussagen, die irgendeinen Satz vermitteln, einmal ein Ende haben. Denn wenn es kein Ende hätte und über dem Angenommenen immer wieder ein Höheres stände, so würde es einen Beweis für alles geben. Und so folgte denn, bei der Unmöglichkeit Unendliches zu durchschreiten, daß wir das, wofür es einen Beweis gibt, nicht durch Beweis wissen könnten. Wenn wir uns also zu ihm auch nicht besser verhalten denn als Wissende, so wird es nicht möglich sein, irgend etwas durch Beweis schlechthin zu wissen, sondern nur hypothetisch.“ (Aristoteles 1995 I, S. 47; Anal. post. I, 22, 84a). 8 Aristoteles diskutiert auch diese zweite ‚schlechte‘ Möglichkeit als Einwand der Skeptiker, „nach deren Voraussetzung überhaupt kein Wissen möglich ist“ und weist diesen Einwand zurück (Aristoteles 1995 I, S. 6 f.; Anal. post. I, 3, 72b).
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von denen dann alle weiteren Überzeugungen abhängen (Albert 1991, S. 13–18). Hier kommen im klassischen Wissensdiskurs gewöhnlich Appelle an Selbstevidenz, Intuition, unmittelbare Einsichtigkeit etc. ins Spiel, die je nach philosophischer Position eher rationalistisch (Rekurs auf das ‚Licht der Vernunft‘ und letzte Vernunftprinzipien) oder empiristisch (Rekurs auf das ‚Licht der Erfahrung‘ und unhintergehbare Beobachtungsaussagen) ausbuchstabiert werden. Jedenfalls impliziert die Bedingung zureichender Rechtfertigung im klassischen Wissensbegriff einen Dogmatismus insofern, als gewisse Überzeugungen als ‚archimedische Punkte‘ (vgl. ebd., S. 16) vor anderen ausgezeichnet werden. Das ‚Reich des Wissens‘ zerfällt also in ein nicht weiter rechtfertigungsbedürftiges fundamentum inconcossum und ein davon abhängiges, rechtfertigungsbedürftiges und epistemisch nachrangiges Wissen. Man spricht hier daher auch von einem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus. In der Zusammenschau aller drei Bedingungen erweist sich der klassische Wissensbegriff als überaus anspruchsvoll und erscheint – jedenfalls dem modernen Betrachter – als für uns stets irrende Menschen nicht oder kaum jemals einlösbar, insofern vielleicht auch als eine philosophische Phantasmagorie ohne Bezug zu ‚realen‘ Erkenntnisprozessen. Eine solche Einschätzung würde allerdings zwei wesentliche Aspekte übersehen: Erstens haben Platon, Aristoteles und viele spätere Denker ein Wissensverständnis, das hier als klassisch bezeichnet wird, als ein Ideal verstanden, das stets anzustreben ist, aber von unserem ‚Alltagswissen‘ gewöhnlich verfehlt wird. Schließlich standen den erkenntnisoptimistischen Vertretern dieser Wissensauffassung in der Philosophie selber zu allen Zeiten Vertreter eines Skeptizismus gegenüber, der starke Wissensansprüche – entweder generell oder in Bezug auf bestimmte Erkenntnisbereiche – in Abrede stellt und dessen scharfsinnigen Argumente der Ausbildung eines ‚blinden‘ Dogmatismus, der zwischen Ideal und Realität nicht zu unterscheiden weiß, entgegenstand. Zweitens aber und vor allem wurde die Verteidigung dieses Ideals stark von einem Wissensbereich getragen, in dem es annähernd oder sogar vollkommen realisiert schien: den Wissenschaften. Epistéme bzw. scientia bezeichnen eben bis zur Neuzeit Wissen im Allgemeinen und zugleich auch methodisch erworbenes und gesichertes wissenschaftliches Wissen. Exemplarisch für die enge Bezugnahme der traditionellen Erkenntnislehre auf Wissenschaft sei nochmals auf Aristoteles, den bis in die Neuzeit hinein wohl einflussreichsten Exponenten der klassischen Wissensauffassung, verwiesen. In der Zweiten Analytik entwickelt er, immer wieder bezugnehmend auf die Geometrie, die in Gestalt von Euklids Elementen zum Prototyp von Wissenschaftlichkeit überhaupt wurde, eine für lange Zeit prägende Auffassung von Wissenschaft.
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Danach ist eigentliches Wissen von bloßem Meinen scharf zu trennen9, weil in der Wissenschaft die epistéme nicht nur per definitionem auf das Allgemeine geht und uns die Ursachen der Dinge enthüllt10, sondern weil es auf wahren – sogar notwendig wahren – Prinzipien beruht und daher selber notwendig ist:11 „Wenn nun die apodiktische (auf apodeixis, Beweis, beruhende) Wissenschaft aus notwendigen Prinzipien hervorgeht – denn was Objekt eigentlichen Wissens ist, kann sich unmöglich anders verhalten – und wenn das, was den Dingen an sich zukommt, notwendig ist – was nämlich in dem wesentlichen Sein enthalten ist; für anderes ist dieses in dem wesentlichen Sein dessen enthalten, was von den Dingen an entgegengesetzten Attributen ausgesagt wird, deren eines notwendig gelten muß –, nun, so sieht man, daß der apodiktische Schluß von Sätzen ausgehen wird, die ungefähr diese Beschaffenheit haben.“
Aristoteles‘ Wissens- und Wissenschaftsverständnis, wie es sich in diesen Belegen andeutet, lässt sich mit Wolfgang Detel als axiomatisch (A: Aufbau eines logisch-deduktiven Theoriegebäudes auf der Grundlage unhinterfragbarer, nicht weiter begründungsbedürftiger Axiome), fundamentalistisch (F: intuitive und induktive Erfassbarkeit sowie unbedingte Wahrheit der ersten Grundsätze) und essentialistisch (E: Bezugnahme auf die ontologisch notwendigen Wesenheiten und kausal relevante Relationen des Seins) kennzeichnen (Detel 1993 I, S. 266). Diese sog. ‚AFE-Interpretation‘ Aristotelischer Wissenschaft erweist sich als hilfreich, um das dominierende – wenngleich natürlich nicht ausnahmslos vertretene – Wissens- und Wissenschaftsverständnis weit über die Antike bis in die Moderne hinein zu charakterisieren: Anzutreffen in verschiedenen Varianten, methodologisch abgesichert auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen (oft mit einer Orientierung an der Mathematik als epistemischem Leitideal), philosophisch begründet durch empiristische, rationalistische, transzendentalphilosophische, idealistische etc. Leitüberzeugungen, hat das durch Aristoteles und
9 „Hieraus
erhellt aber auch, daß es nicht möglich ist, dasselbe gleichzeitig zu meinen und zu wissen. Denn da würde man gleichzeitig annehmen, daß dasselbe anders sein kann und nicht anders sein kann, was doch nicht möglich ist.“ (Aristoteles 1995 I, S. 67; Anal. post. I, 33, 89a). 10 „Der Wert des Allgemeinen liegt aber darin, daß es die Ursache offenbart. Und so ist denn bei solchem, was seine Ursache an einem anderen hat, die allgemeine Wissenschaft immer wertvoller als die sinnlichen Wahrnehmungen und das Denken.“ (Aristoteles 1995 I, S. 62; Anal. post. I, 32, 88a). 11 (Aristoteles 1995 I, S. 13 f.; Anal. post. I, 6, 74b).
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andere zugrunde gelegte Ideal bis ins 19. Jahrhundert hinein prägende Kraft.12 Die rationale oder theoretische Mechanik, im System der empirischen Wissenschaften der Zeit allgemein als paradigmatisches Leitideal von Wissenschaftlichkeit anerkannt, macht dies besonders deutlich (Pulte 2005). Aber auch die ‚Systemphilosophen‘ der Zeit, wie etwa Hegel, vertreten noch eine klassische Wissenschaftskonzeption, die „durch die Bestimmungen ‚Allgemeinheit‘, ‚Notwendigkeit‘ und ‚Wahrheit‘“ definiert ist; im späteren 19. Jahrhundert fällt sie „der Dynamisierung der Wissenschaft zum Opfer und wird durch ein neues Leitmodell ersetzt“ (Schnädelbach 1991, S. 107).
3 Von Aristoteles zu Popper: Zum Verständniswandel wissenschaftlichen Wissens Das von Schnädelbach annoncierte ‚neue Leitmodell‘ von Wissenschaft hat natürlich (aber nicht allein) Einfluss auf die Ausbildung einer neuen Wissenskonzeption, die im Weiteren als ‚modern‘ bezeichnet wird. Es würde einen Übersichtsbeitrag wie den vorliegenden bei weitem überfordern, die von ihm in diesem Zuge geltend gemachte ‚Dynamisierung der Wissenschaft‘, die sich
12 S.
hierzu näher Pulte (2005) und die dort herangezogene Literatur. Diese grobe Charakterisierung soll natürlich weder darüber hinwegtäuschen, dass nicht alle Philosophen und Wissenschaftler diesen starken Wissensbegriff vertraten (Christian Huyghens etwa markiert hier selbst für die sog. ‚exakten Wissenschaften‘, die gleichsam im ‚Zentrum‘ des klassischen Wissensbegriffs stehen, eine Ausnahme), noch sollen die grundsätzlichen philosophischen Differenzen, die trotz gemeinsamer Orientierung am klassischen Wissens- und Wissenschaftsbegriff bestehen, heruntergespielt werden. Es ist beispielsweise unbestreitbar, dass mit Kants Transzendentalphilosophie historisch eine radikal neue Form des Philosophierens Einzug gehalten hat. Und doch bleibt Kants Wissenschaftsideal ein durchaus konservatives, wie er besonders deutlich in der Einleitung zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zu erkennen gibt: „Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige Ganze der Erkenntnis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntnis in diesem System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, sogar rationale Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Prinzipien in ihr […] doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta [sic!] durch Vernunft erklärt werden, blos Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktischgewiß) und alsdann verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft […].” (Kant 1968 IV, S. 468).
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im Wesentlichen ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts vollzieht, und deren begleitende Entwicklungen hier näher darzustellen. Umrisshaft und ohne scharfe Abgrenzungen lassen sich die wichtigsten Entwicklungsmomente so skizzieren: (1) Autonomisierung: Wissenschaft befreit sich im Laufe der fraglichen Entwicklung mehr und mehr von den (Letzt-)Begründungsansprüchen der Schulphilosophie und entwickelt eigene, epistemisch weniger rigide Wissenschaftskriterien. (2) Pluralisierung: Eine enorme Ausweitung und Ausdifferenzierung lässt Wissenschaft zu einem hochkomplexen und diversifizierten ‚Großunternehmen‘ (Harnack 2001, S. 3–9) werden, dem die o. g. Minimalcharakterisierung mit ihren rigiden Bestimmungen von Allgemeinheit, Notwendigkeit und Wahrheit nicht mehr gerecht wird; neue Wissenschaftskriterien orientieren sich daher auch aus diesen Gründen stärker an der Wirklichkeit der Wissenschaften als an einem philosophischen Ideal. (3) Empirisierung: Gemeint ist damit vor allem die Ersetzung apodiktisch-apriorischer Wissensund Begründungsansprüche durch hypothetisch-empirische, aber auch eine Problematisierung der Rolle, die die Mathematik für die Rechtfertigung empirischen Wissens spielen kann (die selber auch mit innermathematischen Entwicklungen wie der Entdeckung sog. ‚Nichteuklidischer Geometrien‘ zu tun hat). (4) Temporalisierung: Mehr noch als der Historismus des 19. Jahrhunderts hat die biologische Evolutionstheorie, die den Menschen als Erkenntnissubjekt einschließt, die Einsicht befördert, dass (auch) wissenschaftliches Wissen als statisches, abschließbares System nicht angemessen verstanden werden kann, sondern selber ein zeitlich sich entwickelndes, nicht abschließbares Gesamtes darstellt, dessen Geltungsansprüche von den sich selber wandelnden Erkenntnisbedingungen der arbeitenden Wissenschaftler abhängen.13 Diese Entwicklungstendenzen führen dazu, dass sich noch vor der Jahrhundertwende im allgemeinen wissenschaftlichen Bewusstsein die Auffassung weitgehend durchsetzt, dass wissenschaftliches Wissen am Ende des Tages nicht in ein festes, kategorischdeduktives System gepresst werden kann, sondern als ein offenerer, hypothetischkonjekturaler Bestand methodisch kontrollierter, aber grundsätzlich revidierbarer Überzeugungen verstanden werden sollte. Auch in der philosophischen Reflexion
13 Neben
Schnädelbach (1991), der bezüglich dieser und ähnlicher Tendenzen das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft in den Mittelpunkt stellt, sei hier verwiesen auf die früheren, einschlägigen Arbeiten zum Wandel des Wissenschaftsbegriffs Diemer (1968, 1970) und Diemer und König (1991), weiter auf Mehrtens (1990) für die Mathematik, auf Pulte (2005) (mit anderer philosophischer Absicht als Mehrtens) für die mathematische Physik sowie auf Pulte (2009) für den Wandel der sog. ‚exakten Wissenschaften‘ unter dem Einfluss evolutionstheoretischen Denkens.
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auf Wissenschaft, d. h. in der sich zum Ende des 19. Jahrhunderts stark herausbildenden und ausdifferenzierenden Wissenschaftstheorie, hat dieses Bewusstsein deutliche Spuren hinterlassen (s. Pulte 2015): Bereits vor und um die Jahrhundertwende treten Philosophen auf den Plan, die Wissenschaft als einen grundsätzlich falliblen (fehlbaren), dabei sich selbst korrigierenden und unbegrenzt fortschreitenden Prozess analysieren, dessen Resultate sich – im günstigen Fall – einer Wahrheit annähern können. In diesem Sinne schreibt schon Charles S. Peirce: „[…] it is necessary to consider science as living, and therefore not as knowledge already acquired but as the concrete life of the men who are working to find out the truth.“ (Peirce 1958, S. 38) Es sind hauptsächlich zwei Wissenschaftsentwicklungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die die endgültige Überwindung der klassischen Wissenskonzeption – die in dieser Zeit von so unterschiedlichen Philosophen wie Frege und Husserl noch verteidigt wird – in Wissenschaft und Wissenschaftstheorie entscheidend befördert haben. Beide treffen die Hauptstützpfeiler des klassischen Wissensbegriff, nämlich die sog. ‚exakten Wissenschaften‘: Zunächst revolutionieren Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie sowie später die Quantenmechanik die theoretische Physik – Erkenntnisumbrüche, die dramatisch vor Augen führen, dass selbst die zwei Jahrhunderte als wahr und gewiss angesehenen, in ihrem Geltungscharakter oft den Sätzen der (reinen) Mathematik an die Seite gestellten mathematischen Prinzipien der Newtonschen Mechanik revidierbar sind – eine ‚Wissens- und Gewissheitszertrümmerung‘, die in der Moderne ohne Beispiel ist. Als markanteste philosophische Reaktion14 auf dieses epistemische Erdbeben lässt sich die Ausbildung des Kritischen Rationalismus durch Karl R. Popper verstehen: Popper entwickelt eine konsequent fallibilistische Wissenschaftserkenntnistheorie, die das positive Prinzip der zureichenden Rechtfertigung durch das negative Prinzip der kritischen Prüfung ersetzt. Negativ ist Letzteres vom Standpunkt des klassischen Wissensbegriffs insofern, als es niemals die Wahrheit wissenschaftlicher Wissensansprüche aufzeigen kann, sondern nur deren Falschheit oder vorläufige Bewährtheit. Wissenschaft verfährt nach der (Alltags-)Methode von ‚Versuch und Irrtum‘ – für Vertreter der traditionellen Wissensauffassung eine nicht nur
14 „Doch
zu der entscheidenden Problemverschiebung kam es erst, nachdem die Einsteinsche Theorie die Newtonsche faktisch überrundet hatte: Jetzt galt es, den Erfolg nicht der siegreichen, sondern der besiegten Newtonschen Theorie zu erklären, und auch ihre Niederlage. Popper sah das Problem als erster auf diese Art; und damit leitete er eine neue Epoche der Philosophie ein.“ (Lakatos 1982 I, S. 237).
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befremdliche, sondern geradezu häretische Idee. Popper selber hat den Bruch mit der traditionellen Erkenntnislehre durchaus gesehen und gegen Ende seiner Logik der Forschung (1934) deutlich markiert:15 „Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, auch kein System, das in stetem Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft ist kein Wissen [epistéme]: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen.“ Der Kontrapunkt zur klassischen, etwa Aristotelischen Wissens- und Wissenschaftsauffassung ist damit klar gesetzt. Kann aber unser epistemisch bestbewährtes Wissen, nämlich das der methodisch verfahrenden Wissenschaften, nicht als endgültiges, unrevidierbares Wissen ausgewiesen werden, ist die Sicherung traditioneller epistéme generell aufzugeben. In der heutigen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie wird dieser Standpunkt ganz überwiegend geteilt, wenngleich Poppers Wegbereiterrolle für die Akzeptanz eines stärkeren oder schwächeren Fallibilismus weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Die Beurteilung der erkenntnistheoretischen Bedeutung der zweiten wissenschaftlichen ‚Jahrhundertentwicklung‘ hängt stark von der Position ab, die man in der aktuellen Philosophie der Mathematik einnimmt. Es geht, sehr verkürzt gesagt, darum, dass im Zuge einer logizistischen Begründung der Mathematik um die Jahrhundertwende sog. ‚Antinomien der Mengenlehre‘ (von Russell, Zermelo u. a.) auftraten, die einen Grundlagenstreit über eine angemessene und zureichende Begründung der Mathematik im Ganzen auslöste und in eine sog. ‚Grundlagenkrise‘ mündete, die hier nicht näher dargelegt werden kann (s. hierzu Thiel 1995, S. 330–350). Die Verfeinerungen der logischen Mittel zur Behebung der Krise zielten vor allem auf die Entwicklung formaler Systeme zur Begründung
15 (Popper 1982, S. 223). Es ist wichtig, Poppers erkenntnistheoretische Position aufgrund dieser Stellungnahme oder ähnlicher nicht als eine relativistische zu verstehen. Popper hält etwa, jedenfalls in der Logik der Forschung, explizit am oben angedeuteten Fürwahrhalten in dem Sinne fest, dass Grade eines vernünftigen Fürwahrhaltens unterschieden werden können (ebd., S. 359 f.). Vor allem hält er an dem Aspekt des Fürwahrhaltens fest, der oben als Abzielen auf die Wahrheit beschrieben wurde, und das integraler Bestandteil seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ist, insbesondere seiner Methodenlehre. Im Anschluss an das obige Zitat schreibt er u. a.: „Obwohl Wahrheit und Wahrscheinlichkeit für sie [die Wissenschaft, H. P.] unerreichbar ist, so ist doch das intellektuelle Streben, der Wahrheitstrieb, wohl der stärkste Antrieb der Forschung. […] [D]iese oft phantastisch kühnen Antizipationen der Wissenschaft werden klar und nüchtern kontrolliert durch methodische Nachprüfungen. Einmal aufgestellt, wird keine Antizipation dogmatisch festgehalten; die Forschung sucht nicht, sie zu verteidigen, sie will nicht recht behalten […].“ (ebd., S. 223) Zu Poppers Erkenntnistheorie und ihren frühen Kantischen Bezügen s. auch sein Erstlingswerk Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie (Popper 2010).
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der Arithmetik ab, um auf ihrer Grundlage andere Bereiche der Mathematik aufzubauen. Im Zuge dieser Entwicklung, und am (zeitlichen, nicht systematischen) Ende der eigentlich als Grundlagenkrise bezeichneten Periode, formuliert Kurt Gödel sog. ‚Unvollständigkeitssätze‘, die für das moderne Verständnis der Mathematik einschneidend sind: Gödel konnte zeigen, dass in formalen axiomatischen Systemen, die hinreichend weit sind, um die Arithmetik zu umfassen, nicht alle Aussagen abgeleitet werden können, die in inhaltlich-konstruktiver Sicht offenkundig wahr sind, und er konnte weiter zeigen, dass zu den nicht ableitbaren Sätzen auch die Widerspruchsfreiheit des betreffenden formalen Systems selber gehört (Köhler et al. 2002). Diese Ergebnisse enthalten nicht nur das in traditioneller Sicht äußerst befremdliche Resultat, dass nicht alle wahren Sätze auch rechtfertigbar (beweisbar) sind, sondern sie zeigen allgemein auch die Grenzen der Leistungsfähigkeit axiomatischer Systeme – im klassischen Verständnis Idealformen wissenschaftlichen Wissens schlechthin – auf und relativieren die Bedeutung der Mathematik als Erkenntnisideal. Konzediert man, dass es sich bei diesen Systemen um die abstraktesten und weitreichendsten menschlichen Erkenntnisleistungen handelt, liefern Gödels Sätze auch „tiefe Einblicke in die Endlichkeit unseres Denkvermögens“ (Stegmüller 1973, S. 1). Während die Anwendbarkeit der Mathematik im engeren Sinne von diesen Sätzen kaum betroffen ist und daher deren erkenntnistheoretische Relevanz in Hinblick auf (gegenwärtiges) empirisches Wissen als eher gering einzuschätzen ist, sind sie für die theoretische Informatik durchaus bedeutsam: Die Unmöglichkeit absoluter Widerspruchsfreiheitsbeweise zeigt etwa auch KISystemen Berechenbarkeits- und Entscheidbarkeitsgrenzen auf, die zu beachten sind. Ein Element ‚digitaler Bildung‘ sollte darin bestehen, diese Grenzen zu reflektieren.
4 ‚Moderne‘ Wissenskonzeptionen und ihre Voraussetzungen Es versteht sich, dass der oben in groben Zügen angedeutete Wandel in Bezug auf das Verständnis wissenschaftlichen Wissens in der modernen Erkenntnistheorie tiefe Spuren hinterlassen hat: Genügt ‚selbst‘ das methodisch gewonnene und gesicherte Wissen der Wissenschaft nicht dem traditionellen Verständnis von epistéme, gilt es, dessen Bedingungen zu überdenken und neu zu bestimmen, ggf. auch weiter zu fassen. Auch wenn es nicht möglich erscheint, eine moderne Wissenskonzeption (im Singular) zu bestimmen, kann man generell sagen, dass die heute vertretenen Konzeptionen ohne klassische Gewissheitsvorstellungen auskommen und der Einsicht in die grundsätzliche Fallibilität unseres Wissens
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über die Welt Rechnung tragen – zwar nicht im ‚Modus des Wissens‘ selber, da ein Wissender von der Richtigkeit seines Wissensanspruchs überzeugt ist, wohl aber im ‚Modus des Reflektierens über Wissen‘, d. h. in erkenntnistheoretischer Betrachtung. Moderne erkenntnistheoretische Wissensauffassungen sind daher permissiv für Wissensansprüche, die nicht unbedingte Wahrheit oder eine wie auch immer beschaffene hinreichende Rechtfertigung mit sich führen. Die meisten modernen Erkenntnistheoretiker, aber nicht alle, halten demgegenüber an einem Überzeugungsbegriff fest, der die Bedeutung propositionaler Einstellungen betont (vgl. Teil 2); diese Richtung wird im Weiteren auch hier verfolgt. Der Rechtfertigungsbegriff erfährt in der jüngeren Diskussion wohl aus zwei Gründen besonders große Aufmerksamkeit: zum einen, weil er im älteren Kritischen Rationalismus negativ besetzt war und kaum konstruktiv entwickelt wurde, zum anderen weil einige wichtige seiner traditionellen Implikationen als hinterfragungsbzw. revisionsbedürftig erkannt wurden. Hierzu zählt unter anderem, dass im klassischen Wissensbegriff auch Rechtfertigungen Sache des einzelnen Erkenntnissubjekts sind, während sie doch tatsächlich auch soziale Unternehmungen sein können (s. Goldman 1999), oder – damit zusammenhängend – auch die Bindung von Rechtfertigungen an einzelne Propositionen bzw. Ketten von Propositionen, die den (z. B. kulturellen oder sozialen) Kontext, in dem sie vertreten werden, aussparen, oder die (z. T. heute bestrittene) Voraussetzung, dass rechtfertigende Beziehungen stets logische Beziehungen zwischen Propositionen sein müssen (Grundmann 2003). Bereits diese wenigen Hinweise machen klar, dass die aktuelle erkenntnistheoretische Diskussion des Wissensproblems in gewisser Weise die bereits mehrfach angesprochene Ausweitung und Pluralisierung der Verwendungen von ‚Wissen‘ und ‚Wissenschaft‘ in allen Lebensbereichen widerspiegelt. An den Anfang der Ausbildung des modernen Wissenskonzepts kann man eine der kürzesten und zugleich einflussreichsten Veröffentlichungen der gesamten Philosophiegeschichte stellen, nämlich Edmund Gettiers Aufsatz Is Justified, True Belief Knowledge? (Gettier 1963). Der Autor geht, wie bereits der Titel erkennen lässt, auf die klassische Wissenskonzeption zurück und zeigt anhand zweier kleiner, etwas verschachtelter und konstruiert wirkender Beispiele, dass für eine Wissensbehauptung die drei klassischen Bedingungen erfüllt sein können, ohne dass wir bereit sind, der behauptenden Person Wissen zuzusprechen. Ein leicht banalisierendes, aber Gettiers Absichten nicht verfälschendes Szenario sieht so aus: Dozentin und Studierende sind zu einer Vorlesung im Hörsaal versammelt. Die Dozentin blickt zur Wanduhr und stellt fest: ‚Es ist 17.00 Uhr‘, um zur Abschlussklausur überzugehen. Tatsächlich ist es auch 17.00 Uhr, die Aussage ist also wahr (andere anwesende Uhren bestätigen dies). Auch ist die Dozentin
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überzeugt, es sei 17.00 Uhr, und sieht sich durch die Prüfung der Wanduhr in ihrer Überzeugung gerechtfertigt. In diesem Sinne sind alle drei klassischen Bedingungen ihrer Wissensbehauptung erfüllt – ein Fall basalen klassischen Wissens. Allerdings, so will es das Szenario auch, steht die Hörsaaluhr tagein, tagaus auf 17.00 Uhr, und das seit Jahren. (Dieser Umstand entging der Dozentin deshalb, weil sie erstmals, eigens zur Klausur, den Hörsaal nutzte.) Wusste sie nun, was sie behauptete? Die intuitive Antwort auf diese Frage lautet ‚Nein‘, weil die Dozentin zufällig eine wahre Aussage getroffen hat: Hätte sie die Wanduhr früher oder später zu Rate gezogen, wäre ihre Aussage falsch gewesen. Es tritt hier also der Fall auf, für den Platon das ‚Rede stehen und Erklärung geben‘-Können, eben die Rechtfertigung, gerade als unverzichtbare Wissensbedingung eingeführt hatte (vgl. Teil 2). Allgemeiner gesprochen: Der vermeintliche Rechtfertigungsgrund überzeugt zwar das Erkenntnissubjekt von der Wahrheit der vertretenen Aussage, hat aber tatsächlich nichts mit der Wahrheit dieser Aussage zu tun. Wahrheits- und Rechtfertigungsbedingung stehen hier merkwürdig ‚quer‘ zu einander. Prima facie scheinen Gettier-Beispiele – so werden verallgemeinernd epistemische Szenarien genannt, die den klassischen Wissensbegriff torpedieren – eine Verschärfung der starken, klassischen Wissensbedingungen zu verlangen, etwa durch eine neue, vierte Bedingung oder durch Zusatzanforderungen an die Rechtfertigungsbedingung. Tatsächlich lassen sich viele dieser Beispiele durch Kontextualisierung der Rechtfertigungsbedingung, d. h. durch Einbeziehung von Hintergrundwissen und Anpassung dessen, was Rechtfertigung heißen soll, ‚entschärfen‘. Das ist der Ansatz des sog. ‚Epistemologischen Kontextualismus‘ (s. Detel 2003). Ein anderer Weg besteht darin, klassische Rechtfertigung durch gewisse Verlässlichkeitsregeln zu ersetzen und zu zeigen, wie Überzeugungen bei deren Geltung zustande kommen; diesen Weg beschreitet der sog. ‚Reliabilismus‘ (s. Goldman 1986). Solche Ansätze stehen nicht nur für – gegenüber der klassischen Konzeption – schwächere Wissensbegriffe, sondern auch für eine Diversifizierung von Wissensverständnissen überhaupt. Auch wenn sie partiell erfolgreich sind, haben sie mit hartnäckigen Beispielen zu tun, die sie nicht integrieren können. Die genannten sowie weitere Ansätze der neueren erkenntnistheoretischen Diskussion können hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Hier sollen nur die beiden Hauptrichtungen markiert werden, denen die meisten dieser Ansätze zuzuordnen sind. Sie unterscheiden sich, wie nicht anders zu erwarten steht, primär in ihrem Verständnis von Rechtfertigung (vgl. Baumann 2002, S. 45–55; Bernecker 2003, S. 155–161; Kornblith 2001):
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Der Internalismus pocht auf einen relativ starken Rechtfertigungsbegriff: Das epistemische Subjekt muss selber über die Gründe verfügen können, die es veranlassen, eine Überzeugung zu vertreten, d. h. es verfügt über alle für diese Überzeugung relevanten Aspekte. Thomas Grundmann charakterisiert den Grundgedanken dieses Ansatzes treffend als den der „Transparenz der Gründe“ (Grundmann 2003, S. 20): Diese sind dem Erkenntnissubjekt entweder unmittelbar präsent oder zumindest zugänglich und können mit der zu rechtfertigenden Überzeugung in einen inferentiellen Zusammenhang gebracht werden. Es sind die epistemisch privilegierten intern verfügbaren Gründe, die eine Überzeugung zu ‚stabilem Wissen‘ machen – zu etwas, das durch neue, extern hinzukommende Informationen nicht mehr infrage gestellt werden kann. Der strikte Internalist legt sich also mit der Transparenz der Gründe auch auf die Immanenz dieser Gründe fest. Sein Wissensverständnis lässt sich so zusammenfassen: Eine Meinung bzw. Überzeugung ist dann echtes Wissen, wenn sie wahr und intern gerechtfertigt ist, d. h. S weiß, dass P, wenn gilt: 1. P ist wahr, 2. S hält gewisse (intern zugängliche) Gründe Gi für wahr, 3. S sieht die Gi als hinreichende Gründe an, um P zu rechtfertigen. Um ein Beispiel zu geben: Im obigen, Gettier-ähnlichen Szenario hat es die Dozentin versäumt, einen tatsächlichen, ihr zugänglichen Grund für ihre Überzeugung aufzubauen: Hätte sie die Tauglichkeit der Wanduhr als Zeitmessgerät überprüft, etwa durch Abgleich mit anderen Uhren im Hörsaal, hätte sie sich stattdessen eines funktionierenden Instruments bedient und ihre wahre Aussage auch auf wahre Gründe gestützt, die der Überzeugung angemessen sind.16 Auch wenn moderne Internalisten gewöhnlich die Fehlbarkeit auch unserer ‚besten‘ Wissensansprüche konzedieren – etwa, weil die uns zugänglichen internen Gründe tatsächlich, entgegen unserer Annahme, unzureichend sind oder deren Rechtfertigungen unser Überzeugungssystem überstrapazieren, d. h. intransparent machen –, vertreten sie doch noch eine recht anspruchsvolle Wissenskonzeption, die offenkundig auf einer subjektivistischen Rechtfertigungstheorie beruht, die Ähnlichkeit mit traditionell-idealistischen Ansätzen aufweist.
16 Dies
kann natürlich den radikalen Skeptiker nicht überzeugen, denn ein böser Dämon könnte alle Uhren des Hörsaals untereinander synchronisiert und falsch gestellt haben; der radikale Skeptizismus ist aber hier auch kein Thema. S. dazu etwa Grundmann und Stüber (1996).
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Demgegenüber vertritt der Externalismus ein bescheideneres Wissenskonzept. Es ‚entlastet‘ das Erkenntnissubjekt insofern, als Wissensansprüche hier nicht durch rechtfertigende Gründe abgesichert sein müssen, sondern – insbesondere im Fall von Wissen, das aus Wahrnehmung hervorgeht – als durch externe Faktoren kausal verursacht aufgefasst und dadurch als hinreichend erklärt angesehen werden. ‚Extern‘ heißen diese Faktoren zunächst, weil sie außerhalb des kognitiven Horizonts des Erkenntnissubjekts liegen können, aber auch, weil sie nach Ansicht der Vertreter dieses Ansatzes zum Inventar der Außenwelt gehören, die kausal auf uns einwirkt. Diese Faktoren sind, dies macht den entscheidenden Unterschied zum Internalismus aus, keine Überzeugungsgründe im bisher vertretenen Sinn, d. h. sie sind nicht propositional verfasst. Diese Auffassung wirft eine Reihe von Fragen zur Bezugnahme von Sprache auf Welt auf, die hier nicht verfolgt werden können. Wichtiger für diesen Überblick ist, festzustellen, dass mit ihr eine erhebliche Ausweitung und auch Schwächung der Rechtfertigungsbedingung einhergeht: Für den Externalisten kann es ausreichen, zur Rechtfertigung einer (propositional vorgebrachten) Überzeugung auf ein Wahrnehmungserlebnis zu verweisen, d. h. die kausale Vorgeschichte seiner Überzeugung zu erzählen. Er hält zwar, wie der Internalist, an den drei Wissensbedingungen fest, gibt aber, anders als der Internalist, die Voraussetzung auf, dass dem Erkenntnissubjekt diese Bedingungen auch vollständig kognitiv zugänglich sind. Beschränkt auf die kausale Konzeption des Wissens, die nicht von allen Externalisten in dieser Form geteilt wird, lässt sich Wissen so charakterisieren: Eine Meinung bzw. Überzeugung ist dann echtes Wissen, wenn sie wahr ist und durch externe Faktoren auf angemessene Weise verursacht wird, d. h. S weiß, dass P, wenn gilt: 1. P ist wahr, 2. S die Überzeugung hat, dass P, 3. die Überzeugung von S mit der Tatsache, dass P, angemessen kausal zusammenhängt. Im obigen, Gettier-ähnlichen Szenario ist Bedingung 3 verletzt: Die Proposition P (‚Es ist 17.00 Uhr‘) ist nicht auf angemessene Weise mit der herangezogenen Tatsache (die Wanduhr zeigt 17.00 Uhr an) kausal verbunden, da die Wanduhr immer 17.00 Uhr anzeigt. Bereits solch einfache Beispiele legen die Achillesverse dieses erkenntnistheoretischen Ansatzes offen: ‚Kausale Angemessenheit‘ ist im Einzelfall nicht leicht zu bestimmen, aber beim Auftreten von Gegenbeispielen leicht in Abrede
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zu stellen. Überzeugungen wie: ‚Am Südpol wachsen keine Palmen‘ werden wohl allgemein als Wissen anerkannt, aber die kausale Verursachung solcher Überzeugungen ist nicht darzulegen ohne die Einbeziehung gesetzesartigen Wissens, das die angemessene Verursachung einem einfachen kausalen Schema von verursachendem Ereignis und verursachter Überzeugung entzieht. Dahingestellt sei hier, wie es sich mit der angemessenen Verursachung von Allaussagen über abstrakte Entitäten verhält, wie etwa: ‚Bei Euklidischen Dreiecken beträgt die Summe der Innenwinkel immer 180°‘. Eine Stärke des Externalismus liegt dagegen darin, basales, auf unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmung beruhendes Wissen als solches auszuweisen. Er ist auch kompatibel damit, wie wir im Alltag häufig unsere Überzeugungen rechtfertigen, etwa wenn es um testimoniales Wissen geht. Kinder und Heranwachsende beziehen sich bei der Verteidigung ihrer Wissensansprüche ganz überwiegend auf ‚verursachende Erlebnisse‘, auch wenn sie sich (unbewusst oder bewusst) eines abstrakten Vokabulars bedienen: Die Einsicht, dass die Summe zweier ungerader Zahlen immer eine gerade Zahl ist, mag bei einem Kind durch ein einziges Murmelspiel ‚verursacht‘ sein – aber ist sie dadurch auch gerechtfertigt? Um die ‚Alltagstauglichkeit‘ des Internalismus ist es dagegen weniger gut bestellt. Wird man einem Kind oder auch Erwachsenen Wissen absprechen, weil es (bzw. er) nicht in der Lage ist, Rechenschaft im Sinne der ‚Transparenz der Gründe‘ abzulegen? Können wir über Erinnerungswissen im gewünschten Sinne Rechenschaft ablegen? Andererseits liegt ein unbestreitbarer Vorteil des Internalismus in seiner Anwendbarkeit auf inferentielles Wissen, d. h. auf Ableitungswissen, wie es in der Mathematik, der Logik, aber auch in vielen erfahrungswissenschaftlichen Bereichen begegnet. Den Satz etwa ‚Am Südpol wachsen keine Palmen‘ kann der Internalist plausibel durch sein kohärentes Überzeugungssystem rechtfertigen. Unter anderem deshalb, weil inferentielles und basales Wissen im Alltag wie in den Wissenschaften oft zusammenspielen, mangelt es in der jüngeren Erkenntnistheorie auch nicht an Ansätzen, Internalismus und Externalismus miteinander zu versöhnen (s. etwa Brendel 2003). Ein Problem, das dabei auftritt, besteht in der Frage, wie die jeweils präferierten Wahrheitsbegriffe – Kohärenztheorie hier, Korrespondenztheorie dort – miteinander in Einklang gebracht werden können. Einer der überzeugendsten jüngeren Vorstöße in diese Richtung stammt von Donald Davidson (s. insbes. Davidson 1990). Davidsons Strategie besteht, kurz gesagt, darin, eine Unterscheidung zwischen Wahrheit und gerechtfertigter Überzeugung abzulehnen und in der Folge auch die Unterscheidung zwischen Rechtfertigungen, die auf sinnlicher Wahrnehmung (genauer: Beobachtungssätzen) und anderen für wahr gehaltenen Sätzen beruhen. Ohne auf die sich daraus ergebende,
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neue und umfassende Bedeutungstheorie Davidsons näher eingehen zu können (s. dazu Anacker 2005, S. 84–125), sei hier nur auf die weitreichenden Konsequenzen für den Begriff der Überzeugung und dafür, was es heißt, Überzeugungen zu besitzen, hingewiesen. Es geht dabei um das, was eingangs als ‚propositionale Einstellung‘ und der mit ihr einhergehenden Intentionalität skizziert wurde, die auch in den meisten modernen Wissenskonzeptionen eine wichtige Rolle spielen: Verkürzt gesagt, rechtfertigen wir nach Davidson unsere Überzeugungen holistisch (ganzheitlich) in einem Gesamtsystem von Überzeugungen mit ‚internen‘ und ‚externen‘ Rechtfertigungsgründen. Eine wissende Person A ist danach ein Träger von gerechtfertigten, sprachlich artikulierbaren Überzeugungen, die eine andere Person B interpretieren und in der gemeinsamen Bezugnahme auf die Realität als gerechtfertigt ansehen kann (ebd., S. 122–125); die interpretierende Person B dient hier gewissermaßen als Objektivitätsgarant. Aus diesem ‚Triangulationsschema‘ von Person A, Interpret B und Realität ergeben sich gewisse notwendige Bedingungen dafür, A als Träger von gerechtfertigten Überzeugungen (d. h. als wissende Person) zu qualifizieren (s. Davidson 1990, insbes. S. 204–246, S. 261– 282). Danach gilt für A, 1. dass zumindest ein Teil ihres Verhaltensrepertoires durch B nur dadurch erklärt werden kann, dass A gewisse Überzeugungen hat. Hier kommt eine Rationalitätsannahme von B in Bezug auf A zum Tragen, nämlich die, dass es gewisse Überzeugungen sind, die das (für B empirisch zugängliche) Handeln von A in und mit der Realität begründen: Die Überzeugungsgründe von A machen ihr Handeln und Verhalten vernünftig. Daneben weist diese Bedingung auch auf eine soziale Dimension von Wissen hin: Auch, wenn jeder Person nur das je eigene Überzeugungssystem unmittelbar zugänglich ist, sind es geteilte Überzeugungen in Bezug auf eine gemeinsame Realität, die sprachlichen und behavioralen Konventionen zugrunde liegen, die wiederum ein gegenseitiges Verstehen (im Sinne erfolgreicher Überzeugungszuschreibungen) ermöglichen; 2. dass es B möglich sein muss, durch Verbesserung der Kenntnisse über das A unterstellte Überzeugungssystem und ihre Handlungen eine Revision oder Erweiterung der zugeschriebenen Überzeugungen vorzunehmen, um das Handeln und Verhalten besser zu verstehen. Das Triangulationsschema Davidsons ist also nicht statisch, sondern dynamisch zu denken; 3. dass sie nie korrekt durch B interpretiert werden kann, wenn die Interpretation darauf hinausläuft, A nichtzutreffende oder ganz überwiegend nichtzutreffende Überzeugungen zu unterstellen (d. h. wenn A als ein sich selbst täuschendes
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Subjekt konzipiert wird). Ohne diese Voraussetzung wäre nach Davidson überhaupt keine erfolgreiche Kommunikation möglich. Das Vorliegen eines überwiegend falschen Überzeugungssystems wird damit ausgeschlossen; dieser Ausschluss stellt eine Art ‚Bedingung der Möglichkeit‘ der Anwendbarkeit des Triangulationsschemas selber dar. Die drei hier angerissenen, wissensrelevanten Bedingungen der Davidsonschen Erkenntnistheorie wären natürlich weiter auszudifferenzieren und näher zu begründen. Stattdessen soll hier nur auf einige der Hauptstärken dieses Zugangs zum Wissensproblem hingewiesen werden: Erstens baut er eine tragfähige Brücke zwischen Internalismus und Externalismus. Zweitens eröffnet er einen Ansatz zu einem sozialen Verständnis von Wissen – ein Verständnis, das den heutigen Verfahren der Wissensgewinnung und -sicherung durchaus angemessen erscheint. Drittens ist er anschlussfähig für viele ‚Alltagsintuitionen‘ in Bezug auf Überzeugungen und Wissen, die wir nicht zuletzt durch Introspektion unseres eigenen Überzeugungssystems und Beobachtungen im handelnden Umgang mit der Welt und im Austausch mit anderen Überzeugungsträgern ausgebildet haben.
5 Was heißt ‚Digitales Wissen‘? Die Rede von ‚digitalem‘ oder ‚computationalem‘ Wissen (‚digital knowledge‘ bzw. ‚computational knowledge‘) ist heute – buchstäblich oder in ganz ähnlichen Wendungen – in vieler Munde.17 Auch mit Blick auf schulische Bildung im digitalen Zeitalter wird eine ‚digitale‘ Neubestimmung des Wissensbegriffs gefordert (s. etwa Burkle und Cobo 2018). Bei näherer Betrachtung handelt es sich um recht inflationär gebrauchte Allgemeinplätze, die auf ganz unterschiedliche Sachverhalte und Problemlagen referieren – von in Form von Bits gespeicherter Information auf einem Chip über eine angebliche Prüfung heutigen Wissens überhaupt, oder aber von den Möglichkeiten der Wissensgewinnung durch ‚Big Data‘ bis hin zu der Frage, ob Computer selber als Wissensträger, d. h. als Subjekte, die über Wissen verfügen, aufgefasst werden sollten. Besonders die stürmische Entwicklung der KI-Forschung hat in der Philosophie des Geistes die „strong artifical intelligence“-These (vgl. Chalmers 1996, S. 313–332) befördert,
17 S.
etwa Bächle (2016), Berry (2017), Brünken und Steufert (2011), Gross und Buehl (2016), Gutounig (2015), Hobohm (2015), Lehmann und Schetsche (2007), Maas (2009), Reichert (2014), Ribeiro (2018), Warnke (2014), Zukerfeld (2017).
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wonach Computern Bewusstsein und auch Wissen („conscious experience“, „cognitive capacities“, ebd., S. 314 und S. 331) zuzusprechen ist. Vom Standpunkt des (am Ende des letzten Teils) vorgestellten Wissenskonzepts Davidsonscher Prägung sprechen allerdings die überwiegenden Argumente gegen die Auffassung, dass wir Computern Überzeugungen zusprechen sollten, weil sie jedenfalls die Bedingungen (2) und (3) nicht erfüllen (s. näher Goldberg 1997). Sie sind folglich auch nicht als Wissensträger anzusprechen – jedenfalls solange nicht, wie man an dieser weiten, lebensweltlich anschlussfähigen Wissenskonzeption festhält und diese nicht überdehnt, was unweigerlich zu Konflikten mit dem, was propositionale Einstellung, einschließlich Intentionalität und Intensionalität, für den Menschen ausmacht, führt. Man mag mit Recht sagen, dass die heutigen, hochentwickelten KI-Systeme den Besitz von Überzeugungen und Überzeugungswandel simulieren. Aber diese Systeme sind extrem spezialisierte Maschinen, deren Pseudo-Überzeugungen schon bei relativ kleinen Modifikationen des semantischen Kontextes fehlgehen, eben weil sie über diese Einstellung und deren Erfordernisse nicht verfügen. Neben Argumenten gegen ‚Computerwissen‘, die sich dergestalt auf den Überzeugungsbegriff stützen, lassen sich auch Gegenargumente vertreten, die ausgehend von Gödels Unvollständigkeitssätzen und entlang einer von Turing, Searle, Penrose und anderen verfolgten Linie verlaufen, die darauf abzielt, dass die formale Struktur, auf deren Grundlage Computerprogramme aufbauen, es nicht zulässt, reflexives ‚Nachdenken‘ über Selbstwissen und Selbstirrtum, das dem Menschen eigentümlich zu sein scheint, zu realisieren.18 Mit dieser Zurückweisung soll ausdrücklich nicht bestritten werden, dass die gegenwärtig stattfindende digitale Revolution die Möglichkeiten der Wissensgewinnung und -rechtfertigung dramatisch erweitert und deshalb den Wissensbegriff selber dauerhaft beeinflussen wird. Dies beantwortet aber noch nicht die Fragen, was ‚digitales Wissen‘ heute heißt und was es heißen sollte. Die erste Frage ist deskriptiver, die zweite normativer Art. Um ihren Beantwortungen näher zu kommen, folgen nun, knapp und eher thesenhaft, zunächst einige negative Feststellungen bzw. Ausgrenzungsvorschläge, sodann ein Blick auf eigentliches digitales Wissen und dessen Implikationen. Es scheint, dass vorwiegend von medien- und kulturphilosophischer Seite ein Verständnis von ‚digitalem Wissen‘ vertreten wird, das – ein Schelm, wer 18 Neben
den älteren, aber immer noch lehrreichen erkenntnistheoretischen Untersuchungen Stegmüller (1973) und Penrose (1994) sei zur neueren KI-Forschung auf Graubard (1996) und Mainzer (2003) verwiesen. Eine neuere, sehr lebhafte und z. T. polemische, zugleich auch technische Auseinandersetzung mit dem gesamten Problemfeld vom Standpunkt der mathematischen Logik gibt Girard (2011).
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allzu ‚Absichtsvolles‘ dabei denkt – den Medien eine solch dominante Rolle im Prozess der Wissensgewinnung zuweist, dass deren Spezifizität im Erkenntnisprozess die Bedeutung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, zwischen denen Medien vermitteln, völlig in den Hintergrund treten lässt, manchmal sogar gänzlich auflöst. Dabei wird der nach Wissen strebende Mensch, horribile dictu, auch noch hintergangen: „Jede Wahrnehmung und jedes Wissen folgt damit einer spezifischen Medialität, die im Erkenntnisprozess jedoch verborgen bleiben muss.“ (Bächle 2016, S. 64) In Bezug auf den Computer als Medium ist hier gelegentlich – ohne auch nur die Mühe einer Differenzierung auf sich zu nehmen – nicht nur von „Digitalem Wissen“, sondern auch von einer „Digitalisierung des Wissens“ die Rede.19 Neben der einleitend bereits bemerkten, durchaus problematischen Nebeneinanderstellung von Wissen und Wahrnehmung gerät hier auch einiges Weitere durcheinander. Dass unser Gegenstandswissen kein unmittelbares, sondern stets ein vermitteltes ist, kann wahrlich nicht als neue Einsicht gelten, wohl aber wird hier eine Verflachung und Verunklarung des Wissensbegriffs als neue Einsicht behauptet. Es wird weder die Frage der Wissensgewinnung – von ‚Wissensproduktion‘ zu sprechen, suggeriert einen automatisierten Prozess, der es nicht ist – noch die Frage der Wissenssicherung bzw. -rechtfertigung ernsthaft thematisiert, die ohne eine Explikation der epistemischen Leistungen des Erkenntnissubjekts nicht zu beantworten ist. Auch scheint hier ohne weitere Differenzierungen die Gefahr eines Selbstwiderspruchs zu lauern: Wenn man darauf abhebt, dass Wissen in starkem Sinne medienspezifisch ist, und man weiter der plausiblen Annahme folgt, dass der Computer eine Art „Universalmedium“20 ist, das die spezifischen Leistungen aller bisherigen Medien einschließt, dann wäre aus dieser Perspektive wohl zunächst einmal zu klären, wie es ein digitales Wissen überhaupt geben kann, und wer der Träger dieses Wissens ist. Diese Fragen scheinen mir in dieser Denkrichtung im Wesentlichen unbeantwortet zu sein.
19 Bächle (2016, S. 12 und S. 49), mit Bezug auf das gleiche Kapitel des Buches. Die Zitate stehen stellvertretend für viele ähnliche Belege und Publikationen der Richtung zum Digitalen. Zum philosophischen ‚Beistand‘ für die in den Kultur- und Medienwissenschaften dominierende Sichtweise, darunter manche phänomenologische Strömung und der Französische Poststrukturalismus, s. das Literaturverzeichnis dort. 20 Diese Auffassung vertritt Ellrich (2005, S. 344) und kommt zu einer differenzierten Sicht darüber, „den Computer als grundlegend Anderes und Neuartiges zu denken“ (ebd., S. 343).
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Eine verwandte, zum Teil in inhaltlichen Fragen stark überlappende Richtung ist spezifischer in Hinblick auf digitales Wissen, wenngleich allgemeiner im Anspruch: Sie vertritt die Auffassung, dass in den vom Menschen geschaffenen Artefakten, technischen Geräten und Instrumenten, ein ‚Dingwissen‘ realisiert sei („thing knowledge“, „material knowledge“, s. Baird 2002, 2004). Hier wird explizit ein materieller Wissensbegriff ins Spiel gebracht, in dem (ebenfalls) das Haben und Vertreten von Überzeugungen keine Rolle mehr spielt und Wahrheitsansprüche durch erfolgreiche Funktionsausübungen ersetzt werden. Angewandt auf den Computer als Artefakt, wird in demselben materielles Wissen verortet, das in physisch implementierter, aber nicht semantisch gebundener, sondern formaler Information besteht. (Daneben geht es um ein ‚know how‘ im Umgang mit dem Computer, auf das zurückzukommen sein wird.) Die Gleichsetzung von Wissen und Information kann aber kein Konzept von digitalem Wissen begründen. Wissen basiert auf Information, bedarf aber auch der Rechtfertigung; die binären Schaltzustände eines Computers führen diesbezüglich ein selbstgenügsames Eigenleben. Eine wiederum verwandte, aber andere Interessen verfolgende Richtung fasst digitales Wissen als Machtinstrument auf – ein Buchtitel wie Knowledge in the Age of Digital Capitalism: An Introduction to Cognitive Materialism (Zukerfeld 2017) spricht hier fast für sich. Digitales Wissen begegnet hier zugleich als materiell-epistemisches, in den digitalen Infrastrukturen der modernen Gesellschaft realisiertes sowie als machttheoretisches Konzept. In überwiegend Foucaultscher Tradition geht es hier um die Generierung und Ausübung von Wissen, das der Überwachung und Kontrolle dient, der Durchleuchtung sozialer Beziehungen und ökonomischer Gepflogenheiten – in Zeiten von ‚Big Data‘ sowohl auf individueller als auch auf breiter kollektiver Ebene, wie uns die surveillance studies deutlich vor Augen führen (vgl. Zurawski 2007). Nicht zuletzt steht hier das moderne Verständnis von Privatheit auf dem Spiel (s. Rössler 2001). Sofern das in dieser Denkrichtung in Anschlag gebrachte ‚Wissen‘ auf automatisierten Überwachungs- und Entscheidungsverfahren beruht, handelt es sich um gar kein Wissen im hier vertretenen Sinn. Sofern es sich um gesammelte Daten und Datensätze handelt, die ein Mensch oder Gruppen von Menschen intentional nutzen, um Macht und ökonomischen Einfluss auszuüben, stellt sich die Frage, inwiefern hier spezifisch digitales Wissen am Werke sein soll: Dass Wissen, eben weil es Einsicht in Gründe beinhaltet, mit Macht einhergeht, ist eine Erkenntnis, die nicht am Ende, sondern am Anfang neuzeitlicher Reflexion
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über Wissen steht.21 Es ist zweifellos zu einem gewissen Teil genuines digitales Wissen (s. unten), das den hier zu Recht beschworenen Gefahren digitaler Überwachungsregime zugrunde liegt und den Wissensträgern wichtige ethische Pflichten des Personen- und Privatheitsschutzes auferlegt, deren mangelhafte Befolgung und Durchsetzung Anlass zu Sorge geben und politisches Handeln erfordern. ‚Big Data‘ per se aber stellen kein eigentliches digitales Wissen dar. Insgesamt laufen die hier angedeuteten Verwendungen von ‚digitalem Wissen‘ Gefahr, Wissen mit Weisen und physischen Voraussetzungen der Wissensgewinnung oder aber mit möglichen (unerwünschten) Funktionen von Wissen in sozialen und politischen Kontexten zu vermengen. Der ‚Gewinn‘ besteht in einem bequemen Redenkönnen über (z. T. auch epistemische) Aspekte der Digitalität, der Preis besteht in einer inflationären Entwertung des Wissensbegriffs: ‚Wissen‘ wird, losgelöst von allem Fürwahrhalten und Bemühen um beste Rechtfertigungen, zu einem disponiblen Instrument und kommoder Ware, die etwa zur Informationsbefriedigung oder auch zur Machtausübung rein zweckrational eingesetzt wird. Eine ernsthaftere erkenntnistheoretische Beschäftigung mit dem Komplex der Digitalität geht weiter und ist in ihren Befunden womöglich (noch) beunruhigender: Starkes eigentliches digitales Wissen wird man danach, wenig überraschend, zunächst den Experten, d. h. den Informatikern sowie Mathematikern und formalen Logikern, die mit Grundlagen der Informatik zu tun haben, zuerkennen, die, beginnend mit Algorithmen und der Booleschen Algebra binärer Systeme zur Kodierung von Daten über die Architektur von Chips bis hin zu abstraktesten digitalen Modellen und deren Konsistenzprüfung die epistemische Basis für das legen, was dem Nutzer als kommodes Gerät begegnet, mit dem er sich im digitalen Netz bewegt. Über starkes Wissen verfügen diese Experten in einem ähnlichen Sinn und mit den gleichen ‚Gödelschen Einschränkungen‘ wie Mathematiker, die ihre Überzeugungssysteme durch die bestmöglichen Rechtfertigungen, d. h. Beweise, vor Irrtum zu schützen suchen.
21 „Menschliches
Wissen und menschliche Macht treffen in einem zusammen; denn bei Unkenntnis der Ursache versagt die Wirkung.“ (Bacon 1999 I, S. 81; Aph. 3) Francis Bacon bezieht diese Worte auf eine Natur, die von ihm noch als eine dem Menschen gegenüberstehende, vom Menschen zu beherrschende Instanz konzipiert wird. Im Zuge der weiteren Entwicklung der Neuzeit mit ihren Säkularisierungs- und Szientisierungseffekten (auch) in den Bereichen des Sozialen und Politischen ist es von da nur noch ein Schritt, seine Worte auf die menschliche Natur auszudehnen.
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Bereits auf dieser Ebene verfügt der Einzelne nicht mehr über ein vollständiges, ‚intern verfügbares‘ Gesamt an Gründen, sondern ist auf soziale ‚Triangulation‘ (vgl. Teil 4) seiner Überzeugungen angewiesen, um komplexe informationstheoretische Abstrakta ‚wetterfest‘ zu machen.22 Über digitales Wissen verfügen Programmierer und Softwareentwickler, die sich der epistemischen Basis der theoretischen Informatik zu stärker anwendungsorientierten Zwecken bedienen. Ein solches Wissen ist unabdingbar auch für Mathematiker, die Computer in ihren Beweisen nutzen und so ihr mathematisches Wissen rechtfertigen (s. Arkoudas und Bringsjord 2007), ebenso für Naturwissenschaftler, die mit Hilfe von Computersimulationen neues Wissen hervorbringen und absichern (s. Barberousse und Vorms 2014; Beisbart 2012). In beiden Bereichen werden die entsprechenden Verfahren letztlich als propositionsartige Argumente zur Wissensrechtfertigung eingesetzt. Bereiche wie die moderne Klimaforschung sind ohne digitales Wissen ebenso undenkbar (s. Winsberg 2010, 2018). Bereits das letztgenannte Feld ist aber auch geeignet, ein Grundproblem zu illustrieren, das beim ‚gewöhnlichen Anwender‘, angefangen bei der Schülerin oder dem Schüler, in vergleichbarer Weise auftritt: Aufgrund der enormen Größe, der Komplexität und eines gleichsam ‚organischen Wachstums‘ der Klimamodelle von den frühen Anfängen bis heute, sind diese Systeme auch für den Fachmann opak – in weiten Teilen undurchsichtige Programmkomplexe, die auch im Überzeugungsaustausch und -abgleich innerhalb der scientific community nicht vollständig transparent gemacht werden können. Zum Beispiel ist in der Klimaforschung gewöhnlich nicht absehbar, wie sich eine kleine Veränderung eines Modellparameters auf das Ergebnis eines Simulationsprozesses genau auswirkt. Hier kommt in der intensiven Arbeit mit einem Klimamodell (oder mehreren aufeinanderfolgenden Generationen eines solchen Modells) ein Wissen ins Spiel, das seit Michel Polanyi als ‚tacit knowledge‘ bezeichnet wird (s. Polanyi 1958, 1966): ein implizites, propositional nicht oder nur teilweise artikulierbares Wissen, das durch Erfahrung gewonnen wird. Es handelt sich, gemäß der eingangs getroffenen Unterscheidung (vgl. Teil 1), nicht um ein ‚Wissen, dass‘, sondern um ein ‚Wissen, wie‘. Es kann auch unter Fachleuten nicht sprachlich kommuniziert werden, sondern zeigt sich, wenn in einem gemeinsamen Kontext an einer gemeinsamen Sache gearbeitet wurde, bestenfalls im Einverständnis über
22 Vgl.
zu dieser ‚Triangulation‘ den Teil 4. Diese Situation ist nicht neu: So kennt beispielsweise die Mathematik des 20. Jahrhunderts verschiedene Sätze, die ‚arbeitsteilig‘ von größeren Gruppen bewiesen wurden und schwerlich eine Person, die alle Teile des Beweisgangs vollständig überblickt; s. hierzu Singh (1998).
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gemeinsames weiteres Handeln: Man kennt die erworbenen Fertigkeiten (‚skills‘) und orientiert daran die weitere Forschung. Für einen stärkeren, propositionalen Wissensbegriff, wie er in diesem Überblick vertreten wird, handelt es sich hier weder um einen gerechtfertigten noch um einen rechtfertigenden Wissensbestand, also um kein eigentliches Wissen, sondern um ein Wissen in einem weiteren Sinne. Für den ‚gewöhnlichen Anwender‘ digitaler Geräte, auch wenn er über digitales Grundlagenwissen verfügt, stellt sich die Lage en miniature strukturell ähnlich dar: Er verfügt im Allgemeinen über erheblich weniger eigentliches digitales Wissen als der Klimamodellierer, er arbeitet mit ungleich kleineren Rechnern und weniger komplexen Programmen; auch dient seine Nutzung beider meist anderen Zwecken als der Forschung. Aber auch für ihn haben die genutzten digitalen Geräte wesentlich einen ‚black box-Charakter‘, d. h. er kann gewöhnlich nicht transparent machen, wie es von einem gewissen ‚Input‘ zu einem bestimmten ‚Output‘ kommt. Wohl kann er sich im handelnden Umgang mit diesen Geräten ‚anfreunden‘, gewisse Fertigkeiten entwickeln und eine Vertrautheit mit ihren Funktionen und Abläufen erwerben, die dann Erwartungen in Bezug auf bestimmte Resultate nähren, diese aber eben nicht rechtfertigen. Man sollte hier, um einen Unterschied zu Polanyis gegenstandsspezifischerem impliziten Wissen zu markieren, eher von einem digitalen Können sprechen. Mit ihm ausgestattet, verhelfen die Geräte dem ‚gewöhnlichen Nutzer‘ zu einem ungemeinen Wachstum an Information, aber nicht an Wissen. Es ist wohl plausibel, davon auszugehen, dass mit der weiteren Leistungssteigerung der digitalen Geräte die Informationsressourcen und mit ihnen die Möglichkeiten, zu ihnen zu gelangen, weiter stark zunehmen werden, während eigentliches digitales Wissen notwendig zurückbleibt – nicht alle Menschen können und wollen Informatiker werden. Man könnte sagen: Für die meisten Menschen war die Schere zwischen eigentlichem Wissen und Können nie größer als im heutigen, digitalen Zeitalter, und sie wird sich weiter vergrößern. Hier zeigt sich, vom Standpunkt des Wissensproblems, eine Hauptaufgabe digitaler Bildung.
6 Schluss: Eine Note zur digitalen Bildung ‚Bildung‘ ist ein nicht weniger großformatiger, dabei wohl noch vielschichtiger und mit unterschiedlicheren Primärbedeutungen besetzter ‚Dachbegriff‘ als Wissen, vielleicht auch einer mit deutlich mehr Streitpotenzial. Die diesbezüglichen breiten Diskussionen, die über Erziehungswissenschaft und Philosophie weit hinausgreifen, sind hier nicht weiter auszuführen (s. näher Ricken 2006, 2007). Für
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diese Schlussnote sollen zwei recht pauschale ‚ausleitende‘ Hinweise genügen: Erstens scheint Konsens zu herrschen, dass Bildung nicht ohne Wissen – verstanden in einer gewissen allgemeinen Form, die über abgezirkeltes Spezialwissen und vorgegebenes Kanonwissen hinausgeht – auskommen kann. Zweitens scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass dieses Hinausgehen über allgemeines Wissen mindestens drei wesentliche Aspekte beinhaltet: die Idee einer möglichst freien Selbstentfaltung und (in der Folge) der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen (also ein gewisses, individualistisches Subjektivitätsideal), die Idee eines angemessenen und dynamischen, d. h. zeitlich sich entwickelnden Prozesses der Weltaneignung und (in der Folge) eines Orientierungsvermögens bezüglich der Welt (also ein gewisses epistemisch-behaviorales Realitätsideal) sowie die Idee der Ausbildung der Fähigkeit zum verantwortlichen Handeln und (in der Folge) zur mitbestimmenden Teilhabe im sozialen und kulturellen Raum (also ein gewisses sozial-kulturelles Ideal von Moralität im weitesten Sinne). Entlang dieser Trias seien einige abschließende Bemerkungen zur digitalen Bildung hinzugefügt: Der in diesem Beitrag favorisierte Wissensbegriff ist, bezogen auf die philosophische Tradition, relativ weit und zugleich relativ eng, gemessen an der heute anzutreffenden Rede über ‚digitales Wissen‘. Mit einem weiten Bildungsbegriff teilt er die Subjektorientierung. Würde der Wissensbegriff in starker Weise an die ‚digitalen Dinge‘ gebunden und zur kommoden Ware gemacht, erübrigte sich ein Projekt digitaler Bildung, weil es sich auf keinen adäquaten Wissensbegriff stützen kann. Diese Option stellt heute eine reale Gefahr dar. Bleibt der Wissensbegriff dagegen am Erkenntnissubjekt orientiert, ergeben sich einige Postulate für digitale Bildung: Der Erwerb eigentlichen digitalen Wissens (s. Teil 5), zumindest basaler, wenngleich näher zu bestimmender Art, ist dann unverzichtbar, denn nur so kann das Individuum der digitalen Welt überhaupt Freiheitsspielräume erlangen und nutzen. Zur digitalen Bildung gehört, die engen Grenzen dieses eigentlichen digitalen Wissens gegenüber den weiten Möglichkeiten eines bloßen Könnens (‚Wissen, wie‘, in der Literatur oft auch: ‚digital literacy‘) in einem digitalen Raum, der wesentlich fremdgestaltet ist und fremden Interessen folgt, zu vermitteln: Das Individuum der digitalen Welt muss von der allgegenwärtigen Zwillingsillusion befreit werden, sich erstens in einem freien digitalen Raum von Möglichkeiten bewegen zu können, der zweitens quasi unbeschränkte Wissensressourcen bereitstellt. Dieser Raum ist nicht frei, und er eröffnet bloße Information, die zunächst auf ihren Gehalt zu prüfen ist und überhaupt erst in der individuellen Aneignung zu Wissen werden kann. In Kürze: Nur wer die engen Grenzen seines eigenen Wissens kennt, und es von bloßem Können in einem fremden digitalen Raum zu unterscheiden weiß, gewinnt die Möglichkeit zur Selbstbestimmung in diesem Raum.
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‚Weltaneignung‘ ist ein großes Wort für eine lebenslange Aufgabe. Die Ausbildung des Vermögens, reflektiert zu unterscheiden und daraus Handlungsdirektiven abzuleiten, steht hier vor besonderen Herausforderungen, denn digitale Gerätschaften können Weltaneignung und Weltverlust gleichermaßen befördern: Der fortgeschrittene ‚digital nerd‘ ist hinsichtlich des Ziels, Weltorientierung zu erlangen, ein (fast) verlorener Fall. Zur digitalen Bildung gehört daher, Einsichtsfähigkeit bezüglich der Differenzen virtuell geschaffener Welten und natürlicher wie sozialer Welt zu entwickeln – Einsichtsfähigkeit darin, dass Daten und Algorithmen selektiv bzw. simulativ (oft genug auch: manipulativ) bezüglich letzterer sind. Um nur einige Beispiele zu geben: Es geht unter anderem darum, den Sinn dafür nicht zu verlieren, dass die unmittelbare Wahrnehmung der Natur eine andere ist als eine digital vermittelte, dass der direkte soziale Austausch ein anderer ist als der im Internet, dass die Computersimulation eines Experiments etwas anderes ist als ein Realexperiment, dass eine Online-Abstimmung über eine Aussage etwas anderes ist als ein Überzeugungsaustausch über diese Aussage etc. Es geht insbesondere darum, den Sinn für Realitätsgewinne und -verluste beiderseits zu schärfen, um den großen Attraktionskräften, die die digitale Welt besonders auf junge Menschen ausübt, nicht zu erliegen und eine eigene Welt aus den Augen zu verlieren. Auch dazu kann der hier vertretene Wissensbegriff beitragen. In Kürze: Nur wer die Differenz von realer Welt und digitaler ‚Welt‘ zu reflektieren vermag, gewinnt die Möglichkeit zur Weltorientierung. Die Ausbildung der Fähigkeit zum verantwortlichen Handeln und zur mitbestimmenden Teilhabe in der sozialen und kulturellen Sphäre ist unter der Leitfrage digitaler Bildung von besonderer Dringlichkeit. Sofern es um die Wahrnehmung von Verantwortung geht, die jemand als handelnde Person im digitalen Raum potenziell hat, steht hier zunächst die Frage einer digitalen Zurechnungsfähigkeit zur Diskussion, die eng mit den beiden oben angesprochenen Punkten zusammenhängt. Ist diese gegeben, und liegen keine Handlungssituationen von Zwang oder Nötigung bzw. des nicht persönlich verschuldeten Irrtums vor, sind hier Verantwortungen zu tragen und Rechte und Pflichten wahrzunehmen wie in den meisten anderen Handlungskontexten auch. Dies bewusst zu machen, ist Sache allgemeiner und digitaler Bildung. Digitale Bildung hat hier aber auch in besonderem Maße auf spezifische digitale Aspekte, etwa die Wahrnehmung von Persönlichkeitsrechten (insbesondere den Schutz persönlicher Daten aller Art), oder auch die Gefahren missbräuchlicher Datenbeschaffung und -verbreitung (insbesondere im Schutze ‚digitaler Anonymität‘) zu thematisieren. In diesen Kontext gehört auch eine Reflexion auf den bereits angesprochenen Machtdiskurs zum Digitalen (s. Teil 5). Es ist wichtig zu vermitteln, dass es nicht Algorithmen, ‚Big Data‘ und automatisierte Überwachungs- und Entscheidungsmechanismen
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sind, die hier Macht ausüben, sondern dass es hier um digitale Infrastrukturen geht, die in politische, sozial-kulturelle und ökonomische Strukturen eingebettet sind und für diese Funktionen wahrnehmen, hinter denen (individuelle oder kollektive) Intentionsträger stehen. Der Machtdiskurs hat aber auch eine Kehrseite, nämlich die, dass die bzw. der digital Gebildete bereit ist und sein muss, eigene Macht einzuschränken oder aufzugeben, je nach Maßgabe der akzeptierten sozialen Normen und Werte. Der springende Punkt liegt auch bei diesem zentralen Aspekt digitaler Bildung, dessen Ausarbeitung eminent auf eine sich gerade erst herausbildende Ethik der digitalen Methoden und Techniken zu setzen hat, dass eine Subjektorientierung der Verantwortlichkeit und Teilhabe nicht aufgegeben wird: Wer, wie es in manchen neueren Publikationen zur digitalen Ethik nachzulesen ist, nach der Verantwortung von algorithmischen Strukturen und Robotern fragt und diese positiv beantwortet, hat vor der hier anstehenden Aufgabe bereits versagt. Wenn algorithmischen Strukturen (etwa beim autonomen Fahren), oder Roboter (etwa in der Altenpflege), die heute in aller Regel von großen Teams geschaffen werden, kausal für die Schädigung von Personen oder Sachen dingfest gemacht werden können, ist zunächst das Team das Subjekt, das in der Verantwortung steht, sodann ist nach der Verteilung von Verantwortlichkeiten innerhalb desselben zu fragen. In Kürze: Nur wer die digitale Infrastruktur als Teil eines politisch-sozialen, intentional geformten Funktionszusammenhangs begreift, der geteilten Normen und Werten unterliegt und an subjektiver Verantwortungszuschreibung festhält, gewinnt die Möglichkeit zur mitbestimmenden Teilhabe im Sozialen und Kulturellen. Soweit, am Ende, einige Anfangsüberlegungen eines Wissenschafts- und Erkenntnistheoretikers zur Frage der digitalen Bildung. Wer mit solchen Bildungsprozessen im Konkreten befasst ist, mag sie wahlweise für zu geläufig halten, um noch neue Anregungen zu bieten, oder für zu allgemein, um umsetzbar zu sein. Wichtiger ist, in diesen Prozessen die Träger von Wissen und Verantwortung nicht aus den Augen zu verlieren. Denn sonst verliert der Mensch.
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Transformationen des Bildungswissens – eine wissenstheoretische und -geschichtliche Perspektive auf digitale Wissenskulturen Norbert Ricken, Sabine Reh und Joachim Scholz
Zusammenfassung
Ausgehend von der Beobachtung, dass Digitalisierung und Digitalität längst – auch im pädagogischen Feld – zur Normalität geworden sind, greift der Beitrag in Ergänzung zu bisherigen schul- und medienpädagogischen sowie sozialisationstheoretischen Fragestellungen eine wissenstheoretische und -geschichtliche Perspektive auf und sucht die Fragen zu diskutieren, wie sich denn ›Digitalität‹ auf Formen und Praktiken des Wissens auswirkt und ob bzw. in welcher Hinsicht von möglichen Transformationen von Wissenskulturen durch ›Digitalität‹ gesprochen werden kann. In einem ersten Schritt wird daher der Bedeutung von ›Digitalisierung‹ als einer Gesellschaftsdiagnose nachgegangen (1.), bevor dann die eigene wissenstheoretische Perspektive – und zwar zunächst systematisch (2.) und dann bildungshistorisch (3.) – skizziert und das praktikentheoretisch ausgelegte Konzept des ›Bildungswissens‹ erläutert wird. Diese Rahmungen erlauben, die Frage nach den Formationen und Transformationen einer durch Digitalität geprägten Wissenskultur N. Ricken (*) · J. Scholz Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Scholz E-Mail: [email protected] S. Reh Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_12
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N. Ricken et al.
aufzunehmen und aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive zu bearbeiten (4.). Entlang ausgewählter Strukturmomente werden dabei längst erreichte Merkmale von ›Digitalität‹ skizziert und auf ihre möglichen Folgen für Wissensformen und -praktiken, Wissensordnungen und -kulturen untersucht. Schlüsselwörter
Bildungswissen · Wissen/Wissenskultur/Wissensordnung · Digitalität · Wissenspraktiken · Transformation
›Digitalisierung‹ gilt derzeit wohl als eine der zentralen Herausforderungen (auch) des pädagogischen Systems. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht die digitale Rückständigkeit von Schule – insbesondere in Deutschland (oft mit Verweis auf Studien wie Fraillon et al. 2018) – beklagt und die Dringlichkeit einer ›digitalen Revolution‹ von Schule und Unterricht programmatisch beschworen werden (vgl. Kultusministerkonferenz 2017 sowie insgesamt McElvany et al. 2018; Kaspar et al. 2020). Ihnen stehen – wenn auch eher leiser werdende – Widerstände, seien es nun skeptische Vorbehalte, technische Unzulänglichkeiten oder auch pädagogische Hemmnisse, im Streit gegenüber, sodass Verständigung in der Sache und besonnenes Abwägen von Nutzen und Nachteil nicht allzu häufig gelingen. Die bisherigen Muster einer – inzwischen längeren Geschichte der – pädagogischen Medienrezeption verstärken diese Konfliktlage, weil immer wieder neu Technikskepsis und Kulturkritik einer traditionellen Bildungsorientierung (Kurig 20151) und inzwischen eher abgekühlter Modernisierungsglaube und technikorientierte Fortschrittseuphorie aufeinanderprallen. Der derzeit eher festgefahrene Streit täuscht aber über den längst erreichten Stand der digitalen Transformation hinweg – und das gleich in doppelter Weise: Denn versteht man ›Bildung‹ nicht bloß als Synonym für Schule und Unterricht, sondern auch als Markierung dessen, dass sich Kompetenzerwerb und Identitätsbildung immer nur in Auseinandersetzung mit ›Welt‹ zusammen vollziehen
1 Die
bei Julia Kurig für den Zeitraum 1920–1950 rekonstruierten Muster der pädagogischen Technikrezeption im bundesdeutschen Diskurs – exemplarisch als Positionen „zwischen Kulturkritik, pragmatischer Anerkennung und Affirmation der technisch-industriegesellschaftlichen Moderne“ (Kurig 2015, S. 373 ff.) beschrieben – ließen sich auch auf ältere wie jüngere Debatten erweitern und um das Schlagwort ›echter Bildung‹ sortieren, sodass man vermutlich von durchgängigen Mustern sprechen kann.
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(Koller 2018), dann dürfte wohl unstrittig sein, dass Digitalität längst zu einem zentralen Strukturmoment von eben diesen Bildungsprozessen geworden ist; allein der Grad der Verbreitung und Nutzung digitaler Medien und Techniken macht dies unmittelbar deutlich (MPFS 2020). Kaum verwunderlich ist daher dann, dass der Frage nach der Bedeutung digitaler Medien, nach ihren Möglichkeiten und Grenzen sowie den Folgen sowohl in Studien zum Kontext schulisch organisierter Lernprozesse (Eickelmann et al. 2019; Brägger und Rolff 2021) als auch in der Sozialisationsforschung längst breit nachgegangen wird (Hoffmann et al. 2017). Sortiert man die verschiedenen Zugänge, dann lassen sich vorrangig mediendidaktische und medienpädagogische bzw. -theoretische Perspektiven, die sich mit Blick auf die jeweiligen Logiken von Medien für Nutzungsmöglichkeiten und -risiken sowie erforderliche Kompetenzen im Umgang mit denselben interessieren (Tulodziecki et al. 2019), von sozialisationstheoretischen Perspektiven unterscheiden, die u. a. Nutzungspraktiken, Milieuabhängigkeit und damit verbundene Identitätsmuster befragen und dann sowohl soziale Teilhabe-, Anerkennungs- und Zugehörigkeitskämpfe als auch (veränderte) Selbstpraktiken identifizieren und hinsichtlich ihrer Bewertung diskutieren (vgl. exemplarisch Allert et al. 2017 sowie jüngst Bautz 2021). Doch auch wenn sich derzeit noch kein klarer Befund zur Digitalisierung und Digitalisierbarkeit pädagogischer Prozesse einerseits und den vielfältigen Formen eines ›digitalen Selbst‹ andererseits abzeichnet, so fällt doch auf, dass bei der Beurteilung der digitalen Transformationsprozesse immer wieder auf vertraute Muster zurückgegriffen wird, in denen das ›Neue‹ der Digitalität in Analogie zum ›Alten‹ gedeutet und als Fortsetzung bisheriger Praktiken mit anderen Mitteln markiert wird. Gerade der Begriff der ›Digitalisierung‹ legt genau diese Perspektive nahe, suggeriert er doch, es ginge bloß um eine Übersetzung bisheriger analoger Prozesse in digitale Formate.2 Fragt man aber – begrifflich mit ›Digitalität‹ markierbar – nach Verfasstheit und Logik digital codierter und sozial etablierter Praktiken, dann stößt man nicht nur auf die Unmöglichkeit, das Feld digitaler Praktiken überhaupt angemessen erfassen zu können, weil sowohl technische Erfindungen als auch dadurch eröffnete Räume in einem hohen Tempo sich entwickeln und ein Ende noch lange nicht abzusehen ist. Vielmehr ist derzeit eher umstritten, was denn genau ›digitale Kulturen‹ kennzeichnet – und das ja auch,
2 Problematisch
ist dabei neben der Konstellation zweier sich gegenüberstehender Sphären (des ›alten‹ Analogen und neuen ›Digitalen‹) das Übersehen der Tatsache, dass es auch „digital-binär gesteuerte Operationen [gibt], für die sich keine analogen Vorbilder ausmachen lassen“ (Ochs 2017, S. 25).
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weil das zu diskutierende Geschehen nicht einfach getrennt und abgeschlossen von jeweiligen Beobachter*innen in den Blick genommen werden kann (Baecker 2017). Vor diesem Hintergrund werden wir in den folgenden Überlegungen eher explorativ zu erkunden versuchen, was ›Digitalität‹ und ›Digitalisierung‹ für die Formen und Praktiken des Wissens aus pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive bedeuten kann. Damit greifen wir eine fokussiert bildungstheoretische Fragestellung auf, die sich aber durch ihren wissenstheoretischen Kontrapunkt gerade nicht auf eher traditionell subjekt- bzw. subjektivierungstheoretische Fragen beschränkt, sondern das Ineinander von ›Weltauseinandersetzung‹ und ›Selbstgenese‹ in den Blick zu nehmen versucht. Wissenstheoretische und wissensgeschichtliche Analysen, wie wir sie einsetzen, bieten den Vorteil, Wissenspraktiken in eins (!) als Objektivierungs- und Subjektivierungspraktiken3 verstehen zu können, insofern ›Weltkonstruktionen‹ immer auch ›Selbstkonstruktionen‹ – und umgekehrt – sind. Als Perspektive, die zwischen medienpädagogischen bzw. -didaktischen und sozialisationstheoretischen Forschungsperspektiven vermittelt, erlaubt diese Fragerichtung darüber hinaus die Verbindung jener Aspekte, indem pädagogische Orientierungsmuster und beobachtbare Folgen miteinander verknüpft werden. Wir werden daher – nach einer rahmenden Vergewisserung über den gesellschaftlichen Kontext von ›Digitalisierung‹ und ›Digitalität‹, die wir für unverzichtbar halten (1.) – in einem zweiten Schritt mithilfe des Konzepts des ›Bildungswissens‹ diesen wissenstheoretischen Zugriff zu entwickeln versuchen (2.), bevor wir dann in einem kurzen wissenshistorischen Streifzug zur (Vor-)Geschichte des Bildungswissens verschiedene Stationen markieren wollen, die den Wandel dessen, was wir mit ›Bildungswissen‹ bezeichnen, wenigstens andeuten sollen (3.). Erst danach können einige Beobachtungen zur
3 Mit
dieser Bezeichnung bzw. der Kombination zweier Perspektiven – der der Subjektivierung und der Objektivierung – versuchen wir dem Ineinander von in Praktiken sich gleichzeitig vollziehenden Welt- und Selbstdeutungen Rechnung zu tragen; daher meint Objektivierung hier nicht vorrangig ein Ensemble an Verfahren einer wissenschaftlichen Prüfung (z. B. Validität, Reliabilität und Objektivität im Kontext empirisch-quantitativer Forschung, vgl. Rost 2013), sondern die Genese eines epistemologischen Konzepts im Laufe des 19. Jahrhunderts (Daston und Galison 2007), in dessen Kontext sich spezifische Arten und Weisen mitentwickelt haben, sich als Subjekt der Erkenntnis zu verstehen und dabei die Welt als (auch getrenntes) Objekt hervorzubringen. Beides gehört untrennbar zusammen, wird aber oft einseitig aufgegriffen (vgl. exemplarisch Ricken 2013 sowie als Überblicke Ricken et al. 2019 und Wiede 2019).
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›spätmodernen‹ Verfasstheit von Wissenskulturen unter digitalen Bedingungen angestellt werden (4.), um so die – nur noch empirisch erforschbare – Frage nach den Formen und Praktiken des Bildungswissens vorzubereiten (5.).
1 ›Digitalisierung‹ als Gesellschaftsdiagnose – eine zeitgeschichtliche Rahmung Der Begriff der ›Digitalisierung‹ bzw. der der ›Digitalität‹ wird im öffentlichen und auch im politischen Diskurs zur Beschreibung charakteristischer Merkmale einer Gegenwart genutzt, die dann als hegemoniale Struktur einer ›digitalen Gesellschaft‹ erfasst wird. Dabei bleibt zumeist ungenau, was im Einzelnen gemeint ist und es drängt sich der Eindruck auf, als handle es sich um eine Chiffre für eine Vielzahl struktureller Veränderungen der Gegenwart, die unzulänglich nur als eine „Digitalgeschichte Deutschlands“ beschrieben werden kann (Schmitt et al. 2016). Zu strukturellen Veränderungen, die sich unter der Überschrift ›Digitalisierung‹ oder ›Digitalität‹ zusammenfassen lassen, zählen nicht nur technologische Entwicklungen vor allem der Kommunikations- und Informationstechnologien, also die Entwicklung breit nutzbarer „auf binärdigitaler Codierung basierenden, elektronischen Technologien“ (Schmitt et al. 2016, S. 33). Es zählen dazu auch die immer schon grundlegend verwobene und diskontinuierliche Geschichte ihrer Anwendungen und Nutzungen einschließlich ihrer Akteure, der dazugehörenden Ideen und Konzepte, vor allem der Kybernetik, und schließlich der ›Computerisierung‹ weiter Bereiche des ökonomischen, des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. In den Analysen eines kulturellen Wandels und seines Zusammenhangs mit Digitalität (vgl. Stalder 2017, aber auch z. B. Reckwitz 2018) wird immer wieder offensichtlich, dass Digitalität Entwicklungen verstärkt bzw. steigert, die schon vorher, auch ohne sie, zu beobachten waren. Das gilt vor allem für Formen einer zunehmenden Individualisierung bzw. neuer Formen der Subjektivierung „nach dem Boom“ (vgl. DoeringManteuffel und Raphael 2016, S. 13), von Reckwitz als „Singularisierung“ in der „Spätmoderne“ beschrieben, für die dann Digitalität die „Infrastrukturen des Besonderen“ liefere (vgl. Reckwitz 2018, S. 73). Ähnliches – Digitalität verstärke etwas schon Vorhandenes – gilt aber auch für die Beschreibung der Ökonomie: Prozesse der Digitalisierung haben grundlegende ökonomische Veränderungen, die Entstehung eines Finanzkapitalismus, nicht nur möglich gemacht, sondern gesteigert (vgl. Schiller 2000, 2014) oder schließlich – so die Positionen von Staab (2019; ähnlich Seemann 2021) – zu den charakteristischen Merkmalen eines digitalen Kapitalismus, einer neuen Form der Konzentration, nämlich dem
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Privatbesitz an Märkten, den von ihm so genannten „proprietären Märkten“ (ebd., S. 151 ff.), geführt. Soziologische, kulturwissenschaftliche und ökonomische Theorien und Analysen zu den Charakteristika gegenwärtiger, digital bestimmter Strukturen greifen dafür unterschiedlich weitreichende Konzepte auf, vor allem die von ›Information‹ und ›Wissen‹, die jeweils als Ressource gesellschaftlicher Reproduktion verstanden werden. Erst vor diesem Hintergrund würden Voraussetzungen und Auswirkungen eines umfassenden technologischen Wandels als umfassende gesellschaftlich-kulturelle Transformation verstehbar. Ob nun Wissen oder Information jeweils als Voraussetzung oder Ausdruck des jeweils anderen verstanden wird, hängt von der Art der Abstraktion und auch von der jeweiligen disziplinären Perspektive ab. Wissenstheoretische Ansätze zielen – kulturwissenschaftlich orientiert – stärker auf Wissen als das ab, was als verstanden, geordnet und Aktionen ›informierend‹ erscheint, während diejenigen, die dem Konzept der Informatisierung folgen, stärker den Aspekt der Abstrahierung und die (technische) Verfügbarmachung des Wissens in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen. Wenn daher gegenwärtig von einer Wissensgesellschaft die Rede ist, wird davon ausgegangen, dass es zu einer Expansion und schließlich Bedeutungssteigerung wissensbasierter Aktivitäten kommt.4 Die Diagnose wird in den 1960er Jahren aufgestellt (exemplarisch Lane 1966; ausführlicher Heidenreich 2003), wobei weitgehend unstrittig ist, dass die Geschichte der Durchsetzung einer Wissensgesellschaft im unterstellten Sinne weit zurückreicht (Stehr 1994; Engelhardt und Kajetzke 2010; zur historischen Entwicklung insbesondere Burke 2014a, b; van Dülmen und Rauschenbach 2004) und schon im 19. Jahrhundert mit öffentlicher Statistik Mittel der Selbstbeschreibung von Gesellschaften produziert wurden (vgl. Desroisières 1998; Brückweh 2015; Nassehi 2019, S. 69). Die Durchsetzung einer Wissensgesellschaft, die schließlich in einer Verwissenschaftlichung des Sozialen gipfelt (Raphael 1996) ist – so könnte man es in dieser Perspektive formulieren – von einem Phänomen, nämlich der Informatisierung (Nora und Minc 1979; Baukrowitz et al. 2006), begleitet. Informatisierung wird als ein „historisch lang
4 Bereits
früh ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Wissensbasierung von Gesellschaften wohl kaum als Kennzeichen allein gegenwärtiger Gesellschaften taugt, weil alle Kulturen wissensbasiert sind (Burke 2014a). Damit tauchen dann auch Fragen auf, inwieweit diese Gegenwartsdiagnose nicht doch ideologische Züge hat (Bittlingmayer 2005) und dazu auch verhilft, sowohl globale Abhängigkeits- und Ausbeutungsmechanismen als auch nationale Ungleichheiten zu kaschieren bzw. zu legitimieren (Willke 2002).
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andauernder sozialer Prozess des Sammelns von Informationen und ihrer Verwaltung in Informationssystemen“ (Boes et al. 2016, S. 59) verstanden. Geistige Tätigkeiten würden von ihren Autor*innen getrennt, um sie für andere zugänglich zu gestalten, d. h. individuelles Wissen werde in eine gegenständliche Form gebracht und überindividuell nutzbar, indem es in Systeme, eben „Informationssysteme“, überführt wird (ebd.). Bei Informatisierung handelt es sich diesem Verständnis zufolge um die „Materialisierung des Informationsgebrauchs“; sie lässt einen „Informationsraum“ entstehen, einen sozial gestaltbaren und „lebendigen globalen Informations- und Kommunikationsraum“ (ebd., S. 62). Informatisierung wie die Durchsetzung einer Wissensgesellschaft können dann wiederum als beschleunigt durch bestimmte technische Entwicklungen gesehen werden – eben durch den Computer und den Aufstieg des Internets, um die oft angeführten, zentralen Bezugspunkte zu nennen (vgl. Schmitt et al. 2016). Dass in den Debatten und in der Rezeption eines solchermaßen nicht wirklich klar beschriebenen, sicher aber vielfältige Umbrüche der Gesellschaften umschließenden Phänomens von ›Digitalisierung‹ und ›Digitalität‹ dann von Pädagog*innen und Erziehungswissenschaftler*innen wiederum einerseits die technische Komponente im Vordergrund steht, und andererseits diese gerade in ihrer gesellschaftlichen Eingebettetheit und Relationalität nicht zur Kenntnis genommen wird, scheint wenig verwunderlich. Es drückt sich darin die (vermeintliche) Abhängigkeit des pädagogischen Handelns und der Vermittlung (!) an ›Medien‹ und deren Techniken und gleichzeitig die damit immer schon verbundene Skepsis diesen gegenüber aus.
2 Das Konzept des ›Bildungswissens‹ – eine wissenstheoretische Perspektive Leitend für unsere Überlegungen ist das Konzept des ›Bildungswissens‹. Damit versuchen wir, eine fokussiert bildungstheoretische und -geschichtliche Perspektive auszuarbeiten, die dem Doppelaspekt der ›Bildung‹ – verkürzt formuliert: als Formation und Transformation des ›Welt- und Selbstverhältnisses‹ (vgl. Koller 2018) – und der daraus resultierenden bzw. darin eingebetteten Dynamik dieser „Wechselwirkung“ (Humboldt 1960, S. 285) Rechnung trägt, und dieses nicht zu einer der beiden Seiten – seien es entweder bloße Subjektbzw. Subjektivierungsformen (vgl. auch Ricken 2019) oder seien es reine (und kognitiv halbierte) Kompetenz- und Fähigkeitsmodelle – auflöst. Zugleich erlaubt uns dieses – der „Wissensvergessenheit der Erziehungswissenschaft“ (Höhne 2003, S. 17) zum Trotz –, auch an frühere bildungstheoretische Überlegungen
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anzuknüpfen, wie sie unter dem Stichwort der ›kategorialen Bildung‹ insbesondere von Wolfgang Klafki (als Abgrenzung zu materialen und formalen Bildungskonzepten, vgl. Klafki 1959) entwickelt worden sind, ohne dass wir dabei den normativen Grund- oder Unterton dieser (zumeist allgemeindidaktischen) Debatten – verkürzt gefragt: was denn Kinder wie und woraufhin lernen sollen – erneut aufgreifen und verlängern. Wir wollen vielmehr mit ›Bildungswissen‹ analytisch danach fragen, was denn jeweils in welcher Zeit, in welcher Kultur und welchem Raum mit welcher Begründung von der älteren Generation für die jüngere Generation verpflichtend zu machen versucht, in Curricula gegossen und in entsprechenden Praktiken vermittelt wurde. Der Begriff des ›Bildungswissens‹ scheint uns für eine fokussiert bildungstheoretische Perspektive in besonderer Weise geeignet zu sein. Trotz seiner Herkunft – er entstammt eher problematischen kulturkritischen Überlegungen Max Schelers (Scheler 1926), in denen er drei Wissensformen („positives Wissen“ als „Leistungs- resp. Naturbeherrschungswissen“, „religiöses Wissen“ als „Heils- und Erlösungswissen“ und schließlich „metaphysisches Wissen“ als „Bildungswissen“, vgl. ebd., S. 17) zu unterscheiden und anthropologisch normativ zu nutzen versucht5 – und trotz berechtigter gegenwärtiger Skepsis (vgl. Tenorth 2020, S. 77 f.) lassen sich mit ›Bildungswissen‹ durchaus produktive, spezifisch pädagogische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Wissen markieren. Bereits in
5 Schelers
dann folgenden Erläuterungen veranschaulichen die große Distanz, die zwischen seinen und den hier angestellten Überlegungen besteht; sie seien daher kurz skizziert: Entlang der Trias der drei Wissensformen entfaltet Scheler in seiner Schrift auch „drei oberste Werdensziele, denen Wissen dienen kann und dienen soll: Erstens dem Werden und der Entfaltung der Person, die weiß – das ist ›Bildungswissen‹. Zweitens dem … (vielleicht) zeitfreien Werden der Welt, ihres obersten Soseins und Daseinsgrundes selbst … zu ihrer eigenen Werdens›bestimmung‹ … Dieses Wissen … heiße ›Erlösungswissen‹. Und es gibt drittens das Werdensziel der praktischen Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke – jenes Wissen … der positiven ›Wissenschaft‹, das ›Herrschafts-‹ oder ›Leistungswissen‹“ (Scheler 1926, S. 250). ›Bildungswissen‹ – so Scheler – nimmt daher eine Zwischenstellung zwischen ›Herrschafts-‹ und ›Erlösungswissen‹ ein, indem es „das Sein und Sosein der geistigen Person in uns zu einem Mikrokosmos [zu] erweitern und entfalten“ sucht und die jeweilige „Individualität“ durch „Teilhabe“ „an der Totalität der Welt, wenigstens ihren strukturellen Wesenszügen nach“, befördert und mit sich „zu irgendeiner Art der Einigung mit sich selbst“ (ebd.) versöhnt. Man mag dem Diktum Schelers – „Sogenanntes ›Wissen nur um des Wissens willen‹ also gibt es nirgends“ (ebd.) – auch wissenstheoretisch noch zustimmen, den Sprung in eine Metaphysik der „Person und ihrer überschwänglichen transzendenten Bestimmung“ (ebd., S. 258) wird man wohl kaum mitmachen wollen.
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der (begrifflichen) Abgrenzung von zwei benachbarten (pädagogischen) Wissensformen – dem traditionellen ›Schulwissen‹ (Tenorth 2020) einerseits und dem eher lebensweltlich situierten ›Weltwissen‹ (Elschenbroich 2001) andererseits – wird deutlich, dass Wissen sich gerade nicht propositional auf positives Wissen verkürzen lässt, sondern als Zusammenhang von „knowing that“ und „knowing how“ (vgl. bereits früh Ryle 1949: S. 25–61; Polanyi 2016) verstanden werden muss und insofern auch mit jeweiligen Praktiken (des Umgangs mit ›Welt‹, der Aneignung bzw. der Erschließung von ›Welt‹ etc.) zu verbinden ist. Diese Grundjustierung ist dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs alles andere als (sach-) fremd, hat doch bereits Wolfgang Klafki in seiner Bestimmung der ›kategorialen Bildung‹ in Abgrenzung von ›materialer Bildung‹ (als Kanon) einerseits und ›formaler Bildun (als Methode) andererseits von der Funktion der doppelseitigen Erschließungsfunktion des „Bildungswissens“ einem Begriff, den er im Verlaufe seines Textes ohne Zögern (und Rückbezug) gebraucht (Klafki 1959, S. 40 f.) – gesprochen. Leitend ist die – durchaus traditionelle – Idee einer „doppelseitige[n] Erschließung“ (ebd., S. 43), dass nämlich in Bildungsprozessen einerseits die Welt für das heranwachsende Selbst erschlossen werden und andererseits das Selbst sich für die unabhängige Welt erschließen soll (ebd.). Zugleich hält Klafki – gegen formale Bildungstheorien – damit auch fest, dass alle vermeintlich bloß formalen ›Kompetenzen‹ nicht im luftleeren Raum, sondern an konkreten Inhalten erworben werden müssen – und sich auch ohne bestimmte Grundkenntnisse nicht weit(er) ausdifferenzieren lassen.6 In wissenstheoretischer Hinsicht kommt nun dem ›Bildungswissen‹ eine besondere Bedeutung zu: Grenzt man – zunächst ebenfalls ganz traditionell (vgl. Pulte i. d. Band) – Wissen gegen Information und Daten bzw. Zeichen einerseits und gegen Glauben und Meinen andererseits ab,7 dann lässt sich Wissen
6 Vgl. dazu auch die neuere Debatte zur Fachlichkeit als einer pädagogischen Strukturdimension (Reh 2017, 2018; Reh und Pieper 2018) bzw. zum (Professionalitäts-)Problem der ›Entfachlichung‹ (Reh und Caruso 2020). 7 Die Mehrdimensionalität des Wissensbegriffs – nämlich als epistemische Fähigkeit, Zustand und Inhalt – ist bedeutsam und bleibt auch in den nachfolgenden Verschiebungen erhalten: „Wissen bedeutet teils eine Fähigkeit – nämlich zum einen die Fähigkeit, einen Gegenstand so aufzufassen, wie er wirklich beschaffen ist, und zum anderen die Fähigkeit, mit den Gegenständen des Wissens erfolgreich umzugehen – teils einen epistemischen Zustand, in dem man sich aufgrund der erfolgreichen Ausübung der Erkenntnisfähigkeit befindet, wie schließlich auch den Inhalt, auf den eine erkennende Person sich dabei bezieht, sowie die Aussage, in der man das Ergebnis des Erkenntnisvorgangs sprachlich zum Ausdruck bringt“ (Hardy et al. 2005, S. 855).
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zunächst als „interpretierte Information“ (Breidbach 2008, S. 15) verstehen, das – immer medial und insofern auch technisch verfasst (vgl. Kittler 2003) – in eine Ordnung des (vorherigen oder größeren) Wissens eingebettet und sozial geteilt sein muss (vgl. Breidbach 2008, S. 16 f., 26). In Abgrenzung aber zum klassischen Konzept des Wissens als einer – bereits bei Platon so verstandenen – „wahren gerechtfertigten Meinung“ (vgl. Pulte i. d. Band) ist ein eher analytisch und historisch situierter Wissensbegriff durch seinen Verzicht auf einen (korrespondenztheoretischen) Wahrheitsbegriff einerseits und seine Distanz zur Wissenschaft als primärer Legitimation andererseits ausgezeichnet (vgl. ausführlicher Sandkühler 2009). Als jeweiliges Wissen gelten in dieser Hinsicht all die Vorstellungen und Kenntnisse, die in einer Zeit, einer Kultur und einer sozialen Gemeinschaft a) als wahr gelten und b) sozial geteilt werden, c) plausibel (vorund miteinander) begründet sowie d) in bisherige Wissenszusammenhänge eingeordnet werden können und insofern sowohl e) in ihrem Wissensstatus (z. B. methodisch oder methodologisch) thematisiert bzw. reflektiert werden8 als auch f) handlungsorientierend oder gar -leitend sind.9 Historisch gesehen schließt dieses sozialkonstruktivistische Wissensverständnis10 ein, dass frühere – aber auch gegenwärtige – Kulturen Vorstellungen von ›etwas‹ als Wissen hegen können, die sie zwar im Rahmen ihrer je eigenen Wissensordnungen begründen und nutzen können, die aber in anderen – späteren, aber auch z. T. früheren – Kulturen als
8 Dabei
ist zunächst unstrittig, dass Wissen in vielfacher Weise thematisch und insofern reflektiert werden kann, ohne deswegen automatisch wissenschaftlich sein zu müssen; jede Weitergabe von (auch Erfahrungs-)Wissen impliziert bereits eine Antwort auf die Frage, woher man etwas wie weiß und warum für bedeutsam hält. 9 Vgl. ausführlicher zu diesen (eher spätmodern gefassten) Strukturmomenten eines Wissensbegriffs auch Breidbach (2008) sowie Stehr und Adolf (2018). Passend dazu lässt sich hier auch auf einen Wissensbegriff verweisen, wie er in den Informationswissenschaften (früher: Bibliothekswissenschaft) sowie in der Debatte zu den ›digital humanities‹ benutzt wird, da hier bereits früh auf ›Daten‹ gesetzt wurde; Wissen wird hier im Rückgriff auf Luciano Floridi (2010) als „strukturierte, bedeutungsvolle und wahre (genauer: noch nicht falsifizierte) Informationen“ verstanden (Schöch 2017, S. 206). Eher kontrastierend dazu vgl. auch die ausführliche Darlegung einer Philosophiegeschichte des Wissens (Hardy et al. 2005) und der Wissenschaft (Meier-Oeser et al. 2005). 10 Zur Diskussion sozialkonstruktivistischer bzw. konstruktionistischer Wissensvorstellungen vgl. auch Gergen (2002) und Gergen und Gergen (2009) sowie kritisch die Diskussion in Gertenbach (2015) und eine Minimaldefinition von Konstruktivismus (ebd., S. 55). Konstruktionistisch wird mit eingerechnet, dass die ›Konstrukteure‹ jeweiliger Weltsichten ihre Konstruktion als angemessen und wirklich begreifen, d. h. sich selbst als Konstrukteure nicht zwingend selbst relativieren.
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unbegründet bzw. nicht gut begründet angesehen werden (müssen) (vgl. ausführlicher zur wissensgeschichtlichen Perspektive Sarasin 201111). Über die Einbettung jeden Wissens in (umgreifende) Wissensordnungen wird zudem verständlich, dass die Arten und Weisen, Wissen hervorzubringen, zu speichern und zu nutzen sowie sozial zu teilen, sich vom jeweilig vorhandenen Wissen nicht trennen lassen und auf konkrete Wissenspraktiken (und ihre Orte und Materialitäten) einerseits – präziser: der Produktion und Rezeption, der Speicherung oder Konservierung sowie der Distribution und Zirkulation (vgl. Burke 2014b wie auch Rheinberger 2013)12 – und umgreifende Wissenskulturen andererseits
11 In
Kritik an einer Wissenssoziologie, die davon ausgeht, dass wissenschaftliches Wissen Grundlage allen Handelns und Produktivkraft geworden sei, geht die Wissensgeschichte von der Erkenntnis der gesellschaftlichen Konstruktion allen Wissens und damit von dessen historischem Wandel aus, also auch dem, was jeweils als wissenschaftliches Wissen gilt und dessen unterschiedliche Kodierung in verschiedenen Kontexten (vgl. Vogel 2004). Der forschende Blick richtet sich also „auf jene gesamtgesellschaftlichen Prozesse in deren Verlauf wissenschaftliche und alltagskulturelle Deutungsweisen in einem verschränkten Wechselspiel neue Selbstverständlichkeiten über die Beschaffenheit der Welt und über die Dimension ihrer Geschichtlichkeit hervorbrachten“ (Speich und Guggenberger 2012, S. 94) und nicht einfach nur auf Experten und die herrschaftssichernde Funktion, auf Popularisierungsprozesse oder auf Institutionen. Wissen wird entsprechend dann sehr weit verstanden; Sarasin (2011) unterscheidet zwischen a) Wissenssystemen tendenziell rational begründbaren Wissens, b) Religion und Glaubenssystemen, also rational-argumentativ nur begrenzt oder kaum begründbaren Überzeugungen und Normen und schließlich c) expressiv-ästhetischen Ausdrucksformen, als kulturell stabilisierten Genres und Stilen (vgl. ebd., S. 165). Teilweise werden in wissenschaftsgeschichtlich-praxeologischer Perspektive, z. B. bei Peter Burke (2014b), noch Formen des praktischen Sinns, implizites Wissen, praktisches Können mit einbezogen. Wissensgeschichte untersucht in diesem Sinne historisch kontingente Ordnungen des Wissens, die Unterscheidung von Wissen und NichtWissen und die ebenfalls historisch spezifischen Repräsentationsformen, Medialitäten und Poetologien des Wissens (Sarasin 2011, S. 167) und schließlich dessen Produktion und Zirkulationen in jeweiligen ›Wissenspraktiken‹. 12 Interessant – und mit Blick auf Digitalität auch bedeutsam – ist dabei der Zusammenhang von Wissensproduktion und -rezeption: Zum einen steht infrage, ob denn Wissen als ›interpretierte Information‹ auch dann noch ›Wissen‹ ist, wenn es bloß als ›gespeicherte Information‹ – z. B. in Bibliotheken – ›verwahrt‹, nicht aber angeeignet, d. h. neuerlich interpretiert wird; dieses würde sich u. U. durch den Einsatz veränderter Medien ändern, wenn Informationen – auch ohne konkrete Aneignung durch Menschen – digital permanent genutzt und verarbeitet werden. Zum anderen aber macht es auch deutlich, dass Rezeptionsweisen von Wissen ihrerseits immer auch als (mind. Ko-)Konstruktionsprozesse gelesen werden können müssen, d. h. als Prozesse der Re-Interpretation von (gespeicherten und verfügbaren) Informationsinterpretationen.
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verweisen. Gleichzeitig ist das, was jeweils in einer Kultur, Zeit und Region als Nicht-Wissen bzw. auch als „prekäres Wissen“ (Mulsow 2012) markiert wird, ebenfalls ein elementarer Bestandteil dieser Wissensordnungen – und das weniger (aber auch), weil Nicht-Wissen jenes Gebiet markiert, von dem Akteure (noch) kein Wissen haben (i. S. eines klar umgrenzten Bereichs), sondern als Strukturmoment eines jeden (noch so positiven) Wissens, weil jedes Wissen – zumindest im modernen Verständnis – aufgrund seiner Perspektivität und Kategorialität als überholbar gilt und insofern immer auch ein Moment von Nicht-Wissen (z. B. als Anders-Wissen) enthält (vgl. Wehling 2006 sowie die Diskussion dazu in Wehling 2015). Versteht man nun Wissenskulturen mit Karin Knorr-Cetina (2011) als „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien […] in einem Wissensgebiet“ (ebd., S. 11), die – jeweils historisch kontingent – „bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen“ und insofern sowohl Wissen „generieren und validieren“ (ebd.) als auch den Umgang mit Nicht-Wissen figurieren, dann kann mit Bildungswissen als einem spezifischen ›Wissen über Wissen‹ ein ebenso elementares wie reflexives (Struktur-)Moment von Wissenskulturen selbst markiert werden. Bildungswissen ist – so gesehen – ›Wissenswissen‹ und daher als eine besondere Thematisierungs- und Reflexionsform von Wissen in intergenerationaler Perspektive analysierbar – und das in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist ›Bildungswissen‹ ein Wissen über das (jeweilig besondere) Wissen, das die ältere Generation der jüngeren auf- und mitzugeben versucht; zum anderen aber ist Bildungswissen zugleich immer auch sowohl ein Wissen darüber, wie man sich weiteres Wissen erschließt – ein ›Wissenserschließungs-‹ bzw. ›Wissensgenerierungswissen‹, als auch ein Wissen darüber, wie man das neue Wissen in das vorhandene Wissen einbaut und insgesamt ordnet – ein ›Wissensordnungs-‹ oder ›Wissenszusammenhangswissen‹ also. Schließlich enthält ›Bildungswissen‹ – so unsere Überzeugung – auch immer subtile Hinweise darauf, wie man mit Nicht-Wissen umgeht. Anders formuliert: In der Wissensform des ›Bildungswissens‹ und den damit verbundenen Praktiken wird daher das jeweilige (typologische) Gesamt historisch-spezifischer Wissenskulturen selbst, die in ihr implizierten Strukturen, Logiken und Funktionen von Wissen, reflektiert, selektiert und tradiert – und somit für uns beobachtbar. Diese wissenstheoretische Bestimmung von Wissen erlaubt nun nicht nur eine veränderte Zuwendung zu historischen Wissensformationen und ihren jeweiligen Praktiken und „epistemischen Dingen“ (vgl. bereits früh Rheinberger 1992), sondern vermag mit Blick auf die Verfasstheit von Wissenskulturen (Sandkühler 2014) subjektivierungstheoretische als auch objektivierungstheoretische Fragen zu integrieren, wie sie z. T. im Kontext gegenwärtiger Bildungstheorie(n)
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diskutiert werden (vgl. insgesamt Ricken et al. 2019). Anders formuliert: Wissen – verstanden als jeweilig bearbeitete und interpretierte ›Welt‹ – enthält in sich immer eine spezifische Positionierung des Wissensakteurs, und zwar eine Position gegenüber (und in) der Welt einerseits und ein Verständnis von sich selbst andererseits. Und auch hier ist ›Bildungswissen‹ dadurch ausgezeichnet, dass es diese Subjektivierungsform in einer besonderen – nämlich einer epistemologisch begründeten und moralisch privilegierten – Form transportiert. Zu wem man also durch Wissen gemacht wird bzw. sich durch die Aneignung von Wissen selbst macht, welche Position (des Wissenden und des Wissen Generierenden) man zugeschrieben bzw. zugemutet bekommt, welches Verhältnis zur Welt, aber auch zu anderen und sich selbst damit figuriert ist, all das ist Kern des jeweiligen ›Bildungswissens‹.13 Gleichzeitig wird in diesen Praktiken aber auch der Gegenstand des Wissens hervorgebracht; dass dieser schließlich als ein vom Subjekt getrennter, insofern als Objekt gegebener Gegenstand vorgestellt wird und werden kann, ist selbst Teil und Resultat eines historischen Prozesses, in dem – wie Lorraine Daston und Peter Galison eindrücklich aufgezeigt haben (Daston und Galison 2007) – sich das epistemologische Grundverständnis – nämlich von der vorneuzeitlichen Idee der „Unparteilichkeit“ zur modernen Idee der „Objektivität“ – gewandelt hat. So gesehen geht es in den curricularen Debatten darüber, welches Wissen die Älteren den Jüngeren im Rahmen unterrichtlicher Praktiken zumuten wollen, daher nie bloß um ein bestimmtes privilegiertes oder alternatives Wissen (vgl. z. B. die Kontroverse zwischen Schwanitz 1999 und Fischer 2003), sondern – weit grundsätzlicher – um zentrale Strukturmomente von Wissenskulturen und Gesellschaftsordnungen. Die Erforschung der Formation und Transformation von Bildungswissen bündelt daher in sich verschiedene Problem- und Fragelinien und gibt Aufschluss über a) die Struktur, Logik und den Wandel von jeweiligen Wissenskulturen, über b) die für den Zugang dazu für unverzichtbar gehaltenen Wissenspraktiken sowie schließlich über c) die damit verbundenen Generationenordnungen und
13 Beispielhaft
ließe sich die breit rezipierte und immer wieder diskutierte Bloomsche Taxonomie der Lernziele mit ihren Stufungen – verkürzt: vom ›Kennen‹ und ›Verstehen‹ über das ›Anwenden‹ bis hin zum ›Reflektieren‹ und (kritischen) ›Beurteilen‹ – sowohl als eine Art ›Leiter‹ zum höheren (und besseren) Wissen als auch als eine Hierarchie von (möglichen, zugleich aber klar bewerteten) Subjektpositionen des jeweiligen Wissens lesen; vgl. Bloom et al. (1956); Bloom (1972) (dt.) sowie die Diskussionen bei Göldi (2011) und Volk (2020). Kaum übersehbar ist dann, wie darin das moderne Subjektverständnis des qua Vernunft übergeordneten ›autonomen Subjekts‹ wissenstheoretisch nachgebildet wird.
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die darin eingelagerten Selbst- bzw. Subjekt- und Welt- bzw. Objektverständnisse. Der Begriff des Bildungswissens erlaubt so, die verschiedenen und oft nur getrennt bearbeiteten (materialen, formalen und subjektivierungstheoretischen) Aspekte des Bildungsdenkens zusammen in den Blick zu nehmen, und schützt in seiner analytischen Fassung vor einer oft bloß extern-normativen Bestimmung (z. B. durch gesellschaftliche, politische oder personal-humane Normen) dessen, worum es in ›Bildung‹ gehen soll (vgl. z. B. Ricken und Schimank 2012).
3 Zu einer (Vor-)Geschichte des Bildungswissens – ein wissenshistorischer Streifzug In seinen beiden grundlegenden Werken zur Wissensgesellschaft (Burke 2014a, b) hat Peter Burke beschrieben, welcher Wandlungsprozess sich hinsichtlich des Wissens, der Wissensbestände, ihrer Aufbewahrung, Tradierung und Weitergabe seit der frühen Neuzeit in Europa vollzogen hat. Verschiedene Aspekte des Prozesses wirken dabei zusammen und müssen in ihrer Wechselwirkung für eine (Vor-)Geschichte des ›Bildungswissens‹ beachtet werden. Sie lassen sich als Dimensionen dieses Entstehungs- und Transformationsprozesses unterscheiden. So muss differenziert werden zwischen a) den Inhalten, gewissermaßen den ›propositionalen Gehalten‹ dieses Wissens, b) den Speicher- und Verbreitungsmedien, mit denen dieses Wissen nicht nur erhalten, sondern auch zugeteilt und verbreitet werden kann, c) den damit verbundenen speziellen Praktiken des Umganges mit diesem Wissen und der damit verbundenen bestimmten Form von Sinnlichkeit, den „Aufschreibesystemen“ (Kittler 2003), und schließlich d) den Strukturen und Formen, die einem bewahrenswerten Wissen, dem Kanon, also dem zu wissenden Wissen zukommen (Assmann 1997). Gegenüber organischen Modellen der Beschreibung einer Ordnung des Wissens in der frühen Neuzeit – etwa den ›Bäumen des Wissens‹14 – gewannen nach und nach andere Formen der Organisation des Wissens an Boden – von
14 Im
Gegensatz zu den ›septem artes liberales‹, wo das Wissen in einem Kreis oder Zyklus angeordnet erscheint und entsprechend bildhaft repräsentiert wird (vgl. Stolz 2004), ist der Baum ein anderes Prinzip der epistemologischen Ordnung, das im Mittelalter und in der frühen Neuzeit verbreitet war (Siegel 2004) und dann langsam abgelöst bzw. in andere Ordnungsmuster transformiert wurde (Siegel 2009; Burke 2014a, S. 85–88); man findet es in Enzyklopädien und auch Comenius schreibt noch, dass die „Pansophia“ sich als schöner Baum erhebe (Comenius 1992, S. 130).
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›Systemen‹ des Wissens war dann die Rede. ›Propositionaler‹ Ausgangspunkt der Ordnungen und Kategorisierungen des akademischen Wissens sind die ›septem artes liberales‹ (Dolch 1959, S. 99–175). Der Kanon – so könnte man dazu auch sagen – des zu bewahrenden und zu wissenden Wissens bestand hierbei zunächst aus Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie). Nach und nach veränderten sich aber die Formen der Klassifikation des akademischen Wissens, wie sie im Curriculum, das den Gang einer allgemeinen und grundlegenden Ausbildung der Studenten an den europäischen Universitäten und höheren Schulen regelte, Ausdruck fanden und in Bibliotheken eine Art physische Präsenz als Ordnung der Bücher erhielten. Gesammelte Bücher stellten gesammeltes Wissen dar, das (physisch in immer mehr Bibliotheken) mithilfe von Tabellen und Schemata verwaltet, geordnet und systematisiert werden musste. In Enzyklopädien wurde kompendienhaft zusammengestellt, was in den höheren Schulen und den Universitäten zu lernen war (Burke 2014a, S. 88–92). Zwischen etwa 1500 und 1800 – und nicht erst mit der Herausbildung differenzierter universitärer Disziplinen in der Forschungsuniversität des 19. Jahrhunderts – fanden wichtige Veränderungen in diesem System grundlegenden und allgemeinen akademischen Wissens statt. Es war ein Aufstieg der Wissensgebiete der Geschichte, der Geographie, eine Art der Ausdifferenzierung – heute würde man sagen – naturwissenschaftlicher Themengebiete ebenso zu beobachten wie die Etablierung ganz neuer Inhalte, etwa der politischen Ökonomie, der ›Kameralistik‹. Entscheidender als die Erweiterung und Änderung der Inhalte selbst aber war vielmehr etwas Anderes: Fuß fasste die Idee einer Veränderbarkeit des Wissens überhaupt, die einer Akkumulation, der Produktion neuen Wissens und damit eines Wissensfortschritts gegenüber dessen einfacher Tradierung (Burke 2014a, S. 94 f.). Im schulischen Bereich entwickelte sich die Idee des Lehrplans vor dem Hintergrund des nun anwachsenden Stoffes als eine auf die Vermittlung selbst bezogene bzw. von dieser ausgehenden Ordnung und Selektion. Nicht nur gibt es irgendwann eine Unterscheidung zwischen dem zu Lernenden und dem ›ganzen‹ Wissen, es werden auch Gradierungen der Wissensbestände vorgenommen; Wissen wird in unterschiedlicher ›Erschließungstiefe‹ konzeptioniert, für die später auch Bedingungen aufseiten eines lernenden, sich bildenden Subjekts in Betracht gezogen werden (Dolch 1959). Aber auch hier sind inhaltliche Verschiebungen im Curriculum zu beobachten: Statt Latein und alte Sprachen als Voraussetzung eines weiteren, individuell zu erwerbenden und verfügbaren Wissens setzte sich in einem längerfristigen Prozess Muttersprachlichkeit durch, wurde deren Standardisierung in unterschiedlichen Regionen vorangetrieben und so die Zugänglichkeit des Wissens erweitert. Es kamen auch in der Schule neue
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Wissensgebiete, wie etwa die Geschichte, hinzu und es weiteten sich andere aus (so etwa für den Fall des Wissensgebietes der Astronomie zu beobachten, aus dem mit entstand, was dann ›Realien‹ genannt wurde). Andere Gebiete gewannen einen neuen, zweckorientierten Stellenwert, wie etwa in der Elementarisierung des Rechnens zu erkennen. Begleitet ist die beschriebene Transformation akademischen Wissens und seiner Ordnung in dieser Zeit von der Durchsetzung des Buchdrucks und einer zunehmenden Alphabetisierung der Bevölkerung. Dabei scheint es angemessen, davon auszugehen, dass der Buchdruck mit beweglichen Lettern weder – einer ›print revolution‹ gleich – quasi automatisch die Akkumulation von Wissen durch Dekontextualisierungsprozesse vorangetrieben und dessen kritische Nutzungen damit determiniert habe, noch nur einfach eine von unterschiedlichen Gruppen ganz verschieden genutzte, neutrale Technologie war (Briggs und Burke 2020). Ganz sicherlich aber löste das Buch das Manuskript ab und wurde zum ›Leitmedium‹ – es entstand die ›Gutenberg-Galaxis‹ (McLuhan 2011). Das Wissen, das in Büchern verbreitet wurde, war ein privilegiertes, nämlich autorisiertes, von Autoren verantwortet.15 Während noch das Vortragen der Manuskripte physische Anwesenheit erforderte, wurden mit dem Buchdruck durch zeitliche Entzerrung der Kommunikation nicht nur Autor*innen, sondern gesondert Leser*innen und Leser*innenkreise geschaffen; es entwickelten sich so neue Akteurskonstellationen, Institutionen sowie Produktions- und Rezeptionspraktiken. Mit dem Buch wurde endgültig eine Betonung des Visuellen durchgesetzt. Es existiert eine einzige Repräsentations-Ebene; die Rezeption – so wird oft unterstellt – ist durch einen starren Gesichtspunkt gekennzeichnet und Linearität bestimmt die Rezeption. Lesen – darüber ist sich die Forschung einig – wurde zu einer alltäglichen Praxis im Übergang von der frühen Neuzeit zur Neuzeit (z. B. Chartier 1990; Messerli und Chartier 2000), mit der sich die Norm der Literalität im Laufe des 18. Jahrhunderts durchsetzte (Messerli 2002, 2016). Ob es sich dabei nun um eine „Leserevolution“ (Engelsing 1973) handelte oder nicht, kann dahingestellt bleiben; sicherlich aber vollzog sich dieser Prozess regional unterschiedlich und in verschiedenen Schüben (Bödeker und Hinrichs 1999). Es entstanden spezifische Lesepraktiken, die sich als wichtige Elemente in der Herausbildung eines deutschen Bildungsbürgertums verstehen lassen (Schmid 1985). Bis dahin
15 Mit
der Entstehung des Buchmarktes wird Autorschaft als Urheberschaft auch juristisch neu konzeptioniert, vgl. Gieseke (1995); zur Vorgeschichte der digitalen Transformationen Dommann (2014).
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übliche Praktiken des Lesens veränderten sich – nicht auf einen Schlag, aber nach und nach. Es kam – wie oft gesagt wird – von einer intensiven zu einer extensiven Lektüre.16 Die Lesezeiten dehnten sich in den Abend aus und selbst im Bett wurde nun gelesen. Es wurden mehr Bücher gelesen und die schneller, sie wurden „verschlungen“ und oft hielt man das für eine krankhafte „Lesewut“ (Erning 1974) oder gar eine Sucht. Es wurde weniger laut vorgelesen und die einzelnen Leser*innen lasen für sich, allein, meist leise. Von einer Reduktion der Körperlichkeit, einer Einschränkung der Sinnlichkeit im Lesen, sichtbar in den Lesehaltungen, wird daher in der historischen Leseforschung gesprochen; es finde so etwas, wie ein „An-sich-Halten“ statt; man wandte sich dem inneren Erleben, der Phantasie zu (Schön 1993). Damit setzte sich auch eine empathische Rezeption durch; über das gemeinsame Leseerlebnis wurde in Zirkeln miteinander gesprochen. Die Leser*innen lernten zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden; sie bildeten neue Kompetenzen und mentale Konzepte aus, so entstand etwa ein Fiktivitätsbewusstsein (Berthold 1993). Und das Erlernen des Lesens, die in Mode kommende Lautiermethode, mit der die Kopplung von Lesen und Schreiben stattfand, machte die Mütter zu Lehrerinnen, die statt auf auswendig lernen auf Verstehen setzten, wie Kittler beschreibt (Kittler 2003, S. 142). Diese Praktiken einer hermeneutischen Tiefe des Verstehens, eines ›tiefen Verstehens‹, das weit über das Verständnis eines einfachen, auf der Oberfläche zu entziffernden propositionalen Gehaltes, die Entzifferung der Buchstaben, hinausging, setzten sich auch in der Schule durch (Reh 2016). Sichtbar wird hier, wie mit der Idee eines graduierten, das Wissen nicht nur ordnenden, sondern auch selektierenden Lehrplans für die Schulen das Lesen zur entscheidenden Praktik der Aneignung des Bildungswissens wird. Die sich andeutende Wende, die Umformatierung des Bildungswissens, seine Entmaterialisierung und Formalisierung, der Weg vom Lehrplan und der Festlegung des Kanons hin zu Prinzipien eines Bildungsplanes, zu einer Trennung von Stoff und Prinzip vollzogen sich um 1900 und setzten sich gegen die starren Festlegungen des Kanons im Lehrplan durch. Früher, schon bei Humboldt (Humboldt 1966), finden sich mit der Empfehlung zum „Lernen des Lernens“ (ebd., S. 170) sowie mit dem Vorschlag einer Abstraktion und einer stofflichen Dimensionierung Vorläufer dafür.17 Diese Prinzipien Humboldts werden in den
16 Vgl. so etwa die Zusammenfassung bei Briggs und Burke (2020, S. 321–354); insgesamt zur Veränderung des Lesens im Sinne einer inneren Geschichte Bickenbach (1999). 17 So Dolchs Beschreibung der Entwicklung um 1900 (Dolch 1959); Tenorth lässt diesen Prozess schon mit Humboldt beginnen, vgl. Tenorth (2000).
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„Modi der Weltbegegnung“ bei Baumert (2002, S. 106 f.) aufgenommen und durch die dem dann entsprechende Entwicklung von ›Core-Concepts‹ für die Konstruktion eines Bildungswissens weiterentwickelt. Dabei handelt es sich nach Baumert um den Modus einer kognitiv-instrumentellen Modellierung der Welt, den einer expressiv-ästhetischen Logik, einer evaluativ-normativen Logik und „Fragen des Ultimativen“ (ebd.).18
4 (Trans-)Formationen digitaler Wissenskulturen – eine Annäherung Folgt man der These Friedrich Kittlers (Kittler 2003), dass Denk- und Wissensräume durch ihre Aufschreibesysteme, ihre materiellen Bedingungen und die damit verbundenen Praktiken bedingt und bestimmt sind, dann liegt es nah zu vermuten, dass auch die Praktiken und Formen des Wissens sich durch digitale Medien und ihre jeweiligen Eigenlogiken und Praktiken verändert haben (vgl. auch Manovich 2001 wie auch jüngst Lyons 2021). Kaum verwunderlich ist daher, dass – insbesondere in den Medienwissenschaften – der Wandel der Wissenskulturen oft beschrieben worden ist; insbesondere die These vom „Ende des Buchzeitalters“, wie die deutsche Übersetzung (McLuhan 1968) des Klassikers „The Gutenberg Galaxy“ von Marshall McLuhan (zuletzt McLuhan 2011) untertitelt wurde, ist immer wieder aufgegriffen worden (vgl. auch Bolz 2008 sowie den Überblick in Pscheida 2010, S. 47–79) und hat zu weitreichenden Diagnosen – z. B. einer „vierten Revolution“ nach Sprach-, Schrift- und Druckerfindung (vgl. bereits Harnad 1991 wie aber auch Floridi 2015) – geführt.19 Viele der Versuche, diesen Wandel digitaler Wissenskulturen zu beschreiben, stehen allerdings vor der Schwierigkeit, sich abzeichnende Transformationen entweder ›nur‹ als Fortsetzung bisheriger analoger Praktiken – unter nun digitalen Bedingungen (z. B. das PDF-Objekt als digitales Buch, vgl. Kohle 2017) – zu verstehen, oder doch die Neuheit und Andersheit digitaler Praktiken oft durch Extrapolation dessen, was vermutlich bald möglich sein könnte, zu betonen. Überzeugender scheint uns, die Einführung von (vermeintlich neuen) Medien hin auf die Voraussetzungen und Rückgriffe auf bisherige Medien auszulegen (vgl.
18 Vgl.
die kritische Diskussion dazu bei Reh und Caruso (2020). jüngst hat N. Katherine Hayles unter dem Titel ›Postprint‹ (Hayles 2021) ihre weitreichenden Diagnosen – bislang zu Mediennutzung und Aufmerksamkeitsform (Hayles 2012) – mit Blick auf Sprache und Autorschaft erneuert.
19 Erst
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Gehring 2007 wie auch Baecker 2017). Daher ist es aus unserer Sicht geraten, den Wandel genauer in den Blick zu nehmen und dabei weder von einer bloßen Fortsetzung bisheriger analoger Praktiken mit anderen Mitteln noch von einer völlig neuartigen Wissenskultur auszugehen.20 Vor dem Hintergrund der verschiedenen Dimensionen der Wissenspraktiken – wir hatten eingangs Produktion, Konservation, Distribution und Zirkulation sowie Rezeption genannt und könnten letztere ihrerseits heuristisch in Praktiken des Aneignens, Ordnens und Prüfens differenzieren – sollen im Folgenden einige Strukturaspekte skizziert werden, die für die Frage der Transformation digitaler Wissenskulturen und ihrer Praktiken u. E. strukturell relevant sind und für deren Beschreibung genutzt werden können. Eingeräumt sei dabei, dass auch wir bestimmten Engführungen in der Diskussion folgen, indem wir insbesondere Wissenskultur zumindest mit Schriftkultur identifizieren (und dabei zusätzlich implizit auch Buchkultur denken) und dabei die – trotz der enormen Verbreitung digitaler Medien anhaltende – Bedeutung mündlicher Praktiken für Wissenskulturen übermäßig abblenden. Quantität: Jeder Versuch, den Wandel von Wissenskulturen durch digitale Medien und Praktiken zu beschreiben, muss ansetzen an der ungeheuren und zunehmend schneller sich steigernden Zahl von Publikationen in Form von Texten, Dokumenten, Beiträgen und Büchern. Dabei hängt die weithin unübersehbare Fülle der Publikationen auch mit den technischen Möglichkeiten der Produktion, Speicherung und Komprimierung der Daten zusammen (vgl. Seubert 2019, S. 43 f.).21 Digitalisierung meint aber nicht nur enorm gesteigerte 20 Zur
Verdeutlichung sei angemerkt, dass wir nicht einfach an einem (eher technisch bzw. technologisch orientierten) Verständnis von Digitalisierung bzw. Digitalität – z. B. durch Aufzählung der Phänomene wie E-Mails, Internet, Social Media, Algorithmen, Big Data u. a. oder deren abstrakte Kennzeichnung als „Transformation … in diskret abzählbare, binär codierte, statistisch auswertbare, maschinelle berechenbare Prozesse“ (vgl. Baecker 2018, S. 9) – ansetzen, sondern nach den (durch digitale Logiken, Medien und Infrastrukturen ermöglichten) veränderten Praktiken – z. B. den „Produktions-, Rezeptions- und Gebrauchspraktiken“ – zu fragen versuchen (vgl. Schäfer 2021, S. 12). 21 Tatsächlich fällt die genaue Bezifferung der Buch- und Beitragsproduktion – schon allein aus z. T. definitorischen Gründen, was genau mit welcher Kategorie gemeint ist – nicht leicht. So beziffert der Börsenverein des Deutschen Buchhandels die Buchproduktion für den Zeitraum von 2002 bis 2019 mit 1.3 Mio. Bücher und gibt als Durchschnittswert 72.000 Bücher pro Jahr, davon ca. 9000 ›Wissenschaftsbücher‹ an (vgl. www. boersenverein.de). Die UNESCO schätzt die jährlichen Neuerscheinungen auf 1,8 Mio. Bücher und beziffert die Steigerungsrate mit 8 %, was zu einer Verdoppelung in weniger als 10 Jahren führt. Die Zahl vervielfacht sich, nimmt man (auch digitale) Beiträge in Zeitschriften etc. hinzu.
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Produktion und eine damit einhergehende geringere Schwelle beim Publizieren, sondern auch veränderte Zugänglichkeit der Publikationen. Auch wenn digital angebotene Publikationen z. T. mit erheblichen Kosten und (z. B. Lizenz- bzw. Abonnement-)Gebühren verbunden sind, so hat gegenüber dem analogen Publikationsmarkt die Zugänglichkeit der Publikationen – und das sowohl individuell als auch global22 – deutlich zugenommen. Digitale Bibliotheken und Buch- bzw. Journaldienste haben sich sowohl vermehrt als auch erheblich mehr Zulauf bekommen, sodass insbesondere im Bereich der Wissenschaft eine unübersehbare Vielzahl von Publikationen und Lexika vom heimischen Arbeitsplatz zugänglich ist, ohne dass dafür Bibliotheken aufgesucht oder baulich erweitert werden müssen. Sehr viel schwieriger wird es schließlich, das Leseverhalten genauer zu quantifizieren. Auch wenn immer wieder behauptet wird, dass sowohl die Zahl der Leser*innen als auch jeweilige Lesezeiten abnähmen (vgl. Benesch 2021; Griem 2021), so wird man wohl – insbesondere mit Blick auf die Internetnutzung – einräumen müssen, dass Lesen insgesamt – auch diesseits politischer Programmatiken – eine elementare Praktik geblieben ist und an Bedeutung nicht verloren, sondern eher zugenommen hat.23 Wenn man insgesamt eine Differenz hervorheben möchte, dann ist es vielleicht der Trend, Bücher eher „häppchenweise“ und insofern weniger „am Stück“ zu lesen (vgl. Stiftung Lesen 2008), was traditionell so ungewohnt auch nicht war mit Blick auf die Unterscheidung von ›Lesen von Büchern‹ und ›Lesen in Büchern‹ (vgl. Gehring 2007, S. 348); diese Gewohnheit wird sicherlich durch das Lesen am Bildschirm noch verstärkt. Komplexität: Digital erzeugte und gleichzeitig als bearbeitbar versprochene Komplexität – und umgekehrt – kann als weiterer Aspekt einer Transformation digitaler Wissenskulturen gelten. Dabei resultiert diese Komplexität nicht allein
22 Dass
es z. T. erhebliche nationale Beschränkungen der weltweit publizierten Beiträge gibt, wird immer wieder – zu Recht – scharf kritisiert; dass es aber auch Beschränkungen der Zugänglichkeit durch digitale Praktiken gibt, darf – trotz aller Bemühungen um ›open access‹ – dabei nicht vergessen oder übersehen werden (vgl. Knöchelmann 2021). 23 Zahlen der Stiftung Lesen (vgl. exemplarisch die Reihenuntersuchung von 1992, 2000 und 2008 auf https://www.stiftunglesen.de/forschung/forschungsprojekte/lesen-in-deutschland. Zugegriffen: 8. April 2021) machen zwar deutlich, dass ca. 25 % der Deutschen nie ein Buch in die Hand nehmen, weisen aber auch nach, dass die Lesehäufigkeit eher zugenommen hat, auch wenn die Zahl der gelesenen Bücher eher geringer wird. Mit Blick auf Kinder und Jugendliche ist die Zahl regelmäßiger Leser*innen sogar höher, wie die jüngste JIM-Studie (MPFS 2020) nachweist.
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schon aus der enormen Quantität der Dokumente und der mit dieser Vielfalt verbundenen, immer weiter verfeinerbaren Auflösung der Phänomene (Granularität; vgl. Kucklick 2014), der Pluralität der Perspektiven und der (immer nur selektiven) Bezugnahmen aufeinander sowie der nicht mehr auflösbaren Widersprüchlichkeit der jeweiligen Befunde; vielmehr gehört zu den Kennzeichen von Komplexität auch, dass – trotz aller Ideologie einer Transparenz (Schneider 2013) – Formen der Intransparenz, des Nichtkennens, Nichtverstehens und damit des Nichtwissens und Nichtwissenkönnens zunehmen. Das mag systemtheoretisch immer schon gegolten haben – und taucht insofern auch bei Nassehis jüngster „Theorie der digitalen Gesellschaft“ wieder prominent auf: „Das Bezugsproblem für die Digitaltechnik liegt in der Komplexität der Gesellschaft selbst“ (Nassehi 2019, S. 36) –, markiert aber wohl eine der tiefgreifendsten Transformationsaspekte, weil insbesondere Entscheidungen (und damit verbundene Festlegungen) problematischer und in sich haltloser werden – bzw. ein anderes Verhältnis von guten Gründen und Vertrauen gegenüber anderen Einschätzungen einfordern. Damit eng verbunden – und wissenskulturell enorm relevant – sind digital entwickelte Techniken und Strategien der Bearbeitung dieser enormen Datenmengen. Auch wenn es banal ist: Ohne Suchmaschinen – die erstaunliche Karriere von Google illustriert dies sowohl mit Blick auf die Zeit als auch die seitdem stetig steigende Dominanz (vgl. Stark et al. 2014 wie allgemeiner Lehmann und Schetsche 2005) – wäre all dies weitgehend irrelevant. Man mag – auch hier – darin zunächst nichts anderes sehen als eine Fortsetzung bisher etablierter Strategien, in Bibliotheken über Kataloge, Schlagwörter oder Findbücher passende Informationen zu recherchieren; die mit dem ›Googlen‹ verbundenen Praktiken unterscheiden sich jedoch gravierend von den vorherigen Suchstrategien – und das nicht nur, weil sie die Kenntnisse von Schlagwortkatalogen und deren Logik suspendieren bzw. versteckt beanspruchen oder längst außerhalb von Bibliotheken erheblich breiter genutzt werden, sondern weil das ›Googlen‹ selbst sowohl das Verhältnis von „Suchen und Finden“ (Sommer 2002) ums Ganze ändert als auch zu einem anderen Verhältnis zu den Fundstücken führt. Volltextsuche in eBooks, Werkausgaben und über ganze Bibliotheken hinweg haben längst zu anderen Lektüreformen geführt – und das nicht nur deshalb, weil man nun vielleicht digital eher eklektizistischer, oberflächlicher oder gar nicht mehr liest (vgl. E-READ 2019 und ausführlicher Lauer 2020), sondern weil mit ›distant reading‹ (vgl. Moretti 2016), z. B. ›text mining‹ oder auch ›topic modelling‹, gänzlich andere Zugriffe über Werke und Zeiten hinweg möglich werden, die datenbasiert sind und durch traditionelle Lektüreformen
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gar nicht geleistet werden könnten.24 Dennoch mag die Karriere des ›abstract‹, das inzwischen – über alle Genres hinweg: Vorträge, Beiträge und Artikel sowie Bücher – angeboten und verlangt wird, als Indiz gelten, dass die Praktik ›Lesen von Büchern‹ längst durch die Praktik ›Lesen in Büchern‹ abgelöst worden ist; nimmt man kommerzielle Formen – wie ›abstract‹-Angebote bei getAbstract. com, blinkist.com oder snapreads.com – hinzu, dann gehört zum Lesen längst auch das (bisweilen automatisierte) Lesenlassen.25 Kollaborativität: Dass Wissen nie individuell oder singulär ist und sein kann, gehört zum Kern eines jeden Wissensbegriffs; mit und in digitalen Formaten haben sich aber neue und andere Formen der sozialen Konstruktion und Konstitution von Wissen etabliert, die den Charakter des Wissens verändern und eingewöhnte Strukturmomente der modernen Wissenskultur – wie z. B. das zentrale Prinzip der Autorschaft – verabschieden. Kollaborativität ist dabei ein Aspekt, der in dieser Transformation immer wieder hervorgehoben und auch mit weitreichender Vernetzung in Zusammenhang gebracht wird. So hat Daniela Pscheida (2010) diesen Wandel vom „Wissensmodell der typographischen Ära“ (ebd., S. 99) zur „Wissenskultur des digitalen Zeitalters“ (ebd, S. 413) beispielhaft am Wandel von traditioneller Enzyklopädie zur Etablierung von Wikipedia – und der mit dieser verbundenen Logik der Wissensproduktion – zu beschreiben versucht; während die Enzyklopädie – so Pscheida – den Versuch verkörpere, das „Wissensinsgesamt“ (ebd., S. 105 u. ö.) ihrer (jeweiligen) Zeit systematisch geordnet, wissenschaftsbezogen und durch Expert*innen verfasst wie beglaubigt zur Darstellung zu bringen, folge Wikipedia einer anderen Logik – und das nicht nur, weil es keine hierarchische Ordnung und keine herausgebende Redaktion gibt, die zentrale Begriffe vorab festlegt und zur Bearbeitung dann vergibt, sondern vielmehr, weil zentrale Prinzipien moderner Wissensorganisation – und hier sind v. a. Autorschaft und die damit verbundene Differenz von Expert*innen und Laien sowie die Bindung an Verlage zu nennen – zugunsten kollektiver und (oft bloß vorgeblicher) partizipativer Mechanismen der Wissensproduktion und -rezeption verabschiedet sind. Man mag nun die unglaubliche Effizienz
24 Das
gilt – und zwar ohne jede Einschränkung – auch für netz- und datenbasierte Textund Diskursanalyseformate, wie sie bei Google Ngram oder DWDS (Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache; vgl. https://www.dwds.de. Zugegriffen: 19. April 2021) angeboten werden; mit ihnen lassen sich nicht nur Vorkommnisse von Begriffen quantitativ über lange Zeiträume hinweg prüfen, sondern auch jeweilige Bedeutungskontexte mit erheben. 25 Aber auch das ist nicht neu, wie ein Blick auf das seit den 1960er Jahren herausgegebene und bis heute aktualisierte Kindlers Literatur Lexikon illustriert.
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und Dynamik von Wikipedia gegenüber anderen Enzyklopädien bewundern,26 man mag sich auch im z. T. ausgesprochen heftig geführten Streit um Qualität und Organisation der Beiträge sehr verschieden positionieren (vgl. ausführlicher Stegbauer 2009), man wird nicht daran vorbei kommen zuzugestehen, dass das solchermaßen präsentierte Wissen nicht nur anders produziert und rezipiert wird, sondern auch in sich selbst anders verfasst ist: Während Enzyklopädien Objektivität und Rationalität qua Wissenschaftsbezug, methodischer Kontrolle und professionellem Expert*innentum (auch in Form von Reputation) beanspruchen und insofern ein in sich geschlossenes, widerspruchsfreies und autoritativ verbürgtes Wissen anzubieten versprechen, ist das auf Wikipedia präsentierte (und immer vernetzte) Wissen nicht nur kollektiv bzw. partizipativ und idealerweise konsensuell verfasst, sondern auch im Anspruch plural und heterogen, bloß situativ und insofern offen und dynamisch strukturiert (vgl. Pscheida 2010, S. 174, 427; vgl. auch zur Programmatik Sanger 2020). Insbesondere die Unabgeschlossenheit dieses Wissens und die damit verbundene ständige (und in der jeweiligen Versionsgeschichte festgehaltene) Aktualisierung implizieren nicht nur – wie digitale Angebote im Netz überhaupt – andere Verwendungsweisen und -gefahren (wie z. B. ständige Rezeption der Aktualisierungen), sondern verändern den Status des Wissens selbst (vgl. Gemkow 2021). Interaktivität und Algorithmizität: Die bisher skizzierten Strukturmomente machen auf eine spezifische Verfasstheit ›digitaler Objekte‹ aufmerksam, die hier mit Interaktivität und Algorithmizität bezeichnet werden soll. Dabei wird mit Interaktivität nicht nur auf eine (Mit-)Gestaltbarkeit von digitalen Objekten und Werkzeugen – seien es Objekte wie z. B. Präsentationen und Webseiten, seien es auch Programme und Apps – verwiesen, wie sie uns aus bisher klassischen Medien zunehmend vertraut geworden ist (wie z. B. Mitmach-Angebote im (Bürger-)Radio und Fernsehen, aber auch im Verweis auf das ›Web 2.0‹; vgl. dazu ausführlicher Huber 2018, S. 31–114), sondern die grundsätzliche Abhängigkeit der ›Erscheinungsweise‹ digitaler Objekte von jeweiligen (Vor-)Einstellungen und Konfigurationen, von bisherigen Aktionen und deren (Verlaufs-)Geschichte markiert. Bereits früh hat Elena Esposito dabei
26 Es
ließen sich viele Differenzen zwischen diesen beiden Typen der Wissenspräsentation beschreiben – insbesondere die inzwischen unglaubliche Größe und Dynamik: 300.000 Artikel in 30 Bänden des Brockhaus21 vs. allein 2,5 Mio. Artikel in der deutschen Ausgabe von Wikipedia bzw. 53,7 Mio. weltweit in 2020); unstrittig ist, dass u. a. auch Wikipedia zum Ende der Brockhaus Enzyklopädie (2. Auflage von 1812; 21. Auflage von 2006–2014) und anderer Enzyklopädien geführt hat.
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auf die Differenz verschiedener Formen und Modi von Interaktivität – insbesondere denen zwischen Präsenz und Virtualität – hingewiesen (Esposito 2018, S. 286) und „Interaktivität als Grundeigenschaft des ganzen Bereichs des Virtuellen“ (ebd., S. 291) auf die spezifisch informatische Verfasstheit ›digitaler Objekte‹ und Verfahren zurückgeführt: „Der Benutzer von Projektionen einer virtuellen Welt muß wissen, daß die Realität, mit der er es zu tun hat, von seinen Interventionen abhängig ist und nicht mehr autonom existiert“ (ebd., S. 288). Dabei basiert diese Interaktivität nicht auf einer – gar demokratisch aufgeladenen – Partizipativität, sondern auf der Grundstruktur „informatischer Techniken“ und deren „operationellem Modell von Gedächtnis“ (ebd., S. 290), weil die Speicherung nicht ›Objekte‹ – wie z. B. Bücher oder anderes in Bibliotheken und Archiven – speichert, „sondern nur Verfahren registriert, die jeweils ermöglichen, die interessierende Information zu ›regenerieren‹, indem sie neu berechnet wird“ (ebd.). Es ist diese ›Rechengebundenheit‹ der ›Objekte‹, deren radikal prozedurale Erscheinungs- und Aktualitätsgebundenheit an ›Rechenanweisungen‹, an Algorithmen und jeweilige Versionen und Verläufe, die eine bedeutsame Differenz markiert und die bisher vertraute Beobachtungsabhängigkeit von ›Wirklichkeit‹ insofern verändert, als sie den „Aufbau des Realen“ (ebd., S. 291) nun prinzipiell an den „Eingriff des Beobachters“ und dessen (notwendigen) (Rechen-)Operationen bindet und als permanente und rekursive ›Re-‹ bzw. ›Neu-Generierung‹ ausweist. Automatizität: Oft genug ist inzwischen darauf aufmerksam gemacht worden, dass Quantität und Komplexität der Daten – im Stichwort ›big data‹ gebündelt (Mayer-Schönberger und Cukier 2013) – nicht zwangsläufig zu einem Wandel führen (müssen – und oft nur fortsetzen, was bereits der Fall ist); gleichzeitig ist aber auch unübersehbar, dass genau die digital erst ermöglichte Sammlung und Speicherung dieser Datenmengen, ihre permanente Erneuerung und Insowie Extensivierung auch Grundlage für automatisierte Prozesse der Datenverarbeitung und -auswertung sowie der Entscheidungsfindung sind – und das längst in vielen ökonomischen und sozialen Feldern (D'Onofrio und Meier 2021). Diesseits vielfacher Spekulationen über das, was durch und mit ›big data‹ alles möglich bzw. zu befürchten sein wird (vgl. die Beiträge in Reichert 2014 sowie als Studie über entsprechende Haltungen in der Bevölkerung Orwat und Schankin 2018), sowie diesseits der Frage nach der ›Macht der Algorithmen‹ (Bunz 2017) und der damit verbundenen ›Intelligenz‹ bzw. ›Lernfähigkeit‹ von Maschinen (Engemann und Sudmann 2018) stellt daher die Automatisierung aller mit Daten verbundenen Prozesse ein zentrales Strukturmoment digitaler Praktiken dar. Da automatisierte Prozesse zwar nicht ihrerseits intentional gerichtet sind, aber doch in jeweiligen Kontexten eingesetzt und genutzt werden,
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dürfte besonders relevant werden, welche Funktion(en) diesen datengestützten Möglichkeiten zugeschrieben werden und wie sich dadurch u. a. soziale Teilhabe, kommunikative Prozesse und subjektive Selbstverständnisse verändern (werden) (vgl. Allert/Richter sowie Dander/Aßmann/Neuberger i. d. Band); dabei reicht das Spektrum dann von umfassenden ›Kontrollphantasien‹ (Bauman und Lyon 2018; Zuboff 2018) mit begleitenden Subjektivierungspraktiken (Schirrmacher 2015; Allert et al. 2017) bis hin zu Möglichkeiten und Effekten ›prädiktiver‹ Aussagen und Berechnungen – auch und u. U. gerade im Feld des Pädagogischen.27 Unstrittig ist dabei, dass auch Wissenspraktiken und -kulturen dadurch nachhaltig verändert werden (Geiselberger und Moorstedt 2013; Kitchin 2014 sowie jüngst Hashagen und Seising 2022), weil nicht nur bisherige Gewohnheiten sich wandeln und unterlaufen werden, sondern auch das Verständnis dessen, was Wissen – wie z. B. Begründbarkeit und methodische Plausibilisierung (Sperber et al. 2010), Autorschaft und Expertise (Bunz 2017) – ausmacht, neu und anders formatiert wird. Virtualität: Mit Virtualität ließe sich schließlich ein Strukturmoment aufgreifen, das in besonderer Weise auf die Erfahrungsweise digitaler Objekte abhebt – und damit nicht primär deren materiale und technische oder formale Verfasstheit, sondern deren spezifische Erscheinungs- und Umgangsweise und die darin in Anspruch genommenen Vorstellungsweisen zu kennzeichnen versucht (vgl. Rieger 2014; Kasprowicz und Rieger 2019). Dabei meint Virtualität nicht (allein) – wie insbesondere im Verweis auf Techniken einer ›virtual reality‹ – einen Sonderbereich digitaler Technologien, sondern ein durchgängiges Strukturmoment aller (Erfahrung von) digitalen Objekte, ist doch das, was – insbesondere auf den Bildschirmen – erscheint, weder ›Abbild‹ von etwas anderem (Repräsentation) noch ›Bildgebung‹ ohne Referenz und insofern bloße ›Einbildung‹ und willkürliche Konstruktion; vielmehr markiert Virtualität in einem spezifischen Sinne den Verweis auf etwas anderes, der das digitale Objekt in einen Potenzialis versetzt, und bezieht gleichermaßen seine Kraft von dem, worauf es verweist, sowie es dem, worauf es verweist, neue Möglichkeiten eröffnet und zuformt. Man mag versucht sein, diese besondere Erscheinungsweise – mit Elena Esposito – als „Realität der Fiktion“ (Esposito 2018, S. 287) auszuzeichnen, geriete man dadurch nicht doch wieder in problematische Oppositionen, in die Virtualität üblicherweise
27 Vgl.
dazu ausführlicher die Beiträge von Martin Karcher, die sich seit einigen Jahren mit diesen Fragen befassen und denen wir viele Anregungen verdanken (vgl. Karcher 2015, 2020 und 2022 sowie mit Blick auf Prüfungspraktiken Karcher 2021).
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eingespannt wird – wie z. B. die zwischen Realität und Fiktion, Materialität und Idealität sowie Wirklichkeit und Möglichkeit –, sodass mit dem Virtuellen hartnäckig Latenz, Simulation und Täuschung assoziiert werden (vgl. insgesamt Völker 2010). Kennzeichnend(er) dürfte daher eher sein, dass digitale Objekte in einer Form erscheinen, in der sie nicht existieren, zugleich aber in dieser Form Wirkungen zeitigen (Serres 2005, S. 174); dies aber bindet deren Erscheinungsweise – und zwar konstitutiv – an jeweilige Umgangsweisen, in denen digitale Objekte ›wirklich‹ werden. Beides beansprucht nicht nur Vorstellungskraft, sondern ist allererst über Vorstellungsweisen und -konzepte vermittelt, sodass Fragen – wie z. B. als was wir die digitalen Objekte verstehen, welche Funktionen sie erfüllen und welche Bedeutung wir ihnen zumessen – auftauchen, die sich vermutlich nur empirisch beantworten lassen (und nicht aus der digitalen Verfasstheit ableiten lassen). Daher verweist Virtualität – so ließe sich vor diesem Hintergrund nun präzisieren – auf die Frage nach einem (nicht nur, aber auch mentalen) Konzept, das aus den jeweiligen Erfahrungen ebenso resultiert wie diese strukturiert.28 Das mag dann von Vorstellungen eines Archivs mit an Orten abgelegten Objekten bis hin zu nur über Suchmaschinen zugänglichen Datensätzen reichen; unstrittig dürfte aber sein, dass unsere ›Wirklichkeitsverständnisse‹ – und damit auch unsere Vorstellungen von ›Wissen‹ – dadurch grundsätzlich transformiert werden. Die hier explorativ entwickelte Liste der Strukturmomente des Digitalen mag vorläufig sein und entweder (ganz) anders gefasst oder auch nur anders vervollständigt werden; mit ihnen sind daher nur vorläufige Eckpunkte skizziert, innerhalb derer Wissenspraktiken sich ausgestalten und – oft mit einer spezifischen Drift – etablieren. Sie als fixe Charakteristika von digitalen Wissenskulturen zu verstehen, wäre ein grobes Missverständnis.
28 Interessanterweise
greift Friedrich Bouterwek erstaunlich früh – nämlich bereits 1799 (Bouterwek 2006 [1799]) – den damals alles andere als geläufigen Begriff der Virtualität auf, um den Aporien eines Realismus, der notwendigerweise in Metaphysik verfallen müsse (ebd., Bd. 2, S. 66), und denen eines (transzendentaltheoretischen) Kritizismus, der in „willkürlichen Idealismus“ (ebd., Bd. 2, S. 49) umschlagen müsse, zu entkommen, und erläutert Virtualität als dritte Figur einer vorstellungsgebundenen, aber deswegen nicht weltlosen Wirklichkeitsperspektive (ebd., Bd. 2, S. 63–71). Den Hinweis auf Bouterwek verdanken wir Egbert Witte.
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5 Zur Transformation des Bildungswissens in digitalen Wissenskulturen – ein Ausblick Vor diesem Hintergrund lässt sich nun die Frage nach der Formation und Transformation des Bildungswissens und den damit verbundenen (Wissens-) Praktiken und -kulturen neuerlich aufnehmen – aber auch noch nicht hinreichend beantworten, weil die Beantwortung doch in wesentlichen Teilen eine zwar theoretisch gerahmte, aber dann empirisch zu bearbeitende Frage ist. Es können einige Folgerungen aus den bisher angestellten Überlegungen gezogen und als Vorbahnungen genutzt werden: Zum einen ist es für uns plausibel, Wissenskulturen anhand von Wissenspraktiken zu beschreiben und nicht bloß aus jeweiligen Grundannahmen abzuleiten; insbesondere die Rekonstruktion von Formen, Logiken und Effekten von Wissenspraktiken kann dazu im Rahmen einer „theoretischen Empirie“ (Kalthoff et al. 2008) einen wichtigen Beitrag leisten. Zum anderen ist der Fokus auf ›Bildungswissen‹ selbst ein spezifischer und insofern umso tauglicherer Blick, aus dem heraus sich Wissenskulturen in ihren Grundstrukturen beobachten lassen. Schließlich schützt nur eine zugleich gegenwartsbezogene und historisch justierte Forschung vor vorschnellen Wandlungsbehauptungen, die oft aus Trends nur heraus gelesen werden; vielmehr sind Aussagen über Transformationen nur durch Kontrastierung von Analysen zu verschiedenen Formationen in der Zeit möglich.
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Die Kultivierung der Sprachlosigkeit. Zur sozialen Funktion der informatischen Sinnform vor und in der Digitalisierung Sebastian Manhart Zusammenfassung
Die sozialen wie subjektiven Voraussetzungen der gesellschaftsweiten Verwendung zahlenbasierter Sinnbildung sind noch wenig untersucht. Seit dem Spätmittelalter wird die Sprach- und Kommunikationsferne der Eigenlogik der Zahlen systematisch kultiviert. Pädagogische Praktiken des Messens und Bewertens spielen bei der Subjektivierung der zeichenbasierten Separierung von Kommunikation und Information eine zentrale Rolle. Der Beitrag verdeutlicht an konkreten historischen Praktiken des Messens und Rechnens die Spezifik zahlenbasierter Informationsverarbeitung im Prozess ihrer Ablösung von der Kommunikation. In der Digitalisierung materialisiert sich Informationsverarbeitung als ein von Kommunikation unabhängiges Sinnsystem. Die Technisierung der semiotischen Trennung zwischen kommunikationszentrierter Fakten- und informationsgetriebener Datengenerierung relativiert sowohl das moderne Naturkonzept als auch damit verbundene Wahrheitsansprüche. Schlüsselwörter
Digitalisierung · Semiose · Wahrheit · Informatische Sinnform · Zeichen · Pädagogisches Messen · Bewerten
S. Manhart (*) Universtität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_13
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In seiner im 5. Jahrhundert entstandenen Schrift De nuptiis Philologiae et Mercurii beschreibt der spätantike Gelehrte Martianus Capella die Hochzeit zwischen der Philologia und Merkur (Capella 2005)1. Die Schilderung von Brautwahl und himmlischem Fest dient ihm dazu, wichtige Kenntnisse der Antike für die Nachwelt aufzuzeichnen und in eine Ordnung zu bringen. In Vorbereitung der Hochzeit kommt es zu einer denkwürdigen Situation, die auch als „Vomier-Szene“ (Zekl 2005, S. 7) bezeichnet wird. Als irdisches Wesen kann die Philologia nicht von allein in die himmlischen Sphären aufsteigen. Jupiter, der mit ihrer Vermählung einverstanden ist, sendet ihr deshalb die Wächterin des Zugangs zum Götterhimmel, Athanasia, die sie in einer Sänfte in den Himmel geleiten soll. Bevor die Philologia jedoch die Sänfte besteigt, fordert Athanasia sie auf, sich von unnötigem Ballast zu befreien: „Da aber brach sie“, die Philologia, „mit aller Anspannung und großer Kraftanstrengung alles, was je in ihrem Busen sie erwogen hatte, aus. Da wandelte sich dies Erbrechen und das Herausgewürgt-Erbrochene um in Riesenmengen Schrifttums aller Art.“ (Capella 2005, II 135/136, S. 77) Martianus schildert nun, welche Schriften der Philologia aus ihrem Mund auf den Boden fallen. Zu den ausgewürgten Schriften gehören auch jene, in denen musikalische „Weisen und die Zeichen“ sowie „Taktzahlen“ vermerkt sind sowie Schriften, die „Kreise und Geraden und Halbkreise mit Dreiecken und Vierecken und Formen vieler Winkel, entsprechend der Verschiedenheit der Theoreme und Anfangssätze“ (ebd.) enthalten sind. Als sinnliche Formen der Mathematik kommen Musik und Geometrie nun also nicht nur getrennt von der Philologie zur Darstellung, sondern auch zu ihrem angemessenen Platz. Denn diese kuriose Beschreibung einer Wissenstransformation kommt erst damit an ihr Ende, dass die erbrochenen Wissensbestände neu geordnet werden: „Während die junge Frau dies alles reichlich ausspie, da fand sich eine ganz schön stattliche Schar junger Mädchen ein, die nannte man teils Artes, teils auch Disciplinae, und die nun sammelten vom Boden auf, was aus der Jungfrau Mund geflossen war; und von ihnen eine jede riss an sich, was ihr davon für ihren eignen Zweck von Nutzen war.“ (Ebd. – H. i. O.) Eine drastischere Schilderung der Loslösung der Wissenschaften und Künste aus der hegemonialen Ambition sprachlichen Sinns ist kaum je geschrieben
1 Martianus
gilt als Begründer des „Lehrplan(s) des Mittelalters“ (Mazal 2006, S. 50); in der „Martianus-Capella-Renaissance“ seit dem 9. Jhd. entstehen bis ins 15. Jhd. zahlreiche Abschriften dieser enzyklopädisch-didaktischen Schrift, von denen 240 überliefert sind (Scherabon Firchow 1999, S. XV). Die beiden ersten Bücher, in denen sich auch die hier vorgestellte Szene findet, sind Teil der Ausbildung in den Klosterschulen (Notker 1999, NC12307 ff., S. 123 ff.). Die darin auftauchenden Musen der sieben freien Künste weisen auf das universitäre Organisationsschema der Artes im Mittelalter voraus.
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worden. Die Philologia, die Verkörperung dessen, was wir heute Sprachwissenschaft, sprachliche Künste und Philosophie nennen, hat alles Wissen in die Form der Sprache gebracht. In diesem Zustand übermäßiger Beschwerung ist sie aber nicht fähig ihre Bestimmung zu erreichen. Ihre – immerhin gottgleiche – Erhöhung wird erst möglich, wenn sie sich von allerlei Kenntnissen befreit, die für sie nur Ballast und ohne sie sogar besser dargestellt werden können. Natürlich ist eine solche Interpretation anachronistisch, denn Martianus geht es um die Vorführung und Ordnung des überkommenen, schon im Verschwinden begriffenen antiken Wissens. Diese Szene dient ihm lediglich als Anlass, seine Kenntnisse vorzuführen. Und doch vermittelt sie in ihrer sinnlichen Drastik, was im Folgenden als Motor der Entwicklung der informatischen Sinnform dargestellt wird. Sprachlich kann man andere Sinnformen wortreich beschreiben, sie in ihrem semiotischen Eigensinn ersetzen, kann Sprache nicht. Dies gilt auch für den Sinn der Praktiken des Zählens und Messens, der seine weitreichende soziale Wirkung erst mit der Trennung von der Sprache entfaltet. Die Herauslösung der informatischen Sinnform aus der Kommunikation und die grundlegenden sozialen Effekte der Verbreitung ihrer strikten Anschlusslogik stehen hier als Voraussetzung der Digitalisierung im Mittelpunkt. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Entwicklung bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhalten hat, denn für eine geschmeidige Fortsetzung der Kommunikation ist die strikt koppelnde Präzision der Zahlen dysfunktional, da Kommunikation Vagheit als Anschlussressource nutzt. Natürlich kann man über die Verfahren der Generierung einer Zahl oder über das, was sie bedeutet, wortreich diskutieren, aber immer nur jenseits der präzisen Anschlusslogik der Zahlen. Bedeutung adressiert etwas außerhalb des Zahlenraums (Manhart 2019a), man wechselt zur Kommunikation, d. h. zumeist in den sprachlichen oder auch bildlichen Sinn (Abb. 1). Der informatische Sinn wird allein durch das Anschließen an andere Zahlen verfügbar. Im Zahlenraum kann man präzise Vergleichen und Weiterrechnen, man kann Informationen transformieren und austauschen, aber Kommunizieren, das kann man nicht. In der Anschlusslogik der Zahlen ist weder Platz für dramatische Geschichten noch für Zweifel, Sarkasmus, Ironie oder einen Witz. Die individuellen wie sozialen Folgen dieser Eigenart des zahlengenerierten Sinns sind bisher zu wenig beachtet worden. Fasziniert vom beständigen Wechsel zwischen Sinn und Bedeutung in der Sprache (Frege 2007, S. 23–46; de Saussure 2013, S. 247 ff.), hat man den eigensinnigen Semiosen der Zahlen in ihren sozialen Konsequenzen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei wurde in Europa seit dem Spätmittelalter die zahlenbasierte Form informatischen Sinns gerade in ihrer Sprach- und Kommunikationsferne systematisch kultiviert. Zahlreiche Aspekte der Verbreitung neuer Sozialformen,
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Abb. 1 Zeichen- und Sinnformen. (Quelle: Eigene Darstellung)
wie z. B. jener der modernen Organisation, mit ihrer auf Zählen, Messen und Input-Output-Verrechnungen beruhenden Strukturformalisierung, bleiben unverständlich, beachtet man die spezifische Eigenlogik der informatischen Sinnform nicht. Um hier etwas klarer zu sehen, wird im Folgenden auf historische Beispiele zurückgegriffen, weil die Spezifik zahlenbasierter Informationsverarbeitung in den Momenten ihrer Ablösung von der Kommunikation besonders klar hervortritt. Hierfür werden zuerst einige soziale Effekte des Zeichengebrauchs beschrieben (1), woran sich Überlegungen zur zeichenbasierten Trennung von Kommunikation und Information anschließen (2). Messungen inhibieren wirksam Kommunikationsofferten, was an zwei himmlischen Praktiken gezeigt wird (3). Motor der modernen Zahlenproduktion vor der Digitalisierung ist die Synthese von Messen und Rechnen (4) aus der drei Formen des Messens hervorgehen (5). Die Trennung von Fakten- und Datengenerierung (6) wird abschließend als Voraussetzung und Effekt digitaler Zahlenproduktion vorgestellt, in der Naturbezüge und Wahrheitsansprüche systematisch an Bedeutung verlieren (7).
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1 Zur sozialen Funktion von Zeichen Alfred N. Whitehead macht in „Prozess und Realität“ eher beiläufig eine Bemerkung zum Zusammenhang zwischen der leichten Wahrnehmbarkeit konkreter Zeichen und der mangelnden Bestimmtheit ihrer Deutung. „Eine Schwierigkeit der Symbolik“, so Whitehead, „besteht darin, daß die schwer verfügbaren Bedeutungen oft vage sind.“ So sei es denn auch „leichter, Weihrauch zu riechen, als bestimmte religiöse Gefühle zu produzieren.“ Allerdings, „wenn die beiden also verknüpft werden“, so sei „Weihrauch ein geeignetes Symbol für solche Gefühle“ (Whitehead 1979, S. 342).2 Die gelungene Verknüpfung impliziert die Möglichkeit einer Umkehrung der Zeichenfunktion, die George Herbert Mead, wenig später, für zentral im Lernen eines sozial kompatiblen Symbolgebrauchs hält (Mead 1973, S. 43 ff.). Zeichen lösen dann aus, was sie nur anzuzeigen scheinen, psychisch erzeugen sie sogar erst das, wofür sie stehen: Man riecht den Weihrauch und fühlt sich religiös ergriffen. Während es bei Mead um die Selbsthervorbringung innerpsychischer Gehalte durch Zeichengebrauch geht, findet sich diese produktive Umkehrung aber auch schon in Schöpfungsmythen, im Rahmen religiös-magischer Praktiken, in manchen Formen der Astrologie (Garin 1997) und Wahrsagerei (Fidora 2014) als Erzeugung ‚äußerer‘ Dinge und Ereignisse durch Bezeichnung. Das Ausnutzen dieser Umkehrung ist aber auch von großer wissenschaftshistorischer Bedeutung. Neues wird dadurch erschlossen, dass man das deduktive Schema umkehrt und genau dies geschieht beim metaphorischen und pädagogischen Messen (Manhart 2016; Manhart 2019a). Schon Aristoteles ging es in seiner sprachgeführt-dialogischen Syllogistik auch darum, einen Weg zu finden, von bekannten Tatsachen bzw. vom Schlusssatz auf noch unbekannte Prämissen zurückzuschließen (Kapp 1965, S. 84 f., 87). Als logische Form des Beweises durchgesetzt hat sich hingegen, von gegebenen Prämissen auf einen wahren Schlusssatz zu schließen. Der Grund hierfür ist, dass sich nur diese Schlussrichtung sprachlogisch kontrollieren ließ. Neues kann auf diese Weise aber nicht erschlossen werden. Was für sprachliche Formen des Schließens gilt, muss für andere Zeichensorten aber nicht gelten. Aus sichtbaren Zeichen auf etwas Unsichtbares und bisher Unbekanntes zu schließen, ist nun das Vorgehen, dem das metaphorische Messen seine semantische Produktivität verdankt. Der Aufstieg der Naturwissenschaften und die Produktion neuer Semantiken in der
2 Und
weiter: „Auch ist, (…), der Weihrauch eindeutig, die religiösen Gefühle aber nicht.“ (Whitehead 1979, S. 342)
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Moderne beruhen auf der Erweiterung der Möglichkeiten des Messens zum Entdeckungsverfahren, durch dessen Synthese mit dem Rechnen. Im wiederholten Messen werden zahlenförmige Resultate erzeugt, die genau deshalb Tat-Sachen sind. Deren strikte Kopplung mit anderen Messresultaten, mit anderen Zahlen wird im metaphorischen Messen nun dazu genutzt, um von diesen Zeichen aus auf deren Voraussetzungen zurückzurechnen. Das vage Zurückschließen auf sprachliche Prämissen, wird durch die strikte Anschlusslogik der Zahlen an regelmäßige Messresultate ersetzt. Aus vagen Prämissen werden errechnete Konstrukte, wie Kraft, Leistung oder Intelligenz, die nun als Kausalursachen oder Korrelationen hinter den Zeichen semantisiert werden. Insofern handelt es sich beim metaphorischen Messen um eine zahlengeführte, kontrollierte Form der Abduktion. Gerade als bevorzugtes wissenschaftliches Entdeckungsverfahren in der Moderne ist das metaphorische Messen darauf ausgerichtet, die errechneten Entitäten stabil zu halten, also verfahrenstechnisch zu objektivieren. Selber wieder rechenbare Kriterien, wie z. B. die Retestreliabilität, erhöhen die soziale Akzeptanz der Existenzbehauptungen neuer und unsinnlicher Entitäten. Im pädagogischen Messen ändert sich genau das, weil es auf diese Veränderung ankommt. Messungen pädagogisch zu nutzen, setzt darauf, dass das gemessene Objekt ein Subjekt ist, dass sich auf das Messen einstellt, also durch die Messung verändert. Ein demgegenüber eher unspektakulärer Effekt bei der Wahrnehmung und Verkettung von Zeichen, ist nichtsdestotrotz für den Aufbau sozialer Zusammenhänge und für deren Nutzung in pädagogischen Kontexten von grundlegender Bedeutung: Zeichen attrahieren die Aufmerksamkeit. Sie ermöglichen es, die Wahrnehmung verschiedener Subjekte auf die Form des Zeichens zu beziehen. Dies gelingt vor allem dann, wenn diese Form besonders prägnant ist, wobei der Grad der Prägnanz je nach Wahrnehmungskultur variiert.3 Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsbindung von Zeichen werden erlernt. Der wiederholte Gebrauch bestimmter Zeichen führt zu kulturspezifisch und individuell unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten der Wahrnehmung, Verknüpfung und Bedeutungsbildung. Hat man Sprechen gelernt, fällt es schwer, sich dem gesprochenen Wort zu entziehen (Luhmann 1997, S. 205 ff.), also die automatische Verkettung von Lauten zu Sprache und Bedeutung zu vermeiden. Dies gilt sogar dann, wenn die Bedeutung wirklich ‚schwer verfügbar‘ ist, weil
3 Die
unendlichen Möglichkeiten werden durch den menschlichen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsapparats deutlich beschränkt (vgl. für die Form der Buchstaben Dehaene 2010, S. 136 ff.).
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man z. B. die Sprache gar nicht versteht. Die Sinnerwartung attrahiert auch dann die Aufmerksamkeit. Diese Wahrnehmungsbindung ist deshalb von so großer Bedeutung, weil sie mit einem erheblichen Dissens hinsichtlich der individuellen Deutung und des sozialen (Anschluss-)Sinns eines Zeichens einhergehen kann. Eine Vielzahl von Personen riecht dann den Weihrauch, sieht das Kreuz, hört die Worte, den Gesang und fühlt und denkt dabei gleichzeitig sehr Unterschiedliches, ohne damit nur im Mindesten das soziale Geschehen Gottesdienst zu gefährden. Die moderne Gesellschaft nutzt diese Differenz von Wahrnehmungskonsens und Bedeutungsdissens4 entlang eigens hierfür separierter Sinnformen intensiv zum Struktur- d. h. Komplexitätsaufbau. Dafür werden verschiedene Zeichensorten in ihren Verkettungsregeln differenziert sowie mittels Sozialisation und pädagogischer Praktiken habitualisiert, d. h. im individuellen Wahrnehmen und Denken tief verankert.5
2 Exkommunikation durch Zeichen In allen traditionellen Kulturen wird die Sinnvermutung gegenüber Zeichen ganz überwiegend als Kommunikationserwartung spezifiziert und auf alles generalisiert. Die Wahrnehmung von Etwas als Zeichen geht mit der Annahme einher, mit diesem Zeichen sei eine Absicht verbunden, die es als Mitteilung zu verstehen gelte. Sinn ist dann Mitteilungssinn, Sinnverstehen das Erschließen von Absichten. Alles kommuniziert. Berge, Quellen, Bäume, Tiere sind hierin wie der Mensch: Sie haben Geist und dieser Intentionalität. Absichten gilt es zu erkennen, indem man Zeichen beobachtet und interpretiert. Die erkenntnisleitende und strukturbildende Sinnform der Gesellschaft ist hier die Sprache. In ihr ist alles Kommunikation. Soweit die Gesellschaft aus Kommunikationen besteht, gehört noch alles zu ihr.6 Selbstbeschreibungen dieser Gesellschaften kennen daher auch nur Stufen der Relevanz des Sinns, aber keinerlei Umwelt. Die Welt ist Kosmos und als dieser sind Kommunikation, Gesellschaft und absichtliche Schöpfung eins. Indem die ubiquitäre Intentionalitätsvermutung auf hinter dem Wahrnehmbaren verborgene Wesen bezogen wird – Geister, Götter, der eine Gott – wird
4 Klassisch
für die Nutzung dieser Differenzierung ist die Begrenzung des Staates bei Hobbes (1996) entlang der Unterscheidung von äußerer Folgsamkeit und innerer Freiheit. 5 Vgl. zu einigen lern- und bildungstheoretischen Konsequenzen (Manhart 2018). 6 Hier passt für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft noch, was die Systemtheorie auch für die Moderne unterstellt, sie besteht nur aus Kommunikationen.
356
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eine erste Distanznahme gegenüber dem überbordenden Kommunikationssinn möglich. Ein brennender Dornbusch kann dann Zeichen dafür werden, dass jemand durch ihn etwas mitteilt, nicht aber der Dornbusch selbst. Beobachtet man Semiosen im Blick auf die Einheit der Differenz von Wahrnehmungskonsens und Bedeutungsdissens, so kann man sehen, dass die moderne Gesellschaft an einer zeichenspezifischen Ausweitung dieser Differenz wächst. Bestimmte Zeichen erscheinen dann gar nicht erst als Kommunikation, d. h. die Intentionalitätsvermutung wird inhibiert. In der Moderne gibt es Zeichen, die als Zeichen dafür stehen, keine Zeichen für etwas anderes als bestimmte andere Zeichen zu sein: Das sind Zahlen. In ihrer heutigen Fassung verweisen Zahlen nur auf Zahlen. Externe Referenz muss mit anderen Zeichensorten, z. B. Buchstaben für Einheiten wie m, kg, lm, extra angezeigt werden – Bedeutungsgenerierung erfordert Kommunikation. Ursprünglich sind ‚Zahlen‘ aber Anzeiger für Dinge, die man mithilfe anderer Dinge, z. B. mit Fingern, Steinen oder Strichen zählt. Zählen erfordert hier die Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem, das nun parallel zu aufsteigenden Reihen geordnet wird. Mit der Loslösung der Zahlen von der externen Referenz gewinnt man die Möglichkeit, das Zeichensystem ausschließlich mit den Mitteln dieses Zeichensystems auszubauen: unterschiedliche Reihen werden aufeinander bezogen (natürliche Zahlen, rationale Zahlen, reelle Zahlen etc.) und diese Reihen wiederum als neue Reihen gezählt usf. Diese Ablösung ist ein langwieriger Prozess. Der anfangs noch längst nicht absehbare Ertrag einer semiotischen Trennung von Kommunikation und Information besteht darin, dass beide Sinnformen nun unabhängig voneinander in ihrem Auflöse- und Rekombinationsvermögen steigerbar werden. Für das Disembedding der informatischen Sinnform ist die Nutzung der Möglichkeit entscheidend, dass im Umgang mit Zahlen kein Mitteilungssinn, keine Bedeutung mehr zu entschlüsseln ist. Es wird nur die Information weitergegeben, schließen Zahlen an Zahlen an. Der Sinn wird bis zur Einfältigkeit präzise, dessen Weitergabe dadurch aber auch viel effizienter. In dieser Reduktion auf Information liegt auch die – im Vergleich mit Kommunikation – leichtere Technisierbarkeit dieser Semiose begründet – eine zentrale Voraussetzung der durchschlagenden Wirkung der Digitalisierung. Eine Zahl ist ein Unterschied, der nur dieser Unterschied ist: eine drei ist keine vier und keine zwei, solange man im Zahlenraum verbleibt. Weder wird ein Mitteilungssinn, eine Absicht erwartet, wenn drei und drei eine sechs ergibt, noch bedeutet dies mehr als genau das. Einmal als eigenständige Sinnform etabliert, erlaubt es deren Nutzung, die überschießenden Sinnzumutungen vager Kommunikation auf Teilbereiche der Gesellschaft zu beschränken und sie dort zugleich, von anderen Funktionen entlastet, weiter zu kultivieren. Durch die Exkommunikation
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bestimmter Zeichen schafft sich die Gesellschaft kommunikationsfreie Räume, die trotzdem sinnvoll, d. h. bezeichenbar sind. Die Gesellschaft erzeugt in sich, mit den eigenen Mitteln – das sind Zeichen – eine kommunikationsfreie Umwelt, deren Ausdehnung und Sinnträchtigkeit sie mithilfe der genutzten Sinnform – Kommunikation oder Information – selbst reguliert. Dass die „Sprache der Natur“ in Zahlen verfasst sein soll, zeigt aber die immer noch fortwirkende Wirksamkeit eines kommunikativen, mitteilungs- und bedeutungsorientierten Verständnisses jeglicher Zeichen und jeglichen Sinns. Für die Einsicht in den Strukturaufbau der modernen Gesellschaft, zu der zentral auch die informatische Selbsterzeugung ihrer Umwelt gehört, ist die ausschließliche Fixierung auf Kommunikation aber ein Hindernis: Die Umwelt der Moderne spricht und kommuniziert nicht, sie informiert. Die informatische Sinnform ist weder Sprache noch Kommunikation. Diese Differenz generiert die gesellschaftliche Bedeutung ihres Sinns.7 Praxen des Zählens und Rechnens bieten der Gesellschaft die Möglichkeit, das Problem der Fremdreferenz durch Selbstreferenz produktiv zu bearbeiten, ohne damit auf sozialen Konsens durch Wahrnehmungsbindung zu verzichten. Eine kommunikationsferne, bedeutungsfreie, nicht aber sinnlose Weltvorstellung, wie z. B. jene der Naturwissenschaften, ist sozial nur anschlussfähig, weil Zahlen eine wahrnehmungsnahe, konsensaffine Eindeutigkeit erzeugen.8 Die bedeutungsgenerierende externe Referenz für ihren Sinn, ihre individuelle wie soziale Deutung, ist für die Logik der Rechnung hingegen absolut irrelevant. Die strikte Positions- und Verkettungslogik der Zahlen inhibiert jede zeichensystemexterne Referenz. Genau darin liegt paradoxerweise ihr gesellschaftlich ausbaufähiger Sinn. Zahlen verweisen auf nichts anderes als auf Zahlen. Zahlzeichen bedeuten daher als Zahlen absolut nichts. Ihr Sinn verweist nur auf andere Zahlen. Egal worauf jede einzelne Zahl referiert: 3 × 3 ist immer 9. Genau deshalb lässt sich im Prinzip alles mit Zahlen bezeichnen, d. h. zählen. Bei der Sprache kommt es hingegen auf die genaue Abfolge der Zeichen, der Laute und Wörter für eine sozial wie individuell anschlussfähige Deutung nur in geringem Maße an. Langue und Parole differieren (vgl. de Saussure 2013). Man versteht auch Wörter und Sätze, die phonetisch, grammatisch oder syntaktisch ‚falsch‘ sind. Für den informatischen Sinn von Zahlen und Rechnungen ist hingegen die genaue Anordnung der Ziffern und die regelgerechte Anwendung der Verknüpfungszeichen absolut entscheidend. Ansonsten ist das Ergebnis falsch,
7 Anders
vorgehend, aber mit ähnlichen Befunden Burkhard Schäffer (2017a, b). deshalb ist etwas sozial und motivational so Unwahrscheinliches wie „Wissenschaft als Beruf“ überhaupt dauerhaft möglich (Weber 1968).
8 Nur
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d. h. Zahlen in Rechnungen erzeugen und transformieren immer nur diesen einen Sinn. Neben der Bedeutungsarmut und Kommunikationsinhibierung erschwert genau diese Konzentration auf die präzise Abfolge der Zeichen das individuelle Erlernen der informatischen Sinnform. Die Erinnerung an so manch endlose Stunde des Mathematikunterrichts mag hierfür – den meisten – als Beleg genügen.
3 Urteilssubstitution durch ermessenen Konsens Diese Besonderheiten der informatischen Sinnform machen deren soziale Durchsetzung und Autonomisierung eher unwahrscheinlich (Manhart 2008). Die an vielfältigen Geflechten des Verweisens und nicht am eindeutig-einfältigen Anschlusssinn einer Rechnung interessierte Zahlenmystik9 ist nur die Extremform eines in Kommunikation eingebundenen traditionellen Zahlenund Zeichenverständnisses. Zahlen verweisen hier nur oberflächlich auf andere Zahlen, tatsächlich aber auf hinter ihnen wirkende intentionale Bedeutungsgeneratoren. Sich aus diesem sinn- und bedeutungsträchtigen Zusammenhang der Kommunikation zu lösen, ist sehr unwahrscheinlich, denn die heute verfügbaren funktionalen Vorteile der Bedeutungsfreiheit und Verweisungsreduktion sind historisch bloße preadaptive advances, also unter den Entstehungsbedingungen nicht absehbar. Es ist die Einführung der arabischen Ziffern in Europa die eine Entwicklung zahlenspezifischer Verknüpfungszeichen (+, −, ×,: etc.) fördert und damit die Herauslösung der Zahlverwendung aus der sprachlich-kommunikativen Einhegung erlaubt. Sie erleichtert damit zugleich die Konzentration auf den zahlenspezifisch-informatischen Verknüpfungssinn.10 Die in Europa bis dahin
9 Als
spätes Beispiel (Giordano Bruno 1991); schon stärker an der Verkettungslogik orientiert (Nikolaus von Kues 2002); zur mittelalterlichen Praxis (Wedell 2011). 10 Die langwierige Geschichte der Durchsetzung einer sprachunabhängigen mathematischen Notation zeigt, wie schwer sich Kommunikation und Informationsverarbeitung voneinander lösen. Die moderne mathematische Notation wird seit dem 15. Jahrhundert explizit gegen die sprachliche Verschriftung etabliert. „Den Zeitraum zwischen 1460 und 1550 nennt man (…) ‚deutsche Coß‘, weil es den damals (…) wirkenden Fachleuten gelang, den österreichischen, den süd- und mitteldeutschen Sprachraum zum Mittelpunkt einer Entwicklung zu machen, die sich zum Ziel setzte, die mathematische Terminologie vom geschriebenen Wort zu lösen.“ (Kaunzner 1992, S. 159 f.; Gebhardt 1996; Wußing 2009, S. 331 ff.); zu den Anfängen (Wagner 1482 http://dx.doi.org/10.3931/ e-rara-29197; Adam Riese 1522, S. 32 ff.); zur eher geringen Bedeutung ökonomischer Kontexte vgl. die andauernde Praxis des Linienrechnens, bei dem römische Ziffern und eine Ordnung nach Geldeinheiten maßgebend sind (Hess 1977).
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fremde und von überkommenen Traditionen unbelastete Notationsform ist frei für ihre Verwendung als hochformalisierte Schreibweise, die sprachlich vage, kommunikationsnahe Formulierungen von Rechnungen endgültig ablöst. Für diese Entwicklung ist aber entscheidend, dass in Europa schon früher Teile der sprachlich-kommunikativen Praxen des Vergleichens und Bewertens in technische Formen des Messens überführt werden, die für eine Synthese mit dem zahlenbasierten, formalen Rechnen genutzt werden können. Dies lässt sich an einer religiösen Tradition des Messens demonstrieren, in der dessen kommunikationsinhibierende Wirkung, die sprachlose Konsensproduktion und Entscheidungssubstitution insofern exemplarisch erscheint, als sie auch die Götter miteinbezieht. So berichtet Homer in der Ilias von einem olympischen Konflikt, der im Zusammenhang mit dem Kampf Hektors gegen Achill ausbricht. Im Götterhimmel bilden sich zwei Lager, jene die Hektor und jene die Achill den Sieg schenken wollen. Zeus wiederum kann sich nicht entscheiden, sodass das Ringen der beiden Helden, die Troja im schnellen Lauf umkreisen, und der Götter untereinander, endlos so weiter zu gehen droht. Da greift Zeus zu einem überraschenden technischen Hilfsmittel: „Als sie [Hektor und Achill, S.M.] jedoch das vierte Mal zu den Quellen kamen, hielt Zeus der Vater ihnen allen [also den versammelten Göttern, S.M.] seine goldene Waage hin: in die eine Schale, da legte er das Schicksal des Achilleús – in die andre Schale dasjenige des Pferdebändigers Hektor. Hielt sie in der Mitte: und die Schale in der Hektors Los lag, sie sank, bis zum Hades hinab. Apollon ließ ihn nun im Stich…“ (Homer 2008, XXII, 208–214, S. 455). Eine religiös anders begründete, hinsichtlich der Erzeugung eines sprachlosen Entscheidungskonsens aber geradezu identische Funktionalisierung einer Waage als Messinstrument kann in den Darstellungen des Jüngsten Gerichts an den Westwerken zahlreicher französischer Kathedralen, aber auch an und in anderen europäischen Kirchen besichtigt werden. Möglicherweise durch ägyptische Bildnisse inspiriert (Link 1997, S. 133 ff.; Kretzenbacher 1958, S. 150 ff.), findet sich, zuerst an einem Tympanon an der Kathedrale von Autun eine Szene im Jüngsten Gericht (Abb. 1), die für die Zeitgenossen so eindrücklich schien, dass sie über Jahrhunderte hinweg traditionsbildend wird. Dies ist umso bemerkenswerter als es für diese bildliche Darstellung keinerlei textlich überlieferte, weder biblische noch apokryphe oder hochtheologische Vorlage gibt.11 In der vom Bildhauer
11 Zur Rolle des Teufels im Jüngsten Gericht (Goetz 2016, S. 321 ff.; Link 1997, S. 133 ff.); zur Rolle der Engel (Goetz 2016, S. 33–153), zur zunehmenden Verehrung und Darstellung des Erzengels Michael ab dem 10. Jahrhundert (Schaller 2006, S. 318 ff.); zu seiner Funktion als Seelenwääger (Schaller 2006, S. 173–261; Kretzenbacher 1958, S. 150 ff.; Goetz 2016, S. 151 f.).
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Gislebertus ca. 1130 geschaffenen, vermutlich vom örtlichen Bischof Etienne de Bage konzipierten Steinmetzarbeit, befindet sich Jesus in einer Mandorla in der Mitte des Tympanon sitzend. Es ist der Tag des Jüngsten Gerichts und Gott der Herr richtet über die Lebenden und die Toten. Er schickt die einen ins Paradies, das rechts von ihm angedeutet ist und die anderen in die Hölle, die sich links von ihm befindet. Wie um seine Rolle als einsamer Entscheider noch einmal zu bekräftigen, ist die Jesus umgebende Mandorla noch von einem Spruchband eingefasst, auf dem steht: „Ich allein ordne alles an. Ich kröne die Verdienten. Ich als Richter beuge die Verbrecher unter die Strafe.“ Was sich aber erstmals in einer solchen Darstellung links unterhalb von Jesus abspielt, lässt hieran durchaus Zweifel aufkommen. Dort stehen sich der Erzengel Michael und der Teufel gegenüber, beide damit beschäftigt eine zwischen Ihnen befindliche große Balkenwaage zu beobachten, bzw. im Fall des Teufels, diese mit Seelen zu bestücken und zu manipulieren. In den beiden Waagschalen befinden sich Figuren, die wohl die Verkörperungen der Seele, genauer ihrer Taten darstellen. Das Geschehen ist klar: neigt sich die Waagschale zur Seite Michaels, also sinkt sie auf der rechten Seite, so kann die Seele in das Paradies eingehen, neigt sie sich aber zur linken, so kann der Teufel, der deshalb die Waagschale nach unten ziehen will, die Seele in die Hölle bringen. Gänzlich unklar ist hingegen, welche theologische Funktion dieser Vorgang eigentlich haben kann. Besteht das Jüngste Gericht aus zwei Urteilen?12 Wozu könnte das Wiegen der Seelen dienen, wenn Gott doch alles weiß und, wie geschrieben, „allein ordne(t)“ und die „Verbrecher unter die Strafe“ beugt. Dreht man die Situation um, so wird das theologische Problem13 deutlicher: Wenn sich die Waage unter dem Gewicht der guten und schlechten Taten neigt, was entscheidet dann noch Gott? Sind sein Wissen und Urteil dann nicht überflüssig? Man könnte argumentieren, dass die seit dem 10. Jahrhundert aufkommende Unterscheidung zwischen zeitlichen und ewigen Sündenstrafen (Angenendt 1997, S. 652) auch ein zweifaches Urteil im Jüngsten Gericht begründen könnte. Die Erlassung der bloß zeitlichen Sündenstrafen durch Ausschenkung des – im Übrigen zähl- und stückelbaren – thesaurus ecclesiae im kirchlichen Ablass14, 12 Diese
Frage beschäftigte schon Aries (1980, S. 127 f.). man „Gott“ durch das moderne Subjekt, wird klar, dass hier ein aktuelles Problem verhandelt wird. 14 Zum Ablass und thesaurus ecclesiae, dem von der Kirche verwalteten „Schatz der Verdienste“ (Angenendt 1997, S. 652–657; Poschmann 1948); zur theologischen Zusammenführung von Kirchenschatz aus den Verdiensten der Heiligen, der Schlüsselgewalt und Austeilungsbefugnis des Papstes und der Wirkung im Fegefeuer über die Fürbitte bei Thomas von Aquin (1933 ff., S. 128–130). 13 Ersetzt
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hat das Urteil Gottes über den Erlass der ewigen Sündenstrafen zur Voraussetzung. Aber für eine solche Interpretation gibt es keinerlei zeitgenössischen Beleg. Tatsächlich sind überhaupt keine theologischen Besprechungen des hier interessierenden Bildprogramms überliefert. Die hochtheologische Reflexion scheint die in Rede stehenden Darstellungen geflissentlich ignoriert zu haben. Sie blieb sprachlos gegenüber dem, was sich dort und im Folgenden zeigt. Denn in der Abfolge der reichhaltigen Tradition mittelalterlicher Darstellungen dieser Szenerie kann man beobachten, wie das Messen, also das Wiegen der Seelen, das göttliche Urteil, genauer die Gestalt Gottes, zunehmend in den Hintergrund drängt. Schon auf dem Tympanon an der Kathedrale St. Etienne in Bourges (ca. 1250), um nur ein prominentes Beispiel von vielen zu nennen, befindet sich Michael mit der Waage genau im Zentrum, während über ihm, aber immerhin noch auf der gleichen Achse, Gott thront. Ähnlich scheint die Anordnung auf den späteren großen Gemälden des Jüngsten Gerichts bei z. B. Rogier van der Weyden (Beune ca. 1450) oder dann bei Hans Memling (Danzig ca.1470) zu sein. Dort aber steht der Erzengel mit seiner Waage nicht nur im Zentrum, sondern er rückt, deutlich vergrößert, auch sachlich und räumlich die Waage und den Vorgang des Messens in den Vordergrund. Gott ist zwar noch sichtbar, scheint aber schon in himmlische Sphären zu entschwinden. Und so ist es nur konsequent, dass sich daneben und danach zunehmend auch Darstellungen des Erzengels mit seiner Waage finden, in denen Gott gänzlich fehlt (z. B. das Hauptportal des Berner Münsters von Erhart Küng 1460/81 oder der Erzengel Michael von Holbein d.J. ca. 1523). Die Wahrnehmung der Messung attrahiert nicht nur die Aufmerksamkeit und macht über Götter und Menschen15 hinweg kollektiv sprachlos, sie ersetzt auch das göttliche wie menschliche Urteil durch den Vorgang der Messung. Das individuelle wie kollektive Entscheiden wird durch das messende Ausfällen von Unterschieden substituiert. Selbst der eine, allmächtige Gott verliert durch die Praxis des Messens an Relevanz. Auch im Jüngsten Gericht führt man sich dann nicht mehr das konkrete Leben der Menschen vor Augen, man erzählt keine Lebensgeschichten mehr, man vergleicht nicht wortreich individuelle Sünden und guten Taten miteinander, obwohl die Tradition dieses kommunikative Verfahren eigentlich vorsieht, schließlich ist im Buch des Lebens alles Tun für den Gerichtstag verzeichnet. Mit der Nutzung des Messgeräts, entsteht die Tendenz, allein seinen Zeichen zu folgen. So geschieht es im ägyptischen Totenreich, im
15 Zu
einem König Louis XIV und seinen Hofstaat betreffenden Beispiel vgl. Manhart (2019b).
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griechischen Götterhimmel und auch im Fall des christlichen Jüngsten Gerichts. Die technische Eindeutigkeit der Messapparatur ersetzt die unabschließbare Urteilsbildung auf der Basis zwischenmenschlicher Kommunikation. Die digitale Waage ersetzt jene kommunikativen Erwägungen, die allein zu einer (göttlichen) Entscheidung führen. Das Messen erzeugt einen wahrnehmbaren Unterschied zwischen vorher und nachher, zwischen konfliktträchtig vager Kommunikation und digitaler Eindeutigkeit. Die kommunikationsinhibierende und zugleich konsensbildende Wirkung hängt an der technischen Eindeutigkeit der im Messen erzeugten Differenz. Dieser Unterschied wird als evidenter Abdruck eines Sachzusammenhangs erfahren, dessen Klarheit keiner Diskussion mehr bedarf. Diesen Unterschied in arabischen Ziffern zu kodieren, erhöht nicht nur die zeichenförmige Eindeutigkeit, sondern erlaubt dann auch die sprachliche Deutung der Resultate durch das Zurückrechnen auf neue semantische Entitäten zu ersetzen. Denn es handelt sich bei der hier betrachteten Messpraxis zugleich auch um ein metaphorisches Messen. Das Gewicht einer Seele wird hier nicht als das Gewicht einer Seele verstanden, sondern als Maß für ein gutes oder schlechtes Leben. Gewicht und gute Tat haben eigentlich nichts miteinander zu tun, werden aber in der Deutung der Messergebnisse miteinander vermittelt. Physikalische Schwere wird als Zeichen für Grade der Sittlichkeit bzw. eines gottgefälligen Lebens interpretiert. Da es beim Jüngsten Gericht aber nur um den digitalen Unterschied zwischen Himmel und Hölle geht, kann auf eine genaue Verzeichnung dieser Grade des Guten durch Zahlenwerte verzichtet werden. Erst durch die Synthese aus Messen und Rechnen wird es möglich, die hier beschriebene Praxis der metaphorischen Semantisierung von Messresultaten, durch Errechnen zu regulieren. Über die Tatsache des zahlenförmigen Resultats, nicht aber über dessen Konsequenzen, besteht dann jener Konsens, auf dem die Strukturen der modernen Gesellschaft stehen. Vielleicht ist es aber kein Zufall, dass neben dem Erzengel Michael der Teufel am Messgerät hantiert.
4 Die produktive Synthese von Messen und Rechnen 1628 demonstriert William Harvey bei der „Entdeckung des Blutkreislaufs“ exemplarisch die argumentative Kraft und Reichweite einer strikten Kopplung von Messresultaten im Rechnen. Folgt man den Anschlussregeln des informatischen Sinns, kann nicht Wahrnehmbares präzise erschlossen, d. h. eindeutig bezeichnet werden und dies, wie Harvey selber betont, im Unterschied zu immer nur vagen Ableitungen auf der Basis sprachlicher Beschreibungen (Harvey
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1910).16 Mit bloßen Augen ist der Blutkreislauf bei seinen Obduktionen nicht zu sehen. Harvey hatte keine Kenntnis der Kapillargefäße, da ihm ein Mikroskop noch nicht zur Verfügung stand. Tatsächlich errechnet er den Kreislauf, d. h. er schlussfolgert ihn als plausible Möglichkeit seine verrechneten Messresultate zu erklären. Auf der Basis eigener Messungen der vom Herz mit jedem Schlag gepumpten Blutmenge, berechnet er die Gesamtmenge des Blutes im Körper. Diese Blutmenge muss zirkulieren, da weder ihre andauernde Produktion noch ihr Verbrauch im Körper sich plausibel erklären lassen. Der weiteren Verbreitung der kognitiven wie praktischen Fähigkeiten zur messpraktischen Anwendung des informatischen Sinns dient die Darstellung einer Messung, die wenige Jahrzehnte später, 1672, in Gottfried Kirchs ‚Christen-, Juden- und TürkenKalender‘ erscheint. Dort berichtet er ausführlich über die Beobachtung einer „Mondfinsternüß, welche sich Anno 1670. den 19. September, früh begeben“, deren „Anfang/Mittel/End und Währung ohne eintzig Astronomisch Instrument, bloß durch eine gemeine Schlag = Uhr gantz genau zu observiren“ ihm gelungen sei, was er den interessierten Lesern seines Kalenders zur Nachahmung vorstellen wolle. Dieses Beispiel zeigt die praktisch-kognitive Komplexität jeden Messens, obwohl noch keine komplizierten Instrumentarien verwendet werden. Kirch beobachtet mit bloßen Augen und nutzt zur Zeitmessung eine Räderuhr, wie sie schon zahlreiche Bürger in ihren Häusern aufgestellt hatten. Beide aber, Harvey und Kirch, greifen auf eine weitere, eine allen zugängliche, wenn auch noch nicht überall verbreitete symbolische Maschine (Krämer 1988, 1991) zurück. Die Nutzung dieser Zeichenmaschine, die Verwendung der Zahlenreihe als Universalmaßstab, der papierne Computus verändert die soziale Rolle des Messens grundlegend. Gottfried Kirch, der später noch Königlicher Astronom der Brandenburgischen Societät der Wissenschaften zu Berlin werden sollte, schildert den Ablauf seiner Messung einer Mondfinsternis in einem Schreibkalender, einer kleinen, regelmäßig erscheinenden Druckschrift für ein gebildetes Publikum (Herbst 2010, Bd. 2, S. 171 f.). Die Darstellung der Messung ist pädagogisch,
16 Harvey
führt explizit aus, dass die Möglichkeiten der Sprache nicht genügen: „Damit uns aber nicht irgend jemand nachsagt, wir bieten nur Worte und stellen nur köstliche Behauptungen ohne irgendwelche Begründung auf und wir führen Neuerungen ein ohne triftigen Grund“, wolle er durch eine Rechnung seine Vorstellungen „offenkundig“ machen.: „Nehmen wir an (sei es in Gedanken oder versuchsweise) die Mengen des Blutes, welche die linke Herzkammer im Zustande ihrer Erweiterung faßt (sobald sie voll ist), seien 2 oder 3 oder 5 Unzen. Ich habe davon beim Toten über 2 Unzen gefunden.“ (Harvey 1910, S. 56.)
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sie soll von den Lesern nachvollzogen werden.17 Kirchs Räderuhr, die vermutlich noch keine Pendeluhr ist, zeigt, wie in dieser Zeit üblich, vermutlich nur die Stunden. Minuten, Sekunden und für die astronomischen Berechnungen benötigte kleinere Zeitteilungen müssen anhand der Ganggeräusche der Uhr ausgezählt und errechnet werden. Seine Beschreibung der Messung geht daher fließend in eine Rechnung über, die sich noch der sprachlichen Verknüpfung der Zahlen bedient: „Das SteigRad in hiesiger Uhr hat 35. Zincken diese doppelt geben 70. Schnapper in einem Umgang solche mit des Stund = Rads Zincken deren 100. sind multipliciret, kommen 7000. diese in des SteigRads 6. Treiber dividirt geben 1166 2/3 Schnapper der Unruhe in einer Stunde und kommen also 19 4/9 Schnapper gantz genau auff eine Minute und ein Schnapper helt 3. Secunden 5 1/7 Tertien gantz genau oder 3. Sec. 5 Tert. 8. Quart. 34. Quint. 17. Sext etc.“ (Herbst 2010, S. 171). Da Kirch nun auch noch diverse Beobachtungs- und Messungenauigkeiten, z. B. Gangabweichungen des Uhrwerks vom astronomischen Maß, in sein Messkalkül einbezieht, d. h. quantitativ abschätzt, entsteht eine umfängliche Rechnung, die aber allein unter Anwendung der Grundrechenarten, wie sie seine Leser schon beherrschen, bewältigt werden kann. Die Genauigkeit seiner Angabe der Dauer der Finsternis mit „2 St. 47. Min. 32. Sec. 2. Tert.“ ist mit seiner Uhr nicht einfach messbar, sondern verdankt sich der Synthese von Wahrnehmung, mechanischer Registratur und semiotischer Verrechnung. Genaue Beobachtung von Natur und Messgerät, Notation dieser Beobachtungen in gleichteilig gestückelter, quantifizierbarer Form sowie deren Verrechnung werden für dieses Resultat mehrfach kombiniert. Ziel aller Mühen ist ein von der eigenen Subjektivität gereinigtes und von den Beschränkungen der Wahrnehmung befreites eindeutiges Ergebnis: eine Zahl. Wer sich immer wieder den Logiken der mechanischen und semiotischen Maschinen überlässt, indem er deren Bewegungen beobachtet und kognitiv zählend und schriftlich rechnend mitvollzieht, lernt, die Bedingungen der eigenen Wahrnehmungen so zu wählen, dass sie möglichst nicht mehr nur die eigenen sind, d. h. mit ebenso regulierten Beobachtungen anderer zusammenfallen. Im Messen und Zählen wird das Subjekt sein eigenes Objekt. Nur wenn man von seinen Vorannahmen zurücktritt, kann man als heutiger, schon längst entsprechend habitualisierter Beobachter noch erkennen, wie voraussetzungsvoll, d. h. gewöhnungs- und lernbedürftig es ist, was in dieser, aber grundsätzlich auch in jeder anderen Messung geschieht und gedacht
17 Daher
verzichtet er auch auf den Einsatz eines Fernrohrs oder anderer Instrumente, die seine Leser nicht besitzen.
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werden muss. Der Vergleich zweier Bewegungen, der Bewegung einer Uhr und der Bewegung des Mondes durch den Erdschatten, kann ja eigentlich nur zeigen, dass es keine Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Bewegungen gibt. Was hat das Drehen mehrerer Zahnräder mit der Bewegung des Mondes gemein, sodass man aus der einen, etwas über die andere erfahren kann? Das Geräusch mehrerer sich ineinander drehender Zahnräder wird auf eine geräuschlose, sichtbare Bewegung am Himmel, einen fernen Prozess im Weltall bezogen. Die „Schnapper“ werden genutzt, um einen komplexen Zusammenhang mehrerer Einzelbewegungen – die simultanen Drehungen der Zahnräder – auf eine sequentielle Form hin zu standardisieren, genauer, diese Bewegung in gleiche, sich wiederholende Einheiten zu zerlegen, die dann der Reihe nach gezählt werden können. Erst der im Zählen entstehende, geordnete Prozess, dient als Maßstab, vor dem die kontinuierliche Mondbewegung nun ebenfalls beobachtet, zerlegt und zahlenförmig umgeformt werden kann. Die Inanspruchnahme dieses zeichenhaften Dritten gewinnt eine neue Bedeutung, wenn man die ausgezählte Sequenz als dritte Bewegung denkt: die Zeit.18 Diese leere und damit zugleich alles enthaltende kontinuierlich ablaufende Zeit, wird als Zahlenreihe geordnet und sequentialisiert. Sie kann immer präziser, d. h. kleinschrittiger untergliedert werden, wenn der abstrakt-kontinuierliche Zeit- und der grundsätzlich unendlich weiter teilbare Zahlenraum in der praktischen Messung/Rechnung miteinander identifiziert werden. In der Messung überlässt sich die mit dem Augenschein beginnende Beobachtung zunehmend dem wahrnehmungsfernen Kalkül. Die Welt erscheint als Aufzeichnung auf Papier (Abb. 2). Die unendliche Teilbarkeit des Kontinuums der Zahlenreihe arbeitet der modernen Relativierung und technisch-semiotischen Engführung der Wahrnehmung für die Erkenntnis entgegen. Anfangs betrifft dies nur die Wahrnehmung äußerer Gegenstände und Tatsachen. Evident erscheint, was man auf Papier als Resultat einer Rechnung sehen kann. Unter den Bedingungen des forcierten pädagogischen Messens, der um sich greifenden Kontrolle und 18 Die
Vorstellung von Zeit als leerer Raum, in dem sich ganz verschiedene Ereignisketten parallel abspielen, ist im 17. Jahrhundert selbstverständlich keine Neuheit mehr. In der Laxdoela Saga, einem isländischen Werk aus dem 13. Jahrhundert, sagt Gudrun zu ihrem Mann Bolli, der gerade einen gewissen Kjartan erschlagen hat und ihr mitteilt, dass die Uhrzeit nahe an der Non sei: „Ungleich geraten frühe Tagewerke. Ich habe zwölf Ellen Garn gesponnen, du aber hast Kjartan erschlagen.“ Neu ist die Ineinssetzung von leerer Zeit- und objektfreier Zahlenreihe. In der Sagazeit fehlen für eine rechenfähige Unterteilung die Messinstrumente und natürlich fehlt der Bedarf (Anonymus 1997, S. 132); zur Entwicklung der Zeitmessung (van Rossum 1992); zu einigen pädagogischen Konsequenzen (Manhart und Wendt 2019, S. 236 ff.).
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Abb. 2 William Blake: Newton 1795/1805. Messend und rechnend, sitzt Newton auf dem Meeresgrund. Er wendet sich von der Natur ab, um sich ihrer Erkenntnis auf Papier zuzuwenden
Steuerung der Bewegungen und Arbeitsschritte des Personals in Organisationen (Schule, Sportverein, Unternehmen etc.) mittels langlaufender Messregime und den daraus errechneten individualisierten Verlaufsprotokollen, Tabellen und Diagrammen, betrifft dies zunehmend auch die Selbsterkenntnis, die Wahrnehmung und Beurteilung des Subjekts an und in sich selbst. Mit den in jedem Alltagsbereich vorhandenen digitalen Rückmeldesystemen der digitalisierten Gegenwart wird jede weitere individuelle Veränderung entlang externer Zeichenfolgen auf einem Bildschirm überwacht und instantan orientiert. Grundlage der dort vorfindlichen polysemiotischen Darstellungen sind zahllose opake Mess- und Rechenoperationen. Gerade weil man es nun nicht nur genau wissen will, sondern auch auf neue Weise semiotisch darstellen kann, entfernt sich die damit verbundene Einsicht von jeder an sich selbst erworbenen Vorstellung und Erfahrung, der man folgerichtig zunehmend misstraut. Denn rechnerisch lässt sich die Zahlenreihe problemlos bis in die unendliche Detaillierung hinein handhaben. „Man hat aber keine genaue Idee einer tausendseitigen Figur, derart, daß man sie von einer anderen unterscheiden könnte, die nur neunhundertneunundneunzig Seiten besitzt.“ (Leibniz 1986, S. 469) Nicht anders ist dies im modernen Sport, in dem nicht wahrnehmbare Sekundenbruchteile über Sieg und Niederlage entscheiden, bei den zahlenförmigen Rückmeldungen über
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eigene Körperzustände aus dem Labor, die das eigene Gefühl krank oder gesund zu sein, regelmäßig Lügen strafen oder mit den permanente Zeichenfolgen produzierenden körpernahen digitalen Selbstvermessungsgerätschaften, den vielfältigen digitalisierten Feedbackmessungen im Netz vom „Gefällt mir“-Button über die Anzeige der Anzahl der Nutzer, also die Zahl der Klicks, bis hin zum komplex-statistisch ausgewerteten 360°-Feedbackbogen. Man nimmt die Zahlzeichen, Tabellen Verlaufskurven wahr und korrigiert sein Selbst nach diesem Bilde, jederzeit und immer wieder. Dabei nimmt man Veränderungen in einer Präzision zur Kenntnis, die nicht folgenlos für die Akzeptanz der inhärenten Vagheit kognitiv-emotionaler Selbstwahrnehmungen und -zuschreibungen ist. Auch Gottfried Kirchs Teilungen der Zeit unterhalb von Tertien entsprechen schon keine Wahrnehmungs- d. h. Erfahrungsmomente mehr. Die innere Zeitwahrnehmung hat sich durch Zeitmessung seither grundlegend verändert (vgl. Dohrn-van Rossum 1992). Diese Ablösung des Sinns der Messresultate von der sinnlichen Wahrnehmung wird durch die in Kap. 3 beschriebene Überzeugungskraft externalisierter Messungen und die Tendenz zur Urteilssubstitution gestützt. Sie verstärkt die moderne Tendenz zur Korrektur und Ersetzung der (Selbst-) Wahrnehmung, durch digitale Techniken der Informationsverarbeitung. Doch schon durch analoges Messen und Rechnen verlagert sich die Quelle des Sinns aus der religiös geforderten Selbstbefragung, der sinnlichen Beobachtung des Inneren auf An-Zeichen von Sünde und Erwählung bis hin zur in sich selbstversenkenden und selbstgewissen Schau (Abb. 3) auf semiotische Maschinen, deren externe technisierte Zeichenproduktion instantan und andauernd über Erfolg oder Misserfolg von Kommunikationsofferten, Sozialplänen, von organisierten Praktiken und zahllosen alltäglichen Verrichtungen informiert (Abb. 4). Diese Entwicklungen als bloße Verlustgeschichte zu schreiben, dafür gar allein die Ökonomie, Profitinteressen oder die entmenschlichte Technik verantwortlich zu machen, unterschätzt die Bedeutung der sozialen Form der Organisation (Wendt und Manhart 2020), der organisierten Praktiken von Wissenschaft, Sport, sozialer Dienste, pädagogischer Einrichtungen wie auch der Kunst. Die mit dieser Umorientierung ebenfalls verbundene stärkere Ausrichtung an den individuellen Ansprüchen anderer und vor allem auch die zahllosen neuen Möglichkeiten zu ihrer Erfüllung werden dabei unterschlagen. Der in der informatischen Form generierte Sinn ist präzise aber genau darin auch einfältig und gegenüber der sinnlichen Fülle subjektiver Wahrnehmung unbefriedigend. Nicht zuletzt dies erzeugt erheblichen Kommunikationsbedarf, treibt Literatur und Kunstproduktion, die intensive Beschäftigung mit deren vager Sinnfülle voran, sie erzeugt aber auch den weiteren Bedarf nach mehr Messungen, mehr technisch erzeugtem Sinn. Dieser ermessene und errechnete Sinn ist gerade wegen seiner einfältigen Präzision subjektiv wie sozial überaus produktiv.
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Abb. 3 Gerrit van Honthorst (1592–1656): Adoration (1622). In der Frühen Neuzeit ist noch das Heilige Quelle allen Sinns: als Menschwerdung Gottes
Abb. 4 Joseph Wright of Derby (1734–1797): The Orrery (1766). Seit der Aufklärung wendet sich alle Aufmerksamkeit dem Leuchten eines technischen, heute digitalelektronischen Darstellungskosmos zu
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5 Die drei Messformen Das heute längst alltägliche metaphorische Messen (Manhart 2016) ist die entscheidende Praxis beim Aufstieg der Naturwissenschaften. Rechnen und zahlenbasiertes Vergleichen werden zusammengeführt. Das wurde schon früh als wichtige Innovation gesehen.19 Neben dem objektivierenden Messen der Mondbewegung haben wir es auch bei Kirch mit einem metaphorischen Messen, d. h. der Produktion einer nicht wahrnehmbaren Entität zu tun: der Zeit. Im modernen, metaphorischen Messen werden Zahlen als Resultate standardisierter Vergleiche produziert, deren Regelmäßigkeiten man auf dahinterliegende Kausalitäten (nicht Intentionalitäten!) zurückrechnet, was zur Produktion immer neuer semantischer Entitäten (Kraft, Energie, Intelligenz, Kompetenz etc.) führt, die sich der direkten Wahrnehmung allesamt entziehen. Wahrnehmbar sind lediglich Zustände und Prozesse, die als Wirkungen unsinnlicher Vorgänge aufgefasst werden. In den Resultaten von Messungen werden diese sichtbar, sie zeichnen sich darin auf: als Ziffernfolge einer konkreten Zahl (Manhart 2019a). Das objektivierende Messen ist hierfür eine praktisch notwendige Voraussetzung (vgl. Abb. 3). Objektivierendes Messen ist standardisiertes Vergleichen. Dessen Resultate werden metaphorisch ausgedeutet, wenn man sie als Aufzeichnung einer unsichtbaren Entität liest. Für deren Absicherung muss diese Aufzeichnung rechnerisch rekonstruiert werden. Beim objektivierenden Messen wird Sichtbares mit Sichtbarem so verglichen, dass eine Seite des Vergleichs als wiederholt einsetzbarer Standard der anderen Seite fungiert: ein Stab wird ein Lineal, ein unveränderlicher Maß-Stab den man mehrfach an Gegenstände zur Messung anlegen kann, ohne dass eine der beiden Vergleichsseiten sich verändert. Genau dies ist beim pädagogischen Messen anders. Pädagogische Messregime verändern das Gemessene, sie verändern das, was z. B. als innerpsychische Entität metaphorisch erschlossen, d. h. in der wiederholten Deutung von Messresultaten als objektiv vorhanden behauptet wird (Kompetenz, Leistung etc.). Im für das pädagogische Messen notwendigen metaphorischen Messen fehlt nicht nur die sichtbare Verbindung zwischen dem Resultat der Messung und der
19 „Es
ist für mich belanglos, ob er sagt, die Erde befinde sich in einer Umlaufbewegung oder stehe unbeweglich still: wir wollen nur die Sternbewegungen und die Zeitabschnitte linealgenau herausgearbeitet und in genauste Rechnung überführt haben.“ So Gemma Frisius, Professor für Medizin, Mathematiker und Astronom am 13. August 1541 in einem Brief, in dem er seine Erwartungen an Kopernikus Forschungen formuliert (zit. n. Hans Günter Zekl 1990, S. XIV Hervh. S.M.).
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gemessenen Entität, beide liegen auch nicht gleichzeitig vor. (Verborgene) Ursachen liegen in der Vergangenheit, man kann sie also schon deshalb nicht als Seiten des Vergleichs nebeneinanderhalten, weil sie nicht gleichzeitig existieren, sondern sie werden als Ursache von Regelmäßigkeiten aus den zahlenförmigen Resultaten erschlossen, d. h. errechnet. Die Zahlenwerte eines objektivierenden Messvorgangs werden auf die Zeichenfolge der Zahlen als Vergleichsstandard bezogen. Es tritt also ein semiotisches Drittes, die unendlich unterteilbare Zahlenreihe als Universalstandard hinzu. Dieser macht alle objekthaften Standardmaße (Gewicht, Lineal etc.) miteinander vergleichbar, und sichert zugleich die logische Konsistenz jener Elemente, die zur Errechnung der unsinnlichen Ur-Sache einer Messung dienen: der Zahlen. Metaphorisches Messen ist ein Messen und Zählen zweiter Ordnung und erst dies ist Messen in seiner modernen, semantisch überaus produktiven Form. Mit dem systematischen Einsatz der zahlenbasierten Messformen seit der Frühen Neuzeit, dem Aufkommen zahlenbasierter Registraturen und Verrechnungsweisen in den sich nun überall ausbreitenden modernen Organisationen, dem Einsickern dieser informatischen Praktiken in fast alle Bereiche der Lebensführung kommt es zu einem sich immer mehr beschleunigenden Wachstum eines zahlenbasierten Geflechts des sozialen Informationsaustauschs. Der an den konkreten Zahlen und Messpraktiken haftende Wahrnehmungskonsens ermöglicht zugleich die Kultivierung abweichender Interpretationsdiskurse. Es kommt zur Ablösung der Kommunikation von den Rücksichten auf diesen Konsens: der Weg in die Aufklärung, in die Meinungs- und Kunstfreiheit. Voraussetzung hierfür ist die Differenzierung einer zunehmend automatisierten, d. h. entscheidungs- und diskursfern ablaufenden informatischen Strukturfortschreibung der Gesellschaft gegenüber einer gerade deshalb immer hochgetriebeneren Semantik. Die neuartige informatische Semiose verändert die Formen und Inhalte der Selbstwahrnehmung und -beschreibung der Individuen wie der Gesellschaft. Subjektivität und Sozialität werden neu formatiert, indem das Verhältnis von Faktizität und Geltung mittels einer Flut ermessener und errechneter Daten neu justiert wird.
6 Facta, Ficta, Data, Fake „In Italien ist auch nichts mehr geschehen. Ich will wissen, wo all die Gelder […] stecken oder ob sie angekommen sind. Die Daten will ich sehen.“20 Dies schreibt Maria Theresia in einem Brief an Dietrichstein, den Präsidenten der
20 An
Dietrichstein, Mitte 1745 (Walter 1968, S. 45; Stollberg-Rillinger 2017, S. 119).
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Hofkammer, Mitte des Jahres 1745. Für sie scheinen Daten schon zu sein, was sie auch für uns sind: zahlenförmig. Doch in den Anfängen der Wortverwendung im 17. Jahrhundert sind data gerade keine Zahlen, sondern sprachliche Sätze, die Untersuchungen als Ausgangspunkt dienen.21 So werden die Dogmen religiöser Argumentationen als data bezeichnet – idealiter sind sie von Gott gegeben –, die Ausgangspunkt und Material für weiteres Nachdenken sind.22 Im 17. Jahrhundert taucht das Wort denn auch parallel in sprachlichen und mathematischen Schriften, also in beiden Sinnformen auf. Heute sind Daten praktisch ausschließlich Zahlen, die wiederum Material für weitere Relationierungen und Verrechnungen sind. Als Produkte einer Messung sind Zahlen Fakten. Sie sind eindeutig gemacht (von facere). Gleichzeitig können sie Daten werden. Daten werden als gegeben (von dare), als Wirklichkeit im Wortsinn aufgefasst. Ihr Gemachtsein tritt dahinter zurück. Schon beim Aufkommen des Begriffs im 17. Jahrhundert werden data als lose koppelnde Menge von Elementen verstanden, als Material, mit dem man weiterarbeitet. Das Verständnis von Big Data als unstrukturierter ‚großer Menge‘, die durch selektive Verknüpfung erst nutzbar gemacht wird, ist dessen moderne Fassung. Wieso aber werden gerade die strikt koppelnden Zahlen als lose koppelnde Daten aufgefasst? Wie und warum wurden diese sich scheinbar widersprechenden Auffassungen als Information zusammengebracht? Und wozu dienen data, wenn es das Dual von facta und ficta gibt? Nun sind Bezeichnungen erst einmal immer facta, d. h. gemacht und können daher auch ficta sein, also leer referieren. Im Hinblick auf die Möglichkeit der Fiktionalisierung ist es erneut instruktiv, zwischen kommunikativer und informatischer Sinnform zu unterscheiden. Fiktionalität ist leere Referentialität. Referieren ist kein physischer Kontakt mit einer Außenwelt, sondern die Möglichkeit, etwas als außerhalb der fungierenden Zeichenfolge – das ist Sinn – oder als außerhalb der fungierenden Sinnform zu bezeichnen, was Bedeutung generiert. Die leere Referenz ist eine Spezialform, in der eine Konkretisierung des außerhalb der Sinnform Bezeichneten als Faktum, z. B. durch Vorzeigen oder Messen, unterbleibt. Möglichkeit und Wirklichkeit werden im Fall der leeren Referenz also systematisch auseinandergezogen, ohne sie ganz voneinander zu trennen. Diese Differenz erzeugt sich leicht in der Sprache. Mit der für Sprache
21 Zur
Entstehung des modernen Verständnisses von „data“ in der englischsprachigen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (Rosenberg 2014). 22 Zum derzeit frühesten Wortgebrauch von „data“ als „einem Haufen“ in einem theologischen Werk von 1646 (Rosenberg 2014, S. 136 f.); zur Verwendung in mathematischen und theologischen Schriften S. 137 f.
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spezifischen Unterscheidung von ja und nein, liegt sie permanent im Horizont jeder sprachlichen Verständigung (Luhmann 1997, S. 205 ff., bes. 221 ff.). Das bedeutet gleichwohl nicht, dass nur sprachlich zwischen wirklich und möglich unterschieden wird, vielmehr läuft diese Differenz in jeder Kommunikation mit. Zahlen hingegen erlauben keine Fiktionalisierung und zwar genau deshalb, weil Wirklichkeit und Möglichkeit in Rechnungen keinen Unterschied machen, also schlicht und einfach dasselbe sind. Es gibt daher keine mathematischen Fiktionen. Zahlenförmiger Sinn kennt keine externe und daher auch keine leere Referenz. Konkrete Rechnungen und Funktionen sind in ihrer Verknüpfungslogik, ihrem Sinn, nicht abhängig von irgendeiner externen Verweisung. Sinn und Bedeutung interferieren mathematisch nicht, d. h. Bedeutung macht mathematisch keinen Unterschied. Der Sinn des Unterschieds ist informatisch nicht leer oder unbestimmt, er ist keiner. Dass es keinen Unterschied zwischen wirklich und möglich in der informatischen Sinnform gibt, verstärkt die schon im Umgang mit Messungen geschilderte Tendenz, deren Zeichen nicht als Mögliches, sondern als Wirkliches wahrzunehmen. Zahlen erscheinen als gegeben, was die Synthese von Daten und Zahlen befördert. In der Moderne bestehen nun sowohl die digitalen Fiktionen (Bilder, Filme, Games) als auch die Welten der Wissenschaft aus zahlenförmigen Daten. Das geht, weil Daten gegenüber der Unterscheidung von wahr und unwahr neutral sind. Auch unwahre oder falsche Daten bleiben Daten, mit denen sich weiterarbeiten lässt, z. B. um fiktionale Welten oder Fake News zu kreieren. Als Daten sind Zahlen lediglich Material. Dem kommt entgegen, dass die informatische Sinnform, wegen ihrer fehlenden externen Referentialität, keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Richtigkeit kennt. Fakten hingegen reagieren sensibel auf genau diesen Unterschied. Etwas ist kein Faktum mehr, wenn herauskommt, dass die externe Referenz des gemeinten Sinns, seine Bedeutung, nicht stimmt oder leer ist. Falsche Fakten sind eben keine, leere sind Fiktionen. Fakten sind sprachlich daher immer Sätze mit der Bedeutung, wahr zu sein. Wahrsein ist eine Bedeutung, die Zahlen nur als Fakten zukommt. Dafür müssen sie, z. B. über die Verknüpfung mit Einheiten, Teil der kommunikativen Sinnform werden. Mathematisch sind Richtigkeit und Wahrheit identisch, sprachlich nicht. Es gibt zahllose sprachlich richtige Fälle, die sachlich falsch sind. Informatisch macht das keinen Sinn. Ist es regelerfüllend richtig, dann ist es mathematisch auch wahr.23
23 Das
mathematische Wahrheitskriterium sei allein „Notwendigkeit“ (Wengenroth 2006, S. 256); hier als regelerfüllende Richtigkeit bezeichnet.
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Durch die Fusion mit Zahlen werden Daten zu einem referenzfreien und damit wahrheitsbezogen neutralen Sinnmaterial. Insofern sind Daten die Elementarform der modernen Welt. Daten sind das moderne Substitut der Natur. Sie nehmen jene Stelle ein, die in der antiken und mittelalterlichen Philosophie als Substanz bzw. materia bezeichnet wurde. Die reine Substanz nimmt, wie die modernen Daten, die Relationen all jener Formen auf, aus denen die Welt besteht. Insoweit Daten Zahlen sind, ist die daraus relationierte Welt von den Verknüpfungsmöglichkeiten der Zahlen abhängig. Als gegebene Elemente sind Daten wirklich. Daten sind natürlich gemachte Zeichen. Im Unterschied zu Fakten gilt aber: ob richtig oder falsch, Daten bleiben Daten. Sie sind, was sie sind. Natur kann ebenfalls nicht falsch sein. Auch sie ist, was und wie sie ist. Natur kann nicht unwahr sein, man kann sie nur falsch darstellen. Verfehlung der Perfektibilität oder Korruption sind die moralisch konnotierten Problemformulierungen der Tradition. Das setzt aber einen anderen Blick auf diese Natur voraus, nämlich diese als Schöpfung und damit als gemachtes Faktum in den Blick zu nehmen. Ansonsten ist Natur ein Datum. Genau dieses unterscheidungsneutrale Sosein meint man heute, wenn man auf Natur verweist, indem man auf Ziffern als Daten zeigt. Die Verwandlung von Daten in Fakten und wieder in Daten ist der zentrale Vorgang in der Produktion wissenschaftlicher Wahrheit. Die Natur der Naturwissenschaften ist eine Datenwolke, aus der die Wahrheit errechnet wird. Wenn Daten wahr werden, sind es Fakten, d. h. sie werden dann als gemachte Relationen verstanden und können erst deshalb wahr oder unwahr sein. Die modernen Natur-, präziser Informationswissenschaften sind daher idealiter reine Datenwissenschaften. Ihre Erkenntnisse kommen ganz überwiegend in Zahlen zur Darstellung. Zahlen werden durch Messungen produziert und umgekehrt erwartet man, dass Daten Resultate von Messungen sind. Die Trennung von wissenschaftlich-informatischer und magisch-kommunikationszentrierter Weltsicht stützt sich auf das standardisierte Vergleichen. Die Praxis des Messens löst Analogiebildungen bei der Rechtfertigung von Weltbeschreibungen ab. Ohne die Etablierung einer informatischen Darstellung von Welt als kausales Netzwerk, in der zahlenförmige Daten verrechnet werden, wäre die Abschottung der Wissenschaft von der, überall Kommunikation und Intentionalität vermutenden, magischen Weltsicht unmöglich gewesen. Zahlen als Daten sind Resultate von Wirkungen, weshalb Zahl-Zeichen wie Nichtzeichen behandelt werden. Als Datum hinterfragt man die absichtliche Produktion von Zahlen in Messvorgängen zumeist nicht. Das gilt auch für die unbeweisbare Behauptung, die Verknüpfungsmöglichkeiten der zahlenförmigen Daten entsprächen den Relationen der damit indizierten ‚wirklichen Gegenstände‘. Hierzu passt die implizite Korrespondenzbehauptung jeder statistischen Datenauswertung, wenn deren Resultate als
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Fakten kommuniziert werden. Mit Blick auf die Richtigkeit der Rechnung kann neben klassischer Korrespondenz auch die Erfüllung ambitionierter Kohärenzansprüche behauptet werden – eine zeitweise sozial durchschlagende Mischung von informatischen Richtigkeits- und kommunikativen Wahrheitskriterien.
7 Die Einheit der Digitalisierung in der Differenz des Sinns In einem jahrhundertelangen Prozess kultiviert die Gesellschaft durch Differenzierung von Semiosen in sich eine Form der Sinnproduktion, die nicht lose und formenreich koppelnde Kommunikation, sondern eine strikte Koppelungsform sich transformierender Information ist. Als Moderne steigern sich kommunikative Vagheit sowie der damit verbundene Sinnüberschuss und die sinnarme Eindeutigkeit der Informationsverarbeitung wechselseitig. Gerade weil die traditionale Gesellschaft so zentral auf Kommunikation und damit auf Zeichen- als Mitteilungssinn ausgerichtet ist, kann diese Sinndifferenzierung kaum überschätzt werden. Solange man Zeichen als Ausdruck von Intentionen versteht und auf Mitteilungen hin absucht, solange ist weder der Zufall als Ordnungsgenerator noch ein unpersönliches Verständnis dieser Ordnung im Sinne der Naturwissenschaften möglich. Die Differenzierung des zeichenbasierten Sinns hat ihren Preis. Denn die Selbstbeschreibung der Gesellschaft als menschlich-kommunikativ und ihrer Umwelt als informativ, bedeutet nicht nur, dass die Götter und Geister aus der Natur verschwinden. Sie wandern auch, in Form wachsender Sinnansprüche in die Gesellschaft und deren Subjekte ein. Dort lasten sie nun auf all ihren Vollzügen. Die Einhegung des Verweisungsüberschusses kommunikativen Sinns führt zu einer Auszehrung der Sinnhaftigkeit der Weltwahrnehmung wie zum Verlust der Welthaltigkeit des informatischen Sinns – eine doppelte Sinnentleerung, die all jene Sinnerwartungen auf die Gesellschaft zurückwirft, die am strikten (Schwach-)Sinn der informatischen Form abprallen. Der mit Zahlen generierte Sinn ist hinsichtlich seiner Verweisung strikt nur auf andere Zahlen gerichtet, unsinnlich eindeutig und daher emotional schwach. Zwar kann die informatische Sinnform die Wahrnehmung effektiv an die konkrete Abfolge der Zeichen binden, dabei wendet sich die Wahrnehmung aber von all jenen Relationen ab, für die Zeichen stehen. Die konstruktive Praxis der strukturellen Parallelisierung von Zahlzusammenhängen mit der Welt außerhalb, nutzt Ordnung – also bestimmte Reduktion – nicht aber Ähnlichkeit zur rein formalen, sinnlich sterilen Analogiebildung. Sich die Welt als strikt geordnete Aufschichtung, Überlagerung
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und Relationierung von Zahlenreihen vorzustellen, hat jedenfalls für die meisten Menschen nicht viel Erhabenes an sich und bietet keinen Platz für einen subjektbezogenen Mitteilungssinn. Gern überlässt man daher die Transformierung dieser Zeichenfigurationen semiotischen Maschinen. Das endemische Sinnproblem der Moderne wurzelt in der Kultivierung der informatischen Sinnform, die als digitales Netzwerk immer rasanter wächst. Das Sinnproblem ist ein Kommunikationsproblem. Niemand redet in Zahlen, niemand antwortet mehr. Die Gesellschaft beschäftigt sich mit selbsterzeugten Daten, sie beschäftigt sich mit sich selbst. Das war schon immer so, aber jetzt weiß sie davon. Die Reaktionen hierauf nutzen die volle Spannbreite des semiotisch Möglichen. Daten binden als Zahlen die Aufmerksamkeit, erzeugen eine kommunikationsinhibierende Wahrnehmung, die sozialen Konsens und psychische Abweichung gleichzeitig ermöglicht. Da Daten sowohl Facta, Ficta als auch Fake sein können, sind Sinndiät und Sinnüberschuss, strikte Verkettung und vage Bedeutungsproduktion, Allgemein- und Besonderheit, Sozialität und Individualität in der modernen Gesellschaft gleichzeitig steigerbar. Die lose Kopplung der Psychen an den Datenwahrnehmungskonsens erlaubt es den Individuen, sich der sinnsatten Bedeutungsproduktion durch Kommunikation hinzugeben. Auch in Zeiten der zahlenbasierten Digitalisierung steigert sich daher die Menge und Artifizialität sinnträchtiger kommunikativer Formen. Sprachliche wie bildhafte Darstellungen werden verstärkt kultiviert, gerade weil ihre Relevanz für die Strukturentwicklung der Gesellschaft nun systematisch beschränkt ist. Zugleich liefert das pädagogische Messen die dazu passende datengetriebene Praxis einer informatischen Selbstvergewisserung als Synthese aus technischer Fremd- und partizipativer Selbsterzeugung, für die die Quantified-Self-Bewegung24 nur ein Beispiel ist. Anders als im metaphorischen oder objektivierenden Messen ändert sich im pädagogischen Messen das Objekt der Messung, weil es ein Subjekt ist, dass die Messung erwartet und die neuen mit den alten Resultaten vergleicht (vgl. Abb. 5). Zahlenförmige Messresultate werden als Ergebnisse der Aufzeichnung (vgl. Manhart 2019b) verborgener, innerpsychischer Verhältnisse (Eigenschaften, Kompetenzen, Potentiale) begriffen. Die innere Landschaft des modernen Subjekts ist tat-sächlich, d. h. sie wird durch die Praxis des metaphorischen Messens erzeugt und durch Aus- und Abrichtung an und mit den Resultaten weiterer Messungen verändert. Die polysemiotische, Zahlen und
24 Vgl.
Schäffer, Burkhard (2015): Die Quantifizierung des Humanen. In: Pietraß, Manuela (Hrsg.): Krise und Chance. Humanwissenschaftliche Perspektiven. Schriftenreihe der Universität der Bundeswehr München Band 09, Neubiberg, S. 42–47.
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Abb. 5 Die drei Messformen und ihre Funktionen. (Quelle: Eigene Darstellung)
Sprache zu einem Bild verschränkende Darstellung als Meritentafel (Abb. 6), als Zeugnis auf Papier oder als Diagramm auf einem Handy externalisiert und ordnet eine (Psycho-)Struktur und gibt sie auf diese Weise für immer neue Vergleiche zur Veränderung frei. Der Vergleich zahlenförmiger Ergebnisse wird zur pädagogischen Fremd- und Selbststeuerung genutzt, indem z. B. das innere Vermögen einer (Lern-)Leistung metaphorisch, d. h. an externen Quellen des Selbst ermessen wird. Deren zahlenförmige Resultate werden mit sich selbst in der Vergangenheit und mit anderen im virtuellen Datenraum verglichen und die ermessenen Differenzen als Potenziale eines zukünftig noch Möglichen, als Handlungs- und Veränderungsbedarf operationalisiert, was den subjektiv gefühlten Druck zu weiteren Veränderungen zugleich erzeugt und kanalisiert. Hierauf wird das moderne Subjekt systematisch vorbereitet. Nicht zuletzt in der Schule wird jahrelang geübt, die Festlegung objektivierter (nicht unbedingt objektiver) Messresultate (Sternchen, Punkte, Noten) als Aufforderung zum Lernen, also zur Selbstveränderung zu interpretieren und die eigens organisierte, andauernde Rückmeldung neuer Bewertungen im Zeitverlauf zur Selbsteinschätzung und Steuerung der inneren Abläufe zu kultivieren. Wem die Realisierung quantifizierbarer Zielnormen, ausweislich individuell zugerechneter externer Messresultate gelingt, ist ein guter Schüler. Curriculare Inhalte sind hierfür bloß exemplarisch, d. h. gegenüber dem Ziel der subjektiven Offenheit und
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Abb. 6 Meritentafel aus dem Philantropin in Dessau 1777. Dazu gedacht, die Moral der Schüler durch die Dokumentation guter und schlechter Taten zu fördern, nährte ihr Erfolg schnell den Verdacht, die Taten würden mehr um der Verbesserung der Zahlen willen als der Sache wegen getan. (Quelle: Museum für Stadtgeschichte Dessau)
strukturbildenden Plastizität für die datenbasierte Feedbackorientierung erkennbar sekundär. Dem an der Veränderung des Objekts gelegenen pädagogischen Messen entspricht, dass fix koppelnde Zahlen als lose koppelnde Daten gelesen werden. Rückmeldedaten stehen zur Veränderung in der nächsten Messung bereit, wobei bestimmte Quantitätsänderungen als Verbesserungen innerpsychischer Qualitäten interpretiert werden. Dass diese Veränderungsmöglichkeiten auf nur kleinen Unterschieden beruhen, deckt sich mit einer Individualitätsvorstellung, die noch kleinste Abweichungen, noch jede zufällige Mikrodiversität digital
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registriert und somit als identitätsrelevantes Lernen bzw. Veränderungspotenzial ausdeutbar macht (Manhart et al. 2020). Organisierte Fremdsteuerung mittels pädagogischer Messregime und das subjektive Bedürfnis nach externen Quellen der Selbstvergewisserung gehen dabei Hand in Hand. Partizipative Datenproduktion wird als Selbstwirksamkeit erlebt. Der Abgleich vergangener und die Erwartung zukünftiger Resultate erzeugt Individualität als stromlinienförmige Trajektorie in der Datenwolke. Der blinde Fleck einer solchen Subjektivierung und kommunikationszentrierten Selbstbeschreibungen der Gesellschaft liegt in ihrem Stoff, also dem, was als rückstandslos gegeben erscheint: Daten. Diese Daten werden jetzt vor allem digital erzeugt und gewinnen so eine informations-, d. h. sinnrelevante materielle Form. Virtuell ist materiell, d. h. der Unterschied hebt sich auf – darin liegt die spezifische Pointe der Digitalisierung. Digitalisierung beruht auf einem sich selbstorganisierenden materiellen Netzwerk, dass genau deshalb eine kausale Gleichzeitigkeit informationeller Vollzüge globalisiert. In der Synthese der strikten Zeichenlogik von Zahlen – der Verkettung von Nullen und Einsen – mit der materialinhärenten Kausalität von Elektronen liegt die besondere Qualität der Digitalisierung. Der materielle Stoff, die elektronische Verbindung ist nicht mehr bloß, wie im Fall des Papiers, Träger der Information, er ist die Information. Das elektronisch-digitale Netzwerk hat eine informationell relevante materielle Struktur und Dynamik: Was digital informiert, d. h. als Abfolge von Elektronen geordnet wird, ist kausal miteinander vernetzt, es ändert sich instantan und automatisch, sobald eine Eingabe vorgenommen wird. Dabei können Zeichenfolgen nur zu den Limitationen sich ebenfalls elektronisch materialisierender semiotischer Programme verändert werden, während Dateneingaben an anderen Orten instantan Einfluss auf eine Vielzahl weiterer Daten haben. Das semiotische Netzwerk ist ein materielles Netzwerk und dessen Ausweitung, das ist Digitalisierung. In seinen avanciertesten Formen – wie im Falle selbstlernender Algorithmen – organisiert, und das heißt programmiert sich dieses Hardsoftwarenetz selbst (Wendt und Manhart 2020). Die instantane Reaktion des digitalen Netzwerks, die sofortige Reaktion auf jedwede Eingabe formt eine auf instantane Befriedigung ausgerichtete subjektive Bedürfnisstruktur. Das ist auch politisch folgenreich, wenn analog organisierte Prozesse der Meinungsbildung und Umsetzung von Maßnahmen nun als empörend langsam erscheinen (vgl. Manhart und Wendt 2020). Auch der mühselig als Moderne etablierte gesellschaftliche Konsens darüber, den Unterschied zwischen System und Umwelt, zwischen Selbst- und Fremdreferenz mittels der Differenzierung von Kommunikation und Information als Gegensatz von Natur und Gesellschaft zu formulieren, wird durch das Verständnis von Zahlen als
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Daten unterminiert.25 Denn auch Technik, z. B. eine Brücke oder Maschine, ist zahlenförmig beschreibbare Umwelt, also selbsterzeugte Fremdreferenz, aber ersichtlich nicht gesellschaftsferne Natur. Digital wird Natur in der Gesellschaft nur zahlenförmig etabliert, d. h. errechnet. Darauf reagieren soziale Bewegungen und auch viele pädagogische Programme mit einer Remythologisierung bzw. normativen Aufladung von Mensch und Natur. Natur wird moralisch überformt, um überhaupt noch einen wirksamen Unterschied markieren zu können. Das aber ist die Schwundstufe einer ursprünglich evidenten Unterscheidung und politisch überaus riskant, weil sachliche Differenzen in Wertekonflikte überführend. Die ‚Natur‘ aber ist gefährdet, weil die semiotisch-zahlenbasierte Technik der digitalen Herstellung virtueller Welten den Unterschied von Gesellschaft und Natur auf der Ebene des Sinns marginalisiert. Denn dieser Unterschied macht keinen Unterschied, hat also keinen Informationswert mehr. Die technisch-digitale Semiose ist so materiell-natürlich wie sie virtuell ist. Es kann daher nicht darum gehen, zurück in die freie, gar unberührte Natur zu kommen, also pädagogische Programme umzusetzen, die vor allem die Zeit verknappen, in denen sich Heranwachsende in ‚bloß‘ virtuellen, digitalen Welten aufhalten. Das wird nicht funktionieren, ohne auch auf den analogen ‚Rest‘ der Gesellschaft zu verzichten, zu dem nicht zuletzt auch das individualisierte Subjekt gehört. Wie auch immer man die Gefährdungslage der Gesellschaft durch Naturprozesse einschätzen mag, es ist ihre Natur, ihre Umwelt, ihr Produkt, um das es geht. Die verbreitete Verunsicherung hängt vor allem damit zusammen, dass die datengetriebene digitale Gesellschaft beständig mit der Kontingenz der eigenen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz konfrontiert wird. Denn an diesem Unterschied hängt auch das traditionelle Konzept der Wahrheit. Nicht nur was wahr ist, ist in der digitalen Gegenwart, in den Debatten über Fake News und den Status wissenschaftlicher Erkenntnisse umstritten, sondern ob der für eine Korrespondenztheorie der Wahrheit in Anspruch genommene Unterschied überhaupt noch interessiert, d. h. subjektiv wie sozial einen Unterschied macht. Es ist der Unterschied, der die kommunikative Bedeutung ‚wahr‘ austrägt. Die Frage ist daher nicht, ob man einen Konsens über das, was wahr ist, herstellen kann – das war nie möglich und daher auch nie das entscheidende Problem. Vielmehr geht es darum, ob noch ein Konsens über die Relevanz dieser Frage besteht. Die Antwort hierauf mittels Messen und Rechnen geben zu wollen, wird
25 Dies
hält ein Teil der heutigen Umweltbewegung für die Ursache der Probleme der Gesellschaft mit der, also ihrer Natur.
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nicht die Wahrheit produzieren, sondern im besten Fall „richtige“ Zeichen. Die Wahrheit verliert ihre Bedeutung, wenn es nicht auf facta oder ficta, sondern auf data ankommt, also darauf, was geht. Vom erdenschweren Ballast befreit, ist die Sänfte der Philologia dem Himmel nun so nah, dass der Sinnhorizont des kommunikativ Möglichen im Unendlichen entschwindet, während Gesellschaft und Subjekt diese Offenheit kaum mehr anders mit den Einschränkungen des informationellen Sinns in Einklang bringen können, als durch permanentes Oszillieren. Genau dort, im Zwischenraum, schweben wir jetzt.
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Vom Prinzip der Universalität zur Unberechenbarkeit des Sozialen Dan Verständig
Zusammenfassung
Der Beitrag greift das Phänomen der Digitalität aus einer bildungstheoretischen Perspektive auf, indem das Prinzip der Universalität mit der neuen Unübersichtlichkeit ins Verhältnis zu Unbestimmtheit und der Unberechenbarkeit des Sozialen gesetzt werden. Damit wird auf die Figuration der Unbestimmtheit als Konsequenz der Komplexitätssteigerung angespielt. Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst wird Digitalität konzeptionell in den Blick genommen und in Abgrenzung zu Digitalisierung diskutiert, um das Prinzip der Universalität im Zusammenhang mit dem Denken über rechenbasierte Architekturen hervorzuheben. Im Anschluss daran wird die Herstellung von Orientierung unter den Bedingungen der Digitalität analytisch gefasst und entlang der neuen Unübersichtlichkeit und Unbestimmtheit diskutiert. Es werden bisherige Linien, die sich im Schnittfeld von Medien- und Bildungstheorie verorten lassen einerseits rekonstruktiv auf den Gegenstandsbereich der Digitalität bezogen. Andererseits wird aufbauend auf den zusammengeführten Linien die besondere Qualität von digitalen Technologien herausgestellt, um sie für weitergehende bildungstheoretische Diskussionen anschlussfähig zu machen. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung von Krisen, die sich aus der neuen Unübersichtlichkeit heraus ergeben.
D. Verständig (*) Universität Bielefeld, Bielefeld, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 S. Aßmann und N. Ricken (Hrsg.), Bildung und Digitalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30766-0_14
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Schlüsselwörter
Bildung · Digitalität · Digitale Technologien · Unbestimmtheit · Unübersichtlichkeit
1 Einleitung Stellt man einschlägigen Suchmaschinen die Anfrage „Was kann ich wissen?“, dann wird diese Anfrage in weniger als einer Sekunde mit mehr als 340 Mio. Einträgen und Suchergebnissen beantwortet. Das Internet und die Digitalisierung haben den Zugang zu Informationen gewissermaßen revolutioniert. Es scheint, als könnte man unmittelbar aus einem unendlich großen Pool an Informationen schöpfen. Zwar erkennen wir die Welt über die gegebenen, repräsentierten Informationen, jedoch können wir über die Zusammenhänge, deren Entstehungskontexte und die Art und Weise, wie diese Informationen aufbereitet und weitergegeben werden, nur bedingt belastbare Aussagen treffen. Sie entziehen sich gewissermaßen unserer Kontrolle, wenngleich sie erst durch unsere Datenproduktion ermöglicht werden. Diese Paradoxie beschreibt das Verhältnis von Wissen und Unbestimmtheit. Es wird ein Gefühl der vermittelten Unmittelbarkeit über die digitalen Technologien hergestellt, was die Suche nach Informationen im Internet und den Umgang mit digitalen Medien zu einem scheinbar natürlichen – weil anthropozentrischen – Erfahrungsraum werden lässt. Doch diese vermittelte Unmittelbarkeit ist geprägt von der Filterung, Selektion und Repräsentation der Informationen, der logischen Form der Software und den rechenbasierten Architekturen, die über ihre jeweilige Hard- und Software eine spezifische Medialität hervorbringen und damit nicht nur ein spezifisches Weltbild entstehen lassen, sondern auch die eigene Verortung in der Welt betreffen. Es ist daher kein Zufall, dass der Beitrag mit dem eher erkenntnistheoretischen Bezug zu Kant eröffnet, denn das Internet weist zunächst einige Qualitäten auf, die als das Ding an sich begriffen werden können. Es geht dann weniger um die Filterung von Informationen, als vielmehr um die konstitutive Kraft der digitalen Technologien, die Wirklichkeit herstellen. Gleichzeitig ergeben sich einige Herausforderungen, die bereits in der begrifflichen Bestimmung und Reflexion über die Phänomene und Prozesse der Digitalisierung zu beobachten sind, denn die Diskurse um Digitalisierung sind geprägt von Transformations- und Umbruchsrhetoriken, bei denen die Formulierung von politisch-gesellschaftlichen Handlungsaufforderungen an Wissenschaft und Praxis stets ein fester Bestandteil ist (vgl. Zulaica und Zehbe 2022). Es ändert sich jedoch nicht nur die Art und Weise, wie
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mit Informationen und Wissen umgegangen wird, sondern ganz grundlegend das Denken über die Zusammenhänge der Welt. Mit der Digitalisierung werden seit einigen Jahren tiefgreifende Transformationsdynamiken deutlich, die sich nicht nur über einzelne Felder erstrecken, sondern im gesamtgesellschaftlichen Kontext stehen. Für die Arbeitswelt ergeben sich durch die unterschiedlichen Einwirkungen der Digitalisierung neue Anforderungen an das, was gelernt werden muss und welcher Logik das Lernen folgt. Dabei wird ganz nebenbei die Bedeutung von Wissen in einer Gesellschaft ausgehandelt, die von digital-vernetzten Technologien durchzogen ist. Für lebensweltliche Bezüge lassen sich hier Herausforderungen in der Herstellung von Orientierung (vgl. Mittelstraß 2002) beschreiben, denn Menschen bauen diese im Zusammenspiel mit den Medien sowie Technologien und über verschiedene Techniken auf. Diese Prozesse der Orientierungsherstellung sind hochgradig komplex und vielschichtig. Medien beherbergen dementsprechend ein orientierendes Potenzial, welches sich auch auf die digitalen Technologien, die mehr und mehr mediale Zusammenhänge erst ermöglichen, zurückzuführen ist. Diesen Möglichkeitsraum, der aus den Veränderungsdynamiken hervorgeht, gilt es analytisch zu erfassen, denn die Technologien sind eben nicht neutral, sie ermöglichen keinen uneingeschränkten Zugriff auf Informationen, vielmehr sind sie grundlegend ideologieanfällig, wie Eubanks (2018), Zuboff (2019) oder Daub (2020) eloquent herausgearbeitet haben. Was heißt das für die erziehungswissenschaftliche Forschung? Sich im Wissen zu orientieren bedeutet unter diesen Bedingungen, dass traditionale Routinen im Umgang mit Informationen und Strategien in der Informationsbeschaffung nur noch bedingt geeignet sind, daneben jedoch neue Möglichkeiten zum Erwerb von Wissen erst aus diesem Zusammenspiel hervorgehen. Der Beitrag greift das Phänomen der Digitalität aus einer bildungstheoretischen Perspektive auf, indem das Prinzip der Universalität mit der neuen Unübersichtlichkeit ins Verhältnis zu Unbestimmtheit und der Unberechenbarkeit des Sozialen gesetzt werden. Damit wird auf die Figuration der Unbestimmtheit als Konsequenz der Komplexitätssteigerung angespielt. Dies geschieht in zwei Schritten. Zunächst wird Digitalität konzeptionell in den Blick genommen und in Abgrenzung zu Digitalisierung diskutiert, um das Prinzip der Universalität im Zusammenhang mit dem Denken über rechenbasierte Architekturen hervorzuheben. Sowohl das Prinzip der Universalität als auch die Berechenbarkeit sind nicht nur integrale Merkmale der Digitalisierung, sie sind zugleich Zugang zu einem historisch-kulturell begründeten Verständnis von Digitalität. Im Anschluss daran wird die Herstellung von Orientierung unter den Bedingungen der Digitalität analytisch gefasst und entlang der neuen Unübersichtlichkeit und
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Unbestimmtheit diskutiert. Dabei werden bisherige Linien, die sich im Schnittfeld von Medien- und Bildungstheorie verorten lassen einerseits rekonstruktiv auf den Gegenstandsbereich der Digitalität bezogen. Andererseits wird aufbauend auf den zusammengeführten Linien die besondere Qualität von digitalen Technologien herausgestellt, um sie für bildungstheoretische Diskussionen anschlussfähig zu machen. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung von Krisen, die sich aus der neuen Unübersichtlichkeit heraus ergeben.
2 Digitalität zwischen Universalität und Unübersichtlichkeit Nach Stalder (2021) könne man von Digitalität ungefähr seit dem Jahr 2000 sprechen (vgl. ebd., S. 4). Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass Digitalisierungsprozesse so weit vorangeschritten sind, dass sie der dominante Kulturraum sind. Stalder (2016) arbeitet unter Berücksichtigung historischer Entwicklungslinien dezidiert heraus, wie sich eine „Kultur der Digitalität“ herausgebildet hat. Dabei hebt Stalder drei zentrale Begriffe heraus, über die sich die Kultur der Digitalität beschreiben lässt. Die drei Begriffe – Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität – geben Grundmuster an, wie unter digitalen Bedingungen Bedeutung generiert wird, wie also Kultur entsteht. Kultur wird dabei als geteilte Bedeutung definiert, wodurch „Brüche, Differenzen, Diversität, Multiplizität und Aushandlungsprozesse, aus denen so etwas wie geteilte Bedeutung – also Kultur […] hervorgeht, anstatt ihnen voranzugehen und durch sie bedroht zu werden“ (ebd., S. 54). Kultur als holistische Ausprägung im Horizont der Digitalität meint dann auch, dass Fragen verhandelt werden, wie jene danach, was richtig und was falsch ist und was Menschen wollen und was nicht. „In Summe bietet Kultur Antworten auf die Frage an: Wie wollen und wie sollen wir leben?“ (Stalder 2021, S. 5). Diese Kultur konstituiert sich mit der Herausbildung neuer Formen der Referentialität. Damit ist gemeint, dass sich Menschen immer mehr an kulturellen Prozessen beteiligen und dazu aufgefordert sind, dies zu tun. Dadurch werden bestehende Ordnungsstrukturen zur Disposition gestellt, wie sich insbesondere an Diskursen um Fake News aber auch der Herausbildung einer öffentlichen Meinung allgemein verfolgen lässt. Für eine erziehungswissenschaftliche Medienforschung sind diese Aushandlungen in den medialen sozialen Arenen ein wichtiger Schauplatz, denn die Beantwortung der Frage, wie diese Übereinkünfte durch Aushandlungen entstehen, weist nicht nur auf spezifische Formen der Gemeinschaftlichkeit und Abgrenzung gegenüber anderen hin, sondern bietet
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darüber hinaus einen Analyserahmen, um individuelle Positionierungen durch medialen Artikulationen aus verschiedenen Perspektiven, mit unterschiedlichen Daten zu rekonstruieren. Neben dem Gesagten und den Erzählungen der Einzelnen, können ebenfalls die medialen Artikulationen und ihre medialen Artefakte in den Blick genommen werden, um tiefer gehende Betrachtungen von Aushandlungsprozessen zu ermöglichen. Gleichzeitig sind den digitalen Technologien, die diese medialen Artikulationen erst ermöglichen schon bestimmte Werte und damit auch kommunikative Möglichkeiten eingeschrieben. Ein auf Instagram gepostetes Selfie folgt damit womöglich anderen Regeln als die Produktion einer audiovisuellen Aufbereitung des Urlaubs auf YouTube oder dem Streaming eines Spielerlebnisses über Twitch. Dementsprechend kann der Analyserahmen auch auf die digitalen Architekturen selbst ausgeweitet werden, um materielle, ökonomische und kommunikative Aspekte der Kultur zu erfassen. Dazu zählen dann Protokolle, Algorithmen und Datenstrukturen sowie Daten, aber auch die Software mit ihrem Design und Interface. Die Modi der Bedeutungszuweisung, des Teilens und des sozialen Austauschs, kurz: alle medialen Praktiken unterliegen damit auch der dritten Eigenschaft, der Algorithmizität. Sie ist geprägt durch automatisierte Entscheidungsverfahren, „die den Informationsüberfluss reduzieren und formen, so dass sich aus den von Maschinen produzierten Datenmengen Informationen gewinnen lassen, die der menschlichen Wahrnehmung zugänglich sind und zu Grundlagen des singulären und gemeinschaftlichen Handelns werden können“ (Stalder 2016, S. 13). Sie ist ein konstitutives Merkmal der Digitalität, denn angesichts „der von Menschen und Maschinen generierten riesigen Datenmengen wären wir ohne Algorithmen blind“ (ebd.). Damit wird ein für die Diskussion um individuelle Autonomie zentrales Moment sichtbar, denn die Frage nach der Herstellung von Autonomie kann demnach nicht losgelöst von Algorithmen und Netzwerke sowie deren machttheoretische Aufladung gedacht werden. Die Referenzen werden schließlich nicht nur von Menschen generiert, sondern sind auch durch Algorithmen strukturiert. Daraus entsteht ein komplexes Wechselverhältnis, welches nicht zuletzt von einer sozialen Emergenz im praktischen Vollzug, in der Interaktion mit den Algorithmen über Software geprägt ist. Algorithmizität ermöglicht oder suggeriert somit ein hohes Maß an Freiheit, über die Zugänglichkeit von Informationen, gleichzeitig bleiben die Kriterien der Selektion, Filterung und damit das Wissen über diese Zusammenhänge unverfügbar. Der Begriff der Digitalität akzentuiert die Hervorbringung eines neuen Möglichkeitsraums, der sich nicht nur entlang der Digitalisierung von Abläufen und Prozessen beschreiben lässt, sondern sich durch seine Tiefe Eingelassenheit in kulturelle und soziale Vollzüge gesamtgesellschaftlich auf die Art und
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Weise auswirkt, wie die Wahrnehmung von Welt erfolgt. Stalder (2021, S. 4) beschreibt das Verhältnis von Digitalisierung und Digitalität entlang der Analogie von Alphabetisierung und Buchkultur. Während die Digitalisierung als ein Prozess verstanden werden kann, indem einerseits Menschen individuell Lesen und Schreiben lernen und andererseits die „Gesellschaft als Ganzes sich verändert, weil Prozesse nun auf Basis von Schriftlichkeit und eben nicht Mündlichkeit organisiert werden“ (ebd.). Damit werden Grundlagen gelegt, um „neue Handlungsabläufe, aber auch neue Wahrnehmungsformen und neue Denkstrukturen zu entwickeln“ (ebd.). Digitalität verhalte sich zur Digitalisierung wie die Buchkultur zur Alphabetisierung. Digitalisierung kann dann als der Aufbau einer Infrastruktur verstanden werden, die nicht nur technisch sei, sondern auch das Lernen umfasse, wie sie zu benutzen sei. Digitalität sei hingegen das, „was diese Infrastruktur dann möglich macht.“ (ebd. S. 4). Während die Buchkultur von Vorstellungen wie Linearität geprägt war, ist Digitalität nun von einer NichtLinearität, von einer gewissen Form der Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. Entsprechend der Buchkultur „war Lernen fokussiert auf die Aneignung der notwendigen Kulturtechniken und der Vermittlung dieses geordneten Wissensuniversums, das sich, auf der kulturellen Ebene, ausdrückt in der Figur des Kanons, des objektiv relevanten Wissens“ (ebd.). Entsprechend stand die Vermittlung von bereits bestehendem Wissen im Zentrum. Die Digitalität hingegen ist geprägt von anderen Vorstellungen: „Nicht-Linearität; assoziativen Verknüpfungen; Parallelität und Gleichzeitigkeit; Feedback, das Ursache und Wirkung verschmelzen lässt; ein Ding kann an mehreren Orten gleichzeitig sein; jede Position ist immer kontext- und zeitabhängig“ (ebd., S. 4).
Damit werden andere kulturelle Erfahrungen ermöglicht, die eine andere Selbstund Welterfahrung nach sich ziehen. Das sei nach Stalder (2021) „per se weder gut noch schlecht, sondern einfach anders“ (ebd., S. 5). Dennoch ergeben sich hieraus einige grundlegende Ankerpunkte für die genauere Betrachtung der Selbst- und Welterfahrung, denn mit diesen Veränderungsdynamiken und den traditionellen Prozessen der Wissensvermittlung, die nun durch jene Charakteristika der Digitalität aufgebrochen werden, rücken Fragen der Orientierung innerhalb eines solchen dynamischen Systems in den Mittelpunkt. Es geht dann um eine Form der Flexibilisierung, die sich eben nicht nur in der Arbeitswelt zeigt, sondern Einzug in lebensweltliche Zusammenhänge hält. Das Prinzip der Universalität, wie es über das Internet gewissermaßen verkörpert ist, bildet die übergeordnete Grundlinie der hier beschriebenen Phänomene und Entwicklungen zur Digitalität. Das Internet kann als universale
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oder mit Reckwitz (2017) gesprochen „allgemeine Infrastruktur“ (S. 236) gelten, welche Formate der Standardisierung ermöglicht. Diese allgemeine Infrastruktur, die nach Stalder eine Herausbildung neuer Verknüpfungen und die Hervorbringung neuer Weltwahrnehmungen ermöglicht (vgl. 2016, 2021), bildet bei Reckwitz (2017) die Grundlage zur Fabrikation von Singularitäten. Es handelt sich dabei um eine Paradoxie, die sich auch bei Stalder (2016) finden lässt, wenn auf die Gemeinschaftlichkeit hingewiesen wird, denn gerade die Universalität der globalen Vernetzbarkeit begünstigt die Entstehung von partikularen Communities (vgl. Reckwitz 2017, S. 262), die sich über Formen der Anerkennung in unterschiedlichen Zusammensetzungen, mal mehr, mal weniger über die eigenen Referenzen konsolidieren, verändern und dynamisch weiterentwickeln. Dabei greifen klassische Logiken der universalen Infrastruktur, indem man Dinge von einem Format in ein beliebiges anderes Format konvertieren kann, um sie zu rekontextualisieren und zu remixen. Erst die Konvergenz von Medientechnologien und dem Computer als universeller Rechner ermöglicht die „programmgesteuerte Gestaltung, Umgestaltung, Reproduktion und Übertragung sämtlicher medialer Formate“ (Reckwitz 2017, S. 231). Gleichzeitig erstreckt sich das Prinzip der Universalität eben nicht nur auf die medialen Erscheinungsformen, die dann über Software repräsentiert werden. Vielmehr ist bereits in den Protokollen der Infrastruktur eingeschrieben (vgl. Galloway 2004, S. 74), welcher Logik menschliche Aushandlungsprozesse folgen. Protokolle regulieren aufgrund ihrer Universalität nicht nur, wie verschiedene Hosts untereinander kommunizieren, sie durchdringen und regulieren auch menschliche Aushandlungsprozesse. In historischer Perspektive und unter Berücksichtigung des Prinzips der Universalität ist die Digitalisierung damit längst kein Phänomen des 21. Jahrhunderts, sondern hat ihre Wurzeln im 17. Jahrhundert bei Leibniz, der erkannte, dass sich Rechenprozesse mit Binärzahlen leichter bewerkstelligen lassen. Leibniz hat nicht nur den Binärcode sowie eine Rechenmaschine für alle Grundrechenarten erfunden (vgl. Krämer 2016, S. 51 f.), sein Denken über relationale Netzwerke, sein Glauben in rationale Systeme sind noch heute zumindest in der technologischen Infrastruktur abgebildet. Es geht bei dieser historischen Perspektive weniger um die Technologie selbst, sondern vielmehr um die sie begleitenden Argumentationsmuster, denn Befürworter des Computers haben schon sehr früh weitreichende Behauptungen über ihre inhärente transformative Kraft des Computers aufgestellt: Neu und anders als frühere Technologien, sollte der Computer viele der bestehenden sozialen Probleme durch Berechnung und Risikominimierung lösen. Diese Argumentationen waren begleitet von einem strengen Glauben in den Computer und rechenbasierte Operationen, wie
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Golumbia (2009) in „The Cultural Logic of Computation“ systematisch herausarbeitet. Dabei stellt er diese Orthodoxie infrage und argumentiert stattdessen, dass Computer „durch und durch“ kulturell sind – dass es keinen Teil der offensichtlichen technologischen Transformation gibt, der nicht von historischen und kulturellen Prozessen geprägt sei oder der sich der bestehenden Kulturpolitik entziehe. Aus der Perspektive transnationaler Konzerne und Regierungen dienen Computer und rechenbasierte Architekturen der Stabilisierung von bestehenden Machtverhältnissen viel mehr, als dass sie Mittel bereitstellen, diese zu verschieben oder gar anzufechten. Trotzdem hat sich das Denken über Computer zu einer fast unsichtbaren Ideologie entwickelt, die Golumbia als „Computationalism“ (2009) bezeichnet – eine Ideologie, die das Denken nicht nur über Computer, sondern auch über ökonomische und soziale Trends wie die Globalisierung und Digitalisierung prägt. Golumbias Kernargument ist, dass die zeitgenössische westliche Kultur zutiefst durch Formen der Hierarchie und Kontrolle strukturiert ist, die ihren Ursprung in der Entwicklung und Nutzung von Computern in den letzten 60 Jahren haben. Die leitende These ist also nicht, dass sich die Menschen durch Computer grundlegend verändern. Vielmehr ist Veränderung eines dem Menschen inhärentes Phänomen, zu dem nun digitale Technologien zählen. Bridle (2018) bringt diese Problematik wie folgt auf den Punkt: „We have been conditioned to believe that computers render the world clearer and more efficient, that they reduce complexity and facilitate better solutions to the problems that beset us, and that they expand our agency to address an ever-widening domain of experience. But what if this is not true at all? A close reading of computer history reveals an ever-increasing opacity allied to a concentration of power, and the retreat of that power into ever more narrow domains of experience.“ (ebd., S. 34)
Insgesamt lassen sich aus dem Prinzip der Universalität zwei grundlegende Aspekte herausheben, die für die neue Form der Unübersichtlichkeit stehen und bildungstheoretisch relevant sind. Es handelt sich um die sich wandelnden Bedingtheiten zur Informationsbeschaffung sowie die Unabgeschlossenheit digitaler Technologien und Medien. Während die technologische Infrastruktur des Internets von Universalität durch Standards und Interoperabilität geprägt ist, geht aus den vielen sozialen, kulturellen Verwicklungen und Abhängigkeiten, den Referenzen und Neuanordnungen eine Unübersichtlichkeit hervor. Diese Unübersichtlichkeit kann zunächst auf die grundlegende Problematik der Informationsbeschaffung bezogen werden (vgl. Hargittai 2002; DiMaggio et al. 2004; van Dijk 2005; Iske und Verständig 2016). Dabei geht es im Kern um die
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Strategien zur Recherche und Bewertung von Informationen, die sich im Internet finden lassen. Gleichzeitig ist die Unübersichtlichkeit von der steigenden Ausdifferenzierung und Pluralität geprägt, denn wenn jeder Mensch nun publizieren kann, es keine Gatekeeper im klassischen Sinne mehr gibt und Selektion der Informationen sich über intransparente Prinzipien von dritten Dienstanbietern erstreckt, dann wird die Bewertung und Selektion von Informationen zu einer Herausforderung, die nicht allein durch die bestehenden Angebote aufgefangen werden muss. Algorithmen werden zu Gatekeepern ähnlich wie Nachrichtenredakteure, indem sie in die Sichtbarkeit von Informationen eingreifen (vgl. Gillespie 2014, 2016). Informationen, die in Beziehungsnetzwerken geteilt werden, sind dann nicht nur algorithmisch sortiert und selektiert, sie können zudem eine weitere referenzielle Aufladung erfahren, die über die teilenden Personen erfolgt. Artikulationen, Postings und die Teilnahme an Konversationen mit Freunden und Bekannten haben dann einen anderen Bedeutungsgehalt als publizierte Informationen von Fremden. Wenn nun die Eigenschaft der Gemeinschaftlichkeit darüber beschrieben wird, dass Menschen eine Aushandlung über die Anerkennung von gemeinsam geteilten Bedeutungszuschreibungen vornehmen, dann ist dies auch an eine Zugehörigkeitsproblematik gebunden, denn sich in einer sozialen Arena Gehör zu verschaffen, ist immer auch davon abhängig, über welche bemerkenswerte Form dies unter den Bedingungen der künstlichen Verknappung in Social Media geschieht. Aushandlungen sind somit keineswegs bloß konsensorientiert, sondern hochgradig konfliktanfällig, wie Pentzold (2007) oder Holze (2017) am Beispiel der Wikipedia umfassend herausgearbeitet haben. Konfliktbehaftete Aushandlungen sind dabei keine neue Form der Auseinandersetzung, sie sind fester Bestandteil der Netzkultur und wurden schon in frühen Formen der Vergemeinschaftung online beobachtet (vgl. Dery 1994). Die zuvor formulierte Gemeinschaftlichkeit als Kerneigenschaft der Digitalität, so könnte man meinen, kann Zugangshürden minimieren, da Handlungssicherheit und Orientierung über den sozialen Austausch gegeben werden, doch bereits die Partizipation setzt die Fähigkeit voraus, die eigenen Anliegen entsprechend der jeweiligen Publika so zu artikulieren, dass man sich damit Gehör verschaffen kann. Dementsprechend ist ein Bewusstsein über die Problematik der voice inequality (Iske et al. 2007; Klein 2007) neben einer Offenheit gegenüber neuen und womöglich bislang fremden Interaktionsweisen (vgl. Marotzki und Jörissen 2008, S. 58) ebenso erforderlich, um das reflexive Potenzial, welches den medialen Strukturen eingeschrieben ist, zur Entfaltung zu bringen. Eine solche Haltung zu entwickeln, erfordert Flexibilität, die sich nicht allein auf das Spannungsfeld eines inneren Subjektkerns und den Einflüssen von außen beschreiben lässt, vielmehr handelt es sich um immer wieder
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neue Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen und interaktiven Systemen, die verbunden mit der Aufforderung zur kontinuierlichen Neubewertung von Kontexten sind. Es sind heute die vielen verfügbaren Anlaufstellen, die unzähligen Möglichkeiten, die nicht nur zu einer weiteren Ausdifferenzierung von Informationen und Angeboten führen, sondern jeden Menschen dazu ganz direkt auffordern, sich in diesem dynamischen System zu orientieren – ob man will oder nicht. Unübersichtlichkeit ist somit ein zentrales Prinzip der Digitalität.
3 Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit als bildungstheoretische Figuration Die vorangestellte und in ihren Facetten ausgearbeitete Form der Unübersichtlichkeit hat weitreichende Konsequenzen für die Erziehungswissenschaft und die Konturierung von Bildung unter den Bedingungen der Digitalität. Dabei geht es weniger um das Verhältnis von Lernen, Informationen und Wissen, sondern darum, eine orientierende Haltung aufzubauen. Es geht darum, sich im Wissen zu orientieren. Diese Figuration wird insbesondere im Hinblick auf die transformatorische Bildung hinsichtlich biographischer Verläufe und den narrativen Einbettungen verhandelt (vgl. Kokemohr 1985; Marotzki 1989, 1990; Kokemohr und Marotzki 1989; Koller 1993). Im Hinblick auf die medialen Verflechtungen findet diese Tradition später einen konzeptionell-theoretischen aber auch empirischen Analyserahmen in der Strukturalen Medienbildung bei Marotzki (2004, 2007), Marotzki und Jörissen (2008), Jörissen und Marotzki (2009) und später Jörissen (2014), aber auch in der Auseinandersetzung von Koller (2012), in der es darum geht, Bildung anders zu denken, und später bei Allert und Asmussen (2017), die in praxeologischer Perspektive und unter Rückgriff auf Nohl (2011) ein Verständnis von Bildung entwerfen, das auf Phänomene wie Algorithmisierung und Digitalisierung reagieren kann, ohne sich jedoch auf diese zu beschränken. Für die verschiedenen Linien spielt die Herstellung von Orientierung eine unterschiedliche Rolle. Für die hier vorliegende Diskussion um das Verhältnis von Unbestimmtheit und Unberechenbarkeit des Digitalen ist die Herstellung von Orientierung allerdings maßgebend, weshalb eine Annäherung zum Begriff der Unbestimmtheit hierüber stattfinden soll. Mit dem Begriff der Orientierung lässt sich der Prozess beschreiben, wie der Mensch zu sich und zur Umwelt ein reflektiertes Verhältnis aufbaut. Die Komplexität dieses Verhältnisses ergibt sich aus der Differenz, dass der Erhalt von Informationen in die jeweiligen Selbst- und Weltsichten der Menschen
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integriert werden müsse. Wissen sei dann nach Marotzki und Jörissen (2008) „situierte Information, die auf sozialen Handlungen im weitesten Sinne bezogen wird“ (S. 54 f.). Mit Bezug auf Stehr (1994) könne Wissen dann auch mit Handlungsfähigkeit gleichgesetzt werden (vgl. ebd., S. 208). Diese Differenz von Information und Wissen ist für die Herstellung von Orientierung eine entscheidende Grundlage. Sie wird von Marotzki und Jörissen (2008) dahingehend ausgebaut, als die Autoren im weiteren Verlauf ihres Beitrags verschiedene Momente hervorheben, um die Komplexität des Orientierungswissens zu bestimmen. Es ist die Orientierung als Fähigkeit des Umgangs mit Kontingenz, die Flexibilisierung, Tentativität und das Einlassen auf Anderes und Fremdes. Diese Momente wurden im Zuge der Konturierung von Digitalität bereits eingeholt. Für die Fokussierung auf Unbestimmtheit scheint mir das Moment der Tentativität an dieser Stelle wichtig. Im Zusammenspiel mit der Flexibilisierung, also der Fähigkeit zur Umorientierung und Neubewertung von Zusammenhängen, steht die Notwendigkeit, „sich für neue Situationen offen zu halten“ (ebd., S. 56), also eine gewisse Form der Kontingenzerwartung zu kultivieren. Nur so kann Bildung in dieser Lesart erst ermöglicht werden, oder anders formuliert: „Wird Bildung als Positivierung von Bestimmtheit, also z.B. als Positivierung faktischen Wissens, angelegt und somit Zonen der Unbestimmtheit eliminiert, wird Bildung ausgehöhlt, letztlich verunmöglicht“ (Marotzki 1990, S. 154).
Das Erschließen neuer Erfahrungsräume setzt dann den Umgang mit dem Fremden, dem Anderen voraus. Ein solcher Umgang kann dann keineswegs bloß die Aneignung zum Ziel haben, die besondere Qualität eines solchen Umgangs und damit auch Bildung zeichnet sich vielmehr darüber aus, dass das bislang Unbekannte möglicherweise auch unbekannt bleibt. Damit lässt sich nicht nur die Beziehung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit als balanciertes Verhältnis beschreiben, es wird zugleich der Rückgriff auf das Unbekannte ermöglicht, wie es Jörissen und Marotzki (2009, S. 18) entlang der Konzeption einer Strukturalen Medienbildung beschreiben. Der Umgang mit dem Unbekannten wird dabei über die Problematik des Fremdverstehens herausgearbeitet, die sich insofern als paradoxal beschreiben lässt, als dem Fremden immer auch etwas Vertrautes zugrunde liegen müsse, gleichzeitig das Fremde nicht zum Vertrauten gemacht werden könne, weil es sich dann im Kern verlieren würde (vgl. ebd.). Dieses Spiel mit Unbestimmtheiten lässt sich im Kern als das beschreiben, was die Qualität von Bildung ausmacht. Für Jörissen und Marotzki (2009) heißt das dann auch, „dass der materiale, kanonorientierte Bildungsbegriff heute als unzureichend betrachtet werden muss“ (ebd., S. 21). Diese Figuration von
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Bestimmtheit und Unbestimmtheit im Verhältnis zu den Bestrebungen der Berechenbarkeit und der Kontingenz unberechenbarer menschlicher aber auch maschineller Ereignisse entfaltet im Horizont der Digitalität eine besondere Bedeutung, denn wie Bridle (2018) festhält, wird immer dann, wenn etwas gezeigt wird auch etwas nicht gezeigt (vgl. ebd., S. 36). Die antizipierende Abwägung dessen, was im Moment des Erkennens verborgen bleibt, lässt sich über die tentative Suchbewegung aber auch über die jeweils spezifische und den medialen Architekturen eingeschriebene Reflexivitätslagerung beschreiben. Die hier vorgenommene Fokussierung auf die Herstellung von Orientierung, wie sie auch im Beitrag eingeleitet wurde, scheint für die Bestimmung der Tragweite des hier angesetzten Selbst- und Weltbezugs von gesteigerter Bedeutung, denn erst wenn die eigenen Routinen im alltäglichen Vollzug fragwürdig erscheinen, also auf ihre Reichweite hin befragt werden, dann wird Raum für Unbestimmtheit eröffnet; dann entstehen Reflexionsanlässe, die sich als Distanzierungsbewegung beschreiben lassen. Eine solche Leistung ist nicht losgelöst von Raum und Zeit. Die veränderte Raum- und Zeitlogik der Digitalität spielt hierbei eine ganz wesentliche Rolle, denn wie bereits festgestellt können Dinge gleichzeitig an verschiedenen Orten sein, es können aber auch Kontexte zeitlich versetzt hervorgebracht werden, die sich überdies von linearen Vollzügen abgrenzen können, ihnen gar diametral gegenüberstehen. Daraus resultiert eine gewisse Form des Kontrollverlusts, denn wenn mediale Artefakte im öffentlichen Räumen zirkulieren, können diese zwar im Meer der vielen Informationen unsichtbar bleiben, sie können aber auch herausgehoben werden und zum Gegenstand von kulturellen Praktiken des Teilens werden. Sie können kurz gesagt viral gehen. Solche Momente sind potenziell unberechenbar, sie sind kontingent. Um Digitalität und Bildung im Zusammenhang zu verstehen, entwickeln Allert und Asmussen (2017) eine praxeologische Begründungsfigur und setzen als zentrale Kategorie weder Bildung noch Digitalität, „sondern Unbestimmtheit. Genauer: Die Transaktionen an den Übergängen von Unbestimmtheit zu Bestimmtheit und von Bestimmtheit zu Unbestimmtheit“ (ebd., S. 27 f.). Bei Allert und Asmussen (2017) trifft die formale, regelbasierte Strukturiertheit von Algorithmen auf ein „zutiefst situiertes und performatives menschliches Denken und Handeln“ (ebd., S. 31). Das Spiel mit Unbestimmtheit wird hier als das Spiel mit der Technologie beschrieben, um Leerstellen sichtbar zu machen und Lücken im algorithmischen System gewissermaßen zu nutzen. Wenngleich hier ein spielerisch-kreativer Umgang mit Algorithmen auf der Ebene von Software beschrieben wird, beispielsweise „auf Facebook wirklich jeden Eintrag systematisch zu liken oder ausschließlich eigene Beiträge zu liken“ (ebd., S. 34), erstreckt sich das Spiel immer auch auf die Technologie selbst, denn es handelt sich dabei um ein Spiel
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mit den Daten, ein Spiel mit den unsichtbaren Prozessen der Datenverarbeitung und damit um ein Spiel mit unbekannten Variablen und Datenpunkten. Dabei wird ein sicherer Raum jedoch kaum verlassen, denn bleibt es beim Versuch die Ausgabe der Software zu manipulieren, besteht nach wie vor die Affirmation der Strukturen selbst. Es bleibt ein Unterschied zwischen der genehmigten Manipulation von Vorlesungsfolien durch Studierende und einem Studienabbruch. Wenngleich das explorativ-kreative Spiel mit der Technologie die Sichtbarmachung von Prozessen und Mechanismen ermöglichen kann, bleibt die Frage nach der Differenz unbeantwortet. Ein Reflexionsrahmen müsste dann über die technologische Machbarkeit, also über Exploration und Tinkering hinausreichen und moralische Schranken des Vertretbaren berühren, um an die Herstellung von Orientierung anknüpfen zu können. Damit werden auch krisenbehaftete Momente eingeholt. Nachfolgend sollen daher zwei Aspekte von Krisenerfahrungen genauer betrachtet werden, um auf die Unberechenbarkeit des Sozialen hinzudeuten. Es handelt sich einerseits um Automatisierung von Entscheidungsprozessen und andererseits den Umgang mit individuellen Gewohnheiten. Inwiefern sich durch Automatisierung strukturelle Veränderungsprozesse ergeben, wird von Eubanks (2018) im Hinblick auf den Einsatz von digitalen Technologien bei Behörden in unterschiedlichen Bundesstaaten der USA aufgezeigt. Digitale Methoden der Überwachung, Vermessung von Menschen und automatisierte Entscheidungsfindung sorgen dafür, dass soziale Differenzierung bestehen bleibt, wenn in Los Angeles ein Algorithmus die vergleichende Verwundbarkeit von zehntausenden von Obdachlosen berechnet, um sie für einen unzureichenden Pool von Wohnungen zu priorisieren (vgl. ebd., S. 76 ff.) oder der Bundesstaat Indiana innerhalb von drei Jahren mehrere hunderttausend Anträge auf Gesundheitsversorgung, Lebensmittelmarken und Geldleistungen ablehnt, weil ein neues Computersystem jeden Fehler als Versäumnis der Zusammenarbeit bzw. Betrugsversuch interpretiert. Automatisierung durch algorithmische Systeme und Berechnung ist damit nicht nur Mittel zur Herstellung und Aufrechterhaltung von spezifischen Ordnungen, es findet über die Art, wie diese Berechnungen implementiert sind auch ein ethisches Distanzierungsmoment zu unmenschlichen Entscheidungen statt. Damit sind spezifische Formen von Krisen beschrieben, die sich über Automatisierung erst ergeben und damit zur Komplexitätssteigerung beitragen. Die Herstellung von Orientierung und der Umgang mit Unbestimmtheit lässt sich in medientheoretischer Perspektive auch mit Chun (2016) und ihrer gesellschaftstheoretischen Fokussierung auf Krisen und individuelle Gewohnheiten hervorheben. Krisenerfahrungen durchbrechen demnach den kontinuierlichen Informationsfluss, der das zeitliche und vorübergehend Wertvolle von der
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analität des Alltäglichen differenziert, um Social Media Usern ein Gefühl von B Echtzeitverantwortung und Empowerment zu vermitteln (vgl. ebd., S. 70). Diese Logik der Krise hängt jedoch von zwei Faktoren ab: dem Code, den Algorithmen einerseits und den menschlichen Gewohnheiten andererseits. Beides sind Prozesse oder Routinen, die die Zukunft auf die Vergangenheit reduzieren oder, genauer gesagt, eine verstrichene Antizipation der Zukunft darstellen. Für Chun geht es hierbei um die Routinen des Handelns und die indirekten Auswirkungen von Code auf die Herstellung von Orientierung, die immer auch im Zusammenhang von Krisen zu denken sind, wie unter Rückbezug auf Doane (1990) herausgestellt wird: „This twinning of crisis and code/habit has not diminished crises, but rather proliferated them through an unending series of decisions and unforeseen consequences that undermine the agency they promise. From financial crises linked to complex software programs to diagnoses and predictions of global climate change that depend on the use of supercomputers, from undetected computer viruses to bombings at securitized airports, we are increasingly called on both to trust coded systems and to prepare for events that elude them.“ (Chun 2016, S. 70)
Die hier beschriebene Ambivalenz bildet die Brücke zu den tentativen Suchbewegungen des Menschen, die sich in der dialektischen Figur von Bestimmtheit und Unbestimmtheit beschreiben lassen und sich gleichzeitig auf die Idee der Freiheit und Selbstverwirklichung und damit die Subjektkonstitution auswirken. Zudem liegt im Moment der Krisenerfahrung ein Bezug, der zumindest in der Linie zur transformatorischen Bildung einiges an Gewicht hat. Dementsprechend sind Bildungserfahrungen mit Grenzerfahrungen verbunden. Krisen lassen sich als Anlässe zur Befragung bestehender Handlungsvollzüge und Muster beschreiben. Krisen gehen meist mit dem Moment der Ohnmacht einher, einem Kontrollverlust über die Situation und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Krise sprichwörtlich wieder in den Griff zu bekommen. Sowohl die Automatisierung von Entscheidungsprozessen als auch der hier beschriebene Umgang mit individuellen Gewohnheiten deuten auf Momente der Destabilisation von vermeintlich stabilen Rahmenbedingungen. Die Ambivalenz der digitalen Technologien hat direkte Auswirkungen auf die Art, wie sich die Menschen die Welt um sich herum schaffen, wie sie diese Welt wahrnehmen und wie sie für sich Plausibilitäten herstellen, um Handlungssicherheit in einer potenziell unsicheren Umgebung zu gewinnen. Das Durchkreuzen von Ordnungsmustern wird dann relevant, wenn Technologien sich in alltägliche Handlungsvollzüge und damit in Abhängigkeit zu habituellen Ausprägungen einschreiben. Das Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit wird hierbei als tentative
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uchbewegung verortet, die zwischen Involvement und Distanzierung aufgespannt S ist. Wie sich diese Vollzüge in den jeweiligen Feldern abzeichnen, kann im Horizont der Digitalität nicht nur sprachtheoretisch empirisch erfasst werden, sondern eben auch strukturtheoretisch in den Blick genommen werden, denn die medialen Artikulationen stehen nicht nur im dynamischen Aushandlungsprozess, sie sind zugleich die digitale Manifestation der jeweiligen Bedeutungszuschreibungen.
4 Fazit Das Anliegen dieses Beitrags basiert auf dem Versuch, die Bedeutung von Unbestimmtheit bei der Herstellung von Orientierung unter den Bedingungen der Digitalität hervorzuheben. Dabei wurden verschiedene Linien nachgezeichnet, die sich an teilweise gegenläufigen Prinzipien und Entwicklungen festmachen lassen. Dies wurde am Prinzip der Universalität und der daraus entstehenden Unübersichtlichkeit diskutiert und auf Unbestimmtheit und die Unberechenbarkeit des Sozialen abgebildet. Es handelt sich dabei um hochgradig ambivalente Entwicklungen, denn einerseits liegt den digitalen Technologien ein ermächtigendes Potenzial eingeschrieben, denn nur durch die digital-vernetzten Architekturen können Informationen von Menschen heute in dem Maße überhaupt bearbeitet werden. Gleichzeitig ist es genau dieser Umstand, der eine bildungstheoretische Relevanz hat, denn die Herausbildung einer Haltung zu sich selbst und zur Welt wird damit abhängig von algorithmischen Prozessen und Strukturen, die man nur schwer einsehen und verstehen kann. Die Digitalität ist geprägt von einer neuen Unübersichtlichkeit, die unumkehrbar scheint und damit nicht nur einen kulturellen, sondern auch einen sozialen Wandel beschreibt. Die Diagnosen zur Komplexitätssteigerung und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Bereiche ist nicht neu, sie gewinnt jedoch mit steigender Vernetzung und zunehmender Undurchsichtigkeit der algorithmischen Systeme und dem Denken über diese Zusammenhänge eine neue Qualität. Die hier dargelegten Überlegungen stehen in der Tradition der transformatorischen Bildungstheorie, bei der neben der Theoriebildung auch der Anspruch auf empirische Anschlussfähigkeit deutlich gemacht wurde. Damit kauft sich diese Perspektive gewissermaßen einige Konsequenzen für die Konturierung des Bildungsbegriffs ein, die angesichts der Digitalität nicht immer unproblematisch erscheinen. So stellt sich die Frage nach Autonomie angesichts der Angewiesenheit auf digitale Technologien unter einem neuen Vorzeichen. Angesichts der vorherrschenden Netzwerklogik werden zudem etablierte Ordnungssysteme scheinbar über Bord geworfen, was eine Zuspitzung der Frage
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nach ethischen Maßgaben und damit auch der Normativität eines zugrunde liegenden Bildungsbegriffs mit sich bringt. Durch die hier eingenommene Perspektive konnte allerdings auch aufgezeigt werden, wie eine Fokussierung allein auf Sprache überwunden werden kann, denn wenn Medien in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, sei es der Film oder das Buch, zum Analysegegenstand erhoben werden, dann ist es im Hinblick auf die Digitalität nur konsequent, die Analysen der Formbedingtheiten auf ihre Bildungspotenziale anhand der digitalen Technologien weiterzuführen und hinter die uns anstrahlenden Displays zu schauen. Denn bereits in der Software aber auch der Hardware sind spezifische Möglichkeiten der Artikulation eingeschrieben und andere wiederum nicht. Ein kulturtheoretisch fundierter und die historisch gewachsenen Entwicklungen anerkennender Analyserahmen kann dazu beitragen, diesen Einschreibungen nachzugehen.
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