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VÖR
MATTHIAS RIEMER
Bildung und Christentum Der Bildungsgedanke Schleiermachers
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka Band 58
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Riemer, Matthias: Bildung und Christentum : der Bildungsgedanke Schleiermachers / Matthias Riemer. Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht, 1989 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie ; Bd. 58) ISBN 3-525-56265-9 NE: GT
© 1989 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen.
VORWORT
Die vorliegende Untersuchung ist im Wintersemester 1977 vom Evangelisch-Theologischen Fachbereich der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen worden. Ihre Veröffentlichung, durch persönliche Umstände immer wieder v e r zögert , wäre ohne das wohlwollende Drängen meines verehrten Lehrers, Herrn Professor Dr. Wolfhart Pannenberg, nicht erfolgt. Er hat mich ermutigt, diesen Beitrag zur Schleiermacher-Forschung auch noch nach dem Schleiermacher-Kongreß 1984 in die theologische Öffentlichkeit zu bringen. Ihm verdanke ich vielfältige Anregungen, nicht zuletzt die zu diesem Thema. Ich danke ihm f ü r seine kritische Begleitung, f ü r seine ausdauernde Geduld und f ü r seine klare Wegweisung. Herrn Professor Dr. Falk Wagner danke ich f ü r die freundschaftliche Unterstützung und Begleitung bei meinen theologischen und philosophischen Studien, Herrn Professor Dr. Trutz Rendtorff, der das zweite Gutachten erstellt hat, für vielerlei Anstöße zum Theologie-Treiben. Herrn Professor Dr. Reinhard Slenczka sei neben meinem Doktorvater f ü r die Aufnahme in die „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" gedankt. Herrn Dr. Arndt Ruprecht und den Mitarbeitern des Verlages f ü r freundliche Betreuung und sorgfältige Drucklegung. Sie wurde durch einen Zuschuß zu den Druckkosten erleichtert, f ü r die ich der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zu Dank verpflichtet bin. Meinen Eltern, die mir das Studium ermöglichten und meinen Weg mit Zutrauen bis heute begleitet haben, sei diese Arbeit gewidmet. Hamburg, 26. Oktober 1989
Matthias Riemer
INHALT EINLEITUNG: ZUM GESCHICHTLICHEN ORT VON SCHLEIERMAC HER S BILDUNGSBEGRIFF I.
II.
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Orientierung ü b e r den Bildungsbegriff 1. Die Bewahrung des Bildungsbegriffs (Th.Ballauf) 2. Der Verzicht auf den Bildungsbegriff (W.Klafki u . a . ) 3. Die O r d n u n g von Bildungstheorien d u r c h Bildungsmodelle (K. Schaller/K.H.Schäfer)
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Zur Geschichte des Bildungsbegriffs 1. Die wort- und begriffsgeschichtliche Forschung 2. Die geistes- und ideengeschichtliche Forschung 3. Die soziologische Forschung Zusammenfassung
14 15 18 21 26
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A. DAS GEBILDETE SELBSTVERSTÄNDNIS. DER BILDUNGSBEGRIFF IN SCHLEIERMACHERS FRÜHSCHRIFTEN
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I.
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II.
Versuch einer Theorie des geselligen Betragens 1. Die Notwendigkeit einer Theorie des geselligen Betragens f ü r die Gebildeten 2. Der Begriff der freien Geselligkeit und die Konstitution einer Theorie des geselligen Betragens 3. Folgerungen f ü r Schleiermachers Begriff des Gebildeten Schleiermachers Monologen als Darbietung gebildeter Selbstbetrachtung 1. Der Monolog als Form f ü r die Selbstdarstellung des Gebildeten 2. Das in der Selbstbetrachtung erschlossene gebildete Selbstverständnis a) Die der Lebensbetrachtung entgegengesetzte Selbstbetrachtung b ) Der monologische Vollzug der Selbstbetrachtung 3. Die Entfaltung des gebildeten Selbstverständnisses als Weltansicht a) Das Verhältnis von Mensch und Welt b ) Das weit- und das selbstbildende Handeln: der Künstler und der Individualist c) Die Ausbreitung des gebildeten Selbstverständnisses 4. Die Monologen als ethische Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses
31 36 39 42 43 48 48 52 56 56 59 65 67
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III.
IV.
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Schleiermachers Reden über die Religion als Explikation der konstitutiven Voraussetzung des gebildeten Selbstverständnisses durch den gebildeten Redner 1. Die Thematisierung der Religion durch den gebildeten Redner a) Die Rede als Darstellungsform gebildeten Selbstverständnisses b) Die Apologie der Religion als Ausübung der Mittlerfunktion c ) Der Mittler Zusammenfassung 2. Das Wesen der Religion und das gebildete Selbstverständnis a) Die Kritik des Religionsverständnisses der gebildeten Verächter b ) Die Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Moral c) Die Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl d) Die religiösen Anschauungen der Gebildeten e) Die Bedeutung der Gebildeten für die Bildung zur Religion (3. Rede) 3. Das Christentum als positive Religion der Gebildeten . . . a) Uber das Gesellige in der Religion b ) Der Begriff der positiven Religion c) Das Christentum als die positive Religion
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Die systematische Gestalt des Bildungsbegriffs
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B. CHRISTLICHER GLAUBE UND WISSENSCHAFTLICHE BILDUNG. DIE VERÄNDERTE GESTALT DES BILDUNGSBEGRIFFS IN SCHLEIERMACHERS SPÄTEREM WERK 156 I.
II.
Die Konstitution der Ethik als Wissenschaft auf dem gebildeten Standpunkt: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) 1. Die Kritik der bisherigen Sittenlehre als Kritik ihrer wissenschaftlichen Form 2. Die Bestimmung der Verschiedenheit der obersten Grundsätze zum Zwecke ihrer Kritik 3. Die Konstitution der Ethik als Wissenschaft auf dem gebildeten Standpunkt Der Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins: Schleiermachers Schelling-Rezension (1804) 1. Die Kritik an Schellings Bestimmung der Theologie und des Christentums
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8
-
2. Die Ergänzung des realen Wissens durch Religion und Kunst 3. Die Kritik an Schellings A u f f a s s u n g des Staates und seiner Bestimmung der positiven Wissenschaften 4. Die Identifikation von Geschichtswissenschaft und Ethik Zusammenfassung III.
IV.
V.
Von der gebildeten Individualitätsanschauung zur gebildeten Lebensanschauung: zur zweiten Auflage der Reden (1806) . . 1. Die Zueignung der Reden an den J u g e n d f r e u n d 2. Die Veränderungen in der zweiten Rede 3. Leben und Bildung: Die Bedeutung der v e r ä n d e r t e n Bestimmung der Religion f ü r Schleiermachers Bildungsbegriff Bildung und Theologie: Die "Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811) 1. Die positive Wissenschaft der Theologie auf dem Hinterg r u n d der Reden von 1806 2. Das System der theologischen Disziplinen 3. Die theologische Rèzeption der Religionstheorie in der philosophischen Theologie Das Wesen der Frömmigkeit und das Wesen des Christentums in den Lehn sät zen der Glaubenslehre 1. Frömmigkeit als inneres Leben des Individuums 2. Das Wesen des Christentums: die d u r c h J e s u s von Nazareth vollbrachte Erlösung
195 198 201 204 209 210 213
225 237 237 249 259 264 264 282
Schluß
295
Anmerkungen
306
Literaturverzeichnis
354
EINLEITUNG: ZUM GESCHICHTLICHEN ORT VON SCHLEIERMACHERS BILDUNGSBEGRIFF Das Thema e r f o r d e r t Erläuterung, geht ihm doch die Klarheit und Deutlichkeit a b , die durch die Anzeige des B e g r i f f s der Bildung und seine Beziehung auf die Person Schleiermachers suggeriert wird und die zugleich auch von dem Gegenstand einer U n t e r s u c h u n g , die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit e r h e b t , erwartet werden kann. Es kann aber ein vorgängiges Einvernehmen ü b e r den Bildungsbegriff Schleiermachers nicht angenommen, vielmehr muß zunächst eine Verständigung über das Thema erreicht werden, indem hinter das zurückgegangen wird, als das das Thema er scheint. Denn das Thema, das auf den e r s t e n Blick fest timgrenzt und in sich bestimmt erscheint, verliert bei genauerer Betrachtung seine Klarheit und Deutlichkeit
I. Orientierung ü b e r den Bildungsbegriff Der Mangel an Deutlichkeit zeigt sich zunächst, wenn g e f r a g t wird, wo denn der Begriff der Bildung bei Schleiermacher aufzufinden sei. Zwar kann bei ihm ein vielfältiger und reichlicher Gebrauch des A u s d r u c k s 'Bildung, Bilden' nachgewiesen werden, so daß ein Anteil Schleiermachers an der Verbreitung und Ausformung dieses A u s d r u c k s im ausgehenden 18.Jahrhundert anzunehmen sein wird^. Aber dieser Sprachgebrauch scheint auf den e r s t e n Blick in seiner Vielfalt kaum in einem systematisch reflektierten Begriff von Bildung vereinigt werden zu können . Mit dieser Beobachtung wird aber im Thema selbst eine Differenz zwischen einem systematisch reflektierten Bildungsbegriff und Schleiermachers Gebrauch von 'Bildung, Bilden' markiert, so daß die Möglichkeit einer Unt e r s u c h u n g ausgeschlossen ist, die von Schleiermachers Bildungsbegriff als einem literarisch vorgegebenem Faktum ausgehen k a n n . Dem haben die vornehmlich pädagogischen Arbeiten, die bislang zu diesem Thema e r schienen sind, Rechnung g e t r a g e n , indem sie Schleiermachers Werke u n ter einem sich wandelnden Leitbegriff (H.Fiege^) betrachtet oder von vornherein nach Schleiermachers anthropologischem und bildungsphilosophischen Ansatz gefragt haben (B.Laist, H.U.WintschS). Hat aber der Begriff der Bildung keinen unmittelbaren Anhalt an Schleiermachers Schriften, so kann eine Untersuchung n u r dann sinnvoll sein, wenn gezeigt wird, daß der Bildungsbegriff f ü r Schleiermacher Bedeut u n g hat und eine ihm angemessene Darstellung e r l a u b t . Die Bestimmung des Gegenstandes der Untersuchung verlangt eine solche Klärung des Bildungsbegriffs, die die Möglichkeit seiner Beziehung auf Schleiermac h e r s Schriften und zugleich das Ziel dieser Untersuchung zu erkennen gibt.
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Der Mangel an Klarheit zeigt sich auch, wenn in der Gegenwart nach dem Begriff der Bildung gefragt wird. Während auf der einen Seite die anthropologische Forschung sich im 20.Jahrhundert gewaltig ausgebreitet und so vielfältiges Einzelwissen über den Menschen aufgehäuft h a t , wie keine f r ü h e r e Zeit es besaß®, während philosophische Anthropologie in ihrer Funktion, diesem Einzelwissen eine tragfähige Basis zu geben?, den Anspruch auf Anerkennung als philosophische Grunddisziplin e r hebt®, beklagen auf der anderen Seite vor allem Pädagogen die Konturlosigkeit und Verschwommenheit des Bildungsbegriffs (A.Flitner, G. Dohmen^). Ein Zusammenhang zwischen beiden Feststellungen kann in der These ausgedrückt werden: Die E r k e n n t i s s e , die in den verschiedenen anthropologischen Disziplinen über den Menschen und seine Welt gewonnen werden, haben dazu g e f ü h r t , daß eine am Bildungsbegriff orientierte Pädagogik ins Abseits idealer Abstraktion geraten i s t , weil die implizite anthropologische Konzeption nicht differenziert genug ist, um die Komplexität des Gegenstands pädagogischer Wissenschaft angemessen wahrzunehmen. In der Feststellung, daß der Bildungsbegriff seine Konturen fast völlig verloren habe, drückt sich sowohl das Bewußtsein des Abstandes von einer an einem bestimmten Bildungsbegriff orientierten Pädagogik a u s , als auch das Bewußtsein der Aufgabe, der neuen Situation, d . h . den neuen Erkenntnissen Rechnung zu t r a g e n . In verschiedener Weise ist das Verhältnis zur vergangenen Epoche der Pädagogik bestimmt worden. 1. Die Bewahrung des Bildungsbegriffs (Th.Ballauf 1 ^) Die Distanz kann bereits im Ansatz der Theorie zur Geltung gebracht werden, um dadurch den Bildungsbegriff zu bewahren. Th.Ballauf setzt in der Einleitung zu seiner Untersuchung von philosophischen Beg r ü n d u n g e n der Pädagogik sich von dem Objektivitätsideal der auf Dilthey zurückgehenden geisteswissenschaftlichen Pädagogik ab. Gegen die F o r d e r u n g Diltheys: "die Wissenschaft der Pädagogik kann n u r beginnen mit der Deskription des Erziehers in seinem Verhältnis zum Zögling. Denn zunächst gilt e s , das Phänomen selbst hinzustellen" stellt Ballauf die Sätze: "Mit Pädagogik haben wir es n u r dann zu t u n , wenn eine Antwort auf die Frage nach Sinn und Maß der Bildung gegeben wird. Pädagogik hat e s zunächst nicht mit der sogenannten Erziehungswirklichkeit zu t u n . Ob und wann wir die 'Wirklichkeit' der Erziehung vor u n s hab e n , das kann ja n u r von der Pädagogik her ausgemacht werden" (9). Er v e r s t e h t u n t e r Pädagogik im engeren Sinn die Grundlegung d e s s e n , was als Erziehung dann Gegenstand der Erziehungswissenschaft i s t . I n dem die Pädagogik es mit der Konstitution der Erziehungswirklichkeit zu
- 11 tun hat, kann Ballauf sie philosophisch nennen und sie als einen "Gedankengang" verstehen, der von Parmenides bis heute fortgeht, in den man sich "hineinfinden" muß, dem man sich zu fügen hat. Diesem philosophischen Ansatz der Pädagogik entspricht, was Ballauf in seiner systematischen Pädagogik als "Bildung" begreift: "Erziehung besagt Umwendung des Menschen als eines Willens. Erziehung macht also Aufgaben am Seienden einsichtig - das besagt Inanspruchnahme und Entsprechung - Aufgaben, die der Sache gemäß, d . h . ihrem Sein entsprechend zu lösen sind . . . Nach unserem Gedankengang handelt es sich in der Erziehung nicht mehr um 'Bildung' in irgendeinem überlieferten Sinn, sondern um Besonnenheit, die Gemessenheit und Gelassenheit umschließt. Besonnenheit besagt, dem Willen und dem Selbst, dem Haben und Beanspruchen enthoben zu sein und in dieser Enthobenheit erst in Wahrheit ganz bei der Sache und dem Mitmenschen zu sein, in bedachter und behutsamer Weise"!!. Zwei Momente dieser ausgewogenen Definition seien hervorgehoben. Bildung als Besonnenheit ist als Frucht der Erziehung von dem Prozeß der Erziehung und seinen Problemen unterschieden. Bildung bezeichnet die besonnene Haltung, die den dem Seienden angemessenen Weltumgang des Menschen möglich macht. 2. Der Verzicht auf den Bildungsbegriff (W.Klafki u.a.
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)
Die in Ballaufs Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung sich andeutende Trennung von Pädagogik als philosophischer Disziplin und als Erziehungswissenschaft drängt auf eine Verselbständigung der letzteren. Den komplizierten Problemen der Erziehungswirklichkeit hat sich ein Team von Pädagogen zugewendet, das in einem Funkkolleg eine Einführung in die Erziehungswissenschaft, nicht in die Pädagogik, gibt. In dieser Einführung wird im Unterschied zu Ballauf auf eine philosophische Grundlegung verzichtet und trotz der Abwendung von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik der Ansatz bei der Erziehungswirklichkeit weitergeführt. Nur wird diese Erziehungswirklichkeit nicht als das Verhältnis des Erziehers zu seinem Zögling, sondern als eine Ansammlung von verschiedenen Bedingungen beschrieben, die den Erziehungsvorgang insgesamt bestimmen. Gemeinsam ist allein die Methode, mit der diese Bedingungen der Erziehungswirklichkeit erfaßt werden. Während die geisteswissenschaftliche Pädagogik ihre relative Autonomie auf den "pädagogischen Bezug" ( H . N o h l l S ) gründet, werden in der Erziehungswissenschaft Aussagen über den pädagogischen Bezug nur dann als Aussagen über ein Moment der Erziehungswirklichkeit zugelassen, wenn sie als Hypothesen aufgefaßt empirischer Kontrolle unterworfen werden können. Wird das grundlegende pädagogische Verhältnis darauf reduziert, daß in einem vielschichtigen Erziehungsprozeß "personalen Beziehungen" eine bestimmte Funktion zu-
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kommt, so ist damit n u r sichtbar gemacht, daß in diesem methodischen Ansatz einem B e g r i f f , der den Bildungsprozeß bezeichnet, kein präziser Sinn beigelegt werden k a n n . Damit ist gegenüber der Präzisierung des Bildungsbegriffs d u r c h Ballauf die entgegengesetzte Konsequenz, der Verzicht auf diesen verschwommenen B e g r i f f , gezogen worden.
3. Die O r d n u n g von Bildungstheorien d u r c h Bildungsmodellë (Κ. Schaller/Κ. H. Schäfer 14) Wird eine Grundlegung der Erziehung durch eine Theorie der Bildung f ü r notwendig gehalten, aber diese Theorie nicht als der eine Gedankengang bestimmt, dem man folgt, indem "man die Gedanken der Denker mitd e n k t , lam so vielleicht eines Tages mit neuer Einsicht bedacht zu werden" (Ballauf, 8), so sieht man sich mit einer Vielzahl von verschiedenen Theorien der Bildung k o n f r o n t i e r t . Zwar kann gegenüber Lerntheorien die Überlegenheit der Bildungstheorien dadurch gezeigt werden, daß diese den Erziehungsvorgang nicht n u r im Hinblick auf das Verhalten, sondern im Hinblick auf das "eigentümlich Menschliche", auf das Handeln e r fassen (Schaller, 18). Aber n u r in unbestimmter Metaphorik läßt sich die Funktion der Bildungstheorie beschreiben: Ihr Gegenstand ist der Weg des Menschen ins Menschliche, Aufgabe der Erziehung ist e s , den Menschen auf diesen Weg zu bringen (15). Die Bildungstheorie hat zu entwikkeln, wie der Prozeß der Bildung zunehmend vom Bildungssubjekt ü b e r nommen und gesteuert wird (16). Der Bildungsprozeß vollzieht sich als Prozeß der Vermittlung zwischen dem Menschen, der in seine Menschlichkeit hineinfinden soll, und der Welt (17). Aus diesem Verhältnis zwischen Mensch und Welt, das f ü r die Bildung konstitutiv i s t , werden drei Bildungsmodelle entwickelt, d u r c h die das Verhältnis zunehmend d i f f e r e n zierter e r f a ß t wird. Das funktionale Modell ist an den beiden möglichen Beziehungen dieses Verhältnisses orientiert, so daß zwei einander gegenüberstehende Vorstellungen des Erziehungsvorganges ausgebildet werden. Die formale Bildung dient der Entwicklung der Kräfte, durch die der Mensch auf die Welt hin tätig wird. Die materiale Bildung b r i n g t als Unterweisung dem Menschen die Kenntnisse von der Welt, die sein bestimmtes Handeln e r s t ermöglichen. Dies unbefriedigende Nebeneinander weist Derbolav^^ noch in den Antinomien der geisteswissenschaftlichen Pädagogik zwischen Deskription und Norm, pädagogischem Bezug und Kulturverantwortung, Recht des Kindes und Anspruch der Sache nach. Das dialektisch-reflexive Modell stützt sich auf die Dialektik des Geistbegriffs Hegels. Der Bild u n g s v o r g a n g ist bestimmt als das "Im-anderen-zu-sich-selbst-Kommen" (25). "Aus der Stufe des Umgangs (sc. des naiven Eingelassenseins in eine bedeutungsvolle Welt) sich erhebend kommt der Einzelgeist auf dem Wege der Auseinandersetzung von Selbst und Anderem über die Stufe des
- 13 Sachverstands auf der Stufe des Sinnbegreifens zu sich" (28). Problematisch an diesem Modell reflexiver Selbstverwirklichung ist die Bedeutung des anderen in dem erreichten Bei-sich-selbst-Sein im Verhältnis zu dem ursprünglichen Beisammensein auf der Stufe des Umgangs. Diese Problematik sucht Schaller im dialogischen Bildungsmodell zu lösen, in welchem das Fundament des Menschlichen, das allen menschlichen Möglichkeiten vorausliegt, erfaßt wird. Bildung ist nicht mehr als das Zu-sich-selbst Kommen des Subjekts verstanden, sondern bezeichnet die menschliche Situation des Sich-verantwortens, d.h. "sich selbst zur Antwort formulieren" (43), indem man der Inanspruchnahme durch das Seiende entspricht^®. An der Entwicklungsreihe dieser Bildungsmodelle ist eine mit ihrer Differenziertheit zunehmende Abstraktion von dem Erziehungsvorgang selbst zu beobachten, um den es in der Pädagogik geht. Während im funktionalen Modell unmittelbar aus den beiden Postulaten Maximen für die Übernahme des Bildungsprozesses durch das Bildungssubjekt aufgestellt werden, entfällt schon im dialektisch-reflexiven Modell dieser Zusammenhang, indem von der allgemeinen anthropologischen Bestimmung das anfängliche Zu-sich-selbst-Kommen des subjektiven Geistes nicht abgehoben wird. Im dialogischen Modell schließlich ist der Begriff der Bildung nur noch als allgemeine Bestimmung der menschlichen Existenz verstanden, durch die die Erziehungswirklichkeit konstituiert ist, in der die Bedingungen dafür zu schaffen sind, daß Bildung als Besonnenheit und Verantwortung des Menschen eintreten kann. Mit der in der Abfolge der Bildungsmodelle sichtbaren Funktionsänderung des Bildungsbegriffs ist sicherlich ein Grund für seine gegenwärtige Konturlosigkeit genannt, denn durch die Ablösung des Bildungsbegriffs vom Erziehungsvorgang zur allgemeinen Bestimmung menschlicher Existenz wird das Verhältnis zwischen diesem Bildungsverständnis und dem, was als institutionelle Organisation des Erziehungsvorganges 'Bildungswesen' genannt wird, so undeutlich, daß der Verzicht auf diesen Begriff in der Erziehungswissenschaft nicht abwegig erscheinen kann. Dagegen kann auch die Beschwörung des gemeinsamen Ursprungs von Bildungsbegriff und Bildungswesen in der Zeit des "schöpferischen Durchbruchs des deutschen Geisteslebens"!? nichts ausrichten. Denn abgesehen davon, daß der Rückgriff auf diesen Ursprung die Vorstellung einer Verfallsgeschichte impliziert, von der zu fragen ist, ob sie sowohl die gegenwärtig aufgetretene Undeutlichkeit als auch die Bedingungen zu ihrer Beseitigung durch diesen Rückgriff hinreichend zu erklären vermag, hat die Aufhellung der sprachlichen Vorgeschichte des Bildungsbegriffs einer differenzierteren Betrachtung dieses Ursprungs in seinem geschichtlichen Kontext den Platz bereitet. An die Stelle der Fiktion, daß der Zusammenhang von Bildungsbegriff und Bildungswesen in der Bildungsidee Herders, Goethes und Humboldts rein gegeben sei, ist die Einsicht getreten, daß "man mehrere historische Ansätze unterscheiden muß, deren
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Zusammenwirken erst zur Entstehung dessen, was wir heute als den Begriff der Bildung kennen, geführt h a t " 1 8 . Die Klage der Pädagogen über die Konturlosigkeit des Bildungsbegriffs enthält nicht nur das Bewußtsein der Distanz zu einer Epoche, in der der Bildungsbegriff noch in Geltung stand, in ihr ist ebenfalls die Aufgabe impliziert, diese Konturlosigkeit zu beseitigen. Soll nicht gänzlich auf den Begriff der Bildung verzichtet werden, so ist eine Klärung nur möglich, wenn auf die Geschichte dieses Begriffs rekurriert wird. Damit ist der Horizont des Themas umrissen. Verlangt nämlich die Untersuchung von Schleiermachers Begriff der Bildung eine Verständigung über diesen Begriff, weil es Schleiermachers Sprachgebrauch an Deutlichkeit fehlt, so ist diese Verständigung wegen der fehlenden Klarheit des Bildungsbegriffs in der Gegenwart an die Geschichte dieses Begriffs gewiesen, in der wiederum Schleiermacher seinen Ort hat. Denn wie auch immer die Geschichte des Bildungsbegriffs rekonstruiert wird, die Rekonstruktion ist in jedem Fall daran zu orientieren, daß dieser Begriff seine Bedeutung in der Goethezeitl9 erlangt hat, die zugleich auch die Zeit Schleiermachers ist. Die Untersuchung von Schleier mâcher s Bildungsbegriff kann insofern als ein Beitrag zu seiner Geschichte gelten, der zur Aufhellung der Bedeutung dieses Begriffs in der Gegenwart dient. Zunächst aber gilt es umgekehrt, den mit der Geschichte des Bildungsbegriffs gewonnenen Horizont im Blick auf Schleiermachers Begriff der Bildung zu bestimmen. II. Zur Geschichte des Bildungsbegriffs Daß der zu untersuchende Bildungsbegriff Schleiermachers auf die Geschichte dieses Begriffs bezogen werden muß, erlaubt eine doppelte methodische Bestimmung. Einerseits wird durch den Rekurs auf die Geschichte des Bildungsbegriffs eine Festlegung der Fragerichtung auf den anthropologischen und bildungsphilosophischen Ansatz Schleiermachers vermieden. So sehr es sich von Schleiermachers Pädagogik aus nahelegt, nach den anthropologischen und bildungsphilosophischen Voraussetzungen zu fragen, so wenig ist diese Fragestellung mit Schleiermachers eigenem Ansatz in eins zu setzen. Auch wenn die Struktur von Schleiermachers anthropologischen Anschauungen in der Gegenwart erstaunlich modern anmuten mag, so ist doch zu bedenken, daß Schleiermacher im Unterschied zur modernen Anthropologie "die grundlegende Thematik existentieller Abhängigkeit menschlichen Seins"20 nicht eigens erörtert hat, sondern daß diese Thematik eben "tief in dem gesamten philosophischen Denken Schleiermachers verankert ist"21. Andererseits wird durch den historisch bezogenen Bildungsbegriff Schleiermachers die Auffassung von der Geschichte dieses Begriffs bestimmt. Denn mit Schleiermachers Stellung innerhalb der Geschichte des Bildungs-
- 15 begriffs ist gerade der Abschnitt dieser Geschichte thematisch, in dem der Bildungsbegriff seine heute so umstrittene Bedeutung erlangt hat, die diese Geschichte von der Vorgeschichte des Begriffs abzuheben vermag. "An dem Begriff der Bildung wird am deutlichsten fühlbar, was für ein tiefgreifender geistiger Wandel es ist, der uns mit dem Jahrhundert Goethes noch immer wie gleichzeitig sein, dagegen selbst schon mit dem Zeitalter des Barock wie mit einer geschichtlichen Vorzeit rechnen l ä ß t " 2 2 . Die Untersuchung ist mehr daran interessiert, das Hervortreten des Bildungsbegriffs zu erkennen, als an einer Bestimmung und Einordnung der dabei aufgetretenen Bildungsvorstellung in die Geschichte des abendländischen Bildungsgedankens. Es ist etwas anderes, ob die verschiedenen Antworten auf die Frage nach "Sinn und Maß der Bildung" in der Geschichte des abendländischen Denkens betrachtet werden (Ballauf) oder ob darauf reflektiert wird, daß diese Frage nicht immer schon, sondern erst zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Situation explizit gestellt worden ist. In der historischen Orientierung ergänzen sich beide Bestimmungen. Durch seine Stellung in der Geschichte des Bildungsbegriffs ist Schleiermacher mit der Gegenwart verbunden, die die Folgen dieser Geschichte zu bewältigen hat. Zugleich ist in der Geschichte des Bildungsbegriffs der historische Abstand festgehalten, der Schleiermacher als mit am Anfang dieser Geschichte stehend von den Folgen dieser Geschichte in der Gegenwart trennt. Ohne die Geschichte des Bildungsbegriffs und ihre Erforschung auch nur annähernd würdigen zu können, sind im Hinblick auf die historische Ausrichung der Untersuchung einige vorläufige Überlegungen zur Bestimmung dieses Anfangs der Geschichte des Bildungsbegriffs unumgänglich. Die Krise der Kultur, die im Ersten Weltkrieg offenbar wurde, hat auch die selbstverständliche Geltung des Bildungsbegriffs in der Pädagogik und im Bildungswesen erschüttert. Sie zwang zu einer Neubesinnung, die auch auf den ursprünglichen Sinn von 'Bildung' zurückgegriffen hat. Um den geschichtlichen Vorgang der Ausbreitung des Bildungsbegriffs in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts zu erhellen, sind im weiteren Kontext der Reformpädagogik verschiedene Erklärungsversuche unternommen worden 1. Die wort- und begriffsgeschichtliche Forschung Gegenüber der einstigen Berufung auf die sprachschöpferischen Leistungen von Goethe24 oder von Herder und P e s t a l o ζ zi 2 5 hinsichtlich des Bildungsbegriffs versucht die sprachgeschichtliche Forschung, seine Ver-
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b r e i t u n g durch einen Bedeutungswandel bzw. Bedeutungszuwachs zu e r klären. In ihrer materialreichen Untersuchung hat I.Schaarschmidt^G sowohl die Vorgeschichte des Wortes in der Mystik des 14. J a h r h u n d e r t s , dann in der Barockmystik des 16. J a h r h u n d e r t s , die die organologischnaturphilosophische Bedeutung (Paracelsus) aufgenommen h a t , und schließlich in der Ästhetik der A u f k l ä r u n g , in der 'formieren' d u r c h 'bilden' v e r d r ä n g t worden ist, als auch die vorklassische Verbreitung des pädagogischen B e g r i f f s bei Kloppstock, Wieland und Geliert belegt. Die neue pädagogische Bedeutung von 'Bilden' ergibt sich nach Schaarschmidt als Resultat der Vereinigung des mystisch-naturphilosophischen und des ästhetischen Gebrauchs: "Durch Zusammenwachsen beider Wurzeln wird der religiöse Begriff verweltlicht, der ästhetische vergeistigt - in einem schwer ü b e r s e h b a r e n , komplizierten Sprachvorgang" (45). Als Problem f ü r die Rekonstruktion dieses S p r a c h v o r g a n g s , die in der These vom Zusammenwachsen der Traditionen eher verdeckt als gelöst wird, erweist sich der Übergang von der mystisch-naturphilosophischen Bedeutung von 'Bildung' als innerer Entwicklung zur aufklärerischen Bedeutung als Bezeichnung menschlicher Tätigkeit und ä u ß e r e r Einwirkung. In der Sprachgeschichte wird dieses Problem darin e r k e n n b a r , daß keine d u r c h g e h e n de Traditionslinie von der Mystik über den Pietismus zur Aufklärung gezogen werden k a n n , weil der Bildungsbegriff in der Pädagogik des Pietismus mit Ausnahme von Oetinger keine Bedeutung gehabt hat^?. G.Dohmen ist in umfangreichen Studien über "Bildung und Schule", die den wortgeschichtlichen B e f u n d in seinem anthropologischen Kontext und in seinem Verhältnis zur schulischen Pädagogik u n t e r s u c h e n , diesem Problem nachgegangen. Das Resultat, das die These von Schaarschmidt modifiziert, ist die Entdeckung eines schulpädagogischen Bildungsbegriffs, der in der zweiten Phase der Aufklärung a u f g r u n d der Bemühung um die Überwindung des psychologischen Dualismus der Wölfischen Philosophie im Zusammenhang mit und in Analogie zu dem ästhetischen Bildungsbegriff ausgebildet worden ist (Dohmen II, 235). Im Unterschied zu der A u f f a s s u n g von Bildung als innerem Bildungsprozeß, der zwar durch die Erweckung einer inneren Anlage h e r v o r g e r u f e n werden muß, was aber nicht durch eine schulische Veranstaltung erreicht werden k a n n , b e r u h t der pädagogische Bildungsbegriff auf dem "Glauben an die Fähigkeit der V e r n u n f t , die komplexen Zusammenhänge der menschlichen P s y c h e . . . , die Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Ganzen und die inneren Gesetze der Schöpfungsordnung klar zu erkennen und das Bestehende nach diesen höheren Einsichten planmäßig zu v e r b e s s e r n " (II, 23627a). Für Dohmens These, daß dieser aufklärerische Bildungsbegriff noch die schulische Bildungspraxis der Gegenwart bestimmt, während das Selbstv e r s t ä n d n i s der Lehrer am klassisch-humanistischen Bildungsbegriff a u s gerichtet ist (II, 238), steht die B e g r ü n d u n g durch die Untersuchung über die Entstehung und die S t r u k t u r des klassischen neuhumanistischen
- 17 Bildungsbegriffs noch aus (I, 18). Die These behauptet einen Gegensatz zwischen zwei Auffassungen, den es genauer zu bestimmen gilt. Denn der klassische deutsche Bildungsbegriff ist in Auseinandersetzung mit der Aufklärung und nicht in abstrakter Negation zu dieser entstanden und ist bei der Neuorganisation des Bildungswesens durch Humboldt auch im schulischen Bereich wirksam geworden. Aber als Voraussetzung für den klassischen deutschen Bildungsbegriff ist diese Differenz des vorklassischen Sprachgebrauchs zu dem klassischen festzuhalten. Denn sie ist Ausdruck der Problemlage, die sich mit der Reflexion der Aufklärung in Idealismus und Romantik gestellt hat. Soweit Schleiermacher in der Phase der Ausbildung des klassischen deutschen Bildungsbegriffs seinen Ort hat, die in der philosophischen Bewegung von Kant zu Hegel sich vollzogen hat28, i s t dieser Sprachgebrauch auch bei ihm zu vermuten und für diese Vermutung in seinen pädagogischen Vorlesungen ein Anhalt zu finden28a, ß e r rekonstruierte Prozeß des Zusammenwachsens der Bedeutungen hat bei Schleiermacher seinen Abschluß noch nicht gefunden. Vielmehr bleibt die Differenz in der Kritik an der Pädagogik der Aufklärung erhalten, die gegen deren als mechanistisch bezeichnete Auffassung auf der Unverfügbarkeit der Bildung des Menschen beharrt und die mystisch-naturphilosophische Bedeutung des Begriffs erneut zur Geltung bringt. Gleichwohl ist auch diese Bedeutung bereits modifiziert. Der unverfügbare Bildungsprozeß vollzieht sich keineswegs als urwüchsiger Naturprozeß und als bloß innerlicher Vorgang, sondern durch und mittels menschlicher Tätigkeit. So wird der Bildungsbegriff bei Herder zur umfassenden Kategorie, mit der er die Geschichte als einheitlichen Bildungsprozeß begreift, in welchem Natur, Seele und Geist in ihren Gestalten als Äußerungen von zugrundeliegender Kraft in ihrer Entwicklung sich darstellen^. Bei Goethe findet der Bildungsbegriff seine wirksame Ausprägung als Bezeichnung für den individuellen Werdegang des Menschen, der zwar vom eigenen Bildungswillen getragen, jedem planmäßigen Tun aber entzogen ist: "alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei"30. Wegen seiner Anwendung auf die Konstruktion des Bildungsprozesses der Menschheit wie des Menschen ist der Bildungsbegriff nicht geeignet, die pädagogische Tätigkeit unmittelbar zu bezeichnen. Pädagogik kann ihre Aufgabe nur im Zusammenhang des umfassenden Bildungsprozesses der Menschheit als Erziehung der Menschheit fassen oder ihre Tätigkeit in die im individuellen Bildungsprozeß vereinigten Begegnungen einbeziehen. Nicht mehr die Vermittlung von innerer Entwicklung und äußerer Einwirkung, sondern die Korrelation von Selbsttätigkeit und pädagogischer Einwirkung ist zu leisten. Die Verschiebung des pädagogischen Problems beruht aber nicht nur auf der genannten Modifikation der Bedeutung. Was bei Herder zunächst in dem polemischen Titel "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit" (1774) zum Ausdruck gekommen ist, hat Goethe in seiner
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Darstellung der Personwerdung explizit gemacht. Die Reflexion auf den Bildungsprozeß und seine Rekonstruktion sind konstitutive Merkmale für die Bildung sowohl der Menschheit als auch des Menschen. Der so bestimmte Bildungsvorgang ist in Hegels Phänomenologie des Geistes exemplarisch entwickelt worden. Diese Explikation des Bildungsbegriffs in der Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins^l bildet den Abschluß der philosophischen Bewegung, die von Kant ihren Ausgang genommen hat. In dem als reflektierten Bildungsprozeß gefaßten Bildungsbegriff ist eine Beziehung enthalten, deren Bestimmung eine Lösung des mit dem kantischen Dualismus von Natur und Freiheit für die Bestimmung des Menschen gegebenen Problems bedeutet. Indem des Menschen Bildung sich als der durch Reflexion ermöglichte Prozeß des Sich-Bildens vollzieht, sind in diesem Prozeß seine Natur und Freiheit vereinigt. Diese Beziehung ist es wohl gewesen, die, noch bevor die pädagogische Dimension dieses Prozesses, nämlich die Erhebung zu diesem Standpunkt selbst zum Inhalt des Bildungsbegriffs gemacht worflen ist, den Bildungsbegriff im Umkreis der Transzendentalphilosophie in der frühen Romantik heimisch gemacht hat, in der auch Schleiermacher seinen Ort hat. Denn dieser Begriff vermochte das Selb st Verständnis derer auszudrücken, die sich auf dem Boden der Transzendentalphilosophie als Gebildete verstehen konnten. 2. Die geistes- und ideen geschichtliche Forschung Die sprachgeschichtliche Rekonstruktion der Vorgeschichte des Bildungsbegriffs ist auf weitere geistesgeschichtliche Zusammenhänge verwiesen, die wegen ihres doppelten Ursprungs in der althochdeutschen Mystik und der Naturphilosophie der Renaissance - gestützt auf den Klassizismus des neuhumanistischen Bildungsbegriffs - eine alternative Bestimmung des traditionsgeschichtlichen Zusammenhanges erlauben. Die Alternative stellt sich in der Frage, ob der klassische deutsche Bildungsbegriff seinem traditionsgeschichtlichen Ursprung nach aus dem christlichen Vorstellungskreis der Gottebenbildlichkeit abzuleiten ist, der dann der Säkularisierung unterworfen worden ist, oder ob in ihm die antike, von Plato über Cicero und die Renaissance vermittelte Wiedererinnerungsvorstellung nach ihrer Vermischung mit christlichen Momenten zur ursprünglichen Reinheit zurückgefunden hat"*2. Sofern mit dieser Alternative eine Vorentscheidung über die Legitimität der Verbindung von Christentum und Bildung getroffen wird, ist diese Alternative, gerade wenn sie von außen an Schleiermacher herangetragen wird, als unsachgemäß abzuweisen. Denn wenn es in dem Streit um den Ursprung um das Verständnis der Gegenwart aus ihrer Herkunft geht, kann trotz der Distanzierung der Gegenwart von ihrer Vergangenheit diese nicht einfach liquidiert werden. Vielmehr ist in der Geschichte des abendländischen Bildungsgedankens die Synthese von Christentum und
- 19 33 antiker Bildung zu rekonstruieren . Das mit der Kategorie der Säkularisierung bezeichnete Problem ist nicht dadurch gelöst, daß ein Standpunkt außerhalb dieses Prozesses behauptet wird, auch wenn er als dessen Ursprung ausgegeben wird. Daß das Problem der Säkularisierung erkannt worden ist, ist selbst noch als Moment des bezeichneten Prozesses zu begreifen, der keineswegs schon durch seine Bezeichnung seinen definitiven Abschluß gefunden hat, sondern in das Stadium seines Begreifens eingetreten ist34. Für Schleiermacher ist diese Alternative schon deshalb als unsachgemäß abzuweisen, weil das später durch den Begriff der Säkularisierung bezeichnete Problem in der Gestalt der Entkirchlichung von ihm bereits reflektiert worden ist^^ a . Ungeachtet einer möglichen Kritik seiner Verbindung von Christentum und Bildung ist der mit dieser Reflexion erreichte Problemstand festzuhalten, hinter dem die bloße Alternative, wie die Entscheidung auch ausfallen mag, zurückbleibt. In eine andere, nicht durch eine solche Alternative belastete geistesgeschichtliche Perspektive hat H.G.Gadamer den Bildungsbegriff gestellt. Ihn leitet das Interesse, das wahre Selbstverständnis der Geisteswissenschaften als "Sachwalter des Humanismus" gegen ihre auf das Methodenproblem reduzierte Selbstdarstellung herauszuarbeiten, um so gegen den universalen Anspruch wissenschaftlicher Methodik die hermeneutische Dimension in ihrer vollen Reichweite aufzuschließen. "Der Begriff der Bildung, der damals zu beherrschender Geltung aufstieg, war wohl der größte Gedanke des 18. Jahrhunderts, und eben dieser Begriff bezeichnet das Element, in dem die Geisteswissenschaften des 19.Jahrhunderts leben, auch wenn sie das erkenntnistheoretisch nicht zu rechtfertigen wissen" ( 7 ) . Gadamer erschließt mittels des Bildungsbegriffs die humanistische Tradition in den Geisteswissenschaften, indem er anhand der Wortgeschichte den geschichtlichen Charakter des Begriffs herausstellt. Bildung läßt das, was zu Bildung führt, nicht hinter sich, sondern bewahrt es in sich ( 9 ) . Die Explikation von 'Bildung' als geschichtlichem Begriff zeigt Gadamer an der Philosophie Hegels auf, in der 'Bildung' unter dem Begriff der Erhebung zur Allgemeinheit gefaßt ist. Die Auslegung dieses Begriffs e r folgt durch den Begriff der Arbeit in Hegels Phänomenologie. Indem das arbeitende Bewußtsein die Dinge bildet, statt sie zu verzehren, bildet es sich selbst ( 1 0 ) . Die im Begriff der Arbeit erhaltene Selbständigkeit der Dinge, die Bildung zur Bildung macht, ist in der Idee der theoretischen Bildung bereits manifest·^, sie geht aus von der Entfremdung des subjektiven Geistes und führt zu seiner Versöhnung als Geist, der im Fremden das Eigene erkennt. Der exemplarische Fall der theoretischen Bildung ist aber als Moment eines Bildungsprozesses zu fassen, in welchem sich das Individuum immer schon befindet, indem es sich in einer durch Sprache und Sitte menschlich gebildeten Welt als vorgegebener Substanz bewegt ( 1 1 ) 3 6 . Dieses "Element des Geistes", in welchem der Bildungsprozeß stattfindet, wendet Gadamer gegen Hegel. Während für Hegels
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Philosophie des Geistes der Prozeß der Bildung sein Ende erreicht "mit der vollständigen Bemächtigung der Substanz" im absoluten Wissen, bleibt f ü r die historischen Geisteswissenschaften die Differenz des noch andauernden Prozesses der Aneignung durch die sich in der Aneignung Bildenden bestehen (12). Das wissenschaftliche Bewußtsein i s t , auch wenn der Prozeß der Bildung a n d a u e r t , nicht a n d e r s denn als gebildetes zu bestimmen. Diese Bestimmung ist a b e r , weil der Gebildete auf das Element der Bildung bezogen bleibt, nicht als Vermögen zu begreifen, sondern Gadamer bestimmt die Empfänglichkeit f ü r das a n d e r e , das Absehen von sich selbst als ' f ü r die Gesichtspunkte möglicher a n d e r e r ' geöffneter Sinn. "Das gebildete Bewußtsein ü b e r t r i f f t . . . jeden der natürlichen Sinne, als diese je auf eine bestimmte Sphäre eingeschränkt sind. Es selbst betätigt sich in allen Richtungen. Es ist ein allgemeiner Sinn" (14). Mit dem Begriff des allgemeinen Sinnes erschließt Gadamer im wissenschaftlichen Bewußtsein der Geisteswissenschaften die humanistische T r a dition, deren Kennzeichen e s ist, in Kritik an der Wissenschaft der 'Schule' dem Ideal menschlicher Weisheit nachzustreben (15). Die neuzeitliche Gestalt dieser Tradition läßt sich an Vicos Verteidigung des humanistischen Studiums aufzeigen. Gegen die erkenntniskritische Beschränkung der neuen Wissenschaft auf das Wahre und zu ihrer lebenspraktischen E r gänzung b e r u f t sich Vico auf das Ideal der Rhetorik und den sensus communis. Dieser Bestimmung liegt der von Aristoteles ausgearbeitete Gegensatz von theoretischem und praktischem Wissen, von sophia und p h r o n e sis zugrunde. Vicos Begriff des sensus communis, der den aristotelischen Gegensatz in seiner gegen die griechische Bildung gerichteten römischen Fassung aufnimmt, erweist sich als adäquate Auslegung dessen, was als gebildetes, wissenschaftliches Bewußtsein bestimmt ist: "Für V i c o . . . ist der sensus communis ein Sinn f ü r das Rechte und das gemeine Wohl, der in allen Menschen lebt, ja mehr noch ein Sinn, der durch die Gemeinsamkeit des Lebens erworben, durch seine O r d n u n gen und Zwecke bestimmt wird" (19). Indem Gadamer Bildung als das notwendige Element bestimmt, in welchem die Geisteswissenschaften sich bewegen (12) und das gebildete Bewußtsein als gebildeten allgemeinen und gemeinschaftlichen Sinn auslegt, e r schließt er die in den Geisteswissenschaften verkümmerte Tradition des Humanismus. Damit ist zweierlei zugleich e r r e i c h t . Einerseits wird der Dualismus von Geistes- und Naturwissenschaften nicht anhand des n a t u r wissenschaftlichen Methodenideals, sondern durch den aristotelischen Gegensatz von sophia und phronesis gedeutet. Gegen die Beschränkung auf methodisch gesichertes Wissen ist in der humanistischen Tradition die "Erf a h r u n g von Wahrheit" festgehalten, "die den Kontrollbereich wissenschaftlicher Methodik ü b e r s t e i g t " (XXV). Andererseits kommt diese Auslegung der Geisteswissenschaften als praktische Wissenschaft b e r e i t s zur Anwendung, wenn Gadamer dieses Selbstverständnis durch die Erschlie-
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ßung der verkümmerten humanistischen Tradition gewinnt und die Geschichte ihres Niedergangs gegenüber dem methodischen Wissen durch die Ästhetisierung des B e g r i f f s des 'sensus communis', der 'Urteilskraft' und des '.Geschmacks' sowie durch die Subjektivierung der Ästhetik r e k o n s t r u i e r t , die deren Wiedergewinnung dann e r ö f f n e t . Man mag f r a g e n , ob der Bildungsbegriff als humanistischer Leitbegriff, der das Humanitätsideal der aufgeklärten Vernunft d u r c h das Ideal einer 'Bildung zum Menschen' überbietet ( 6 f ) , die Vermittlung zwischen der humanistischen Tradition und dem Selbstverständnis der Geisteswissenschaften zu tragen vermag. Denn Gadamers gegen die Hegeische Versöhn u n g im Absoluten gerichtete Auslegung von Bildung als Element des Geistes und Gemeinsinn kann den von Hegel begrifflich ausgearbeiteten Bildungsprozeß des Geistes als geschehene Bildung n u r voraussetzen. Auch Gadamers Beschreibung der Bildung des historischen Bewußtseins als "Horizontverschmelzung" (286ff) setzt Gebildetsein schon v o r a u s , wenn im historischen Bewußtsein die Bewegung der Horizonte "ihrer selbst bewußt geworden" sein soll (288). Die E r h e b u n g zur Allgemeinheit, die schon in Schillers ästhetischer Erziehung zum pädagogischen Problem e r hoben i s t , kann in der Wechselbeziehung von Element der Bildung und sensus communis nicht bestimmt werden. Mögen vom Bildungsbegriff Hegels und vom pädagogischen Kontext des Neuhumanismus her Fragen an Gadamers Rekonstruktion der humanistischen Tradition in den Geisteswissenschaften zu richten sein, f ü r den Bildungsbegriff im Umkreis der Transzendentalphilosophie und Schleiermachers ist die Auslegung des gebildeten Bewußtseins als gebildeter allgemeiner und gemeinschaftlicher Sinn, der f ü r mögliche andere geöffnet ist, erhellend. Die Reflexion der Gebildeten auf ihre eigene Bildung ist n u r möglich, wenn zugleich ihr Sinn f ü r die Bildung anderer offen i s t . Für beides ist das Von-sich-absehen-Können unerläßliche Voraussetzung.
3. Die soziologische Forschung In der wortgeschichtlichen Rekonstruktion ist die Vorgeschichte des Bild u n g s b e g r i f f s als Bedeutungsverschiebung und -zusammenwachsen e r f a ß t , hinter denen geistesgeschichtliche Zusammenhänge e r k e n n b a r sind. Beide Fragestellungen können aber n u r Voraussetzungen f ü r den sprachgeschichtlichen Vorgang benennen, daß in der zweiten Hälfte des 18. J a h r h u n d e r t s der Bildungsbegriff eine weite Verbreitung gefunden h a t . Die romantische Kritik der Aufklärungspädagogik und das humanistische Erbe lassen 'Bildung' als Selbstverständnis der Gebildeten b e g r e i f e n . Soweit der sprachgeschichtliche Vorgang auf die Ausbreitung dieses gebildeten Selbstverständnisses bezogen werden k a n n , ist die Verbreitung des Bild u n g s b e g r i f f s als soziales Phänomen zu b e t r a c h t e n . H.Weil hat in seiner Untersuchung über die "Entstehung des deutschen Bildungsprinzips"
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(1930) zuerst den sozialen Kontext dieses Vorgangs aufgezeigt. Der Bildungsbegriff diente dem aufstrebenden, unpolitischen deutschen Bürgertum als Legitimation für die Gleichberechtigungsforderung gegenüber dem geburtsständisch bevorrechtigten Adel. Diese Funktion des Bildungsbegriffs als Indikator gesellschaftlicher Veränderung hat eine Analogie in dem auf 'Geschmack' beruhenden gesellschaftlichen Ideal des Gratian, das sich mit der Durchsetzung der absolutistischen Staatsform in Europa ausgebreitet hat^?. Während aber die Gesellschaft des guten Geschmacks um den Hof zentriert ist und das höfische Leben die humanistische Bildungswelt integriert, kennzeichnet der Bildungsbegriff die gegenüber dem Hof selbständige bürgerliche Geselligkeit, die unter der Kategorie der Öffentlichkeit von Habermas analysiert worden ist. "Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin"38. Besitz und Bildung sind die unerläßlichen Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zu dem seiner Tendenz nach permanenten Diskurs des Publikums, dem dann jeder, der diese Voraussetzungen erfüllt, angehören kann. Die konstitutive Bedeutung des Bildungsbegriffs für das Bürgertum drückt sich aus in der um 1790 aufgekommenen Bezeichnung der "Gebildeten Stände", die sich als schreibendes und lesendes Publikum vom Adressaten der öffentlichen Gewalt zur kritischen Instanz der öffentlichen Meinung gewandelt hat^^. Bildung als Kriterium der Zugehörigkeit zur Öffentlichkeit als Sphäre der Allgemeinheit erscheint als eine erwerbbare Fähigkeit, deren allgemeine Verbreitung durch entsprechende pädagogische Bemühungen garantiert werden kann. Diese Auffassung hat sich in Mendelssohns Reflexion und begrifflicher Präzisierung des neu aufgekommenen Sprachgebrauchs von Aufklärung, Kultur und Bildung niedergeschlagen: "Die Worte Aufklärung, Kultur und Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum... Indessen hat der Sprachgebrauch, der zwischen diesen gleichbedeutenden Wörtern einen Unterschied angeben zu wollen scheint, noch nicht Zeit gehabt, die Grenzen desselben festzusetzen. Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleisses und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbess e r n . . . Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung. Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen... Aufklärung hingegen scheint sich mehr auf das Theoretische zu b e z i e h e n " 4 0 . Wichtiger als die begriffliche Bestimmung des Sprachgebrauchs ist der Zusammenhang, in welchem Mendelssohn die drei Ausdrücke als "neue Ankömmlinge" erkennt. 'Bildung' als Einheit von theoretischer Aufklärung und praktischer Kultur repräsentiert solche "Modifikation des geselligen Lebens", in der sich das Bemühen seiner Glieder um seine Verbesserung ausdrückt. Um eine Verbesserung des geselligen Zustandes können sich
- 23 nur die Menschen bemühen, die sich dieses Zustandes als eines verbesserungsbedürftigen bewußt sind. Dies Bewußtsein zeichnet die gebildeten Stände vor dem "gemeinen Haufen" aus, der diese Ausdrücke der Verbesserung kaum versteht. Die Verbesserung des geselligen Lebens durch Bildung, Kultur und Aufklärung bedeutet dann aber nichts anderes, als daß die Allgemeinheit, die von den gebildeten Ständen als öffentlich räsonnierendes Publikum erst partiell realisiert ist, auch auf den gemeinen Haufen ausgedehnt wird. Aus dieser im Selbstverständnis der Gebildeten intendierten Allgemeinheit des Menschen schlechthin erwächst das Interesse der Aufklärung an der Pädagogik, das sich in der Ausprägung des pädagogischen Bildungsbegriffs niedergeschlagen hat. Die Allgemeinheit der gebildeten Öffentlichkeit ist nur solange gewährleistet, wie ein prinzipiell ungehinderter Zugang zu ihr aufgewiesen werden kann. Mendelssohns Bestimmung des B e g r i f f s der Bildung zeigt deutlich, daß der Zusammenhang, in dem das pädagogische Interesse an der Bildung anderer seinen Ort hat, selbst schon durch Bildung bestimmt ist. Nur der Gebildete hat ein Interesse an Bildung. Durch die Beziehung des Bildungsbegriffs auf das gesellige Leben ist die Dimension angezeigt, die Gadamer mit der humanistischen Tradition durch den Begriff des sensus communis erschlossen hat. Zugleich ist in die Auslegung des Bildungsbegriffs als besserndes Bemühen das Moment der Reflexion eingegangen, das das gebildete Bewußtsein auszeichnet. Die Rekonstruktion des sozialhistorischen Hintergrundes, vor dem die Ausbreitung des Bildungsbegriffes stattgefunden hat, läßt die Priorität des Bildungsbegriffs als Kriterium des bürgerlichen Selbstverständnisses in der Gestalt des Gebildeten vor seiner pädagogischen Fassung als Bezeichnung des Vorgangs der Verbreitung bzw. auch der Genese dieses Selbstverständnisses erkennen. Um die pädagogische Tätigkeit bzw. die Genese des Gebildeten als Bildung thematisieren zu können, muß das Ziel der Bildung bereits identifiziert sein. Der Bildungsbegriff bezeichnet zunächst einmal die Zugehörigkeit zu der von der öffentlichen Gewalt wie von der intimen Privatsphäre der Familie abgelösten Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit. Seine dieser Zugehörigkeit entsprechende Ausprägung findet der Bildungsbegriff in der Vorstellung von der allseitig harmonisch sich ausbildenden Persönlichkeit. Den Zusammenhang dieser klassischen Vorstellung der Bildung mit ihrem sozialen Hintergrund läßt Goethe in seinem Bildungsroman seinen Helden reflektieren^!. In einem Brief an seinen Schwager legt Wilhelm Meister seine Überzeugung dar, "daß er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden k ö n n e " 4 2 . Diese Bildung, d . h . "mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden", wäre ihm als Edelmann möglich, sie ist ihm aber als Bürger verwehrt, woran die Verfassung der Gesellschaft die Schuld trage. Denn der Bürger "kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren". Der Edelmann dagegen, dem es zur Pflicht wird, "sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben",
- 24 hat Ursache, "etwas auf seine Person zu halten und zu zeigen, daß er e t was auf sie hält". Dieser Gegensatz, daß der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, während der Bürger n u r einzelne Fähigkeiten ausbilden k a n n , um b r a u c h b a r zu werden, treibt den bürgerlich geborenen Wilhelm zum T h e a t e r . "Auf den B r e t t e r n erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den oberen Klassen." Die Vorstellung der sich harmonisch ausbildenden Persönlichkeit wird von Goethe in den oberen Ständen lokalisiert. Wegen des beschränkten Zugangs zu dieser Sphäre, die d u r c h das Kriterium der Bildung als einer der menschlichen Natur innewohnenden "unwiderstehlichen Neigung" in keiner Weise zu befriedigen vermag, wird eine andere nicht durch Geburt beschränkte Sphäre der Bildung etabliert. Damit v e r ä n d e r t sich der Modus der Repräsentation. Die am Hof lokalisierte Funktion der Repräsentation wird allgemein. Jeder Gebildete vollzieht die Darstellung seiner P e r son vor der Öffentlichkeit. Das Theater ist der Ort in der Gesellschaft, an dem dieses Ideal realisiert werden kann und an dem die Repräsentationsfunktion gegenüber einem in bürgerlicher Beschränktheit v e r h a r r e n den Publikum noch einmal zur Geltung kommt. Die harmonische Ausbildung der Persönlichkeit geschieht aber durch die Darstellung der Person in der gebildeten Geselligkeit, wo immer diese v e r a n k e r t wird. Die ihren bisherigen Rahmen sprengende Vorstellung einer sich harmonisch ausbildenden Persönlichkeit muß von dem, der sich diese Bildung geben will, zuvor gefaßt sein. Er muß die unwiderstehliche Neigung seiner Natur zu dieser Bildung gespürt und e r k a n n t haben, um sich harmonisch ausbilden zu können. Daher geht es auch n u r noch darum, einen Bereich zu finden, in dem diese Ausbildung möglich wird. Denn die Neigung seiner Natur zur harmonischen Ausbildung seiner Persönlichkeit e r k a n n t zu haben, zeichnet Wilhelm als Gebildeten a u s . Aber an die Stelle des Standesunterschiedes ist eine neue Differenz get r e t e n . Auch wenn die Allgemeinheit der Bildung gegen die Schranken der Geburt prinzipiell durchgesetzt ist, so bedeutet doch die Erkenntnis der Bildungsaufgabe eine Distanzierung von denjenigen, denen die 'Neigung ihrer Natur' nicht unwiderstehlich geworden ist. Genau diese Distanzierung vollzieht Wilhelm durch seinen Brief gegenüber seinem Schwag e r , dem Kaufmann Werner. Genau diese Distanzierung liegt auch in der Wahl des Theaters als Ort allseitiger Bildung, indem e s eine Repräsentationsfunktion gegenüber einem in bürgerlicher Beschränktheit lebenden Publikum e r f ü l l t . Gleichermaßen ist sie aber auch in Mendelssohns Hinweis enthalten, daß der gemeine Haufe die neuen Begriffe der B.üchersprache kaum v e r s t ü n d e . Diese Distanzierung hat aber keinen ausschließenden C h a r a k t e r . Vielmehr bleibt im Bewußtsein des Gebildeten die Herk u n f t als distanzierte bewahrt, so daß diejenigen, von denen sich der Gebildete a b h e b t , ihm als solche erscheinen, die sich noch nicht zum Standpunkt der Gebildeten erhoben haben, der ihnen prinzipiell offen s t e h t . Denn die mit der Bildung b e a n s p r u c h t e Allgemeinheit der Öffentlichkeit
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läßt sich nur dann behaupten, wenn sie als f ü r alle Menschen prinzipiell zugänglich erwiesen wird. Die von Goethe beschriebene Emanzipation der Gebildeten aus dem beschränkten Bereich ihrer gesellschaftlichen Herkunft hat im Bereich von Theologie und Kirche eine Parallele in Semlers Theologie des freien Protestantismus, die er von der kirchlichen Theologie und ihrer beschränkten Lehrart a b h e b t ^ . Hier ist es nicht die als adliges Privileg angesehene Vorstellung der harmonisch sich bildenden Persönlichkeit, sondern die wahre, auf die "moralische Geschichte" des Frommen gerichtete Absicht der christlichen Religion, die zur Distanzierung führt. Sie schlägt sich nieder in Semlers Unterscheidung von Fähigen und Unfähigen. Während in der 'moralischen Geschichte' der Fähigen die christliche Religion ihre wahre Absicht erreicht, bleiben die Unfähigen auf die äußere Gemeinschaft der Kirche und ihre Lehre angewiesen. Die harmonische Ausbildung ihrer Persönlichkeit durch die Gebildeten in Ablösung vom 'bürgerlichen Leben' findet in der moralischen Geschichte der Fähigen ihre Entsprechung. Zugleich sind aber die Unterschiede nicht zu übersehen. Der Bildungsprozeß der Fähigen ist nicht wie bei den Gebildeten auf eine unwiderstehliche Neigung ihrer Natur zurückzuführen, sondern ist durch die christliche Religion h e r v o r g e r u f e n ^ . ihre Absicht erreicht die christliche Religion aber nur in den 'Fähigen', d.h. in denen, die eine besondere natürliche Ausstattung besitzen, nicht in den Gebildeten, die die Neigung ihrer Natur erkannt haben. Jedem der beiden unterschiedenen Momente liegt eine Annahme zugrunde, die die Allgemeinheit dessen stützen soll, um dessentwillen die jeweilige Distanzierung geschehen ist. Die Allgemeinheit der harmonischen Ausbildung ist durch die Beziehung auf die Neigung der menschlichen Natur gewährleistet, gegenüber der der distanzierende Vorgang der Erkenntnis dieser Neigung zurücktritt. Die moralische Geschichte der Fähigen wird aber von der christlichen Religion ausgelöst, deren Allgemeinheit wiederum nur durch die natürlichen Unterschiede der Menschen hinsichtlich ihrer Befähigung gesichert sind. So konzentriert sich die Differenz in der verschiedenen Bestimmung der Reflexion des persönlichen Bildungsprozesses. Aber in dem, wodurch sie voneinander unterschieden sind, sind die beiden Emanzipationsvorgänge vergleichbar. In beiden ist nur das Resultat der Emanzipation festgehalten, ohne daß der Vorgang der Emanzipation selbst dabei sichtbar würde. Die Verschiedenartigkeit des Mediums, in welchem die Emanzipation geschieht, ist an dieser selbst als Unterschied sichtbar. Während die fähigen Christen wegen des umgreifenden Horizontes der christlichen Religion mit ihrer kirchlichen Gestalt verbunden bleiben können, solange die 'moralische Geschichte' der Fähigen toleriert wird, ist den Gebildeten der gesellschaftliche Bereich verschlossen, in welchem sie ihre Person darstellen können, so daß ein neuer Bereich f ü r die harmonische Ausbildung ihrer Persönlichkeit erschlossen werden muß.
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Zusammenfassung In der Parallelisierung der Gebildeten mit den Fähigen unter den Christen ist bereits das Thema von Schleiermachers Schrift über die Religion zu e r k e n n e n , die an die gebildeten Verächter gerichtet ist. Damit ist die Absicht dieser vorläufigen Bestimmung des Anfangs der Geschichte des Bild u n g s b e g r i f f s e r r e i c h t . Denn es galt die Situation zu skizzieren, in der der Bildungsbegriff die b e h e r r s c h e n d e Bedeutung noch nicht erlangt h a t t e , die später dem 19. J a h r h u n d e r t die Bezeichnung des "gebildeten J a h r h u n d e r t s " ( J . B u r c k h a r d t ) eingetragen h a t . Die Rekonstruktion des sprachgeschichtlich zu beobachtenden Vorgangs der Verbreitung des Ausdrucks der Bildung f ü h r t dazu, einen speziell pädagogischen von einem allgemeineren Gebrauch zu unterscheiden. Im allgemeineren Gebrauch dient der Bildungsbegriff zur Bezeichnung des Selbstverständnisses der Gebildeten. Von ihm her gewinnt erst der pädagogische Begriff seine Bed e u t u n g . Dies Selbstverständnis kommt in der Reflexion auf den s p r a c h geschichtlichen Vorgang durch Mendelssohn darin zum A u s d r u c k , daß 'Bildung' der Büchersprache angehöre und vom 'gemeinen Haufen' kaum verstanden werde. In Mendelssohns Bestimmung dieses B e g r i f f s als Oberbegriff f ü r die V e r b e s s e r u n g des geselligen Zustandes zeigt sich der sozialgeschichtliche Kontext dieses B e g r i f f s , dessen Zusammenhang mit der humanistischen Tradition von Gadamer herausgestellt worden i s t . Gegen Hegels Vollendung der Bildung im absoluten Wissen bleibt die Differenz zwischen dem Element der Bildung und dem gebildeten Bewußtsein bestehen, das als gebildeter Gemeinsinn erläutert wird. Mit diesem un vollendbaren Bildungspro zie ß der Gebildeten f ü h r t Gadamer hinter die A u f f a s sung der Bildung al$ - in der Pädagogik dann relevant gewordene - Genese des zu sich selbst kommenden Geistes zurück. Gleichwohl ist f ü r den gebildeten Standpunkt die Reflexion auf das Gebildetsein bestimmend, wie Goethe an Wilhelm Meister dargestellt h a t , indem dieser auf die gesellschaftlichen Bedingungen f ü r eine harmonische Ausbildung seiner P e r sönlichkeit r e f l e k t i e r t . Diese reflexive S t r u k t u r der Bildung als Prozeß des Sich-bildens unterscheidet diesen Begriff sowohl von dem a u f k l ä r e rischen Begriff als direkte pädagogische Einwirkung als auch von dem neuhumanistischen Begriff als Erhebung in die gebildete Allgemeinheit. Bei jenem ist diese S t r u k t u r als äußere allgemeine Bedingung f ü r die p ä d agogische Tätigkeit, bei diesem als innere Voraussetzung in dem pädagogischen Prozeß selbst gegeben. Beide Momente zusammengenommen lassen das gebildete Bewußtsein als "reflektierten Gemeinsinn" beschreiben, das auf den nicht geburtsständisch beschränkten Bereich einer geselligen Öffentlichkeit bezogen i s t , deren Zugehörigkeit allein durch das Kriterium der Bildung als "reflektierter Gemeinsinn" geregelt i s t . Welche Bedeutung f ü r das gebildete Selbstverständnis der transzendentale Idealismus gehabt hat, zeigt noch die Bemerkung Schleiermachers, in der er die Absicht seiner Monologen umreißt: Er habe v e r s u c h t , flen philosophischen Standp u n k t , wie es die Idealisten nennen, ins Leben zu ü b e r t r a g e n und den
- 27 Charakter darzustellen, der dieser Philosophie entspricht 1 ^. Der historische Ort, an dem Schleiermachers Begriff der Bildung aufzusuchen ist, kann durch das berühmte Fragment Schlegels über seine Zeit bezeichnet werden: "Die französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters"^. Denn durch diese drei größten Tendenzen ist das gebildete Selbstverständnis als Gemeinsinn, als reflektierter Gemein sinn und als Sich-Bilden im Sinne der harmonischen Ausbildung der Persönlichkeit charakterisiert. Die vorläufige Skizzierung des geschichtlichen Kontextes, innerhalb dessen Schleiermachers Bildungsbegriff seinen Ort hat, läßt den Abstand zum heutigen Sprachgebrauch erkennen. Die Untersuchung hat sich an einem Begriff von Bildung zu orientieren, der nicht auf den pädagogischen Gebrauch eingeschränkt ist, der vielmehr jene allgemeine Bedeutung hat, die nicht nur den individuellen Prozeß des 'Sich-Bildens', sondern auch die Verbesserung des geselligen Zustandes umfaßt. Sie wird sich daher nicht auf die pädagogischen Schriften Schleiermachers richten und aus ihnen und ihrer ethischen Grundlegung seine pädagogische Bildungstheorie zu erheben v e r s u c h e n 1 * S t a t t dessen wird sie anhand seiner Frühschriften zu bestimmen suchen, was Schleiermacher vor Augen gestanden hat, wenn er seine Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern gerichtet hat. Die Aufgabe wird im ersten Teil der Untersuchung gelöst werden, indem ausgehend von der Theorie des geselligen Betragens in den Monologen und schließlich in den Reden über die Religion die systematische Struktur von Schleiermachers Bildungsbegriff herausgearbeitet wird. Von ihm her läßt sich der innere Zusammenhang der Reden an die gebildeten Verächter sichtbar machen, an dem gezeigt werden kann, daß Religion und Christentum nicht in einem Gegensatz zur 'Bildung' zu sehen ist, so daß eine Kluft zu überwinden wäre48, sondern daß Schleiermacher mit Religion und Christentum die notwendige Voraussetzung seines Bildungsbegriffs zum Thema gemacht hat. Im zweiten Teil der Arbeit wird der an den Reden erhobene Zusammenhang zwischen der christlichen Religion und dem gebildeten Standpunkt in Schleiermachers späterem Werk untersucht werden. Ausgangspunkt dafür ist eine Veränderung seiner Auffassung der Begründung von Wissenschaft, die sich in seiner Rezension von Schellings "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" beobachten läßt. Während sich ihre Auswirkungen an dem Verhältnis zu seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit, den "Grundlinien einer Kritik der Sittenlehre" zeigen lassen, zeigt diese Veränderung zugleich eine Wandlung des gebildeten Standpunkts an, deren Folgen durch die veränderte zweite Auflage der Reden von 1806 dokumentiert sind. Die Untersuchung der zweiten Rede über das Wesen der Religion macht eine 'Aufhebung' des gebildeten Standpunktes sichtbar, insofern die indirekte Beziehung der Gebildeten auf den gemeinen Standpunkt als eine Beziehung gefaßt wird, die zwischen dem individuellen Lebensvollzug und seiner allgemeinen Darstellung besteht. Auf
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dem Hintergrund des v e r ä n d e r t e n systematischen Zusammenhangs der Reden wird Schleiermachers Begriff der Theologie als positive Wissenschaft eine Interpretation e r f a h r e n , die den inneren Zusammenhang mit der Konzeption der Reden deutlich machen wird. Zugleich wird sich eine Beschränkung der wissenschaftlichen Perspektive zeigen, die in den Lehnsätzen der Glaubenslehre überwunden ist, so daß diese sich als t h e ologische Rezeption der Religions- und Christentumstheorie der Reden verstehen lassen. Durch den Bildungsbegriff ist der Rahmen der Untersuchung abgesteckt. Sie beschränkt sich d a r a u f , die Funktion h e r a u s z u a r b e i t e n , die Religion und Christentum f ü r den gebildeten Standpunkt Schleiermachers haben, und ihre Darstellung als diesem Standpunkt angemessen zu identifizieren. Sofern sich trotz der 'Aufhebung' des gebildeten Standpunkts der Theologiebegriff Schleiermachers und die Einleitung der Glaubenslehre auf den systematischen Zusammenhang der Reden beziehen und i n t e r p r e t i e ren lassen, liefert die Untersuchung einen Beitrag zur Aufhellung der Differenz, die zwischen Schleiermachers romantischen Schriften und seinem theologischen Werk gemacht zu werden pflegt^®. Uber die historische Orientierung hinaus verfolgt sie, indem sie nicht n u r das Verhältnis von Religion und Christentum in den Reden auf dem Boden des Bildungsbeg r i f f s i n t e r p r e t i e r t , sondern auch eine Deutung des Verhältnisses von Religion und Philosophie, sowie von Religion und Theologie bzw. Theologie und Philosophie unternimmt, das systematische Interesse Schleiermachers Werk als eine Konzeption des Christentums u n t e r den Bedingungen der Neuzeit zu e r f a s s e n , deren Relevanz f ü r die Gegenwart trotz aller Kritik keineswegs erledigt zu sein scheint, so wenig wie das, was in der Geschichte des Bildungsbegriffs, an deren Anfang Schleiermacher s t e h t , aufbewahrt ist, trotz aller Abblendung vergessen werden k a i p .
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Α. DAS GEBILDETE SELBSTVERSTÄNDNIS. DER BILDUNGSBEGRIFF IN SCHLEIERMACHERS FRÜHSCHRIFTEN In der Einleitung wurde mit der Bestimmung des Ortes, an dem Schleiermacher in der Geschichte des Bildungsbegriffs zu stehen kommt, zugleich ein Vorbegriff davon gegeben, was bei Schleiermacher 'Bildung' bedeutet. Es wird zunächst darum gehen, diesen Vorbegriff an Schleiermachers Frühschriften zu identifizieren. Denn an ihnen kann der gewonnene Vorbegriff von Bildung bewährt und zugleich deutlicher erfaßt werden. Daß aber der Bildungsbegriff Schleiermachers aus seinen Frühschriften, d.h. den Schriften, die er während seiner Zugehörigkeit zum Kreise der Frühromantiker veröffentlicht hat, erhoben werden soll, bedarf einer Erklärung, und zwar in doppelter Hinsicht: Zunächst ist durch den Einsatz bei den Frühschriften eine Beziehung auf die Biographie indiziert, die genauer zu erfassen ist. Dann ist aber weiter zu erklären, warum der Bildungsbegriff an den Frühschriften und nicht schon an den "Denkmalen der inneren Entwicklung Schleiermachers" ausgewiesen wird, die Dilthey f ü r seine Biographie Schleiermachers ausgewertet hat 5 ®. Ausgehend von der Beobachtung, daß der Bildungsbegriff im systematischen Werk Schleiermachers nicht explizit thematisch ist, daß er aber für die Religionstheorie der Reden insofern eine Bedeutung hat, als ein Zusammenhang zwischen der Religionstheorie und den Adressaten der Reden, den gebildeten Verächtern, besteht, ist für die Untersuchung seines Bildungsbegriffs die zunächst ganz äußerlich aufgenommene Differenz zwischen den frühen Schriften und dem späteren, systematischen Werk Schleiermachers zu berücksichtigen. Denn läßt sich die Funktion und Bedeutung des Bildungsbegriffs in Schleiermachers Reden über die Religion angeben, so kann auch die Frage beantwortet werden, wie diese Funktion innerhalb seines Systems modifiziert und ausgefüllt und wodurch diese Modifikation verursacht worden ist. Ist es vom Thema der Untersuchung her erforderlich, verschiedene Abschnitte im Leben Schleiermachers zu unterscheiden und ihren Zusammenhang zu bestimmen, so steckt ihre thematische Begrenzung zugleich den Rahmen der Beziehung auf seine Biographie ab. Denn die Differenz hat sich nicht aus einem biographischen Interesse ergeben, sondern ist im Blick auf Schleiermachers Bildungsbegriff geltend gemacht worden. Deshalb hat sich die Untersuchung an der ausgeführten Darstellung dieses B e g r i f f s zu orientieren, während von einer Berücksichtigung seiner Vorgeschichte in den "Denkmalen" seiner inneren Entwicklung abgesehen werden muß. Geht es bei der Darstellung des Bildungsbegriffs anhand der Frühschriften Schleiermachers auch darum, die Bedeutung des gebildeten Standpunkts f ü r die Religionstheorie der Reden zu erfassen, so kann sich die Untersuchung nicht der verbreiteten Auffassung anschließen, die die feststellbaren Differenzen zwischen den Reden über die Religion und der Glaubenslehre mit Hilfe der Annahme erklärt, daß das gebildete Selbstver-
- 30 ständnis nicht mit der Tradition der christlichen Kirche vereint werden könne, daß Schleiermacher schon in den Reden die christliche Tradition in das religiöse Selbstverständnis der Gebildeten aufgelöst habe oder daß er als Theologe später in den Grenzen der kirchlichen Tradition befangen geblieben sei51. Vielmehr ist es notwendig, die Differenzen zwischen den Reden und der Glaubenslehre genauer zu bestimmen, indem Schleiermac h e r s Zuordnung von christlicher Tradition und gebildetem Selbstverständnis u n t e r s u c h t wird, wie sie zuerst in den Reden ihre Darstellung gefunden h a t , um von diesem Ergebnis aus dann die entsprechende S t r u k t u r in der Glaubenslehre zu identifizieren und deren Modifikation gegenü b e r den Reden zu bestimmen. Die implizite Entfaltung des Bildungsbegriffs wird so d u r c h g e f ü h r t werden, daß aus Schleiermachers "Versuch einer Theorie des geselligen Bet r a g e n s " der gesellige Zusammenhang, in welchem sich der Gebildete sehen muß, als konstitutives Moment seines Bildungsprozesses e r k a n n t , daß anhand der Monologen der Begriff der Selbstbetrachtung als Moment des gebildeten Selbstverständnisses entwickelt und daß schließlich in den Reden die Bedeutung der Religion f ü r das gebildete Selbstverständnis und das Christentum als die positive Religion f ü r die Gebildeten aufgezeigt wird.
I. Versuch einer Theorie des geselligen Betragens Einen e r s t e n Umriß des Schleiermacherschen Bildungsbegriffs aus seiner Theorie des geselligen Betragens zu gewinnen, die er als einen Versuch dem lesenden Publikum des "Berliner Archiv der Zeit und des Geschmacks" 1799 vorstellt, legt sich aus formalen wie inhaltlichen Gründen n a h e . Im Unterschied zu Reden und Monologen, deren literarische Darstellungsweise einen theoretischen Zugang zu dem, was in ihr dargestellt wird, verstellt, kann der Theorieversuch bei seinem Anspruch auf b e griffliche Explikation seines Gegenstandes behaftet w e r d e n 5 2 . Die in dem Theorieversuch b e a n s p r u c h t e Allgemeinheit liegt in dem b e g r ü n d e t , was zum Gegenstand einer Theorie gemacht wird. Das d u r c h den Begriff der Geselligkeit bestimmte Betragen des einzelnen b e t r i f f t jeden, der an Geselligkeit teilhat. Auf alle, die sich ihrer Zugehörigkeit zur Geselligkeit bewußt sind, t r i f f t zu, was in der Theorie entwickelt wird. "Freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins i h r e r e r s t e n und edelsten Bedürfnisse laut g e f o r d e r t " (3). In diesem programmatischen Satz, mit dem Schleiermacher seine Abhandlung beginnt, ist zugleich sichtbar, daß eine Beziehung zu seiner Religionsschrift b e s t e h t , wie auch, daß aus dem Begriff der Gebildeten die Darstellungsweise als Theorie gefolgert wird. Denn ist Geselligkeit ein B e d ü r f n i s aller gebildeten Menschen, dann muß das, was den Gebildeten gemeinsam i s t , auch eine dieser Gemeinsamkeit entsprechende Darstel-
- 31 lungsform finden. Das den Gebildeten gemeinsame B e d ü r f n i s nach Geselligkeit kann als Theorie expliziert werden. Die e r s t spät wiederentdeckte Abhandlung Schleiermachers hat f ü r die Interpretation seiner beiden literarischen F r ü h s c h r i f t e n besondere Bed e u t u n g . Denn dieser von seinem Thema her begrenzte und in seiner geschichtlichen Wirksamkeit weit hinter den Reden und Monologen z u r ü c k stehende Theorieversuch Schleiermachers zeigt sich d a d u r c h , daß das gesellige Betragen auf ein B e d ü r f n i s der Gebildeten z u r ü c k g e f ü h r t wird und daß die Regeln der 'guten Lebensart' aus dem Begriff des Gebildeten abgeleitet werden, als authentische Explikation dessen, was Schleiermacher als Gebildet sein v e r s t e h t 53. Der Ausdruck des 'geselligen Betragens' vereinigt zwei Momente, die sich wechselseitig bestimmen: Er bezeichnet zum einen ein Betragen der Gebildeten, das in Gesellschaft, d . h . in einer nicht n ä h e r bestimmten Gemeinschaft, vollzogen wird. Schleiermachers Theorieversuch hat nicht n u r 'individuelles Verhalten' zum Gegenstand, sondern dasjenige Verhalten der Gebildeten innerhalb der Gemeinschaft, in der sie sich immer schon befinden, das auf die V e r b e s s e r u n g ihres geselligen Zustandes z i e l t Z u m anderen wird aber nicht die Geselligkeit als solche zum Gegenstand einer Theorie, sondern n u r das gesellige Betragen der Gebildeten. Ist mit der Geselligkeit der d u r c h die französische Revolution b e stimmte Kontext politisch-gesellschaftlicher Theoriebildung angezeigt, so läßt sich schon darin, daß Schleiermacher das gesellige Betragen der Gebildeten zum Gegenstand einer Theorie macht, eine politische A u f f a s s u n g e r k e n n e n , an der Schleiermacher vor allem in seinem Kampf um die Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat festgehalten hat55. Die Geselligkeit, auf die die Gebildeten bezogen sind, wird nicht mit dem Staat identifiziert und in einer politischen Theorie entfáltet. Vielmehr ist Geselligkeit, als Geselligkeit der Gebildeten gefaßt, nicht n u r durch Freiheit und Ungebundenheit gekennzeichnet, sondern auch durch die Distanz zu denen, über die sich die Gebildeten erhoben wissen, und zum gemeinen Leben. Die theoretische Darstellung der gebildeten Geselligkeit erhält gegenüber den anderen beiden F r ü h s c h r i f t e n geradezu eine hermeneutische Funktion56, weil Schleiermacher seine Reden und Monologen als bestimmte Formen des geselligen Umgangs stilisiert h a t , dessen Theorie Gegenstand dieser Schrift i s t . Es wird daher im folgenden darum gehen, in der Theorie des geselligen Betragens den zugrundeliegenden Begriff des Gebildeten zu e r f a s s e n .
1. Die Notwendigkeit einer Theorie des geselligen Betragens f ü r die Gebildeten Schleiermacher muß zuerst die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer Theorie des geselligen Betragens erweisen. Denn indem er freie Gesellig-
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keit nicht als ein B e d ü r f n i s aller Menschen, sondern aller gebildeten Menschen bestimmt, ist die Aufstellung einer Theorie n u r dann gerechtfertigt, wenn in dem Begriff des Gebildeten die in der Theorie b e a n s p r u c h t e Allgemeinheit gegeben i s t . Neben der Möglichkeit ist dann die Notwendigkeit der Theorie des geselligen Betragens f ü r die Gebildeten zu b e g r ü n d e n . Denn das B e d ü r f n i s nach f r e i e r Geselligkeit findet seine Befriedigung nicht in einer Theorie, sondern im geselligen Betragen selbst. Beides hat aber seinen Grund in dem, was Schleiermacher u n t e r einem gebildeten Menschen v e r s t e h t . Daraus, wie er die Aufstellung einer Theorie des geselligen Betragens b e g r ü n d e t , kann sein Begriff des Gebildeten erschlossen werden. Die Theoriemöglichkeit ergibt sich aus der näheren Erläuterung d e s s e n , was Schleiermacher zunächst als B e d ü r f n i s aller gebildeten Menschen b e zeichnet hat. Das B e d ü r f n i s nach freier Geselligkeit ist auf das höhere "Ziel des menschlichen Daseins" (3) gerichtet. Dies Ziel ist als höheres negativ bestimmt. Es liegt jenseits der "Beschränkungen der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse" (4). Der bürgerliche Beruf bannt die Tätigkeit des Geistes ebenso in einen engen Kreis, wie im häuslichen Leben der Kreis der Menschen, mit denen man umgeht, b e s c h r ä n k t ist (3). Dem B e d ü r f n i s der Gebildeten liegt ein Verständnis des Menschen z u g r u n d e , das in den Schranken der äußeren Verhältnisse, der häuslichen wie der b ü r g e r l i c h e n , nicht a u f g e h t . Auf diesem, die äußeren Schranken ü b e r steigenden Verständnis des Menschen b e r u h t die Möglichkeit der Theoriebildung. Das, was das höhere Ziel des menschlichen Daseins i s t , zeigt sich in dem B e d ü r f n i s der Gebildeten nach freier Geselligkeit. Aus der Einsicht in die Schranken des gewöhnlichen Lebens erwächst das B e d ü r f nis nach einem Zustand, in dem alle Beschränkungen der Verhältnisse "auf eine Zeitlang" verbannt sind (4). Freie Geselligkeit ist also ein Freiraum, in den der Mensch, der sein Menschsein in den Schranken der Verhältnisse nicht erfüllt sieht, eintreten und den er wieder verlassen kann. Ein Mensch, der das B e d ü r f n i s nach dieser freien Geselligkeit v e r s p ü r t , ist ein Gebildeter. Ihm sind die Schranken seiner Freiheit an den ä u ß e ren Verhältnissen bewußt geworden. Ohne diese Verhältnisse vollständig hinter sich lassen zu wollen oder zu können (wie Wilhelm Meister), sucht der Gebildete in Schleiermachers Theorie eine weitere Sphäre des Lebens, eine Sphäre der Freiheit, in der "der Mensch ganz in der intellektuellen Welt (ist) und als ein Mitglied derselben handeln" kann ( 4 ) . Indem der Gebildete im Bereich der freien Geselligkeit die Erfüllung des Menschseins ü b e r h a u p t s u c h t , ist die Allgemeinheit der Theorie gegeb e n . Das gebildete Selbstverständnis schließt den Anspruch ein, nach dem zu s t r e b e n , was in allen Menschen angelegt i s t . Was die Gebildeten auszeichnet, ist, daß sie dies Wesen des Menschen e r k a n n t haben und es zu verwirklichen suchen. Besteht die Möglichkeit f ü r die Theoriebildung Schleiermachers darin, daß das gebildete Verständnis des Menschen seine Erfüllung im Zustand
- 33 der freien Geselligkeit findet, wobei auf ihn die von Haberraas herausgearbeiteten Kriterien der Institutionen der Öffentlichkeit zutreffen57, s o ergibt sich die Notwendigkeit der Theoriebildung aus der Differenz zwischen dem aus dem Verständnis des Menschen folgenden Idealzustand der freien Geselligkeit und ihrem gegenwärtigen Zustand. Das den Gebildeten bestimmende Bedürfnis nach freier Geselligkeit als Bereich freier Entfaltungsmöglichkeit für menschliche Individuen transzendiert nicht nur die Schranken der äußeren Verhältnisse, sondern auch jeden Zustand der Geselligkeit selbst, der hinter dem Ideal der freien Geselligkeit zurückbleibt. Der gegenwärtige Zustand der Geselligkeit zeigt sich dem Gebildeten als verbesserungsbedürftig. Zum Zwecke der Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes der Geselligkeit ist die Aufstellung einer Theorie unumgänglich. Da freie Geselligkeit auf "dem freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen" (4) beruht, also frei von einer "öffentlichen Gewalt" ist, kann jede Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes nur dadurch bewerkstelligt werden, "daß jeder Einzelne sein gesellschaftliches Betragen diesem Zweck gemäß einrichte" ( 4 ) . Dieser zweckmäßigen Einrichtung des geselligen Betragens dient Schleiermachers Versuch einer Theorie dieses Gegenstandes. Die Begründung der Theorie durch die Verbesserungsbedürftigkeit des gegenwärtigen Zustandes der Geselligkeit bringt eine andere Seite des gebildeten Selb st Verständnisses zum Tragen. Nicht auf die Distanz gegenüber beschränkenden Verhältnissen, wie sie den Beginn der Bildung Wilhelm Meisters kennzeichnet, sondern auf die Verbesserung des geselligen Zustandes, worin Mendelssohn die Bedeutung des Wortes Bildung erkannt hat, bezieht sich Schleiermac h e r S o ist sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit des Theorieversuchs Schleiermachers in einem Verständnis des Gebildeten begründet, das in sich eine auf Zeit beschränkte Distanz zu den äußeren Verhältnissen und das Streben nach Angleichung des durch die Distanz gewonnenen Zustandes freier Geselligkeit an das Ideal vereinigt. Durch die zeitweilige Distanz wird ein Freiraum für die Gebildeten konstituiert , der dann durch ihr verbesserndes Tun ausgefüllt und vollkommener gestaltet wird. Mag auch, worin eine stärkere Affinität Schleiermachers zur aufklärerischen Philosophie der Hallischen Schule als zur Philosophie Kants und Fichtes sichtbar w i r d d e r Ausgleich zwischen dem höheren und dem gewöhnlichen menschlichen Leben mit Hilfe der zeitlichen Periodisierung ebensowenig befriedigen wie der Ausgleich zwischen dem Ideal der freien Geselligkeit und den zu diesem Zweck bestehenden Gesellschaften durch das Gesetz des Schicklichen60, den Schleiermacher in seiner Theorie unternimmt: im Zusammenhang unserer Untersuchung kommt es auf den Ausgangspunkt der Schleiermacherschen Theorie an. In Schleiermachers Verständnis des Gebildeten ist immer schon vereint, was durch theoretische Anstrengung gewonnen werden soll. Im gebildeten Selbstverständnis ist die Möglichkeit zu einem quantitativ zeitlichen Ausgleich des höheren und des gewöhnlichen Lebens ebenso vorausgesetzt wie die Möglichkeit, das Bedürfnis nach freier Geselligkeit mit dem Gesetz
- 34 des Schicklichen zu vereinigen. Die f ü r das gebildete Selbstverständnis konstitutive Distanzerfahrung gegenüber seiner Herkunftswelt ist bei Schleiermacher b e r e i t s wieder integriert und transformiert in das v e r b e s s e r n d e Handeln der Gebildeten im abgegrenzten Bereich der Geselligkeit. Daß jede V e r b e s s e r u n g des geselligen Zustandes durch die zweckmäßige Einrichtung des geselligen Betragens des einzelnen auf Theorie angewiesen ist, demonstriert Sc hie ierm acher durch die Widerlegung der entgegengesetzten Position, wie sie vom Virtuosen und seinen Bewunderern, den Dilettanten, eingenommen wird (5). Den Dilettanten sucht Schleiermacher die Augen zu öffnen f ü r die gegenseitige E r g ä n z u n g , die zwischen dem am einzelnen haftenden Virtuosen und dem um die Stellung des einzelnen im Ganzen bemühten Theoretiker b e s t e h t . Diese Gegenüberstellung deutet schon die Widerlegung des sich auf das einzelne v e r s t e i f e n den, des auf die individuell sich zeigende Feinheit des geselligen B e t r a gens fixierten Virtuosen, der einer allgemeinen Reglementierung mit Mißtrauen b e g e g n e t . Schleiermacher zeigt, daß von den beiden Quellen der virtuosen Vollkommenheit (6), von denen eine Verbesserung des geselligen Zustandes ausgehen könnte, die Nachahmung einer in sich selbst mannigfaltigen und durch vielerlei Umstände bedingten Handlung b e r e i t s die Leistung einer von den konkreten Umständen teilweise a b s t r a h i e r e n den Reflexion enthält, die in der nachahmenden Handlung bereits als "Regel" in einer zumindest teilweise anderen Situation zur Anwendung kommt. Die B e r u f u n g aufs Gefühl aber versteht Schleiermacher in Analogie zum Gewissen in der Ethik als B e r u f u n g auf einen in jedem "gebildeten Individuo" gesetzten Richter über die einzelnen Urteile und besonderen Regeln in den Angelegenheiten der Geselligkeit. Die B e r u f u n g auf ein "allgemeines, in dem Wesen der menschlichen Natur gegründetes Gefühl" (6) verleiht dem Gesetz, das ihm gemäß i s t , den Anspruch auf allgemeine AnerkennungGl. Indem also auch die Virtuosen immer schon die Allgemeinheit von Regeln bzw. das Gefühlsgesetz in Anspruch nehmen, auch wenn sie "es immer, ich weiß nicht mehr verschmähen oder versäumen, den Umriß des Ganzen zu ziehen, und jedem Einzelnen eine bestimmte Stelle anzuweisen" (5), ergibt sich die Aufstellung einer Theorie als ein unumgängliches Problem, wenn nicht jede Ausübung n u r eine "blinde unzusammenhängende Empirie" sein soll. "Der Theoretiker ist e s , der bei der ganzen Untersuchung auf dem höchsten Standpunkt s t e h t ; er allein sucht den Schlüssel des Rätsels und die letzten Gründe der Handlungen; er allein will das gesellige Leben als ein Kunstwerk k o n s t r u i e r e n , da Virtuosen es oft n u r als eine schöne Fantasie b e t r a c h t e n ; er allein will dem, was diese schönes und t r e f f e n d e s sagen, dadurch letzte Vollendung geben, daß er ihm seine Stelle im System anweist" ( 6 f ) . Die Einsicht, daß jedes einzelne eine Stelle im umgreifenden Ganzen inneh a t , ist e s , die den Theoretiker vor dem Virtuosen auszeichnet. In dieser
- 35 Einsicht gründet der konstruktive Entwurf des Systems, durch den dem einzelnen seine Stelle angewiesen werden kann. Eben diese Einsicht vermißt Schleiermacher in den bisherigen Versuchen einer theoretischen Erfassung. Diese geben nur "einzelne Winke und Bemerkungen" wieder, sie enthalten "formlose Sammlungen" von "gleichsam abgerissenen Teilen". In ihnen kann man das Ganze nur "ahnden", während sie nur die "verkehrteste Ansicht des Ganzen" hervorbringen können. Die Ursache für diesen Mangel, den Schleiermacher exemplarisch durch Knigges "Umgang mit Menschen" belegt sieht, erkennt er in dem, was man den Eudämonismus der Aufklärung nennen kann. Diese Theoretiker des Virtuosen sind auf das Glück in der Welt aus und vermögen nicht die Kunst um ihrer selbst willen, statt um weltlichen Glücks willen, zu lieben. Weil sie diese Absonderung von der Welt nicht vollziehen, kann Schleiermacher diese vermeintlichen Virtuosen Handwerkern gleichsetzen, die ihr "Geschäft um des Gewinnes willen treiben" (7). Schleiermachers Widerlegung des Virtuosen und seine Polemik gegen die Theoretiker des Virtuosen erlauben eine nähere Bestimmung seines Bildungsbegriffs. Der entscheidende Vorwurf, den Schleiermacher gegen beide richtet, ist das Fehlen eines klaren Begriffs des Ganzen. Während der Virtuose des geselligen Betragens nur versäumt, den Umriß des Ganzen zu ziehen, hat der Theoretiker des Virtuosen noch nicht einmal den Bereich der Geselligkeit von der Welt abgegrenzt, so daß kein deutlicher Begriff von ihr aufgestellt werden kann. Das meint Schleiermacher dadurch leisten zu können, daß er seine Theorie auf den "ersten in jedem Menschen von selbst vorhandenen Begriff" (7) der freien Geselligkeit gründet, diesen Begriff als "höheres Ziel des menschlichen Daseins" vom gewöhnlichen Leben abhebt und seine Verwirklichung zum Bedürfnis der Gebildeten erklärt, das diese zeitweilig im geselligen Umgang miteinander befriedigen können. Es kommt ihm darauf an, daß das, worin die Bestimmung des Menschen besteht, wohl unterschieden wird als "eins der ersten und edelsten Bedürfnisse", das von den Gebildeten wahrgenommen wird in einem Bereich, in dem die Schranken des häuslichen und bürgerlichen Lebens aufgehoben sind. Aus dieser Partikularisierung des Allgemeinen und aus der partikularen Integration dessen, worin Schleiermacher mit seinen Zeitgenossen die Bestimmung des M e n s c h e n 6 2 sieht, resultiert der unpolitische Charakter seines Theorieversuchs. In diesem abgegrenzten Bereich der freien Geselligkeit soll das "höhere Ziel menschlichen Daseins" eine Erfüllung finden, die ihm gegenwärtig noch abgeht. Eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes kann nur durch das freie Tun der einzelnen selbst erfolgen, aber nicht durch das unmittelbare gesellige Handeln allein, wie es der Virtuose zeigt, sondern dadurch, daß der Gebildete sein geselliges Handeln auf das Ganze bezieht, das als Idee der Geselligkeit in ihm vorhanden ist. Dieses Beziehen ist eine Leistung, die nur mittels einer Theorie vollbracht werden kann, in der "ein im Umriß vollendetes System des geselligen Betragens" (5) aufgestellt wird.
- 36 Die Funktion der Theorie besteht also in der um des einzelnen willen notwendigen Explikation des umgreifenden Ganzen, in dem das einzelne gesellige Betragen seinen Ort h a t . Darin ist ein weiteres Merkmal des Bild u n g s b e g r i f f s enthalten, das schon bei der Integration des abgesonderten Bereichs gebildeter Geselligkeit in Anspruch genommen worden ist: die Beziehung auf das umgreifende Ganze.
2. Der Begriff der freien Geselligkeit und die Konstitution einer Theorie des geselligen Betragens Das in Schleiermaehers Begriff des Gebildeten eine Beziehung auf ein umgreifendes Ganzes enthalten i s t , ist einerseits schon daran zu e r k e n n e n , daß der Bereich der Geselligkeit in den Gesamtbereich dessen, was man als Lebenswelt des Gebildeten bezeichnen k a n n , einbezogen wird, obwohl in ihm das höhere Ziel des menschlichen Daseins zur Erfüllung kommt, das seinerseits psychologisch u n t e r die B e d ü r f n i s s e des Gebildeten eingereiht wird. Diese Integration des einzelnen als eines u n t e r anderen in einem Ganzen hat Schleiermacher a n d e r e r s e i t s als die Theoriegestalt e x pliziert, mit deren Hilfe er den Widerstreit zwischen a b s t r a k t e r Theorie und blinder Empirie zu überwinden s u c h t . Der Theoretiker steht dem Virtuosen nicht so g e g e n ü b e r , daß er sein individuelles Handeln n e g i e r t , indem er es bloß als einen Fall u n t e r das Gesetz des Allgemeinen s u b s u miert, sondern er stellt ebenso wie der Gebildete gegenüber den ungebildeten Menschen eine ergänzende Bereicherung dar, indem er den Umriß des Ganzen als System darstellt, in das das einzelne Handeln eingezeichnet und bestimmt werden k a n n . Der Gebildete ist nicht mit dem Theoretiker identisch, sondern er vereinigt in sich beides. Der Gebildete ist der wirkliche Virtuose, weil er die Stelle seines geselligen Handelns im Ganzen bestimmen kann. Die Theorie liefert n u r den Umriß des Ganzen, die einordnende Bestimmung muß jeweils neu vollzogen werden. Gegenstand der Theorie des geselligen Betragens ist das, was das Gebildetsein des Gebildeten ausmacht. Das höhere Ziel menschlichen Daseins, auf das sich d a s B e d ü r f n i s des Gebildeten r i c h t e t , ist die freie Geselligkeit. Indem Schleiermacher die Bestimmung des Menschen in der Form der Geselligkeit expliziert, nimmt diese Explikation die Gestalt der Theorie a n , die das einzelne als Teil eines umgreifenden Ganzen v e r s t e h t . Das höhere Ziel menschlichen Daseins erlangt der Gebildete im geselligen Umgang mit Gebildeten. Er ist ein einzelner u n t e r einzelnen, die zusammen das Ganze der freien Geselligkeit bilden. Nur weil die Gebildeten geselligen Umgang miteinander h a b e n d stehen sie einander nicht disparat und abstoßend g e g e n ü b e r , sondern sind als Teile eines Ganzen aufeina n d e r angewiesen. In diesem Selbstverständnis^^ der Gebildeten, in diesem Aufeinander-Angewiesen-Sein um ihrer selbst willen, als Glied und Teilhaber am Ganzen, gründet der Theorieversuch. Das höhere Ziel menschlichen Daseins können die Gebildeten n u r so e r f ü l l e n , daß ihnen
- 37 der Umriß des Ganzen als System zu Gebote s t e h t , in dem dem einzelnen seine Stelle angewiesen werden k a n n . Auf dem Boden eines solchen Theorieentwurfs ist der gesellige Umgang f ü r den einzelnen Gebildeten klar und durchsichtig, wie er in Schleiermachers Beschreibung des Zustandes jenseits der Schranken der häuslichen und bürgerlichen Verhältnisse zum Ausdruck kommt: "Es muß also einen Zustand geben, der diese beiden e r g ä n z t , der die Sphäre eines Individui in die Lage b r i n g t , daß sie von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle Erschein langen der Menschheit ihm nach und nach bekannt und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm b e f r e u n d e t und gleichsam nachbarlich werden können. Diese Aufgabe wird durch den freien Umgang v e r n ü n f t i g sich untereinander bildender Menschen gelöst" ( 3 f ) . Schleiermacher begreift den Gebildeten als ein Individuum, das sich seiner Individualität als einer partikularen Erscheinung der Menschheit bewußt ist und a u f g r u n d dieses Selbstverständnisses ununterbrochen d a r um bemüht i s t , in geselligen Umgang mit anderen individuellen Menschen zu t r e t e n , um die Totalität der Menschheit und damit sein eigenes Menschsein nach und nach kennen zulernen. Insofern ist Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens eine 'Bildungstheorie'. Sie expliziert das im Begriff des gebildeten Individuums enthaltene Selbstverständnis als Glied eines größeren Ganzen und setzt das so gewonnene Ideal der freien Geselligkeit von gebildeten Individuen zum Kriterium f ü r das gesellige Bet r a g e n . Das kommt schon darin zum A u s d r u c k , daß es f ü r den Gebildeten unerläßlich ist, die f r e i e , d . h . "um i h r e r selbst willen" (8) gesuchte Geselligkeit überall dort zu bilden und zu unterhalten, wo die physische Möglichkeit f ü r eine Gesellschaft gegeben i s t . Denn auf Geselligkeit ist der mit dem Gebildetsein gesetzte Imperativ seines Handelns gerichtet. Und umgekehrt besteht Geselligkeit n u r durch die freie Tätigkeit, die Spontaneität des einzelnen. Bedeutet der Zustand freier Geselligkeit f ü r den einzelnen auch Empfänglichkeit, "Aussicht in eine andere und fremde Welt", - ihm liegt immer schon das freie Tun des Individuums z u g r u n de, durch das er in die Gesellschaft eintritt und zu anderen Individuen in Beziehung t r i t t . Die weitere Entfaltung des B e g r i f f s der freien Geselligkeit ist an dem "Prädikat der Freiheit" (9) orientiert, die Schleiermacher als Freiheit von äußeren Zwecken und von äußerer Bestimmung v e r s t e h t . Freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene Geselligkeit ist eine Geselligkeit, die "um i h r e r selbst willen gesucht wird" (8). Ihr Bestand b e r u h t allein auf der freien Tätigkeit der gebildeten Individuen. Das freie Handeln des gebildeten Individuums ist auf das ebenfalls freie Handeln der anderen Individuen angewiesen. Denn das Individuum als eine Erscheinung der Menschheit ist bestimmt, und gleichermaßen ist auch das freie Handeln
- 38 dieses Individuums dadurch bestimmt. So ist das von äußeren Zwecken freie Handeln des Individuums geselliges Handeln, in dem sich nicht n u r die individuelle Freiheit darstellt, sondern das zugleich auf die Ergänzung d u r c h die anderen Individuen, auf deren freies Handeln als D a r stellung i h r e r individuellen Freiheit aus i s t . Indem das freie, d . h . gesellige Handeln des einzelnen Individuums das freie und gesellige Handeln der anderen Individuen zum Ziel hat, besteht der Zustand f r e i e r Geselligkeit in der Gestalt "durchgängiger Wechselwirkung". Freiheit und Wechselwirkung schließen einander nicht a u s , weil Freiheit an die individuelle Erscheinung der Menschheit gebunden i s t . Denn es ist in jedem individuellen Handeln aus Freiheit mitgesetzt, ein ebenfalls f r e i e s Handeln von anderen Individuen zu bewirken. Diese "Kausalität der Freiheit" u n t e r den gebildeten Individuen zeichnet die durchgängige Wechselwirk u n g der freien Geselligkeit a u s . Ihre Bedingung ist allein, daß die Einwirkung "auf keine Art einseitig" (9) sein d a r f , weil dadurch die Allseitigkeit des Individuums und damit seine Freiheit beschränkt würde. So gilt: "Die Wirkung eines Jeden soll gehen auf die Tätigkeit der übrigen und die Tätigkeit eines Jeden soll sein seine Einwirkung auf die anderen" (10). Die Einwirkung b e r u h t nicht n u r auf f r e i e r Tätigkeit, auch die Wirkung selbst soll freie Tätigkeit sein. Diese Wirkung, das freie Handeln eines Individuums, wird dadurch erzielt, daß das Individuum "zur eigenen Tätigkeit a u f g e r e g t wird", indem ihm die freie Tätigkeit eines anderen Individuums zum Objekt seiner Anschauung gemacht wird (10). In seinem Theorieversuch ist Schleiermacher darauf aus, diesen Begriff der freien Geselligkeit, der dem gebildeten Selb st Verständnis innewohnt, mit dem Bereich des geselligen Umgangs der Menschen zu identifizieren. Dadurch wird dieser Bereich menschlichen Lebens als ein eigenständiger Bereich konstituiert. Darauf g r ü n d e t sich dann die Möglichkeit, an seiner V e r b e s s e r u n g zu arbeiten. Diese Identifikation vollzieht Schleiermacher schon terminologisch, indem er die freie Geselligkeit als "Gesellschaft im eigentlichen Sinn" verstehen will (8) und 'Gesellschaft' so von 'Gemeinschaft' unterscheidet, daß diese entgegen heutigem Sprachgebrauch durch einen äußeren Zweck gebunden, ihren Teilhabern also etwas ander e s gemein ist, als daß jeder n u r er selbst ist (8, A n m . ) . Diese Identifikation kommt auch darin zum T r a g e n , daß Schleiermacher das freie Handeln der Individuen in durchgängiger Wechselwirkung als "freies Spiel der Gedanken und Empfindungen" bestimmt (10). Freie Geselligkeit vollzieht sich in Gesellschaften, die die gebildete Konversation pflegen® 5 . Schließlich bestimmt diese Identifikation auch den Aufbau von Schleiermac h e r s Theorie des geselligen B e t r a g e n s . Das "Wesen d e r Geselligkeit im Allgemeinen" soll zum Zwecke der Gesetzgebung f ü r das gesellige B e t r a gen f ü r "bestimmte und wirkliche Gesellschaften" entwickelt (10) werden. Nur dann ist der A n s p r u c h , "eine reelle Theorie" zu liefern, g e r e c h t f e r t i g t . Dazu bedient sich Schleiermacher wiederum des im gebildeten Selbstv e r s t ä n d n i s enthaltenen Theoriebegriffs. Das allgemeine Wesen der Geselligkeit wird als ein Ganzes b e g r i f f e n , innerhalb dessen eine bestimmte
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Gesellschaft ihren Ort hat, von dem diese aber nur einen Teil darstellen kann. "Jede einzelne Gesellschaft nämlich muß von diesem Wesen ein bestimmtes Maß haben, und existiert n u r , insofern sie dieses hat, als ein Individuum" (10). Das Maß der bestimmten Gesellschaft ergibt sich aus der begrenzten Zahl derjenigen, die eine Gesellschaft bilden. Von den unendlichen Möglichkeiten der Äußerungen und Anregungen individueller Freiheit kann eine begrenzte Zahl von Individuen auch nur "ein gewisses endliches Quantum" (11) realisieren. Erst dadurch, daß dies bestimmte Maß der Gesellschaft aufgefaßt wird, erhält diese "eignen Umriß" und "eignes Profil" (11). Erst dadurch existiert sie "als ein Individuum" (10). Damit gewinnt Schleiermacher das quantitative Gesetz des Schicklichen: "Deine gesellige Tätigkeit soll sich immer innerhalb der Schranken halten, in denen allein eine bestimmte Gesellschaft als ein Ganzes bestehen kann" (11). Die Aufgabe seines Theorieversuchs besteht darin, einen Ausgleich zwischen der in diesem Gesetz des Schicklichen gesetzten Beschränkung und den im allgemeinen Begriff der freien Geselligkeit enthaltenen Gesetzen, "daß nämlich alles durchgängige und uneingeschränkte Wechselwirkung sein soll und daß alle zu einem freien Gedankenspiel durch die Mitteilung des meinigen angeregt" werden (10), zu gewinnende. Diese Durchführung kann im einzelnen hier auf sich beruhen. Sie wird insgesamt als nicht besonders geglückt beurteilt werden müssen, weil Schleiermacher durch quantitative Unterscheidungen, wie z.B. zwischen dem "Ton" als dem bestimmten Stoff einer Gesellschaft und der "Manier" als der individuelle verschiedenen Darstellungsart dieses Stoffes, einen Ausgleich zwischen der Freiheit des Individuums und den Schranken bestehender Gesellschaften zu erreichen sucht. Wichtig ist aber bereits die Tatsache, daß er diesen Ausgleich versucht. Wichtig ist ferner, daß er diesen Ausgleich durch die theoretische Explikation dessen versucht, was seinem Verständnis nach einen gebildeten Menschen auszeichnet, daß er auch die bestimmte Gestalt der Geselligkeit noch aus diesem Begriff des Gebildeten ableitet. Ebenso wie es den Begriff der freien Geselligkeit konstituiert, daß der Gebildete sich selbst als ein Individuum, als eine Erscheinung der Menschheit unter anderen Erscheinungen begreift, so ist der Begriff der bestimmten Gesellschaft davon abhängig, daß diese als ein Individuum mit einem bestimmten Maß aufgefaßt wird. Dies aber vermag nur der, der ein bestimmtes einzelnes als Teil eines umfassenden Ganzen sieht und seine Stelle im Ganzen und damit es selbst bestimmen kann. 3. Folgerungen f ü r Schleiermachers Begriff des Gebildeten Die Analyse von Schleiermachers Theorieversuch erfolgt in der Absicht, sein Verständnis des gebildeten Menschen zu erschließen. Es kann jetzt zusammengefaßt werden, was die Rekonstruktion dieses Theorieversuchs erbracht hat.
- 40 a) Als von zentraler Bedeutung f ü r Schleiermachers Verständnis des gebildeten Menschen zeigt sich, was ich seine Individualitätsanschauu n g nennen möchte. Sie bestimmt nicht n u r die D u r c h f ü h r u n g seiner Theorie des geselligen Betragens, sondern durch sie ist auch der Ansatz dieses Theorieversuchs erschlossen. Indem der Theorie des geselligen Betragens der Begriff des Gebildeten zugrunde liegt und die Explikation dieses B e g r i f f s mittels der Individualitätsanschauung erfolgt, zeigt diese sich in dem g e g r ü n d e t , was sich als gebildetes Selbstverständnis bezeichnen läßt. Individualitätsanschauung bedeutet, daß ein einzelnes als einzelnes von anderen unterschieden als Glied eines alle einzelnen umfassenden Ganzen angesehen wird. Schleiermacher b r i n g t sie als Denkfigur gegenüber dem Virtuosen in Anschlag. Sie bestimmt aber auch die methodische Reflexion seiner eigenen Theorie. Um das einzelne nicht n u r als Glied ein e s Ganzen anzuschauen, sondern es auch als bestimmtes a u f z u f a s s e n , indem seine Stelle im Ganzen bestimmt wird, wird das umgreifende Ganze von der Theorie in doppelter, zu unterscheidender Hinsicht in Ans p r u c h genommen. Einerseits ist das Ganze als "ursprüngliche Idee" (8) zugleich mit der Setzung eines einzelnen als einzelnen mitgesetzt als das in sich noch unbestimmte Ganze, in dem das einzelne seine Stelle h a t . Andererseits ergibt sich e r s t aus der Einsicht in den Zusammenhang der einzelnen untereinander die bestimmte Erkenntnis der einzelnen u n t e r e i n ander und damit zugleich die volle Erkenntnis des in sich bestimmten Ganzen. Schleiermacher reflektiert in seiner Theorie diese doppelte Bed e u t u n g des Ganzen, wenn er die Gesellschaft "als seiend und als werdend" (8) b e t r a c h t e t . Diese Reflexion bestimmt sein methodisches Vorgehen, den "doppelten Gang" seiner Untersuchung: "Zuerst werden a u s dem Begriff der Gesellschaft die gesuchten Vorschriften abgeleitet, und dann aus diesen, indem man sie in Gedanken in Tätigkeit setzt, die Gesellschaft selbst k o n s t r u i e r t " (8; vgl. 12).
Eine entsprechende Doppelheit ergibt sich f ü r das gebildete Selbstverständnis, das sich mittels der Individualitätsanschauung expliziert. Gebildet ist der gebildete Mensch darin, daß er sich als Individuum, als eine bestimmte Erscheinung der Menschheit, neben anderen Individuen sieht. In der gebildeten Selbstanschauung g r ü n d e t die freie Geselligkeit als f ü r den einzelnen notwendiges Kommunikationsmedium. In ihr geschieht der "freie Umgang v e r n ü n f t i g e r sich untereinander bildender Menschen" ( 4 ) . Im "freien Spiel der Gedanken und Empfindungen" r e gen die Glieder einer Gesellschaft einander an und belehren sich gegenseitig (10). So ist d u r c h die gebildete Selbstanschauung eine Kommunikation e r ö f f n e t , in der sich in durchgängiger Wechselwirkung der Bildungsprozeß der Gebildeten vollzieht, in der den Gebildeten "alle E r scheinungen der Menschheit nach und nach b e k a n n t " (3) werden. Zu-
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gleich und durch diesen Prozeß wechselseitiger Bildung, durch das freie Handeln der gebildeten Individuen vollzieht sich auch die Fortbildung der freien Geselligkeit. Dieser doppelte Bildungsprozeß der einzelnen und des Ganzen gründet aber darin, daß der Gebildete sich als ein Individuum begreift: "Jeder Mensch hat als ein (endliches) Wesen seine bestimmte Sphäre, innerhalb der er allein denken und handeln und also auch sich mitteilen kann. Die Sphäre des Einen ist nicht völlig die des Anderen, so gewiß er selbst nicht der andre ist" ( l l f ) . Damit der Gebildete sich als Individuum versteht, muß er die Bestimmtheit seiner Individualität aufgefaßt haben, wie auch eine Gesellschaft, der er angehören will, in ihrem gewissen endlichen "Qantum" als Individuum von ihm aufgefaßt sein muß (10). "Ein Mensch ist aber nur in so fern ein Individuum als alles in ihm zusammenhängt, einen Mittelpunkt hat und sich gegenseitig bestimmt und erklärt" (13). b) Diese Unterscheidung ist für Schleiermachers Verständnis des Gebildeten von Bedeutung. Der Bildungsprozeß der Gebildeten untereinander und der Prozeß der freien Geselligkeit haben die Individualitätsanschauung als Explikation des gebildeten Selbstverständnisses zu ihrer Bedingung. Diese Explikation muß ausdrücklich vollzogen sein, wenn die Gebildeten in geselligen Umgang eintreten wollen. In seiner Theorie des geselligen Betragens hat Schleiermacher diese notwendige Bedingung seiner Theorie ausdrücklich gemacht, indem er das freie Handeln der Gebildeten von dem durch äußere Zwecke bestimmten Handeln absondert und ihm in bestimmten Gesellschaften als dem gegenwärtigen Ort der freien Geselligkeit einen abgesonderten Bereich zuweist®^. In dieser Absonderung kommt die Distanz zum Ausdruck, in der der Gebildete sich gegenüber den äußeren Verhältnissen seines Lebens sieht. Die Einsicht in die äußeren Schranken ist zugleich Erkenntnis der eigenen Freiheit. Aber in dieser Absonderung eines Bereichs, in der die individuelle Freiheit des Gebildeten sich realisieren kann, bleibt das, was abgesondert wird, bezogen auf das, von dem es abgesondert wird. Der Gebildete entflieht nur zeitweilig dem gewöhnlichen Leben, wie auch die freie Geselligkeit als bestimmte Gesellschaft einen ausgegrenzten Bereich des gesellschaftlichen Lebens ausfüllt. Dieser Ausgleich zum quantitativen Nebeneinander wird bei der Interpretation der Monologen und auch der Reden zu beachten sein. Anders als bei Schlegel spiegeln sich in dieser Ausprägung des gebildeten Selbstverständnisses Schleiermachers damalige Lebensumstände wider. Schleiermacher ist nicht nur "Mitglied der intellektuellen Welt" (4), nicht nur Teilhaber des geselligen Umgangs der Gebildeten in den Gesellschaften Berlins gewesen, er hat während der ganzen Zeit auch seinen Dienst als reformierter Pfarrer an der Charité versehen.
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Mag auch der quantitative Ausgleich keine befriedigende Lösung für die in der Absonderung von den äußeren Verhältnissen enthaltene Beziehung auf diese bedeuten, worauf es hier ankommt, ist, daß diese Absonderung des Gebildeten bereits Vollzug seiner Freiheit ist. Die Konstitution des doppelten Bildungsprozesses der Gebildeten gründet ebenso wie die Absonderung des gebildeten vom gewöhnlichen Leben in dem Freiheitsbewußtsein der Gebildeten. Die entscheidende Frage dabei ist, wie für Schleiermacher dieses Freiheitsbewußtsein begründet ist und wie es sich auf diesem Grund als individuelles Freiheitsbewußtsein erweist, so daß die Individualitätsanschauung als seine ihm gemäße Explikation erscheinen kann. Unter der Fragestellung, wie denn der Gebildete seiner selbst als eines bestimmten Individuums ansichtig werden kann, sollen zunächst die Monologen untersucht werden. Zugleich kann diese Interpretation dazu dienen, das zu bewähren, was bisher als Bildungsbegriff Schleiermachers erschlossen worden ist®**. II. Schleiermachers Monologen als Darbietung gebildeter Selbstbetrachtung Schleiermachers Monologen auf seinen Bildungsbegriff, auf das in ihnen sich darstellende Selbstverständnis hin zu untersuchen, bedeutet auf den ersten Blick eine der Intention der Monologen gegenläufige Interpretation. Die Frage nach seinem Bildungsbegriff richtet sich gerade nicht auf die in den Monologen sich darstellende Individualität Schleiermachers, sondern sucht den objektiven Gehalt dieser subjektiven Selbstdarstellung aufzuweisen und den zu dieser Selb st dar Stellung nötigen Gedanken herauszuarbeiten. Denn soviel läßt sich dem, was aus Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens erschlossen wurde, entnehmen, daß die Wahl der Darstellungsform nicht einfach subjektiver Willkür entsprungen ist, sondern daß sich Gründe dafür angeben lassen, daß diese Form der Darstellung ihrem Gegenstand angemessen ist. Es ist die Eigenart des Gegenstandes der Darstellung, des durch die Individualitätsanschauung bestimmten, gebildeten Selbstverständnisses, das auf die Darstellungsform der Monologen drängt. Diese Eigenart drückt sich dann weiter in einer bestimmten Doppelheit bei der Darstellung dieses Gegenstandes aus. Das Interesse dieser Untersuchung ist auf die Struktur der sich darstellenden Individualität gerichtet; sie ist nicht - wie weithin geschehen - auf eine biographische Identifikation aus. Ohne daß diese Möglichkeit bestritten werden soll, läßt sich die Frage stellen, ob nicht vieles von dem, was gewöhnlich als Ausdruck der Eigentümlichkeit Schleiermachers genommen wird, weniger aus den biographischen Daten seines Lebens als vielmehr aus Schleiermachers Verständnis dieses Lebens als ein eigentümliches, d.h. aus dem von der Individualitätsanschauung getragenen, gebildeten Selbstverständnis zu erklären ist. Die folgende Interpretation wird versuchen - und darauf ist sie beschränkt -, aus den Monologen das gebildete
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Selb st Verständnis in seiner Allgemeinheit, d . h . den Bildungsbegriff, zu erheben, und durch die schärfere Konturierung dieses Begriffes die F r a ge nach der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum weiter zuverfolgen. 1. Der Monolog als Form für die Selbstdarstellung des Gebildeten^ Seinen Theorieversuch über das gesellige Betragen hat Schleiermacher damit begründet, daß er um der Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes der Geselligkeit willen notwendig sei. Gegenstand der Theorie ist die freie Geselligkeit, der gesellige Umgang, der allen Gebildeten im Vollzug ihrer individuellen Freiheit gemeinsam ist. Indem nur die in der Individualitätsanschauung begründete Beziehung auf die freie Geselligkeit, abgesehen von jeder individuellen Bestimmtheit des einzelnen zum Gegenstand der Theorie gemacht wird, ist die Darstellungsform des Allgemeinen diesem Gegenstande adäquat. Etwas anderes als der in der Theorie entworfene Umriß des Ganzen der gebildeten Geselligkeit, als die Entfaltung des im gebildeten Selb st Verständnis enthaltenen Begriffs der Geselligkeit, ist aber die Explikation des gebildeten Selb st Verständnisses selbst. Diese Explikation bewegt sich zwar auf der durch die Theorie der Geselligkeit dargestellten Ebene geselliger Konversation. Die Darstellung des Selb st Verständnisses eines Gebildeten ist aber durch seine Individualität bestimmt, von der nicht abgesehen werden kann und die in der Gesellschaft frei zur Geltung gebracht werden muß. In der Selbstdarstellung tritt das gebildete Individuum durch das freie Spiel seiner Gedanken und Empfindungen in die freie Geselligkeit der gebildeten Menschen ein. In den Monologen versucht Schleiermacher, das durch die Individualitätsanschauung bestimmte Selbstverständnis des Gebildeten in einer adäquaten Form zur Darstellung zu bringen. Die Form der Theorie ist dazu nicht geeignet, weil in ihr das Ganze als System aufgestellt, aber gerade von der für den Bildungsbegriff konstitutiven Individualität des Menschen abgesehen wird. Diese Vorüberlegung auf dem Hintergrund von Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens soll ein Verständnis der Monologen'® eröffnen und zugleich an diesem Verständnis ihre Bewährung finden. Schleiermacher hat den Ort, an den er seine Monologen stellt, in einer einleitenden "Darbietung" bestimmt. "Keine köstlichere Gabe vermag der Mensch dem Menschen anzubieten, als was er im Innersten des Gemüthes zu sich selbst geredet hat; denn sie gewährt ihm das Größte was es giebt, in ein freies Wesen den offnen ungestörten Blick" ( 7 , 2 - 6 ) . Was Schleiermacher als Gabe darbietet, hat seinen Ort in der freien Geselligkeit. Dorthin gehört das Selbstgespräch des gebildeten Individuums,
- 44 die Selbstdarstellung des durch die Individualitätsanschauung bestimmten Selb st Verständnisses. Das Selbstgespräch ist bezogen auf das Medium der Konversation in freier Geselligkeit, in der der Mensch dem Menschen begegnet, in der er sein individuelles Menschsein dem anderen öffnet. Diese Öffnung der eigenen Individualität als "ein freies Wesen" geschieht dadurch, daß dies Wesen sich als frei zeigt, daß es seine Freiheit vollzieht. Der Ort dieses Vollzuges der Freiheit ist das Selbstgespräch "im Innersten des Gemüthes". Nur dort ist er frei von den äußeren Umständen. Nur im Selbstgespräch wird ein "offener ungestörter Blick" gewährt. Dies Selbstgespräch ist als Vollzug individueller Freiheit auf die anderen Teilnehmer der freien Geselligkeit ausgerichtet. Dies Selbstgespräch ist eine Selb st dar Stellung und geschieht im Bereich geselliger Wechselwirkung; es will das freie Handeln der anderen Individuen hervorrufen: "Nimm hin die Gabe, der Du das Denken meines Geistes verstehen magst! Es begleite Dein Gesang das laute Spiel meiner Gefühle, und der Schlag, der Dich durchdringt bei der Berührung meines Gemüthes, werde auch Deiner Lebenskraft ein erfrischender Reiz" (8). Kann die Darstellungsform des Monologs von dem in ihm zur Darstellung kommenden Gegenstand, dem gebildeten Selbstverständnis, verstanden werden, das sich in freier Geselligkeit vor anderen Gebildeten darstellt, so zeigen sich auch in dieser Darbietung die Grenzen, die Schleiermacher in seinem Theorie ver such diesem Bereich zuweist. Allerdings kann er dort, wo er sich selbst auf dem Boden des geselligen Umgangs befindet, die Negation und Distanzierung der äußeren Lebensumstände stärker als in seiner Theorie betonen. Die Absonderung des geselligen Bereichs der Freiheit zeigt sich als Wendung nach innen, in das "Innerste des Gemüthes". Dort ist nur der Mensch frei von den äußeren Verhältnissen. Dort ist er Mensch, der sich als freies Wesen dem Menschen darbietet. Aus dem Verhältnis, das zwischen der Darstellungsform der Theorie und des Monologs festzustellen ist, kann der Gegenstand näher bestimmt werden, der in den Monologen zur Darstellung kommt. Der Unterschied zwischen beiden Darstellungsformen besteht nicht darin, daß der Allgemeinheit der Theorie die Besonderheit der Individualität gegenübersteht. Beide sind vielmehr schon durch das in der Individualitätsanschauung gesetzte Verhältnis von Ganzem und einzelnem bestimmt. Da aber die Theorie zunächst vom einzelnen abstrahiert und den Umriß eines vorgegebenen Ganzen entwirft, in dem dann das einzelne seine Stelle erhält, kann durch sie die für diesen Theoriebegriff konstitutive Individualitätsanschauung nicht erfaßt werden. Denn in der Individualitätsanschauung des Gebildeten geht es darum, daß das einzelne sich als einzelnes im Ganzen anschaut. Die Darstellung dieser Individualitätsanschauung des Gebildeten versucht Schleiermacher in seinen Monologen. Es geht ihm dabei in erster Linie nicht um die Darstellung der Besonderheit eines bestimmten Individuums, sondern vor allem um die Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses überhaupt. Aber diese Darstellung ist als Selbst-
- 45 darstellung des gebildeten Individuums nicht a n d e r s möglich als u n t e r Einbeziehung der Eigentümlichkeit des sich darstellenden Gebildeten?!. Diese Doppelseitigkeit dessen, was Schleiermacher in den Monologen d a r stellen will, die gebildete Individualität in i h r e r Allgemeinheit und Besonderheit, zeigt sich an den Wirkungen, die die Monologen erzielt h a b e n . Während auf der einen Seite Schleiermachers Freunde, die seine Anschauung mehr oder weniger teilen, in ihnen einen Zugang zu Schleiermachers Individualität e r ö f f n e t sehen, sich also auf die Ebene des geselligen Umgangs stellen, muß Schleiermacher a n d e r e r s e i t s feststellen, daß die in den Monologen zur Darstellung kommende Individualitätsanschauung nicht auf Verständnis gestoßen ist, sondern daß die Monologen der Fichteschen Philosophie zugerechnet w u r d e n _ so gesteht er sich zwei J a h r e nach ihr e r Veröffentlichung ein gewisses Mißlingen seiner Monologen ein: "Als ich die Idee faßte, wollte ich eigentlich etwas ganz objectives machen, nicht ohne viel Polemik, und das subjective sollte n u r die Einkleidung sein. Aber im Entwerfen des Plans wuchs mir das subjective so ü b e r den Kopf, daß auf einmal die Sache, wie sie jetzt ist, vor mir s t a n d . Die Polemik ist n u r als Stimmung hie und da ü b r i g , und das objective liegt ziemlich versteckt n u r f ü r den Kenner da. Solche a b e r , welche das subjective nicht recht v e r s t e h e n , verweise ich noch immer auf das objective, und sie mögen sich jenes, wie es ihnen u r s p r ü n g lich zugedacht war, n u r als Einkleidung nehmen." 16. Sept. 1802 (Briefe I, 356). Daß seine ursprüngliche Intention auf d a s "objective" gerichtet war, daß es ihm weniger um die Darstellung seiner eigenen Individualität als um die auf diese Weise zur Darstellung kommende Individualitätsanschauung geht, zeigt seine Äußerung, mit der er die Monologen seinem J u g e n d f r e u n d Brinkmann wenige Tage nach ihrem Erscheinen am 4 . J a n . 1800 vorstellt: "Es ist ein Versuch, den philosophischen S t a n d p u n k t , wie es die Idealisten nennen, ins Leben zu ü b e r t r a g e n , u n d den Charakter darzustellen, der nach meiner Idee dieser Philosophie e n t s p r i c h t . Zu diesem Zweck schien mir die Form, die ich gewählt, die beste zu seyn; i n d e s sen weissage ich mir freilich, daß ich gänzlich werde mißverstanden werden, weil weder der Idealismus, noch die wirkliche Welt, die ich mir doch auch wahrlich nicht nehmen lassen will, ausdrücklich und förmlich deduciert worden sind" (Briefe IV, 55). In dieser Äußerung stellt Schleiermacher seine Monologen in den von Fichte und Jacobi bestimmten philosophischen Kontext, der durch den Gegensatz von Realismus und Idealismus gekennzeichnet werden k a n n . Es geht Schleiermacher um die Uberwindung der alternativen Entgegens e t z u n g . Aber eine philosophische Lösung versucht Schleiermacher nicht; weder der Idealismus noch die wirkliche Welt will er durch Deduktion gewinnen. Er setzt vielmehr damit ein, daß er den philosophischen Standp u n k t als so vom Leben abgehoben ansieht, daß eine Ü b e r t r a g u n g ins
- 46 Leben möglich ist. Die Spitze dieses Arguments, die Möglichkeit einer Ü b e r t r a g u n g des idealistischen S t a n d p u n k t s ins Leben, ist gegen Fichte gerichtet, wie Schleiermachers Bemerkung ü b e r seine Begegnung mit Fichte in demselben Brief verdeutlicht: "Philosophie und Leben sind bei ihm - wie er es auch als Theorie a u f stellt - ganz g e t r e n n t , seine natürliche Denkart hat nichts Außerordentliches u n d so fehlt ihm, solange er sich auf dem gemeinen S t a n d p u n k t befindet, alles, was ihn f ü r mich zu einem interessanten Gegenstand machen könnte" (Briefe IV, 53). Diese Bemerkung kann auf dem Hintergrund dessen, was bisher über Schleiermachers Verständnis des Gebildeten e r k a n n t worden ist, v e r deutlicht werden. Fichte ist ihm nicht als ein in seinem Verständnis Gebildeter begegnet. Schleiermacher konnte nicht in eine freie, auf Wechselwirkung basierende Geselligkeit mit Fichte eintreten, weil dieser "eingefleischt in der natürlichen Denkart ist" ( e b d . ) . Er sieht das Leben vom gemeinen Standpunkt aus und hat sich nicht zur gebildeten Anschauung des Lebens erhoben. Das zeigt sich f ü r Schleiermacher darin, daß Fichte den "gemeinen Standpunkt vom philosophischen" sondert, daß bei ihm "Philosophie und Leben" ganz g e t r e n n t sind73a. ¡ m Selbstverständnis des Gebildeten dagegen ist nach Schleiermacher eine Vereinigung gegeben. An der Philosophie Fichtes, die er als Theorie v e r s t e h t , hat Schleiermacher nichts "auszusetzen", aber sie sei ins Leben zu ü b e r t r a g e n . Das E r gebnis dieser Ü b e r t r a g u n g ist ein dem Standpunkt der idealistischen Philosophie e n t s p r e c h e n d e r C h a r a k t e r , d . h . ein in seiner Eigentümlichkeit von anderen unterschiedenes und sich unterscheidendes Individuum. Die f ü r die Darstellung eines solchen "Charakters" passende Form hat Schleiermacher in den Monologen gefunden 74. Es kann keinen Zweifel d a r ü b e r geben, daß Schleiermacher mit der Übert r a g u n g des idealistischen S t a n d p u n k t s ins Leben den Anspruch der Fichteschen Wissenschaftslehre, Wissen ü b e r h a u p t zu b e g r ü n d e n , u n terläuft u n d , indem er sie seinem Theoriebegriff u n t e r o r d n e t , ihr nicht gerecht wird^S. Zugleich umgeht er damit eine Auseinandersetzung, in der er seine Individualitätsanschauung auch philosophisch hätte zur Gelt u n g bringen können und die ihn andererseits zur Klärung der problematischen Zuordnung von gewöhnlichem und gebildetem Leben genötigt h ä t te. So bleibt seine Explikation des gebildeten Selbstverständnisses in der Doppeldeutigkeit der Darstellungsform der Monologen v e r b o r g e n , die in der abgesonderten Sphäre des geselligen Umgangs ihren Ort h a t . In d e r Selbstdarstellung des Individuums liegt a u f g r u n d der S t r u k t u r der Individualitätsanschauung die einzige Möglichkeit, auf andere zu wirken und Ihnen einen Anstoß zu geben, d u r c h den sie dazu kommen, sich selbst als Gebildete zu begreifen und ihrer Individualität ansichtig zu werden. Die Verankerung der Darstellungsform der Monologen im Bildungsbegriff, ihre Erklärung durch das Selbstverständnis des Gebildeten, ihre Ablei-
- 47 tung aus der Individualitätsanschauung erlaubt eine nähere Bestimmung des Inhaltes der Monologen. Die Selbstdarstellung des gebildeten Individuimi s, die Explikation des gebildeten Selbstverständnisses geschieht im Selbstgespräch, in der Darbietung dessen, was der Mensch im "Innersten des Gemüthes zu sich selbst" spricht. Erfolgt der Rückzug aus den äußeren Beziehungen auf das Innere des Individuums auch um der Freiheit des Individuums willen, so wird doch im Innern des Gemüthes diese Freiheit als Monolog, d . h . als Gespräch vollzogen. Der innere Monolog ist auch Selbstdarstellung, das Individuum stellt sich in gleicher Weise f ü r sich selbst dar, wie es sich f ü r die anderen darstellt. Darin aber zeigt es sich als freies, daß es sich so, wie es sich f ü r sich selbst darstellt, d . h . frei von äußerer Bestimmung, auch f ü r die anderen darstellen kann. Dieses reflexive Verhältnis des Monologs ist nicht mit der Konstitutionsproblematik des Selbstbewußtseins zu identifizieren, wie sie bei Fichte vorliegt. In der monologischen Selbst dar Stellung ist das Selbstbewußtsein des freien Individuums immer schon in Anspruch genommen, indem ihm die Fähigkeit zukommen muß, sich für sich selbst darzustellen. Hier zeigt sich, daß Schleiermacher in der Tat den idealistischen Staridpunkt voraussetzt und ihn "ins Leben" überträgt. Zugleich zeigt das innere Verhältnis des Monologs, daß die Selbstdarstellung eines Gebildeten in Monologen nicht unmittelbar erfolgen kann, sondern daß die Möglichkeit einer solchen Selbstdarstellung zunächst aufzeigt, daß der vorausgesetzte Standpunkt in seiner Allgemeinheit ausdrücklich gesetzt werden muß?6. Denn wenn das gebildete Individuum sich selbst als Individuum darstellen soll, dann muß es einen Begriff bzw. eine Anschauung von Individualität überhaupt haben. So ist zunächst die Individualitätsanschauung allgemein zu entwickeln, bevor sie auf das sich darstellende Individuum selbst angewendet werden kann. Diese Differenz zwischen dem allgemeinen Umriß der Individualität san schau ung und ihrer vollständigen Explikation als Darstellung eines eigentümlich gebildeten Selbstverständnisses, in der der Gebildete sich in seiner Selbstdarstellung unter diese Anschauung stellt, bestimmt den Aufbau der Monologen. Unter dem Titel "Die Reflexion" entwickelt Schleiermacher im ersten Monolog den gebildeten Standpunkt der Selbstbetrachtung, die von der entgegengesetzten Lebensbetrachtung abgehoben wird. In den beiden folgenden Monologen wendet er die allgemein aufgestellte Ansicht auf sich selbst an und expliziert unter dem Titel "Prüfungen" zunächst das Verständnis seiner eigenen Person und unter dem Titel der "Weltansicht" das daraus zu gewinnende Verständnis der Welt und der Stellung dieses gebildeten Verständnisses unter der Herrschaft der gewöhnlichen Weltansicht. Die beiden letzten Monologe widerlegen schließlich die im ersten Monolog durch die Selbstbetrachtung überwundene Lebensbetrachtung. Das Schicksal und das Altern können die Freiheit der Phantasie und die ewig jugendliche Kraft der Freiheit nicht aufheben.
- 48 Die Themenstellung der Arbeit schränkt die Untersuchung der Monologen ein auf die allgemeine Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses im e r s t e n Monolog und seiner Anwendung auf denjenigen, der diese Monologe hält, während aus den folgenden Monologen n u r herangezogen werden soll, was der Klärung der allgemeinen Explikation dient.
2. Das in der Selbstbetrachtung erschlossene gebildete Selbstverständnis Die Reflexion der Form des Monologs hat gezeigt, daß sie die adäquate Darstellungsform f ü r das gebildete Selbstverständnis i s t . Das in ihr zur Darstellung kommende Selbstverständnis eines Gebildeten muß zuerst als ein solches gesetzt sein, bevor es sich als Selbstdarstellung eines gebildeten Individuums entfalten k a n n . Denn eine SelbstdarStellung ist eine Darstellung f ü r den Darstellenden wie f ü r die anderen, so daß zunächst das, was zur Darstellung kommt, als ein zur Darstellung Kommendes gesetzt werden muß. Im Monolog des Gebildeten muß nun der Gegenstand der Darstellung f ü r den Darstellenden selbst gesetzt werden, und es ist der Darstellende selbst, der Gegenstand der Darstellung ist. Diese doppelte Beziehung weist eine der Konstitutionsproblematik des Selbstbewußtseins ähnliche S t r u k t u r a u f . Ihre Ähnlichkeit besteht darin, daß der Darstellende, indem er sich selbst darstellt, zugleich Subjekt und Objekt der Darstellung ist, so daß er ein sich als Tätiger wissender Tätiger i s t . Der Unterschied liegt darin, daß nicht die in diesem Verhältnis der Selbstdarstellung enthaltene u r s p r ü n g l i c h e Bestimmung des Selbstbewußtseins entwickelt wird, sondern daß dies ursprüngliche Selbstbewußtsein als äußere Erscheinung in der Selbstdarstellung zum Ausdruck kommt. Im Monolog wird seine Selbstdarstellung b e t r a c h t e t . Die Selbstbetrachtung hat ihren Grund im ursprünglichen Selbstbewußtsein, aber sie ist im Monolog eine von diesem unterschiedene ausdrückliche Tätigkeit. Die Analyse dieses in der Form des gebildeten Monologs enthaltenen doppelten Verhältnisses, das mit Schleiermachers eigener Charakterisierung seiner Monologen als Ü b e r t r a g u n g des idealistischen S t a n d p u n k t e s ins Leben übereinstimmt, findet darin ihre Bestätigung, wie Schleiermacher den gebildeten Standpunkt im e r s t e n Monolog e i n f ü h r t .
a) Die der Lebensbetrachtung entgegengesetzte Selbstbetrachtung Im e r s t e n Monolog, dem Schleiermacher den Titel "die Reflexion" gegeben h a t , wird das gebildete Selbstverständnis in seiner Allgemeinheit, d . h . so wie es den nach Schleiermachers Verständnis Gebildeten gemeinsam ist u n d sie auszeichnet, entwickelt. Damit der Gebildete sich als gebildet e s Individuum darstellen k a n n , muß er den Standpunkt des Gebildeten voraussetzen, durch den die monologische Selb st dar Stellung zu v e r s t e hen i s t . Das eine f ü r den Bildungsbegriff konstitutive Merkmal läßt sich
- 49 daraus erkennen, daß Schleiermacher den gebildeten Standpunkt im Gegenüber zur gewöhnlichen Lebensbetrachtung profiliert. Den Gebildeten zeichnet aus, daß er statt ihrer zur Selbstbetrachtung, zur Reflexion fähig ist. Trotz einer formalen Ähnlichkeit mit Fichtes abstrahierender Reflexion, die von irgendeiner Tatsache des empirischen Bewußtseins ausgeht, um den absolut ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz der ursprünglichen Tathandlung zu gewinnen??, ist der Unterschied zwischen dem - wie es Schleiermacher nennt - philosophischen Standpunkt des Idealismus und seiner Übertragung ins Leben greifbar. Zwar läuft Schleiermachers Argumentation auch darauf hinaus, daß derjenige, der sein Leben betrachtet, sich bewußt wird, was er tut, und aufgrund dieses Bewußtseins seiner Tätigkeit zu einer Umkehrung seiner Lebensund Weltansicht kommt. Aber Schleiermacher geht eben nicht von irgendeiner Tatsache des empirischen Bewußtseins aus, sondern von einer bestimmten, die bereits ein reflexives Verhältnis darstellt. In der gewöhnlichen Lebensbetrachtung, von der Schleiermacher ausgeht, steht der Betrachtende seinem eigenen Leben gegenüber. Das Problem, das durch die Selbstbetrachtung gelöst wird, besteht darin, daß die Einheit des bestimmten Lebens in der Betrachtung des wechselvollen Lebensverlaufs nicht erkannt werden kann. Den gebildeten Standpunkt zeichnet nun aus, daß von der Selbstbetrachtung aus der wechselvolle Lebensverlauf auf die Einheit des sich als Individuum anschauenden Gebildeten bezogen wird. Im Unterschied zur gewöhnlichen Lebensbetrachtung ermöglicht die gebildete Selbstbetrachtung ein selbstbewußtes, d . h . freies Leben. Schleiermacher liefert also keine Begründung für den gebildeten Standpunkt, sondern er gewinnt ihn über die als beschränkt erkannte Position der gewöhnlichen Lebensbetrachtung?®: "Der Mensch kennt nichts als sein Dasein in der Zeit, und dessen gleitenden Wandel hinab von der sonnigen Höhe in die furchtbare Nacht der Vernichtung" (10,6-8). Diese Kenntnis des Menschen von sich selbst läßt ihn nicht zu sich selbst kommen, sein Dasein ist gezeichnet durch die kontinuierliche Flucht seiner Erscheinungen und seiner Vergänglichkeit. In der Betrachtung seines Daseins in der Zeit kann der Mensch nur die Einheit und Ganzheit dieses Daseins in einer "unsichtbaren Hand" finden, die darin ihr Kunstwerk vollendet, und aus dieser Annahme den Zusammenhang des Lebens "mechanisch" erklären. Diese mechanische Lebensbetrachtung zeigt sich in der bewußtlosen Teilung der Zeit "an willkürlich durch den leichtesten Schein bestimmten Punkten die für das Leben ganz gleichgültig sind" (9,17). Zugleich ist diese willkürliche Zeitteilung ein Zeichen f ü r das Streben der Menschen nach einem Punkt, "den sie nicht ansehen als flüchtige Gegenwart, nur daß sie nicht verstehen, ihn als Ewigkeit zu behandeln" (11, 17ff). Sie haben keinen Ort, wohin sie dem Strom der Zeit entsteigen können (12, 13). Dies vergebliche Bemühen, sich des unendlichen Wertes des Lebens zu vergewissern, zeigt Schleiermacher auch an den Einseitigkeiten des Rückblicks auf Glück und Leid im bishe-
- 50 rigen Leben u n d an den eitlen Hoffnungen und leeren Wünschen f ü r die eigene Z u k u n f t . Diese Lebensbetrachtung bleibt an der "äußeren Erscheinung" h a f t e n , der Mensch ist sich selbst ein "äußerer Gegenstand", der durch äußere Verhältnisse bestimmt, "der Zeit und der Notwendigkeit ein Sklave" (13, 26) i s t . Der Lebenslauf als b e t r a c h t e t e r Gegenstand ist demjenigen, der sein Leben b e t r a c h t e t , nicht adäquat, weil der betrachtete äußere Lebensablauf die Möglichkeit der Selbstbetrachtung nicht einschließt. So sieht Schleiermacher den Grund f ü r die Vergeblichkeit des Bemühens, d u r c h gewöhnliche Lebensbetrachtung sich selbst und den Wert seines Lebens zu e r k e n n e n , darin, daß das tätige Wesen d e s menschlichen Geistes nicht e r k a n n t wird, daß also in den äußeren Erscheinungen nicht das Tun des Geistes gesehen wird, der in ihnen e r s c h e i n t . In der ä u ß e r lichen Betrachtung bleibt das innere, tätige Wesen des Geistes v e r b o r gen. Das gilt sowohl f ü r die einzelnen flüchtigen Momente des Lebens, die betrachtet werden, als auch f ü r die Betrachtung des Lebens selbst, was Schleiermacher an der mechanischen Zeiteinteilung demonstriert. Der P u n k t , der eine Linie durchschneidet, ist zwar ein Moment der Linie, die durchschnitten wird, aber, indem er die Linie durchschneidet, v e r d a n k t er sich nicht der Linie, sondern dem, der diesen durchschneidenden Punkt setzt und der auch einen anderen Punkt setzen k a n n . Auf die Lebensbetrachtung angewendet bedeutet diese Überlegung, daß das Herausgreifen eines bestimmten Lebensmomentes auf die Tätigkeit des Betrachters zurückführt. "Der Moment, in dem du die Bahn des Lebens theilst und durchschneid e s t , soll kein Theil des zeitlichen Lebens sein: anders sollst du ihn ansehn, und deiner unmittelbaren Beziehungen mit dem Ewigen und Unendlichen dich bewußt werden; und überall, so du willst, kannst du einen solchen Moment haben" (10,28-11,6). Die von Menschen immer schon vollzogene Lebensbetrachtung wird zum Exemplum f ü r die gebildete Selbstanschauung. Das Leben als zeitliches Kontinuum wird durch die betrachtende Tätigkeit dessen, der sein Leben b e t r a c h t e t , in Lebensmomente zerteilt. In der Setzung solcher Momente wird der Betrachtende seiner b e t r a c h t e n d e n Tätigkeit als Grund des b e t r a c h t e t e n Momentes und damit des tätigen Wesens d e s menschlichen Geistes in sich ansichtig und gewinnt d a r a u s die Einsicht in die in dem b e trachteten Moment zum Ausdruck gekommene Tätigkeit. Durch die Erkenntnis der konstitutiven Tätigkeit des Menschen wird er sich zugleich seiner Beziehung mit dem Ewigen und Unendlichen bewußt, wie er sein Verhaftetsein an Zeit und Notwendigkeit damit überwunden h a t . "Es ist der Mensch ein bleibendes Werk, der Anschauung ein u n v e r gänglicher Gegenstand. Nur sein i n n e r s t e s Handeln, in dem sein wahr e s Wesen b e s t e h t , ist f r e i , und wenn ich dieses b e t r a c h t e , fühle ich
- 51 mich auf dem heiligen Boden der Freiheit, und fern von allen unwürdigen Schranken. Auf mich selbst muß mein Auge gekehrt sein, um jeden Moment nicht nur verstreichen zu lassen als einen Τ heil der Zeit, sondern als Element der Ewigkeit ihn heraus zu greifen, und in ein höheres freieres Leben zu verwandeln" ( 1 4 , 2 5 - 1 5 , 9 ) . Das Verhältnis der Lebensbetrachtung bleibt unverändert, aber der Gegenstand der Betrachtung ist nicht mehr der flüchtige Strom des Lebens, sondern indem auf das innere, freie Handeln des Menschen gesehen wird, ist der Mensch sich selbst ein "unvergänglicher Gegenstand" seiner Anschauung. Er kann jeden Moment des flüchtigen Lebens auf seine freie Tätigkeit, die in jedem Moment seines Lebens wirksam ist, als die Einheit seines Lebens beziehen und dadurch den Gegenstand der Betrachtung als ein "höheres freieres Leben" bestimmen. Der Unterschied dieser gebildeten Selbstbetrachtung zur intellektuellen Anschauung Fichtes tritt deutlich zutage. Zwar wird die erste Forderung der Philosophie: "Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt ab, und in dein I n n e r e s " a u f g e n o m m e n , aber es wird nicht dieser Blick ins Innere näher bestimmt. Vielmehr wird das durch freie Tätigkeit bestimmte Wesen des Menschen als Einheitspunkt für den Lebensverlauf und damit als die der Lebensbetrachtung adäquate Bestimmung des Objektes der Betrachtung genommen. Diese Übertragung des idealistischen Standpunktes ins Leben unterwirft ihn den Bedingungen des Lebens, gerade weil sie das freie tätige Wesen des Menschen im Leben zur Geltung bringen will. Diese Bedingungen sind zugleich die Momente des Bildungsbegriffs, so daß in dem Verhältnis der Selbstbetrachtung eine Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses zu erkennen ist. Das erste Moment ist darin gegeben, daß das Verhältnis der Betrachtung nicht aus der freien Tätigkeit abgeleitet wird, sondern daß nur das Objekt der Betrachtung so bestimmt wird, daß es der Tätigkeit des Betrachtens entspricht. Dadurch wird aus der gewöhnlichen Lebensbetrachtung die gebildete Selbstbetrachtung, sie schließt die Einsicht in die Schranken der gewöhnlichen Lebensbetrachtung ein und überbietet sie, indem die Momente des Lebens auf die freie Tätigkeit bezogen werden. Die freie Tätigkeit wird aber nur als eine einfache Negation der Beschränktheit auf das Äußere eingeführt. Nur in seinem "innersten Handeln" ist der Mensch frei, d . h . frei von allen "unwürdigen Schranken". Vom zeitlichen Lebensablauf wird einfach abgesehen, neben die gewöhnliche Ansicht tritt die "höhere", in der die bloß durch die Zeit zusammengehaltenen Momente des Lebens als Resultate der Tätigkeit des Menschen erscheinen. Das Leben des Menschen besteht in der höheren Ansicht aus den Vollzügen seiner freien Tätigkeit. An diese einfache Negation schließt sich das zweite Moment des Bildungsbegriffs an. Indem der Mensch die Momente seines Lebens in der Einheit seiner freien Tätigkeit zusammengeschlossen sieht, wird er durch diese
- 52 Selbstbetrachtung, durch die Betrachtung seines freien Wesens, sich seiner "Beziehungen zum Ewigen" bewußt. Hier erscheint die für die Individualität san schauung Schleiermachers konstitutive Differenz zwischen der unendlichen Menschheit und dem einzelnen. Der einzelne ist nicht nur ein "unvergänglicher Gegenstand der Anschauung", er ist zugleich auch ein "bleibendes Werk". Zwar gilt auch dann, daß jeder Moment des Lebens zum "Element der Ewigkeit" wird, denn der einzelne Mensch ist eine Erscheinung der unendlichen Menschheit. Aber die höhere Ansicht des Lebens gewinnt der einzelne nur, wenn er sein Leben als Teil des unendlichen Lebens der Menschheit, seine Tätigkeit als Glied in der unendlichen Tätigkeit der Menschheit sieht. So wenig das Verhältnis der Lebensbetrachtung als ein reflexives abgeleitet wird, so wenig wird das für das betrachtete Selbst konstitutive Verhältnis von Ganzem und Teil aus dem idealistischen Standpunkt gewonnen. Das Leben wird zwar als durch freie Tätigkeit bestimmt angesehen, dadurch wird das einzelne Leben über die bloße Vergänglichkeit und Flucht des Lebens erhoben, aber freie Tätigkeit und Selbstbetrachtung fallen nicht in einem Akt zusammen, die Endlichkeit des Lebens wird nicht aufgehoben, sondern das Leben in seiner Endlichkeit ist unendlich, weil es eine Erscheinung der unendlichen Menschheit ist. Man wird auf dem Hintergrund des Bildungsbegriffs, wie er in der Analyse der durch die Selbstbetrachtung gewonnenen höheren Ansicht des Lebens sichtbar wird, Schleiermachers Distanz zu Fichte stärker in Anschlag bringen müssen als die Übereinstimmung aufgrund der mit dem philosophischen Standpunkt des Idealisten übernommenen Terminologie. Ohne daß Schleiermacher sich überhaupt auf die innere Problematik des Idealismus Fichtes eingelassen hat, übernahm er in den Monologen den Gedanken der Tathandlung, der ihm geeignet erschien, das gebildete Selb st Verständnis auszudrücken. Er konnte sich bei seiner Übertragung ins Leben insofern auf Fichte berufen, als dieser zwischen Ichheit und empirischem Ich unterschieden und letzteres als Erscheinung der Ichheit bestimmt hat. Darin aber weicht Schleichermacher von Fichte ab, daß er die Erscheinung nicht als verschwindenden Ausdruck des Allgemeinen, sondern als Teil eines Ganzen bestimmt, das nur in der Totalität seiner Teile vollständig erfaßt werden k a n n ^ O .
b ) Der monologische Vollzug der Selbstbetrachtung Aus Gründen der Darstellung empfiehlt es sich, an dieser Stelle die Entfaltung der durch Selbstbetrachtung erschlossenen Struktur des Bildungsbegriffs zu unterbrechen, um mit ihrer Hilfe zu einem Verständnis von Schleiermachers entsprechenden Ausführungen im zweiten Monolog zu gelangen und zugleich an diesen jene zu prüfen. Wenn die Überlegung über den Monolog als Darstellungsform des gebildeten Selbstverständnisses richtig ist, dann muß das als 'Reflexion' entwik-
- 53 kelte Verhältnis der Selbstbetrachtung auf denjenigen selbst zur Anwendung kommen, der sich als Gebildeter in Monologen darstellen will. Daß es sich dabei um eine einfache Übertragung der durch eine Neubestimmung des Objektes von der gewöhnlichen Lebensbetrachtung angehobenen Selbstbetrachtung auf den Autor der Monologen handelt, ohne daß das Verhältnis von Identität und Differenz zwischen dem betrachtenden Subjekt und dem betrachteten Objekt thematisch wird, ist daraus zu erkennen, daß Schleiermacher f ü r sich selbst als Autor der Monologen den Gedankengang der 'Reflexion' als 'Prüfungen' wiederholt. Ausgangspunkt ist wiederum die gewöhnliche, nur am Äußeren haftende Lebensbetrachtung der Menschen, aber nicht durch eine Reflexion über das Wesen des Menschen wird sie widerlegt, sondern am Vollzug selbst weist Schleiermacher nach, daß sie keinen Bestand hat. Der Widerspruch entsteht dadurch, daß aus der Betrachtung des äußeren Tuns, des eigenen wie des fremden, das freie Wesen des Menschen nicht erschlossen werden kann, daß aber zugleich in dieser fortwährenden Betrachtung des mannigfaltigen Tuns das freie Wesen des Menschen auf eine befriedigende Betrachtung seiner selbst drängt. Derjenige, der in gewöhnlicher Lebensbetrachtung "vom Äußern auf das Innere" schließen muß, baut "auf nichts unmittelbar Gewisses" (26,8ff), tut dies aber "aus Furcht vor jenem kleinen Anteil des Selbstbewußtseins, den (er) herabgewürdigt zum Zuchtmeister bei sich (trägt)" (26,13ff). Das "Gewissen, dieses Bewußtsein der Menschheit" (26,19f), findet in der gewöhnlichen Lebensbetrachtung keine Erfüllung: "Denn wer sein letztes Handeln nicht betrachtet hat, kann auch nicht Bürgschaft leisten, ob er beim nächsten noch bedenkt, daß er ihr (sc. der Menschheit) angehöre, und ihrer werth sich zeiget" (26,20-24). Um der Einheit im mannigfaltigen äußeren Handeln des Menschen willen, die Schleiermacher durch das Gewissen, das Selbstbewußtsein d . h . das Bewußtsein der Menschheit repräsentiert sieht, ist Selbstbetrachtung erforderlich. Das Gewissen findet seine Erfüllung in der Verbindung von freier Tätigkeit und Selbstbetrachtung: "Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein läßt kein anderes als der Menschheit würdiges Handeln zu" (27,10-13). Die Zirkelhaftigkeit dieser Beschreibung ist offenkundig. Das wahrhaft menschliche Handeln erzeugt nicht nur das klare Bewußtsein der Menschheit, sondern f ü r es ist das klare Bewußtsein der Menschheit bereits in Anspruch genommen. Gehört ein "einziger freier Entschluß" dazu, ein Mensch zu sein (27,23f), so ist dieser Entschluß als ein freier Entschluß ohne das Bewußtsein der Freiheit nicht denkbar. Aber es geht Schleiermacher nicht um die Begründung von Freiheit. Sie ist als Gewissen, als Selbstbewußtsein vorausgesetzt. Ihm geht es vielmehr um die Realisierung dieses Bewußtseins der Menschheit im Leben svoli zug. Nicht die Begründung des Selbstbewußtseins, sondern sein Anfang im Leben soll gefunden werden. Dieser Anfang ist dadurch bestimmt, daß an die Stelle der Lebensbetrachtung die
- 54 Selbstbetrachtung t r i t t , d . h . daß in der Reihe der äußeren Handlungen ein freies Handeln vorkommt, das die Selbstbetrachtung ermöglicht und dem Gewissen als Bewußtsein der Menschheit e n t s p r i c h t . Für den, der seine Selbstdarstellung in Monologen betrachten will, muß dieser Anfang der Selbstbetrachtung im Leben bereits erfolgt sein. Schleiermacher als Autor der Monologen identifiziert den Übergang von der Lebens- zur Selbstbetrachtung wie eine Bekehrung als einen Punkt in seinem Leben**1. "Mit stolzer Freude denk ich noch der Zeit, da ich die Menschheit f a n d , und wußte, daß ich nie mehr sie verlieren würde. Von innen kam die hohe O f f e n b a r u n g durch keine Tugendlehren und kein System der Weisen h e r v o r g e b r a c h t : das lange Suchen, dem nicht dies nicht jene genügen wollte, krönte ein heller Augenblick; es löste die d u n k len Zweifel die Freiheit d u r c h die T h a t " (27,27-28,5). Das eigene Leben durch die einheitstiftende Selbstbetrachtung zusammengeschlossen ist dem inneren Zwiespalt der Lebensbetrachtung enthoben. Das Gewissen als Bewußtsein der Menschheit findet in der B e t r a c h t u n g des äußeren T u n s als aus freiem Handeln hervorgegangen seine Befriedigung: "Was sie Gewissen nennen, kenne ich nicht mehr; es s t r a f t mich kein Gefühl, es b r a u c h t mich keines zu mahnen" ( 2 8 , 7 f f ) . Denn das Leben als Objekt der Betrachtung ist so bestimmt, daß der Betrachtende sich in ihm findet. Aber das betrachtete Leben als Vollzug der menschlichen Freiheit, als u n u n t e r b r o c h e n e s "Bewußtsein der ganzen Menschheit" (28,14f) ist f ü r den Betrachtenden nicht hinreichend bestimmt. Denn f ü r den B e t r a c h t e r zeigt sich das Leben in Freiheit weiter als ein einzelnes. Durch die Beziehung des wechselnden äußeren T u n s auf die innere Freiheit ist zwar die Flüchtigkeit des Lebens aufgehoben, nicht aber seine Begrenztheit. Das Bewußtsein der Freiheit und diese Endlichkeit des Leb e n s müssen f ü r den, der sich selbst b e t r a c h t e t , aufeinander beziehbar sein. Schleiermacher entwickelt die Individualitätsanschauung als zweite Stufe der Selbsterkenntnis, die er in seinem Leben erreicht h a t . Sie ist aber b e r e i t s im Ansatz, in der Lebensbetrachtung enthalten. Ihre biographische Identifikation dient dazu, die monologische Explikation des gebildeten Selbstverständnisses von dem philosophischen Standpunkt des Idealismus abzuheben, ohne ihm seine Bedeutung f ü r die Genese dieses Selbstverständnisses zu b e s t r e i t e n : "So treibts der Mensch! wenn er die unwürdige Einzelheit des sinnlich thierischen Lebens verschmähend das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit gewinnt, und vor der Pflicht sich niederwirft, vermag e r nicht sogleich auch zu der höhern Eigenheit der Bildung und der Sittlichkeit empor zu d r i n g e n , und die Natur, die sich die Freiheit selbst erwählt, zu schauen und zu v e r s t e h e n " (29,20-27). Wird der a b s t r a k t e Standpunkt der Freiheit in der Selbstbetrachtung auf das Leben angewendet, dann ergibt sich das Bild von der H e r r s c h a f t der
- 55 "Gleichheit des einen Daseins", das sich als das eine Recht in jedem Fall und als dasselbe Handeln in allen durchsetzt. Die Mannigfaltigkeit des äußeren Tuns resultiert dabei nur aus der Verschiedenheit des Ortes, an dem der einzelne sich befindet, während er "nur ein Element und überall derselbe" ist (29,10ff). So kann für die über die bloße Lebensbetrachtung erhobene Selbstbetrachtung das "Gefühl der Freiheit" nicht genügen; "unnütz schien mir die Persönlichkeit und die Einheit des fließenden vergänglichen Bewußtseins in mir" (30,4ff). Aber der Standpunkt der Freiheit ist ins Leben transponiert. Selbstbetrachtung ist nur in Gestalt der Individualitätsanschauung möglich: "So ist mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, dass jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit Alles, was aus ihrem Schöße hervorgehen kann" (30,1218).
Die Individualitätsanschauung bietet einen Ausgleich zwischen dem für die Selbstbetrachtung konstitutiven Bewußtsein unendlicher Freiheit und dem durch die Beziehung auf das freie Handeln zusammengeschlossenen endlichen Leben. Die Menschheit ist in ihrer Unendlichkeit ein ideales Ganzes, das sich in der Totalität der unendlichen einzelnen als jeweils eigene Darstellung der Menschheit realisiert. Der einzelne hat als Erscheinung der Menschheit an ihrer Unendlichkeit und Freiheit teil. Zugleich ist er als Darstellung der Menschheit eine "eigene Mischung ihrer Elemente". Diese aus der Unendlichkeit abgeleitete Eigentümlichkeit konstituiert den einzelnen als einen einzelnen, so daß die individuelle Freiheit die einheitstiftende Funktion in der Mannigfaltigkeit des äußeren Handelns erfüllen kann. Das Verhältnis zwischen der unendlichen Menschheit im Ganzen und dem einzelnen gewinnt Schleiermacher aber nicht aus dem Bewußtsein der Freiheit, vielmehr zeigt die biographische Abstufung, daß dieses Verhältnis sich erst dadurch ergibt, daß das Bewußtsein der Freiheit ins Leben übertragen wird. Im Unterschied zur Gewißheit des Bewußtseins der Menschheit im Vollzug freien Handelns ist die durch die Individualitätsanschauung erschlossene Eigentümlichkeit des einzelnen unbestimmt, so daß sich die Aufgabe ergibt, durch freies Handeln und Selbstbetrachtung diese Eigentümlichkeit zu bestimmen. Durch die Individualitätsanschauung ist der Bildungsprozeß des einzelnen konstituiert, in welchem sowohl die bewußte Selbstbetrachtung als auch die Selbstdarstellung der Monologen ihren Ort haben. Denn nicht nur ist in dem Gedanken der unendlichen Offenbarungen der Menschheit eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten enthalten, deren Verschiedenheit mit dem Gesetz der Freiheit zusammen bestehen kann: "ich denke mich in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigne zu erblicken" (32,14f). Vielmehr ist zugleich auch das Bewußtsein der
- 56 eigenen Individualität so unbestimmt, daß die Selb st be trachtung allein nicht ausreicht, um sie zu bestimmen: "absichtlich muß sie öfter sich das ganze Thun und Streben und die Geschichte meines Selbst vergegenwärtigen, darf der Freunde Meinung, die ich gern ins Innere schauen ließ, nicht überhören, wenn ihre Stimme von dem eignen Urteil abweicht" (32,23-26). Die Selbstbetrachtung ist vom Selbstbewußtsein dadurch unterschieden, daß sie nicht nur als Bewußtsein der Menschheit das Handeln begleitet, sondern im Bildungsprozeß des Individuums der Erkenntnis seiner Eigentümlichkeit dient, durch die dieser dann das Handeln als individuelles bestimmen k a n n ^ 2 . Wegen der Funktion f ü r die Bestimmung der Individualität ist die Selbstbetrachtung zugleich auf den geselligen Umgang mit anderen Individuen angewiesen, an dem der einzelne durch SelbstdarStellung, durch die Vergegenwärtigung der Geschichte des jeweiligen Selbst im Monolog teilnehmen kann. Damit ist der Punkt erreicht, an dem Schleiermachers Entfaltung der Selbstbetrachtung im ersten Monolog wieder aufgenommen werden kann.
3. Die Entfaltung des gebildeten Selbstverständnisses als Weltansicht Der Zwiespalt zwischen dem Bewußtsein der Freiheit und der Endlichkeit des Lebens wird durch die Individualitätsanschauung überbrückt. Der weitere Inhalt der Monologen entfaltet die sich aus dieser Individualitätsanschauung ergebenden Beziehungen. Indem Schleiermacher die Individualitätsanschauung als inhaltliche Bestimmung der Selbstbetrachtung entwickelt, kommt in seinen Monologen der Bildungsbegriff, das gebildete Selbstverständnis, zur Darstellung, denn in ihm ist beides, Selbstbewußtsein und Individualitätsanschauung, vereinigt. Die Differenz zwischen der unendlichen Menschheit und dem einzelnen als einer ihrer eigentümlichen Erscheinungen eröffnet Schleiermacher ein neues Verständnis der Welt. In der Bestimmung dessen, was durch den Begriff der Welt als das andere, vom Menschen unterschiedene bezeichnet wird, hebt Schleiermacher die gebildete Weltansicht von der gewöhnlichen ab.
a) Das Verhältnis von Mensch und Welt In der Behandlung der Reflexion im ersten Monolog schließt sich an die Abhebung der Selbstbetrachtung von der Lebensbetrachtung eine Neubestimmung des Weltbegriffs unmittelbar an, so daß sie als Auslegung des Begriffs der Selbstbetrachtung die oben vorgetragene Deutung durch die Individualitätsanschauung unterstützt. "Was sie Welt nennen, ist mir Mensch, was sie Mensch nennen, ist mir Welt" ( 15,17f). Die Lösung dieses Vertauschrätsels ergibt sich, wenn die entsprechenden Erklärungen Schleiermachers eingesetzt werden:
- 57 "Mir ist alles (sc. die unendlich großen und schweren Massen des körperlichen Stoffes) nur der große gemeinschaftliche Leib der Menschheit, wie der eigne Leib dem Einzelnen gehört, ihr angehörig, nur durch sie möglich und ihr mitgegeben, daß sie ihn beherrsche, sich durch ihn verkündige" (16,5-9). Was gewöhnlich "Welt" genannt wird, verliert in Schleiermachers gebildetem Verständnis den Charakter der Andersheit, die den menschlichen Geist zu "einem kleinen Gast" auf der Welt herabsetzt. Die äußere Welt wird als Leib des menschlichen Geistes insgesamt begriffen. Die Auflösung der äußeren Welt in bloße Stofflichkeit, über die die Menschheit wie über ihren Leib herrscht und in de¡r sie sich darstellt, entspricht der Wendung in der Lebensbetrachtung vom äußerlichen Moment zur Tat als dem Ausdruck eines inneren Handelns. In dieser Auflösung der äußeren Welt tritt der Unterschied zwischen dem von Schleiermacher dargestellten gebildeten Selbstverständnis und dem Idealismus Fichtes deutlich zutage. Menschheit und äußere Welt als Naturzusammenhang werden nicht aus dem Verhältnis des Setzens des Ich und Entgegensetzen des Nicht-Ich abgeleitet, sondern Menschheit und äußere Welt sind als unterschiedene wie Geist und Leib aufeinander bezogen. Zwischen beiden besteht wie im gebildeten Selbstverständnis zwischen Selbstbewußtsein und Individualität ein ursprüngliches Verhältnis. Diese ursprüngliche Einheit wird in den Monologen nicht weiter expliziert. Sie ist aber notwendige Voraussetzung, wenn überhaupt eine Übertragung des idealistischen Standpunkts ins Leben möglich sein soll. Das gebildete Selbstverständnis bleibt auf das Leben bezogen. Nur wenn diese Voraussetzung außer acht gelassen wird, entsteht ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen den ethischen Monologen und den Reden über die Religion . Während in der ersten Hälfte des Rätsels die gewöhnliche Weltanschauung destruiert wird, kommt in der zweiten Hälfte das zweite Merkmal des Bildungsbegriffs, die Individualitätsanschauung Schleiermachers zum Tragen. "Was Welt zu nennen ich würdige, ist nur die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß auf einander, ihr gegenseitig Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit. Nur das unendliche All der Geister sez ich mir dem Endlichen und Einzelnen entgegen" (17,1-5). Was gewöhnlich "Mensch" genannt wird, wird als Menschheit in Schleiermachers gebildetem Verständnis zur Welt, indem sie als "ewige Gemeinschaft der Geister" vom einzelnen und endlichen Ich als Nicht-Ich entgegengesetzt wird. Schleiermacher überträgt also das Setzen von Ich und das Entgegensetzen von Nicht-Ich auf die Selbstbetrachtung. Aber die Welt als das unendliche All der Geister ergibt sich nicht aus dem Setzen des Ich, sondern daraus, daß das sich selbst betrachtende Ich sich als
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ein endliches und einzelnes, als Individuum anschaut. Die für die Individualitätsanschauung konstitutive Differenz zwischen der unendlichen Menschheit und ihren unendlichen Realisierungen in einzelnen und endlichen Erscheinungen begründet die Entgegensetzung. Denn im Bewußtsein seiner selbst als endliche Erscheinung der unendlichen Menschheit ist bereits die ewige Gemeinschaft der Geister mitgesetzt, die der einzelne als Endlicher sich entgegensetzt. Die Entgegensetzung wird getragen durch das Bewußtsein der unendlichen Menschheit. Zwischen ihr und der Welt als dem All der Geister ist ebenso zu unterscheiden wie in Schleiermachers Theorie der Geselligkeit zwischen der ursprünglichen Idee der Gesellschaft und der aus dem geselligen Betragen konstruierten Vorstellung von ihr83. Welt bezeichnet die Totalität der Realisierungen der unendlichen Menschheit, nicht diese selbst, wie sie in der Erhebung von der Lebens- zur Selbstbetrachtung ins Bewußtsein tritt. Die Freiheit der unendlichen Menschheit ist durch die Entgegensetzung nicht berührt, so wenig wie der einzelne in seiner Selbstbetrachtung. Denn das Bewußtsein der Freiheit bezieht sich auf das innere, auf das freie Handeln. Das äußere Tun wird in der Selbstbetrachtung nur dadurch auf das freie Individuum bezogen, daß es als Tat aus freier Tätigkeit hervorgegangen angesehen wird. Aber die Tat ist von der hervorbringenden Tätigkeit unterschieden, so wie die äußere Welt als Leib von der unendlichen Menschheit als Geist und auch wie der einzelne und endliche Mensch als eigentümliche Erscheinung der unendlichen Menschheit unterschieden ist. Als äußeres Resultat einer inneren freien Tätigkeit betrachtet gehört das äußere Tun in den Zusammenhang der Welt, nach Schleiermachers Definition in den Zusammenhang des Alls der Geister; d.h. in den Zusammenhang, der zwischen den einzelnen endlichen Realisierungen der unendlichen Menschheit besteht. "Mich kann ich nur als Freiheit anschaun; was notwendig ist, ist nicht mein Thun, es ist sein Widerschein, es ist die Anschauung der Welt, die in der heiligen Gemeinschaft mit Allen ich erschaffen helfe" (17, 16-19). Die Unterscheidung zwischen dem inneren freien Tun und dem äußeren Handeln erläutert die Definition der Welt als All der Geister. Welt bezeichnet nicht den idealen Zusammenhang der menschlichen Individuen untereinander, sondern die reale Gemeinschaft der frei tätigen Individuen. Diese Gemeinschaft besteht nur durch die Vermittlung äußerer Handlungen, durch sie erfolgt der Einfluß der Geister aufeinander und ihr gegenseitiges Bilden. Aus dem Gedanken der Einzelheit und Endlichkeit der Individuen als Erscheinungen der unendlichen Menschheit ergibt sich die Konstitution der Welt als einer Sphäre der Äußerlichkeit, die der Kommunikation, der realen Gemeinschaft der freien Individuen dient. Zugleich vollzieht sich durch diese äußere Sphäre der Kommunikation die Realisie-
- 59 rung der unendlichen Menschheit zur Welt, der Weltbildungsprozeß der Menschheit. An ihm nimmt das endliche Indivduum mit seinem freien Handeln teil. Schleiermachers Begriff der Welt hat in den Monologen also eine doppelte Bedeutung. Er bezeichnet sowohl die vollständige Realisierung der unendlichen Menschheit als Resultat ihrer unendlichen Tätigkeit als auch die äußere Sphäre der Gemeinschaftlichkeit der endlichen Individuen untereinander, in der der Weltbildungsprozeß erfolgt. Die für Schleiermachers Bildungsbegriff konstitutive Individualitätsanschauung beinhaltet nicht nur die durch den Zusammenhang von Ganzem und Teil dargestellte Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit, so daß der Gebildete sich als individuelle Erscheinung der unendlichen Menschheit begreifen kann, sondern zugleich ermöglicht diese Anschauung auch, daß für das gebildete Individuum Freiheit und Notwendigkeit sich nicht widersprechen, sondern zusammen bestehen, weil die Notwendigkeit aus der endlichen Freiheit abgeleitet wird. "Es stößt die Freiheit an der Freiheit sich... Nothwendigkeit ist außer uns gesetzt, ist der bestimmte Ton vom schönen Zusammenstoß der Freiheit, der ihr Dasein verkündet" (17,10-18). Die Welt der Notwendigkeit ist der reale Zusammenhang, in dem die Gemeinschaft der freien Individuen ihren Bestand hat. Die gegenüber Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens über den begrenzten Bereich der Geselligkeit hinaus auf die ganze Welt ausgedehnte Explikation dessen, was im gebildeten Selbstverständnis enthalten ist, muß in sich die Absonderung reproduzieren, durch die das gebildete Selbstverständnis sich über das gewöhnliche Leben und seine äußerliche Lebensbetrachtung erhoben hat. Diese Differenz ist in der Zweideutigkeit des Weltbegriffs angezeigt. Sie kommt in der Doppelheit des äußeren Handelns, das mit der inneren Freiheit zusammen bestehen kann, und in dem zweifachen Beruf des Menschen als Künstler und als Gebildeter zum Ausdruck.
b ) Das weit- und das selbstbildende Handeln: der Künstler und der Individualist Die Zweideutigkeit des Weltbegriffs ergibt sich aus der Individualitätsanschauung. Das aus der inneren Freiheit des Individuums hervorgehende Handeln kann zweifach bezogen werden. Es läßt sich sowohl als Teilnahme am Realisierungsprozeß der unendlichen Menschheit begreifen. Als solches ist das Handeln auf die Stofflichkeit der äußeren Welt gerichtet, um sie zum Leib der Menschheit zu bilden. Das äußere Handeln läßt sich aber auch als Teilhabe an dem Kommunikationsprozeß der Individuen begreifen. Dann tritt die körperliche Bildung des Handelns zurück zugunsten der in ihm zum Ausdruck kommenden Endlichkeit und Einzelheit des handelnden Individuums. Beides ist Weltbildung als Realisierung der idealen M e n s c h h e i t ^ . Nur ist diese Realisierung Ausdruck entgegengesetzter Intentionen. Auf der einen Seite dient das äußere Handeln unmittel-
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bar der realen Darstellung der Menschheit, auf der anderen Seite dient es der Bestimmung des endlichen Individuums als endliche Idealität, um a u f g r u n d der bestimmten Endlichkeit und Einzelheit an dem Weltbildungsprozeß d u r c h individuelles Handeln teilnehmen zu können. Durch Bestimmung der Endlichkeit ein dieser Endlichkeit gemäßes Handeln zu ermöglichen und so der Gemeinschaftlichkeit der Realisierung der Menschheit zur Welt als Totalität ihrer Erscheinungen Rechnung zu t r a g e n , zeichnet den gebildeten Standpunkt a u s . Er ist von der unmittelbaren Realisier u n g n u r d u r c h die Einsicht abgehoben, daß diese Realisierung der Menschheit durch die Endlichkeit und Einzelheit von Individuen vermittelt ist. Die Bestimmung dieser Endlichkeit ist aber n u r d u r c h das ä u ß e r e Handeln selbst möglich, so daß dieses der Intention nach dem unmittelbar weltbildenden Handeln entgegengesetzt i s t . Daher sind beide I n tentionen des äußeren Handelns mit der Freiheit des Individuums vereinb a r , die von Schleiermacher im e r s t e n Monolog als allgemeine Explikation des gebildeten Selbstverständnisses entwickelt worden i s t . "Es mochte das Handeln darauf gerichtet sein, der Menschheit ihren großen Körper zu eignen, ihn zu n ä h r e n , die Organe ihm zu s c h ä r fen, oder mimisch und kunstreich ihn zu bilden zum Abdruck der V e r n u n f t und des Gemüthes" (18,18,22). Von diesem auf die V e r k ö r p e r u n g der Menschheit, auf Formung des Stoffes und auf B e h e r r s c h u n g ausgerichteten Handeln des gebildeten Individuums, durch das es an dem Weltbildungsprozeß der unendlichen Menschheit teilnimmt und damit seinem Menschsein, seiner Teilhabe an der u n endlichen Menschheit Rechnung t r ä g t , ist dasjenige Handeln abgehoben, das - der Bestimmung der idealen Endlichkeit und Einzelheit dienend die Differenz des endlichen Individuums gegenüber der unendlichen Menschheit zur Geltung bringt und damit dem gebildeten Selbst Verständnis e n t s p r i c h t . "Und war mein T h u n darauf gerichtet, die Menschheit in mir zu bestimmen, in irgend einer endlichen Gestalt und festen Zügen sie d a r zustellen, und so selbst werdend Welt zugleich zu bilden, indem ich der Gemeinschaft freier Geister ein eignes und freies Handeln d a r b o t " (19,12-17). Dient dieses Handeln als menschliches Handeln insgesamt dem Weltbild u n g s p r o z e ß , so ist es seiner unmittelbaren Intention nach auf die Kommunikation der endlichen Individuen gerichtet, in der sie sich ihrem gebildeten Selbstverständnis entsprechend über ihre Individualität Klarheit verschaffen. Da der Weltbildungsprozeß der unendlichen Menschheit und die individuellen Bildungsprozesse nicht nacheinander, sondern zur gleichen Zeit vonstatten gehen, der Weltbildungsprozeß nicht solange ausgesetzt werden k a n n , bis die individuellen Bildungsprozesse abgeschlossen sind, so bietet sich der f ü r Schleiermachers Bildungsbegriff kennzeichnende Aus-
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gleich an, daß innerhalb des Weltbildungsprozesses ein abgesonderter Bereich konstituiert wird, in dem die individuellen Bildungsprozesse in der Gemeinschaft der freien und zugleich endlichen Geister sich vollziehen. Die durch die Individualitätsanschauung geforderte Ausrichtung des freien Handelns an der endlichen Individualität hebt den Bereich der freien Geselligkeit aus dem Weltbildungsprozeß heraus und begründet ein besonderes, der eigenen Bildung, der Bestimmung individueller Endlichkeit dienendes Handeln. In dieser durchgängigen Absonderung drückt sich die Struktur der Individualitätsanschauung aus, die den Zusammenhang zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit feststellt, ohne daß seine Einheit in dem Zusammenhang selbst zur Darstellung gebracht werden kann. In dem gebildeten Selbstverständnis, in dem sich selbst betrachtenden Individuum, ist diese Einheit vorausgesetzt, in dem Verhältnis der Selbstbetrachtung als Zusammenhang zwischen dem Betrachtenden und seiner Selbstdarstellung findet es seinen ersten Ausdruck. Auf diesen abgesonderten Bereich der Geselligkeit zur individuellen Selbstbestimmung beziehen sich die Monologen Schleiermachers, und durch die Explikation der Individualitätsanschauung vollzieht Schleiermacher die Abgrenzung vom Idealismus Fichtes. So kann er gegen den Formalismus der reinen Tätigkeit sagen: "Mein Thun war doch nicht leer, bin ich nur in mir selbst bestimmter und eigener geworden, so hab ich durch mein Werden auch Welt gebildet" ( 1 9 , 2 1 - 2 3 ) . Durch den Gedanken der Einzelheit des Individumms gewinnt Schleiermacher die Bestimmtheit wieder, die der Idealismus gegenüber dem platten Realismus um der Freiheit willen aufgehoben hat. Indem aber diese Bestimmtheit nicht aus der Selbstbestimmung folgt, sondern als endliche Idealität und Individualität vorausgesetzt ist und das bestimmende Handeln der Realisierung dieser Individualität dient, bekennt sich Schleiermacher zu Recht zum "höheren Realismus" (R 54). Unter der Idee des endlichen Individuums wird das in seinem zeitlichen Verlauf betrachtete Leben zum Bildungsprozeß des Individuums, das durch sein freies Handeln die vorausgesetzte Idee realisiert. "Im Innern ist alles Eins, ein jedes Handeln ist Ergänzung nur zum anderen, in jedem ist das andere auch enthalten... Es giebt kein Handeln in mir, das ich vereinzelt recht betrachten, und keins, von dem ich sagen könnte, es sei ein Ganzes. Ein jedes Thun stellt mir mein ganzes Wesen dar, nichts ist getheilt, und jede Thätigkeit begleitet die andere; es findet die Betrachtung keine Schranken, muß immer unvollendet bleiben, wenn sie lebendig bleiben will" ( 2 1 , 5 - 1 5 ) . Zugleich ist dieser individuelle Bildungsprozeß auf die Totalität aller endlich-idealen Individuen bezogen und ohne sie nicht denkbar: "Mein ganzes Wesen kann ich nicht vernehmen, ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen" (21,16ff). Angeschaut aber wird die Menschheit der anderen Individuen nur in ih-
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ren Darstellungen, d . h . in ihrem äußeren Tun, in welchem sie ihre ideale Individualität realisieren. Bestehen in der allgemeinen Darstellung des Standpunkts der Selbstbetrachtung beide Arten des Handelns nebeneinander, geht es Schleiermacher im ersten Monolog sogar darum, die Möglichkeit für das Nebeneinander der beiden entgegengesetzten Bestimmungen des menschlichen Handelns zu erweisen, so erhält bei der Anwendung der Selbstbetrachtung auf denjenigen, der diesen Monolog hält, das abgesonderte Handeln der Bestimmung der Individualität in der Gemeinschaft der Individuen den Vorzug. Für einen Gebildeten, der sich seiner Individualität bewußt geworden ist, ist die Bestimmung dieser Individualität eine unumgängliche Aufgabe. Zugleich ist aber auch das weltbildende Handeln für den Gebildeten seinem Selbstverständnis nach nicht ausgeschlossen. Diese Differenzierung ermöglicht es Schleiermacher, innerhalb des Bereiches gebildeter Geselligkeit eine Unterscheidung zu treffen, mit deren Hilfe er eine Distanz zu den romantischen Genossen artikulieren kann, ohne ihnen das gebildete Selbstverständnis absprechen zu müssen. Er stellt dem auf eigene Bildung bedachten Individuum einen Gebildeten gegenüber, der im Bewußtsein seiner Individualität weltbildend wirkt. Schiermachers Begriff des Künstlers ist durch seine Individualitätsanschauung bestimmt, er ist nicht mit dem ästhetischen Selbstverständnis der romantischen Genossen identisch. Das wird von Schleiermacher auch eingeräumt: "Mir aber hat dies Alles nur der Sinn erspäht, denn meinen Gedanken ist es fremd" (35, 5f). Die Möglichkeit des künstlerischen Lebens wird von Schleiermacher aus dem gebildeten Selbstverständnis abgeleitet. "Noch immer scheint der zweifache Beruf der Menschen auf der Erde, mir die große Trennungslinie der verschiedenen Naturen anzudeuten, Zu sehr ists zweierlei die Menschheit in sich zu einer entschiedenen Gestalt zu bilden und in mannigfachem Handeln sie darzustellen, oder sie kunstreiche Werke verfertigend äußerlich so abzubilden, daß jeder erblicken muß, was einer zeigen wollte" (33,10-34,4). Die doppelte Bedeutung des Weltbegriffs, aus der der "zweifache Beruf" der Menschen folgt, muß, wenn sie dem gebildeten Selbstverständnis nicht widersprechen soll, ihren Grund in einem Unterschied der Individuen selbst haben. Die durch die Individualitätsanschauung begründete Endlichkeit und Vereinzelung erlaubt die Bestimmung durch einen Gegensatz, ohne daß dadurch die Einheit der Menschheit aufgehoben würde. Unter den endlichen Erscheinungen der Menschheit sind zweierlei Naturen möglich. Der Gegensatz, durch den diese beiden Naturen der Menschen unterschieden werden, ist der von Rezeptivität und Spontaneität. Aber dieser Gegensatz wird nicht abstrakt eingeführt, sondern so, daß zugleich die Einheit der Menschheit bewahrt wird: Der endliche Mensch hat beide Momente des Gegensatzes in sich, nur in verschiede-
- 63 nem Verhältnis. Der Unterschied der beiden Naturen ist durch das Überwiegen jeweils eines Momentes bestimmt. So verhält sich der durch Spontaneität ausgezeichnete Künstler durchaus auch rezeptiv: "in jedem Werk, das ihm sich darstellt, ergründet er den Eindruck aller Teile, des Ganzen Zusammensetzung und Gesetz, und freuet sich des kunstreichen Gefäßes mehr als des köstlichen Gehaltes, den es darbeut. Denn bilden sich neue Gedanken zu neuen Werken in ihm, sie nähren heimlich sich im Gemüth und wachsen in stiller Geborgenheit gepflegt. Es rastet nimmer der Fleiss, es wechselt Entwurf und Ausführung, es bessert immer allmählig die Übung unermüdet, das reifere Urteil zügelt und bändigt die Fantasie; so geht die bildende Natur entgegen dem Ziele der Vollkommenheit" (34,2035,4). Diese Beschreibung des künstlerischen Produktionsprozesses trägt dadurch dem gebildeten Selbstverständnis und der Individualitätsanschauung Rechnung, daß nicht nur die Rezeptivität entsprechend zur Individualitätsanschauung durch das Verhältnis der Teile zum Ganzen bestimmt ist, sondern auch dadurch, daß der Künstler als Individuum durch die Rezeptivität auf die Kunstwerke anderer angewiesen ist. Während der Künstler in seinem rezeptiven Verhalten auf die kunstbildende Tätigkeit aus ist, die das Kunstwerk hervorgebracht hat und in der es seine Einheit hat, betrachtet der gebildete Individualist an dem Kunstwerk die in ihm zum Ausdruck kommende Eigentümlichkeit des künstlerischen Menschen: "Aus jedem Kunstwerk strahlet mir die Menschheit, die driiin abgebildet, weit heller hervor als des Bildners Kunst; nur mit Mühe ergreif ich diese in späterer Betrachtung" (35,6-9). Trotz seiner rezeptiven Beziehung auf die Kunstwerke anderer ist der gebildete Künstler einer Äußerlichkeit verhaftet, die die individuelle Eigentümlichkeit als den inneren Kern des gebildeten Selb st Verständnisses nicht zur Geltung bringt. Die Anschauung des Kunstwerks bezieht sich auf den Zusammenhang von künstlerischem Bilden und dem Kunstwerk selbst. Insofern ist sie über gewöhnliche äußerliche Betrachtung erhaben. Außer Betracht aber bleibt in der Kunstanschauung die Eigentümlichkeit, die nach Schleiermachers Verständnis auch den Künstler als eine bestimmte Erscheinung der unendlichen Menschheit auszeichnet. Diese Individualitätsbetrachtung entlastet von dem Zwang zur Vollkommenheit, weil sie mit der Endlichkeit des Künstlers als bestimmtes Individuum auch eine auf seine Individualität beschränkte Vollkommenheit des Kunstwerks in Rechnung stellt: "Mehr kann der Mensch als er meint, aber auch dem höchsten entgegenstrebend kann er nur einiges" (22,25). So ist der gebildete Individualist frei zur überwiegenden Rezeptivität: "Ich lasse frei die freie Natur, und wie sie ihre schönen bedeutungsvollen Zeichen mir darbeut, wecken sie Empfindung in mir und Gedanken, ohne daß es mich gewaltsam drängte, sie anders und bestimmter zu eignem Werke zu gestalten" (35,10-14).
- 64 Das rezeptive Verhalten der "freien Muße" (35,19) ist nicht ohne das Moment der Spontaneität. Denn das Anschauen der Menschheit fremder Individuen dient nicht n u r dazu, daß "der Mensch sich selbst begreifen und bestimmen" lernt (35,20), sondern die Bildung der "Menschheit in sich zu einer entschiednen Gestalt" (33,13) vollzieht sich in der Wechselwirkung der freien Geselligkeit n u r d a d u r c h , daß der einzelne sich selbst darstellt. Diese Selbstdarstellung des gebildeten Individuums ist n u r möglich, wenn es seine Individualität als eine eigentümliche Erscheinung der unendlichen Menschheit bestimmt. Deshalb gilt: "Wer sich zu einem b e stimmten Wesen bilden will, dem muß der Sinn geöffnet sein f ü r Alles, was er nicht ist" (37,16f). Bezeichnet der "allgemeine Sinn" (38,4) diejenige Empfänglichkeit, die in der äußeren Erscheinung die Eigentümlichkeit des Handelnden anschaut, so bezeichnet "Liebe" die Zuwendung zu anderen Individuen, die analog zur produktiven Einbildungskraft, d u r c h die der Künstler das Ganze eines Kunstwerks aus seinen Teilen k o n s t r u iert, aus dem äußeren Handeln eines anderen Individuums seine Eigentümlichkeit als innere Einheit seines äußeren Handelns erschließt. "Sein eigenthümlich Sein und das Verhältnis desselben zur Menschheit ist es, was ich suche: so viel ich jenes finde und dieses v e r s t e h e , so viel Liebe hab ich f ü r ihn" (45,14-17). Ist der Gebildete durch Sinn und Liebe auf die Gemeinschaft der gebildeten Individuen ausgerichtet, so kann seine Sehnsucht n u r dort Erfüllung finden, wo sich das Bewußtsein der Individualität r e g t : "Wo ich Anlage merke zur Eigentümlichkeit, weil Sinn und Liebe die hohen Bürgen da sind, da ist auch f ü r mich ein Gegenstand der Liebe" (44,23ff). F r e u n d s c h a f t als wahre Gemeinschaft von gebildeten Individuen ist n u r möglich, wenn sie in gleicher Weise bemüht sind, ihre jeweilige Individualität zu bestimmen und als feste Gestalt zu bilden. So ist entsprechend d e r zweifachen Natur der Gebildeten F r e u n d s c h a f t als wahrhaft gebildete Geselligkeit von der gewöhnlichen Geselligkeit der Gebildeten abgehoben. Denn es macht einen Unterschied, ob in einem Handeln die Eigentümlichkeit des Handelnden n u r zum Ausdruck kommt, oder ob sie bewußt in einem Akt der Selbstbestimmung zur Darstellung gebracht wird. Und es ist wiederum etwas a n d e r e s , ob solch bewußte Selbstdarstellung auch von einem anderen Gebildeten wahrgenommen wird, so daß es zur F r e u n d s c h a f t kommen k a n n . In all diesen Unterscheidungen, mit denen Schleiermacher im zweiten Monolog seine Eigentümlichkeit zur Darstellung zu bringen sucht, liegt Widersprüchlichkeit. Denn die Bestimmungen, u n t e r denen er seine Eigentümlichkeit darstellt, ergeben sich - wie ich zu zeigen versuchte - aus seiner Auslegung des gebildeten Selbstverständnisses mittels der Individualität san schauung. Sie stellen also gar nicht eine bestimmte Individualität d a r , sondern beschreiben dasjenige Individuum, d a s dem gebildeten Selbstverständnis e n t s p r i c h t . Der Zirkel e n t s t e h t n u n d a d u r c h , daß Schleiermacher diese Explikation des gebildeten Selbstverständnisses als Darstellung einer bestimmten Individualität neben d e r anderen des Künst-
- 65 lers zur Geltung bringen will. Denn auch wenn er durch die Form des Monologs der individuellen Beschränktheit seiner Anschauung Rechnung tragen will, so ist auch diese Darstellungsform durch die Individualitätsanschauung bestimmt, die mit der Struktur von Ganzem und einzelnen und der Realisierung des Ganzen in der Totalität der einzelnen und der Realisierung des Ganzen in der Totalität der einzelnen die allgemeine Denkfigur darstellt, durch die Schleiermacher Individualität erst begreifen kann. Wird die Individualitätsanschauung wiederum als Ausdruck einer besonderen Individualität behauptet, so ergibt sich der Zirkel, daß diese bestimmte Individualität nur mit Hilfe der von ihr hervorgebrachten Individualitätsanschauung als Individualität gedacht werden kann. Der Widerspruch wird in Schleiermachers Begriff des Künstlers offenkundig, insofern er einerseits den Künstler als eine seiner eigenen Individualität entgegengesetzte andere Individualität darstellt, zugleich aber andererseits die defiziente Realisierung seines gebildeten Selbstverständnisses als Individuum konstatieren muß, der im Mangel an Verständnis für die andere Möglichkeit zum Ausdruck kommt: "o möchten sie doch einmal mich in Ruhe lassen und begreifen, daß nichts anders meine Bestimmung ist, daß ich die Wissenschaft nicht bilden darf, weil ich mich selbst zu bilden gesonnen bin" (39,7-10).
c ) Die Ausbreitung des gebildeten Selbstverständnisses Anders als die Differenzierung zwischen den beiden Naturen im Bereich der Geselligkeit unter den Gebildeten, in der sich die die Reden über die Religion beherrschende Konfrontation widerspiegelt, kann durch den Unterschied innerer Selbstbildung und äußerer Weltbildung das Verhältnis der gebildeten zur gewöhnlichen Weltansicht widerspruchsfrei entwickelt werden. Ausgangspunkt ist das, was die gebildete vor der gewöhnlichen Weltansicht auszeichnet: Welt ist die Gemeinschaft der endlichen Individuen ermöglichende Sphäre äußerer Kommunikation. Dieser Weltbegriff schließt die andere Bedeutung der Welt als Werk, als körperliche Realisierung der unendlichen Menschheit nicht aus, sondern gerade ein. Der für Schleiermachers Bildungsbegriff kennzeichnende Ausgleich zwischen entgegengesetzten Momenten vereinigt im Weltbegriff die äußere Herrschaft der Menschheit über die körperliche Welt und die äußere Seite der inneren Gemeinschaft der endlichen Individuen. Dieser im gebildeten Selbstverständnis begründete Ausgleich läßt einen antirevolutionären Fortschrittsoptimusmus zu. Denn die gebildete Weltansicht steht nicht im ausschließenden Gegensatz zur gewöhnlichen, so daß diese zu beseitigen wäre, sondern durch den Gedanken der Gemeinschaft von idealen Individuen als Träger des Weltbildungsprozesses der unendlichen Menschheit überbietet sie die gewöhnliche Weltansicht. Diese Überbietung erfolgt durch den Aufweis der Schranken der gewöhnlichen Weltansicht, wie ja für das gebildete Selbstverständnis überhaupt das Bewußtsein von den
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Schranken des gewöhnlichen Lebens kennzeichnend ist. "Ja, wem es genügt, daß nur der Mensch die Körperwelt beherrsche,... der stimme mit ein in dies laute Lob (sc. über den glänzenden Zustand der Menschheit)" (50,10.19). Wird in der gewöhnlichen Weltansicht schon kaum der Gemeinschaftlichkeit der menschlichen Herrschaft über die Körperwelt Rechnung getragen, so fehlt in ihr jedes Gespür für Gemeinschaft der menschlichen Individuen. Unter der Vorherrschaft der gewöhnlichen Weltansicht stehen die Gebildeten vereinzelt mit ihrer Sehnsucht nach gebildeter G e m e i n s c h a f t ^ 0 , ihre Sehnsucht findet höchstens durch Zufall eine Erfüllung, denn die Formen der menschlichen Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe, Ehe, Staat, sind der Herrschaft über die Körperwelt unterworfen . Die Überwindung dieser Schranken der herrschenden Weltansicht geschieht allein durch die Existenz von Gebildeten. Das Bewußtsein von den Schranken hebt sie über die herrschende Ansicht hinaus. Für jeden von ihnen gilt, was Schleiermacher von sich sagt: "So bin ich der Denkart und dem Leben des jetzigen Geschlechts ein Fremdling, ein prophetischer Bürger einer spätem Welt" (61,17ff). In der Individualitätsanschauung ist der Gedanke der Gemeinschaft der endlichen Individuen enthalten. Der Gebildete ist stets auf der Suche nach solcher Gemeinschaft. Hat er sie gefunden, dann bildet sich ein "schönes freies Bündnis der Verschworenen für die bessere Zeit" (62,9). Diese bessere Zeit wird allein durch die Pflege gebildeter Geselligkeit herbeigeführt. Denn in ihr findet die höchste Stufe des menschlichen Bewußtseins, das Selbstverständnis der Gebildeten als Individuen ihre Erfüllung. Und daß Schleiermacher das Individualitätsbewußtsein als höhere Stufe des Selbstbewußtseins versteht, zeigt seine Auffassung von der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins: Die Herrschaft der Natur über den Menschen sei abgelöst worden durch die Herrschaft des Menschen über die Natur, jetzt stehe, durch die Existenz der Gebildeten angezeigt, "die selige Zeit der wahren Gemeinschaft der Geister" (60,18) bevor. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen diesen drei Entwicklungsstufen und der im Bildungsbegriff enthaltenen Stufung von gebildet und gewöhnlich, die sich in der zweifachen Beurteilung des Idealismus niederschlägt. Während gegenüber der gewöhnlichen Lebensbetrachtung der idealistische Standpunkt mit zum Bereich der gebildeten Selbstbetrachtung gerechnet wird, der die Abhängigkeit des Geistes von der Natur überwunden hat, bezeichnet der idealistische Standpunkt andererseits die gewöhnliche Weltansicht, die Herrschaft des Menschen über die Natur, über die sich die gebildete Weltansicht von der Gemeinschaft endlicher Individuen erhoben hat®^. Diese Diskrepanz wird in dem erwähnten Widerspruch des Schleiermacherschen Begriffs des Künstlers offenkundig. Die Ausbreitung des gebildeten Selbstverständnisses, die durch die äußere Selb st dar Stellung der gebildeten Individuen in der Gemeinschaft der Individuen erfolgt, ist durch die gewöhnliche Weltansicht nicht aufzuhal-
- 67 t e n , weil die Selbstdarstellung und gebildete Kommunikation in derselben Sphäre der Äußerlichkeit s t a t t f i n d e t , in der die H e r r s c h a f t des Menschen ü b e r die Natur zum Ausdruck kommt. Sprache und Sitte als Ausdrucksmittel der freien inneren Tätigkeit lassen sich sowohl auf den Weltbildungsprözeß der unendlichen Menschheit als auch auf den Selbstbildungspro zeß eines endlichen Individuums beziehen. Voraussetzung ist n u r , daß die ideale Individualität dem äußeren Handeln eingeprägt wird. So gilt von der Sprache: "Es bilde n u r jeder seine Sprache sich um Eigentum und zum k u n s t reichen G a n z e n . . . Dann gibts in der gemeinen noch eine heilige und geheime Sprache, die der Uneingeweihte nicht deuten, noch nachahmen k a n n , weil n u r im I n n e r n der Gesinnung der Schlüssel liegt zu ihren C h a r a k t e r e n " ( 6 5 , 7 f f ) . Bedingung f ü r diese geheime Kommunikation ist, daß Sprecher wie Hör e r ein gebildetes Selbstverständnis haben, daß sie sich selbst jeweils als individuelle Erscheinung der Menschheit wissen, um in den Äußer u n g e n des anderen eine andere eigentümliche Gestalt der Menschheit zu entdecken**®.
4. Die Monologen als ethische Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses Die Rekonstruktion des Theorieentwurfs, den Schleiermacher in seinem Versuch ü b e r das gesellige Betragen unternommen hat, hat gezeigt, daß die freie Geselligkeit als ein vom gewöhnlichen Leben abgehobener Bereich im gebildeten Selbstverständnis seine B e g r ü n d u n g findet. Der Gebildete, der sich als Individuum anschaut, kann die Grenzen seiner Individualität nicht a n d e r s als im geselligen Umgang mit anderen Individuen bestimmen, wodurch er e r s t in die Lage v e r s e t z t wird, die ihm eigentümliche Gestalt der Menschheit zu realisieren. Durch die U n t e r s u chung der Monologen, die Schleiermacher als Neujahrsgabe dem a n b r e chenden J a h r h u n d e r t gewidmet h a t , ist diese r e k o n s t r u i e r t e Grundlage der freien Geselligkeit nicht n u r bestätigt, sondern d a r ü b e r hinaus in der Bedeutung, die Schleiermacher ihr beimißt, sichtbar geworden. Im gebildeten Selbstverständnis sieht er den Vorschein des künftigen Zeitalters, in dem eine allseitige freie Geselligkeit h e r r s c h t und die wahre Gemeinschaft der Geister verwirklicht wird. Die Theorie des geselligen Betragens dient nicht n u r der V e r b e s s e r u n g gegenwärtiger Gesellschaften, sie t r ä g t zugleich dazu bei, die b e s s e r e Zukunft der Menschheit h e r b e i z u f ü h r e n . Diese Bedeutung der freien Geselligkeit, die die gebildete Weltansicht vor der gewöhnlichen auszeichnet, ergibt sich d a r a u s , daß Schleiermacher das gebildete, durch die Individualitätsanschauung bestimmte Selbstverständnis als die höchste Stufe des menschlichen Bewußtseins a u f f a ß t . Das Selbstbewußtsein als Bewußtsein der Menschheit
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wird dadurch überboten, daß es mittels der Indivdualitätsanschauung für das menschliche Individuum als Ort dieses Selbstbewußtseins entwickelt wird. Daß der Monolog die adäquate Darstellungsform ist, um das Selbstverständnis eines Gebildeten als Individuum vollständig, nicht nur als Theorie zu explizieren, und daß diese Selbstdarstellung auf freie Geselligkeit bezogen ist, wurde oben gezeigt. Daß es auf einen Zirkel führt, wenn dieser Begriff des Gebildeten zur Bestimmung der besonderen Eigentümlichkeit eines Gebildeten gebraucht wird, hat sich an Schleiermachers Bestimmung der individuellen Eigentümlichkeiten durch den Gegensatz der Rezeptivität und Spontaneität gezeigt. Nicht der weltbildende Künstler, sondern der die Menschheit in sich zu bestimmter Gestalt bildende Individualist verwirklicht das gebildete Selbst Verständnis. Daraus entsteht der Widerspruch in Schleiermachers Begriff des Künstlers: Einerseits wird er als individuelle Eigentümlichkeit, d . h . als durch den Gegensatz unterschiedene, aber als Eigentümlichkeit gleichberechtigte Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses bestimmt, andererseits ist aber das weltbildende Handeln des Künstlers dem gebildeten Selbstverständnis nicht adäquat. Daß Schleiermacher trotz dieses inneren Widerspruchs die Künstler als Gebildete versteht, die sich über die gewöhnliche Lebensbetrachtung zum Bewußtsein der Menschheit erhoben haben, daß er ihnen als möglichen Teilnehmern an der freien Geselligkeit die Monologen darbietet, ja daß er durch die monologische Selbstdarstellung auf sie einwirken und sie nicht nur zur Anerkennung des gebildeten Selbstverständnisses als Eigentümlichkeit Schleiermachers, sondern zu einem dem gebildeten Selbstverständnis entsprechenden Verhalten, d . h . zur Teilnahme an der freien Geselligkeit durch eigene Selbstdarstellung, zur ersehnten Freundschaft bewegen will, läßt die Schlußfolgerung zu, daß die Schleiermacher unter seinem Begriff des Künstlers vor Augen stehenden romantischen Genossen sich selbst als Gebildete verstanden haben, daß Schleiermacher aber diese Selbstbezeichnung in seinem Sinne v e r steht, d . h . daß in der Bestimmung des gebildeten Selbstverständnisses durch die Individualitätsanschauung das spezifische Merkmal von Schleiermachers Bildungsbegriff zu sehen ist**7. Ist die Vermutung richtig, daß der Zirkel der monologischen Selbstdarstellung Schleiermachers und der Widerspruch im Begriff des Künstlers auf einem divergierenden Verständnis dessen, was einen Gebildeten ausmacht, beruht, dann trifft die Doppeldeutigkeit der gebildeten Selbstdarstellung auf die Monologen selbst zu: Sie sind nicht nur die dem gebildeten Selbstverständnis Schleiermachers entsprechende Selbstdarstellung, durch die der Gebildete an der freien Geselligkeit teilnimmt, sondern sie dienen zugleich der Ausbreitung dieses gebildeten Selbstverständnisses und dem Aufbau der freien Geselligkeit als der Gemeinschaft der Gebildeten. Im Bewußtsein der Differenz im Verständnis des Gebildetseins hat
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Schleiermacher mit den Monologen die seinem Bildungsbegriff adäquate Darstellungsform zur Überwindung der Differenz gewählt. Allerdings liegt in dieser Wahl trotz der eingeräumten Möglichkeit individueller Verschiedenheit der Anspruch auf die Allgemeinheit der Individualitätsanschauung, der darin zum Ausdruck kommt, daß das abweichende gebildete Selbstverständnis besser verstanden wird, als es sich selbst versteht, daß das divergierende Bildungsverständnis unter dem Begriff des Künstlers nur widersprüchlich dargestellt wird, nämlich als das gebildete Individuum, das es seinem Selbstverständnis nach noch nicht ist. Trifft es zu, daß das spezifische Merkmal von Schleiermachers Bildungsbegriff in der Auslegung des gebildeten Selb st Verständnisses durch die Individualitätsanschauung liegt und daß er das abweichende Verständnis des Gebildetseins seinem eigenen Verständnis unterwirft, so ist das nicht ohne Bedeutung für das Verständnis der Reden über die Religion. Denn dann wird die gewöhnliche Beschreibung der in den "Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" angezeigten Konfrontation als Überwindung des Gegensatzes zwischen der Religion bzw. dem Christentum und der Bildung der Zeit mit dem naheliegenden Vorwurf der grundlosen Anpassung dem vorliegenden Sachverhalt nicht gerecht. Zwar mag durchaus offen sein, ob Schleiermachers Darstellung des Christentums als Religion das Verständnis des christlichen Glaubens nicht eingeengt hat, aber man wird ihm nicht gerecht, wenn man das nur als Anpassung an ein mit dem christlichen Glauben nicht vereinbares Selbstverständnis der Gebildeten begreift und dabei außer acht läßt, daß Schleiermacher eine davon abweichende Auslegung des Gebildetseins gibt, die in seinen Augen mit dem Christentum vereinbar ist^®. Der Bildungsbegriff Schleiermachers ist insofern bereits von seinem Verständnis der christlichen Religion geprägt*^. Seine Auslegung des Christentums wird nicht erst danach zu beurteilen sein, ob seine theologische Explikation der Sache des Christentums entspricht, sondern schon danach, ob ihm die Explikation des gebildeten Selb st Verständnisses als Auslegung des christlichen Glaubens gelingt. Die Individualitätsanschauung, durch die Schleiermacher das gebildete Selbstverständnis bestimmt, beinhaltet ein bestimmtes Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Mannigfaltigkeit geht aus der Einheit hervor. Dies Verhältnis erlaubt eine Zuordnung von Endlichkeit und Unendlichkeit. Die unendliche Einheit läßt aus sich heraus unendlich viele endliche Manifestationen. Zugleich ist in diesem Verhältnis von unendlicher Einheit und Mannigfaltigkeit des Endlichen die Unterscheidung von Tun und Tat enthalten. Die unendliche Tätigkeit realisiert sich in unendlich vielen Taten. Die Selbstbeschränkung der unendlichen Tätigkeit zu bestimmten endlichen Gestalten ist in der Individualitätsanschauung als vollzogen vorausgesetzt. Die Stofflichkeit, in der die unendliche Tätigkeit als endliche Manifestation Gestalt gewinnt, ist
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mit der vorausgesetzten Selbstbeschränkung der unendlichen Tätigkeit mitgesetzt. Die unendliche Tätigkeit stellt sich dar sowohl unmittelbar in endlichen Taten, d . h . im Kunstwerk als endlicher realer Darstellung der unendlichen Menschheit, als auch in endlicher Tätigkeit, d.h. im Individuum als endlicher idealer Erscheinung der Menschheit, die sich in Taten als Resultate ihres endlichen Handelns und so mittelbar die unendliche Menschheit darstellt. Aufgrund der in der Individualitätsanschauung enthaltenen Bestimmungen ist ein vierfacher Bildungsprozeß konstituiert, der mittels der Gegensatzpaare ideal und real (Tun und Tat) und unendlich und endlich differenziert werden kann. Die unendliche ideale Tätigkeit realisiert sich im Weltbildungsprozeß. Träger des Gesamtprozesses sind die Individuen als endliche Erscheinungen der Menschheit, die durch ihr weltbildendes Handeln Kunstwerke, d.h. reale Darstellungen der unendlichen Menschheit, hervorbringen. Von diesen auf das Resultat der unendlichen und endlichen Tätigkeit bezogenen Bildungsprozessen zu unterscheiden sind die Bildungsprozesse, die der idealen Erscheinung der Menschheit als Individuen gelten. Die ideale Erscheinung der Menschheit ist real nur im individuellen Handeln und seinen Resultaten. Sie ist also nur durch die Betrachtung dieses Handelns zu bestimmen, und nur ein durch die erkannte Individualität bestimmtes Handeln ist der endlichen Erscheinung der unendlichen Tätigkeit gemäßt. Dieser Selbstbildungsprozeß des Individuums als endlicher Tätigkeit ist eingebettet in freie Geselligkeit als Gemeinschaft der Individuen, in der durch Wechselwirkung die Totalität der endlichen Erscheinungen der unendlichen Menschheit als Tätigkeit entwickelt wird. Dieser doppelte Selbstbildungsprozeß der Menschheit als individueller und gemeinschaftlicher Bildungsprozeß ist Gegenstand der Monologen, denn die Individualität, die als endliche Erscheinung der unendlichen Menschheit Gegenstand der Individualitätsanschauung ist, findet in dem doppelten Bildungsprozeß, der in den Monologen durch die Selbstbetrachtung und die Weltansicht eröffnet wird, ihre ethische Explikation . Offen aber bleibt die Frage nach der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses. Die Monologen entfalten die Individualitätsanschauung zwar als höchste Stufe des menschlichen Bewußtseins, die sich sowohl über die gewöhnliche Lebensbetrachtung als auch über die aufgeklärte Weltansicht erhoben hat. Aber wie der Gebildete dazu kommt, sich nicht nur als Mensch, sondern als eine bestimmte endliche Erscheinung der unendlichen Menschheit zu verstehen, wird in ihnen nicht thematisch. Die Individualitätsanschauung wird nicht abgeleitet, sondern sowohl für die Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt, nachdem die Selbstbetrachtung eingeführt worden ist (15f), als auch bei der Einführung des höheren Zieles auf der Stufe des allgemeinen Menschheitsbewußtseins durch die Frage nach dem Wert der Persönlichkeit und der Einheit des fließenden vergänglichen Bewußtseins (29f) vorausgesetzt.
- 71 Die Konstitutionsfrage stellt sich jedoch nicht, weil mit der Individualitätsanschauung eine neue, nicht in dem Zusammenhang b e g r ü n d e t e Voraussetzung e i n g e f ü h r t wird, sondern sie ergibt sich d a r a u s , daß die Monologen selbst u n t e r dieser Voraussetzung stehen, genauer: daß im gebildeten Selb st Verständnis die Individualitätsanschauung f ü r den Anschauenden selbst gilt, daß also der Anschauende, der die Darstellung des Unendlichen in endlichen Gestalten anschaut, zugleich sich selbst als eine dieser endlichen Manifestationen des Unendlichen wissen muß. Mag Schleiermacher sich in den Monologen auch weitgehend an die T e r minologie Fichtes angelehnt haben, indem er aber die Endlichkeit und Einzelheit des individuellen Selbstbewußtseins zum Thema erhoben hat, erhält seine Explikation des gebildeten Selbstverständnisses doch eine deutlich andere Theoriegestalt. Das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen bestimmt auch das individuelle Selbstbewußtsein. Denn ist das Endliche und Einzelne als eine Erscheinung des Unendlichen zu v e r s t e h e n , so muß auch das gebildete Selbstverständnis als endliche Erscheinung der unendlichen Tätigkeit der Menschheit sich selbst als von dieser h e r v o r g e b r a c h t v e r s t e h e n . Darauf b e r u h t nicht n u r die Möglichkeit "religiöser S e l b s t g e s p r ä c h e " ^ , vielmehr hat Schleiermacher diese Seite seines Bildungsbegriffs, die Konstitution des gebildeten Selbstv e r s t ä n d n i s s e s , in seinen ein J a h r zuvor erschienenen Reden ü b e r die Religion entfaltet.
III. Schleiermachers Reden ü b e r die Religion als Explikation der konstitutiven Voraussetzung des gebildeten Selbstverständnisses durch den gebildeten Redner Auf dem Hintergrund der an der Theorie des geselligen Betragens und den Monologen gewonnenen Erkenntnisse über Schleiermachers Bildungsb e g r i f f , ü b e r die S t r u k t u r der Individualitätsanschauung und ü b e r die ihr entsprechende Darstellungsform e r ö f f n e t sich eine Perspektive f ü r die Interpretation von Schleiermachers wohl berühmtester S c h r i f t , den Reden ü b e r die Religion®!. Denn sowohl der Gegenstand der Reden, die Religion, als auch die Form der Reden lassen sich auf den bisher gewonnenen Begriff des gebildeten Selbstverständnisses beziehen. Damit wird der Versuch möglich, Form und Inhalt der Reden ü b e r die Religion auf dem Boden der Beziehung zu i n t e r p r e t i e r e n , die Schleiermacher im Untertitel seiner Schrift anzeigt, wenn e r die Religion zum Gegenstand von "Reden an die Gebildeten u n t e r ihren Verächtern"® 2 macht, deren direkte E r h e b u n g aber durch die kontroverse Stellung der Gebildeten zur Religion verstellt ist93. D a s I n t e r e s s e dieser Untersuchung an Schleiermac h e r s Reden richtet sich nicht allein auf ihren Gegenstand, die Religion, und auf das umstrittene Verhältnis zwischen dem Wesen der Religion und dem Wesen des Christentums®^, sondern auf den Zusammenhang, der zwi-
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sehen dem Religions- und Bildungsverhältnis besteht. Dieser Zusammenhang ist in einer Vorüberlegung zu betrachten, um die Interpretationsschwerpunkte zu gewinnen. Die Monologen zeigten sich als die Explikation des in der Theorie des geselligen Betragens vorausgesetzten, gebildeten Selbstverständnisses, insofern sie sich als Selbstdarstellung eines Gebildeten zum Zwecke des geselligen Umgangs mit anderen Gebildeten verstehen lassen. Dies Verständnis ergab sich aus den Implikationen der Individualitätsanschauung: Der sich als Individuum verstehende Gebildete kann seine eigentümliche Individualität nicht anders als im geselligen Umgang mit anderen Individuen ausprägen. Der individuelle Bildungsprozeß ist an das gebildete Selbstverständnis gebunden. In den Monologen bleibt über die biographisch gefärbten Hinweise die Frage nach der Konstitution dieses im Sinne der Individualitätsanschauung gebildeten Selbstverständnisses offen. Immerhin ließ sich soviel ausmachen, daß die Lösung Fichtes f ü r das Ich nicht auf die Konstitution des Individualitätsbewußtseins übertragen werden kann. Läßt sich nun zeigen, daß mit dem Thema der Religion die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses erörtert wird, so ist von dem Begriff der Bildung aus der Zusammenhang zwischen Bildung und Religion erschlossen. Religion ist für das gebildete Selbstverständnis, so wie es Schleiermacher als Redner im Unterschied zu den gebildeten Verächtern vertritt, ein notwendiger Gegenstand der gebildeten Selbstdarstellung, zumal dann, wenn das bestritten wird. Gegenüber den Verächtern der Religion hat der Redner also zunächst darzutun, inwiefern Religion überhaupt ein Gegenstand der gebildeten Kommunikation sein kann (1. Rede). Weiter hat er einen Begriff von Religion zu entwickeln, der die Entsprechung zwischen den Erscheinungen der Religion \ond der gebildeten Individualitätsanschauung deutlich werden läßt (2. Rede). Der Aufweis dieser Entsprechung erlaubt dem Redner dann, die Bedeutung der Gebildeten für die Palingenese der Religion zu bezeichnen (3. Rede). Schließlich verlangt die Funktion, die die Religion für die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses ausfüllt, daß der Gegenstand der religiösen Anschauung und seine Vermittlung so beschaffen sind, daß sie zu dem gebildeten Selbstverständnis nicht in einem Widerspruch stehen. Auf dem Boden des Bildungsbegriffs ergibt sich eine Auffassung der Reden, die in ihnen eine Entfaltung des Religionsbegriffs erkennt, die an der gebildeten Individualitätsanschauung orientiert ist und in dem Begriff der Kirche (4. Rede) und dem Christentum als der positiven Religion der Gebildeten (5. Rede) kulminiert^.
1. Die Thematisier un g der Religion durch den gebildeten Redner Darüber, daß er die Religion zum Gegenstand von Reden an die gebildeten Verächter macht, hat der Redner selbst in der ersten Rede linter dem
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Titel "Apologie" Rechenschaft abgelegt. Diese apologetischen Ausführungen stehen bereits unter der mit der Darstellungsform der Rede gewählten Fiktion des geselligen Umgangs von Gebildeten. Um den mit der Thematisierung der Religion vor den gebildeten Verächtern vorausgesetzten Zusammenhang von Religion und Gebildetsein sichtbar zu machen, ist zunächst die Rede als Darstellungsform des gebildeten Selbstverständnisses und als Inanspruchnahme der Gemeinsamkeit der Gebildeten darzustellen, bevor von dieser Basis aus die Verteidigung der Religion gegen ihre gebildeten Verächter betrachtet werden kann. Denn die Differenz zwischen dem Religionsverständnis des Redners und dem der gebildeten Verächter wird als Differenz des gebildeten Selbstverständnisses bestimmt und ihre Aufhebung, d.h. die Apologie, läßt sich verstehen als eine SelbstdarStellung, die eine dem gebildeten Selb st Verständnis entsprechende Selbstdarstellung anregen will, ohne sie hervorrufen zu können. Die Apologie der Religion vollzieht der Redner als Vermittlung von Religion im Rahmen gebildeter Geselligkeit. a) Die Rede als Darstellungsform gebildeten Selbstverständnisses Aufgrund dessen, was zuvor über die Adäquanz der Darstellungsform der Monologen und auch der Theorie des geselligen Betragens mit dem gebildeten Selb st Verständnis festgestellt werden konnte, bedarf es keiner weiteren Erklärung, wenn auch die von Schleiermacher gewählte Form der Rede auf das gebildete Selb st Verständnis bezogen wird. Die Explikation dieser Beziehung erfolgt weniger, um die Adäquanz nachzuweisen, als vielmehr, um dadurch eine Bestimmung des Gegenstandes der Reden an die Gebildeten zu gewinnen. Denn daß Schleiermacher keine Theorie der Religion und keine Dogmatik des Christentums publiziert hat, sondern seine Religionsschrift als Reden an die gebildeten Verächter adressiert, weist auf einen Zusammenhang zwischen Religion und gebildetem Selbstverständnis hin. Wäre die Religion nur ein theoriefähiger Gegenstand für die Gebildeten, so wäre in der von Schleiermacher gewählten Darstellungsform nichts als subjektive Willkür zu sehen. Eine darüber hinausgehende Bedeutung erhält die Darstellungsform der Rede erst dann, wenn die Religion nicht darin aufgeht, ein theoretisch begreifbarer Gegenstand für die Gebildeten zu sein, sondern wenn Religion ihren Ort im Selbstverständnis der Gebildeten hat. Ist das aber der Fall, dann kann ein wahres Verständnis der Religion nicht durch das Aufstellen einer Theorie, sondern allein durch die Explikation des gebildeten Selbstverständnisses erschlossen werden. Will Schleiermacher die Verankerung von Religion im gebildeten Selbstverständnis aufweisen, so kann er das nur, indem er sich einer Darstellungsform bedient, die dem gebildeten Selbstverständnis entspricht. Die Darstellungsform muß der freien Geselligkeit, dem geselligen Umgang der Gebildeten miteinander, Rechnung tragen. Diese Bedingung wird durch die
- 74 Form der Rede e r f ü l l t , weil durch sie mit der Beziehung zwischen Redner und Hörer ein Verhältnis der Geselligkeit vorausgesetzt wird^ß. Darin stimmt die Form der Rede mit der des Monologs ü b e r e i n , daß der Gebildete die Rede vor der Gemeinschaft der Gebildeten v o r t r ä g t . Der Unterschied gegenüber dem dargebotenen Selbstgespräch besteht darin, daß nicht das Selbstverständnis, das der monologisierende Gebildete von sich selbst h a t , explizit gemacht und als Äußerung einer eigentümlichen Individualität in die Gemeinschaft der gebildeten Individuen eingebracht wird, sondern daß in der Rede etwas dargestellt wird, was als allen Gebildeten gemeinsam angesehen wird, was aber durch Theorie nicht adäquat d a r z u stellen ist. So ist mit der Religion als Gegenstand von Reden an die Gebildeten eine Gemeinsamkeit im gebildeten Selbstverständnis thematisch. Diese Gemeinsamkeit steht aber in Frage, wie die im Untertitel der Religionsschrift festgehaltene Kontroverse zeigt. Denn wenn den Gebildeten die Bedeutung der Religion f ü r das gebildete Selbstverständnis s e l b s t v e r ständlich wäre, dann würde sich jede Rede d a r ü b e r e r ü b r i g e n . Ist das aber nicht der Fall, wie die Verachtung der Religion durch Gebildete zeigt, so t r i t t darin eine Differenz in der Auffassung des Gebildetseins zu Tage. Aber a n d e r s als in den Monologen, in denen Schleiermacher die Differenz im gebildeten Selbstverständnis als Unterschied zwischen den beiden Naturen der Menschheit, dem weltbildenden Künstler und dem selbstbildenden Individualisten, entwickelt h a t , wird diese Differenz nicht als individuelle Verschiedenheit bestimmt und damit der Streit um das gebildete Selbstverständnis e n t s c h ä r f t , sondern mit der entgegengesetzten Stellung zur Religion wird diese Differenz der Gebildeten in ihrem Selb st Verständnis zum Thema erhoben. Die Rede geschieht in der Absicht, die in der Stellung zur Religion zutagetretende Differenz zu ü b e r winden. Aber die differenten Positionen werden nicht in ihrer Differenz einander gegenübergestellt, um sie von einer neutralen Position aus gegeneinander abzuwägen, sondern in der Rede wird diese Differenz von der einen der beiden differenten Positionen a u s thematisch. Die gebildeten Verächter werden, wie der weltbildende Künstler im zweiten Monolog, bei ihrem Selbstverständnis b e h a f t e t , aber dieses Selbstverständnis wird im Sinne des Schleiermacherschen Bildungsbegriffs als d u r c h die Individualitätsanschauung bestimmt a u f g e f a ß t . Daraus entsteht der Schein der Widersprüchlichkeit in der Position der gebildeten Verächter. Während sie als Gebildete durch ein gebildetes Selbstverständnis ausgezeichnet sind, zeigen sie sich in ihrer Verachtung der Religion nicht als diesem gebildeten Selbstverständnis gemäß. Auf diese Widersprüchlichkeit zielt die von Schleiermacher gewählte Form der Rede, durch die Verächter der Religion ü b e r f ü h r t werden sollen97. Im Blick auf die nach seinem Verständnis im Gebildetsein v e r a n k e r t e Religion kann Schleiermacher sich nicht mit der Bestimmung der individuellen Verschiedenheit d u r c h den Gegensatz zwischen weltbildendem Künstler und selbstbildendem Individualisten b e g n ü g e n , sondern muß die f ü r diese Verschiedenheit vorausgesetzte Gemeinsamkeit des gebildeten
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Selbstverständnisses explizit machen. Aber diese auf die Religion gerichtete Explikation ist nur in einer dem gebildeten Selbstverständnis adäquaten Darstellungsform möglich; d.h. nur als individuelle Selbstdarstellung in freier Geselligkeit der Gebildeten kann die Religion zum Gegenstand der Reden an die Gebildeten gemacht werden. Die für die gebildete Geselligkeit konstitutive Anerkennung der individuellen Eigentümlichkeit erlaubt es dem Redner als Gebildetem, seine eigentümliche Religion vor den Gebildeten darzustellen. Für die gebildeten Verächter aber bedeutet das, daß Religion überhaupt als Moment des Gebildetseins zum Thema gemacht wird. b) Die Apologie der Religion als Ausübung der Mittlerfunktion Indem Schleiermacher trotz der Verachtung derer, die "sich über das Gemeine erhoben haben" (1), die Religion zum Gegenstand einer Rede an die Verächter macht, nimmt er das Recht des gebildeten Individuums auf Anerkennung seiner Individualität durch die Gebildeten in Anspruch. Die Thematisierung der Religion erfolgt als Explikation des gebildeten Selbstverständnisses. In der Thematisierung der Religion in Gestalt individueller Selbstdarstellung des Gebildeten liegt zugleich die Behauptung, daß Religion ein Moment im gebildeten Selbstverständnis überhaupt ist. Ausgeschlossen ist damit, daß die Zugehörigkeit zu dem Stand, dessen Sache die Religion ist, oder die religiöse "Virtuosität" des Individuums diese Rede veranlaßt haben. "Als Mensch rede ich zu Euch von den heiligen Mysterien der Menschheit nach meiner Ansicht" (5). Nicht ein partikulares, sondern ein allgemeines Interesse nimmt der Redner insofern wahr, wenn er sich auf sein Mensöhsein, seine Zugehörigkeit zur Menschheit beruft. Denn als Religion stellt er seine Ansicht von der Menschheit dar. Mit der Religion ist gerade das thematisch, was den Gebildeten in seinem Selbstverständnis auszeichnet, nämlich daß er sich als Individuum, als individuelle Erscheinung der Menschheit versteht. Das, was im einzelnen individuelle Gestalt annimmt, macht das Individuum in der Religion explizit. Daß aber das Individuum die Menschheit nicht anders als in der individuellen Gestalt, die sie in ihm und anderen angenommen hat, ansehen kann, begründet die Notwendigkeit, in eine gesellige Kommunikation über die Religion einzutreten. "Es ist die innere unwiderstehliche Notwendigkeit meiner Natur, es ist ein göttlicher Beruf, es ist das, was meine Stelle im Universum bestimmt und mich zu dem Wesen macht, welches ich bin", was zum Reden und zu dieser Rede nötigt (5). Für den Redner selbst trifft, zu, was er in der vierten Rede für die Religion entwickelt: "Ist die Religion einmal, so muß sie notwendig auch gesellig sein" (177). Aber diese Geselligkeit dient nicht unmittelbar zur Förderung des individuellen Bildungsprozesses. Nicht die Eigentümlichkeit des Individuums soll in der Gemeinschaft der Individuen bestimmt wer-
- 76 den, sondern das, was den einzelnen zum Individuum macht, was ihm seine "Stelle im Universum bestimmt". Die Individualitätsanschauung enthält mit der individuellen Bestimmtheit, die im individuellen Bildungsprozeß in der geselligen Beziehung zu anderen Individuen ausgearbeitet und zur Darstellung gebracht wird, auch ein Bestimmendes für diese Bestimmtheit des Individuums. Aber das, was das Individuum bestimmt, ist für das Individuum nicht anders erfahrbar, als darin, daß es sich als Individuum, als Bestimmtes anschaut. Das Bestimmende ist nicht anders als in seiner individuellen Gestalt zu fassen. Es kann also ebenfalls nur durch einen Bildungsprozeß in der Gemeinschaft der Individuen zur Darstellung gelangen (vgl. 177f). So macht die Natur des Gebildeten als Individuum, die als eine bestimmte ein religiöses Bewußtsein impliziert, die Rede über seine Religion und über Religion überhaupt für den Gebildeten notwendig. Denn in der religiösen Rede findet die individuelle Ansicht von dem, was das Individuum als bestimmtes Individuum bestimmt, ihren Ausdruck. Der Zusammenhang von Religion und Bildung ist also bereits dadurch, daß Schleiermacher die Thematisierung der Religion auf eine innere Notwendigkeit seiner Natur als Gebildeter, d.h. auf sein Selbstverständnis als Individuum zurückführt, in Anspruch genommen. In der Religion macht der Gebildete ausdrücklich, wodurch er sich als Individuum konstituiert sieht. Mit der religiösen Rede erfüllt Schleiermacher als gebildeter Redner die Bedingung, die ihn zur Teilnahme an der religiösen Gemeinschaft befähigt. Denn nur durch ihren Gegenstand, nicht durch die Form ist die religiöse Gemeinschaft von der gebildeten unterschieden. Beide beruhen auf freier Wechselwirkung der Individuen. Der Unterschied ergibt sich dadurch, ob die Bestimmtheit des Individuums oder das Bestimmende zum Gegenstand der Geselligkeit gemacht wird. Mit der Thematisierung der Religion wird zugleich auch die religiöse Gemeinschaft als eine von der gebildeten abgehobene durch den Redner vorausgesetzt. Eine wirkliche Gemeinschaft der Individuen in religiöser wie in gebildeter Hinsicht kann nun aber durch das einzelne Individuum nicht hervorgebracht werden, sondern es kann für sein Teil nur die Bedingung erfüllen, daß die in der Individualitätsanschauung enthaltene Idee der Gemeinschaft eintreten und wirklich werden kann. Deshalb erfüllt Schleiermacher als gebildeter Redner, indem er die Religion thematisiert, diese Bedingung sowohl für die gebildete als auch für die religiöse Gemeinschaft. Auf welche Gemeinschaft seine religiöse Rede trifft, das entscheidet über die konkrete gesellige Bedeutung, die die Rede hat, ohne daß die andere Möglichkeit prinzipiell ausgeschlossen ist. Schleiermacher hat damit, daß er seine Rede an die gebildeten Verächter der Religion adressiert, die gesellige Bedeutung seiner religiösen Rede festgelegt. Obwohl sie als religiöse Rede, wie die Reflexion der Geselligkeit in der Religion zeigt, auch die Bedingung der Zugehörigkeit zur wahren religiösen Gemeinschaft erfüllt*^, als Rede an die gebildeten Verächter erfolgt sie auf dem Boden der gebildeten Geselligkeit. Die religiöse Rede des gebildeten Redners
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trifft nicht auf eine religiöse Gemeinschaft, sondern auf eine Gemeinschaft von Gebildeten, die, indem sie die Religion verachten, sich ihrer eigenen Religion und ihrer Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinschaft nicht bewußt sind. Um die darin implizierte Behauptung, daß die Gebildeten in ihrer Verachtung der Religion nicht gebildet genug sind, und das daraus sich ergebende Verhältnis des Redners zu den gebildeten Verächtern an der Rede selbst sichtbar zu machen, kann auf eine entsprechend Struktur in der Darstellung der religiösen Geselligkeit rekurriert werden. Denn beide Formen der Geselligkeit gründen in der Individualitätsanschauung, d . h . darin, daß das Individuum f ü r seinen Bildungsprozeß auf die gesellige Kommunikation mit anderen Individuen angewiesen ist. Diese ideale Gemeinschaft der Individuen ist dadurch konstituiert, daß alle das gebildete Selbstverständnis, das Individualitätsbewußtsein haben. Sofern das nicht der Fall ist, besteht auch nicht die durch freie Wechselwirkung bestimmte Geselligkeit. Vielmehr nimmt der Gebildete gegenüber denen, die kein gebildetes Selbstverständnis ausgebildet haben, die also der gebildeten Selbstdarstellung in freier Geselligkeit nicht fähig sind, eine andere Stellung ein. Mit dem gebildeten Selbstverständnis ist also ein zweifacher Begriff von Gemeinschaft verbunden, der in der vierten Rede im Modus der religiösen Gemeinschaft entwickelt wird. Denn die zweifache Gemeinschaft des Gebildeten als freie Geselligkeit mit anderen gebildeten Individuen und als Gemeinschaft mit nicht gebildeten Individuen liegt dem doppelten Kirchenbegriff der Reden zugrunde. Von seinem Verständnis des religiösen Individuums und der individuellen Religion aus gewinnt der Redner neben dem Begriff der wahren Kirche als Gemeinschaft religiöser Individuen den Begriff der sichtbaren, durch das Verhältnis von Priester und Laien bestimmten Kirche, ohne auf einen besonderen Konstitutionsakt von seiten des Staates zurückgreifen zu müssen. (211f). Die sichtbare Kirche entsteht als Gemeinschaft zwischen den religiösen Individuen, die eine eigene individuelle Anschauung des Universums haben und diese in die freie religiöse Gemeinschaft einzubringen suchen, und denen, denen die Kraft fehlt, eine eigene religiöse Anschauung auszubilden. Das religiöse Individuum kann also zwei verschiedenen Formen der religiösen Gemeinschaft angehören, wobei das Augenmerk auf die Beziehung des Gebildeten zu dem Ungebildeten gerichtet ist. Diejenigen, die bloß Glieder der sichtbaren Kirche sind, werden als religiös Ungebildete, d . h . als defiziente Gestalt eines religiösen Individuums bestimmt. Sie sind "negativ religiös" (194), sie suchen "im Spiegel fremder Darstellung" die Befriedigung für ihr eigenes religiöses Bedürfnis (196). In ihrem Verzicht auf eine eigene individuelle Äußerung von Religion bleiben sie der Einseitigkeit und der Äußerlichkeit der fremden religiösen Darstellung verhaftet. Sie orientieren sich an "Begriffen, Meinungen, Lehrsätzen" (198) und mißverstehen die symbolischen Handlungen als f ü r sich bestehende Äußer-
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lichkeit. Aber fehlt ihnen auch die Kraft, eine eigene Anschauung des Universums auszubilden, so sind sie doch nicht ohne religiöses Bedürfnis, nicht ohne Sinn für Religion. In ihrer Zugehörigkeit zur sichtbaren Kirche zeigt sich eine "Ahnung" und ein "Suchen" nach Religion (195). Trotz der religiösen Passivität, die die sichtbare Kirche bestimmt - "alle wollen empfangen, und nur einer ist da, der geben soll" (193) - , wird von der Vorstellung der wahren Kirche als freier Geselligkeit der religiösen Individuen aus das Verhältnis von Priester und Laien als Verhältnis von Meister und Jünger beschrieben. Die Glieder der sichtbaren Kirche sind als Ungebildete zugleich Suchende, die sich als Jünger einem Meister anschließen. Der Begriff der sichtbaren Kirche resultiert aus der Forderung, daß es ein "Bindungsmittel" geben müsse zwischen denen, "welche schon im Besitz der Religion sind", und denen, "welche sie noch suchen" (200). Die sichtbare Kirche ist damit bestimmt als Veranstaltung "zum Behuf der Schüler und Lehrlinge" hinsichtlich der Religion als menschlicher Angelegenheit ( e b d . ) . Da es in der religiösen Bildungsanstalt nicht um bestimmte religiöse Anschauungen geht, sondern darum, daß der einzelne selbst dazu kommt, eine religiöse Anschauung zu vollziehen und darzustellen, kann es nicht eine bestimmte Anschauung sein, deren bloße Mitteilung sie bereits zur Anschauung eines anderen Individuums macht (138). Denn was mitgeteilt wird, ist immer Produkt der Tätigkeit eines Individuums. Es kann wahrgenommen und erinnert werden, aber es kann nicht die Tätigkeit in einem anderen Individuum hervorbringen. "Aus dem Innersten seiner Organisation muß alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll" (139). Zum freien Vollzug seiner individuellen Tätigkeit kann das Individuum nicht durch das äußere Resultat einer Handlung gebracht werden. Denn wird sie nicht als freie Handlung erkannt, was beim Erkennenden bereits Freiheit voraussetzt, dann steht sie als bloße Erscheinung gerade im Widerspruch zu der Freiheit, die hervorgebracht werden soll. Dieser Überlegung trägt Schleiermacher in den Reden dadurch Rechnung, daß er die Vermittlung von Religion durch das Meister-Jünger Verhältnis zu erfassen sucht. Zwischen Meister und Jünger vollzieht sich die Vermittlung von menschlicher Tätigkeit. Beide stehen einander selbständig gegenüber. Darin, daß sich Jünger an einen Meister anschließen, liegt bereits ihre Selbständigkeit. Denn Jünger sind sie nicht, "weil ihr Meister sie dazu gemacht hat; sondern er ist ihr Meister, weil sie ihn dazu erwählt haben" (141). Da es bei der Religion um das Anschauuen des Universums geht, ist die Vermittlung auf diese Tätigkeit bezogen. "Wer durch die Äußerung seiner eignen Religion sie in anderen aufgeregt hat, der hat nun diese nicht mehr in seiner Gewalt, sie bei sich festzuhalten" (141f). Wird das innere Verhältnis der sichtbaren Kirche als Verhältnis von Meister und Jünger näher bestimmt, so resultiert daraus die Forderung der
- 79 Wahlfreiheit. Denn geht es darum, daß jedes Individuum zur religiösen Anschauung kommt, dann ist die jeweilige Bestimmtheit dieser Anschauung gleichgültig, dann wird die Verpflichtung auf einen bestimmten Meister zur Einschränkung auf die Bestimmtheit seiner Religion unter Ausschluß anderer Möglichkeiten. Die vielfältige Entfaltung der Religion wird willkürlich eingeengt. Denn keine der individuellen religiösen Anschauungen ist vor den anderen ausgezeichnet, und daß ihre Darstellung andere zur Religion anregt, liegt nicht in ihrer Macht. Deshalb gilt auch für den Vorhof der wahren Kirche kein anderes Organisationsprinzip als das der freien Geselligkeit: "Meister und Jünger müssen einander in vollkommener Freiheit aufsuchen und wählen dürfen, sonst ist einer für den andern verloren" (221). Jedes religiöse Individuum kann für jedes, das es noch nicht ist, zum Meister werden. Daß aber der Anschluß an ein religiöses Individuum auf die freie Wahl dessen zurückgeht, der sich wie ein Jünger an einen Meister anschließt, hebt das Meister-Jünger-Verhältnis auf. Denn die freie Wahl setzt beim Jünger das Wissen um seine Fähigkeit für die Tätigkeit voraus, die der Meister zur Volkommenheit beherrscht und in der es der Jünger ebenfalls zur Vollkommenheit bringen will. Da es bei der Religion nicht um die Vollkommenheit einer bestimmten Tätigkeit geht, sondern um den Vollzug des religiösen Anschauuns durch das religiöse Individuum, hat das Individuum, das sich an einen Meister der Religion anschließen soll, entweder die religiöse Anschauung bereits vollzogen, d.h. es steht in der freien Geselligkeit der religiösen Individuen, oder es hat kein eigenes religiöses Bewußtsein und kann sich folglich auch nicht an einen Meister eigener Wahl anschließen. Schleiermachers Versuch, die Vorstellung der Lehrkirche, die bestimmte Glaubens- bzw. Religionswahrheiten vermittelt, zu beseitigen, indem er die sichtbare Kirche durch das praktische Lehrverhältnis bestimmt, scheitert an seiner Konzeption, die die Religion in ihrem Vollzug durch das religiöse Individuum bestimmt. Die Meisterschaft in der Kirche besteht nur darin, daß durch die individuelle Darstellung von Religion andere zu einer eigenen religiösen Anschauung angeregt werden. Diese Tätigkeit soll vermittelt werden. Das religiöse Individuum als Meister fungiert in der Darstellung seiner religiösen Anschauung nur als Mittler für die Tätigkeit des religiösen Anschauens99. Trotz dieser Kritik an der Anwendung des praktischen Lehrverhältnisses auf die Kirche ist in ihm ein Wahrheitsmoment enthalten. Denn durch die Vorstellung der Wahlfreiheit des Jüngers wird die Eigenständigkeit der Religion als individuelle Tätigkeit zur Geltung gebracht. Daß Religion nicht schon durch die Äußerung von religiösen Anschauungen und Gefühlen vermittelt werden kann, sondern daß jedes Individuum selbst anschauen und fühlen muß, bedeutet für das religiöse Individuum, daß es sich nicht selbst zum Mittler machen kann, daß es nicht in seiner Macht steht, ob die Darstellung seiner Religion für andere Individuen zur An-
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regung wird, selbst eine religiöse Anschauung zu vollziehen. Die Religion ist jeder bestimmten Tätigkeit, die ihre Vermittlung zum Ziel hat, enthoben (138ff). Die Vermittlung von Religion kann nicht anders geschehen, als durch die religiöse Äußerung, zu der das religiöse Individuum aufgrund der Eigentümlichkeit seiner Anschauungen und Gefühle genötigt ist. Diese hat also eine doppelte Bedeutung, die durch denjenigen differenziert wird, der diese Äußerung aufnimmt. Wer bereits selbst ein religiöses Individuum ist, bezieht sie als eine andere individuelle Erscheinung von Religion auf seine eigene. Für den aber, der noch kein religiöses Individuum ist, kann sie zum Anstoß und zur Anregung werden daß er dazu wird. So wenig aber das Individuum mit der Darstellung seiner Religion darüber entscheidet, ob es als Glied der religiösen oder nur der gebildeten Geselligkeit anerkannt wird, so wenig kann es ihre gesellige oder vermittelnde Wirkung bestimmen. Schleiermachers Ausführungen über die sichtbare Kirche und die Bildung zur Religion können das Verhältnis des Redners zu den gebildeten Verächtern der Religion erläutern. Denn in ihnen ist die Differenz zwischen dem religiösen Individuum und demjenigen, das keine eigene religiöse Anschauung hat, und die Überwindung dieser Differenz durch Vermittlung der anschauenden Tätigkeit thematisch. Als eine solche Differenz zwischen Gebildeten und Ungebildeten bestimmt Schleiermacher in der Apologie das Verhältnis des Redners zu den gebildeten Verächtern. Zugleich mit dem geselligen Rahmen hat Schleiermacher durch die Bestimmung des Adressaten der Rede auch die Funktion der Rede als mögliche Vermittlung dieser Differenz festgelegt. Das zeigt die mythisierende Rede, durch die der Redner die Notwendigkeit seines Redens begründet. c) Der Mittler Obwohl bereits dadurch, daß Schleiermacher als Gebildeter, als Mitglied gebildeter Geselligkeit auftritt, der als Mensch seine Ansicht von den "Mysterien der Menschheit" äußert (5), die Notwendigkeit seiner Rede hinreichend begründet ist, weil er als gebildetes Individuum nicht anders als in geselligem Umgang leben kann, so bezieht sich der Redner hinsichtlich des Gegenstandes seiner Rede auf eben die Funktion, die im Bereich Religion durch die sichtbare Kirche ausgefüllt wird. Mag Religion auch das bestimmende Merkmal seiner individuellen Biographie sein: "Religion war der mütterliche Leib, in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genährt und auf die ihm noch verschlossene Welt vorbereitet wurde" (14), indem er sie zum Gegenstand von Reden an die gebildeten Verächter macht, hebt er auf die Möglichkeit der Vermittlung ab. Für seine Rede über die Religion beruft sich Schleiermacher darauf, daß die Selbstdarstellung des Gebildeten auch zur Vermittlung des gebildeten Standpunkts an solche führen kann, die ihn noch nicht eingenommen haben. Die Stelle des Gebildeten im Universum ist nicht nur durch seine Bezie-
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hung zu anderen Gebildeten definiert, sondern auch durch die Beziehung zu denen, die sich nicht über den gemeinen Standpunkt erhoben haben. Im Blick auf diese Beziehung nimmt Schleiermacher das gebildete Selbstverständnis in Anspruch. Daß er sich gerade denjenigen gegenüber, die die Religion verachten, auf diese Funktion der Gebildeten b e r u f t , wenn er eine Rede über die Religion an sie richtet, wird als ironische Fixierung der Differenz zwischen den Gebildeten anzusehen sein. Es liegt in diesem Verhältnis aber auch ein religiöses Moment, so daß man sagen kann, Schleiermacher bringe bereits in der Thematisierung des Verhältnisses des Gebildeten zu den Ungebildeten sein Verständnis der Religion zur Geltung. Denn so wenig wie die Vermittlung von Religion in der sichtbaren Kirche kann auch die Vermittlung des gebildeten Standpunkts durch eine bestimmte Tätigkeit des Gebildeten erfolgen, sondern nur die Erfüllung der Bestimmung des Gebildeten, die freie Selbstdarstellung, kann zur Vermittlung dieses Standpunkts führen. Indem der Redner sich auf die Beziehung des Gebildeten zu den Ungebildeten b e r u f t , macht er einen Zusammenhang explizit, der den einzelnen Gebildeten und auch die Gemeinschaft der Gebildeten umgreift. Denn ist die Vermittlung des gebildeten Standpunkts der Tätigkeit des Gebildeten entzogen, so stellt sie ein Geschehen dar, das nur religiös aufgefaßt werden kann. Schleiermacher nimmt hier vorweg, was er in seiner Rede über das Wesen der Religion ausführt, daß die Geschichte der höchste Gegenstand der Religion ist (100). Daß er die vermittelnde Funktion des Gebildeten für die Ungebildeten religiös auffaßt, kommt in dem mythisierenden Charakter99 a des Abschnittes zum Ausdruck, in welchem er die Mittlerfunktion der Gebildeten entwickelt, auf der die Notwendigkeit seiner Rede über die Religion beruht (14). Daß sein Verständnis der Religion den Glauben an die moralische Weltordnung trans zendiert, zeigt der naturphilosophische Anfang der mythisierenden Rede. Daß schließlich diese Ausführungen auch nicht ohne Beziehung zu Schleiermachers Verständnis des Christentums sind, ist nicht zuletzt daran deutlich, daß die Vermittlung als die eine der beiden Seiten der christlichen Zentralanschauung bestimmt ist (291). Der naturphilosophische Teil geht davon aus, daß alles endliche Dasein auf eigentümliche Art in sich die beiden entgegengesetzten Kräfte vereinigt, in die die Gottheit ihr Werk "bis ins Unendliche entzweit". Diese "Urkräfte der Natur" sind im lebendigen Dasein als rezeptives und spontanes Verhalten zu bestimmen: als "durstiges Ansichziehen" und als "reges und lebendiges Selbstverbreiten" (6). Auf der Stufe des menschlichen Daseins werden zwei entgegengesetzte Triebe in der Seele des Menschen unterschieden. In die nähere Bestimmung dieser Triebe sind Reflexionen eingegangen, die der Unterscheidung von gewöhnlicher Lebensbetrachtung und gebildeter Selbstbetrachtung im ersten Monolog entsprechen. Während der rezeptive Trieb auf den Genuß der sich ihm einzeln darbietenden Dinge gerichtet und nur "mechanisch" auf das nächste bezogen ist, dringt der spontane Trieb hinter die bloße Erscheinung des einzelnen und stößt auf Kräfte und Wesenheiten, "an denen sich seine
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Kraft bricht" (7). Indem dieser Trieb alles zu durchdringen sucht, geht er "aufs Unendliche", insofern er überall "Freiheit und Zusammenhang, Macht und Gesetz, Recht und Schicklichkeit" wirkt (7). In der menschlichen Seele sind der endliche und der unendliche, der rezeptive und spontane Trieb, diese beiden "ursprünglichen Funktionen der geistigen Natur" auf eine jeweils eigentümliche Art vereinigt. Damit hat Schleiermacher die Ausgangsbasis für eine Explikation seiner Individualitätsanschauung geschaffen, die die Einführung von Mittlern notwendig macht. Es kennzeichnet Schleiermachers Position, wenn er das Bewußtsein nicht mit der Spontaneität des Menschen verknüpft, sondern es als "allgemeines Band" bestimmt, daß die Gesamtheit der menschlichen Seelen "alle möglichen Verbindungen dieser beiden Kräfte" (7) umfaßt. Denn dieses Band des Bewußtseins ist erst dann vollkommen, wenn jeder einzelne ein Bewußtsein von der eigentümlichen, von allen anderen verschiedenen Verbindung hat, die die beiden Kräfte in seiner Seele eingegangen sind, "so daß jeder einzelne, ohnerachtet er nichts anderes sein kann, als was er sein muß, dennoch jeden anderen ebenso deutlich erkenne als sich selbst und alle einzelnen Darstellungen der Menschheit vollkommen begreife" (8). Das zeichnet den Idealzustand freier Geselligkeit aus, die "Vollkommenheit der intellektuellen Welt" (7), nach der sich der Gebildete seinem Selb st Verständnis zufolge sehnt (14). Die endgültige Verwirklichung dieses Ideals ist daran gebunden, daß alle Individuen ein Bewußtsein von der Eigentümlichkeit der jeweiligen Verbindung der beiden Triebe haben. Solange das nicht der Fall ist, solange nur einige die Individualitätsanschauung haben, besteht die Differenz im Selbstverständnis der Menschen. Auf die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses zielt die Einführung von Mittlern. Die Bewußtseinsdifferenz kann offenbar nur auftreten, wenn die für das gebildete Selbstverständnis konstitutive Differenz zwischen dem Sein als Individuum und dem Individualitätsbewußtsein, dem einzelnen Individuum nicht schon mit seinem bloßen Dasein offenbar ist. Vielmehr muß ihm diese Differenz offenbar gemacht werden. Für das "gemeine Auge", d.h. von jeder der eigentümlichen Verbindungen der beiden Triebe in der Seele, ist es nicht möglich, zum Bewußtsein der Individualität zu kommen ( 8 f ) . Der einzelne gelangt zur Erkenntnis seiner selbst als individueller Erscheinung der Menschheit nur durch die Begegnung mit einem Mittler. "Darum sendet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da einige, in denen beides auf eine fruchtbarere Weise verbunden i s t . . . und setzt sie ein zu Dolmetschern ihres Willens und ihrer Werke und zu Mittlern desjenigen, was sonst ewig geschieden geblieben wäre" ( 9 f ) . Es ist keine besondere Qualität, die den Mittler auszeichnet. Es geht Schleiermacher offenbar darum, die Funktion des Mittlers für die 'Bildung' von Gebildeten aufzuzeigen. Um sich als menschliches Individuum
- 83 zu verstehen, ist jeder einzelne auf die Darstellung der Individualität anderer angewiesen. Geht einem einzelnen daran die Einheit des Endlichen und Unendlichen im Individuum auf, so ist er ihm zum Mittler geworden, den er als von der Gottheit gesandt ansieht. Aber der Mittler hat sich nicht selbst zum Mittler gemacht, sondern seine Mittlerschaft ist daran gebunden, ob er für andere zum Mittler geworden ist. Die einzige Bedingung, die für die Mittlerschaft erfüllt sein muß, liegt darin, daß die in seiner Seele vereinigten Triebe nicht einseitig zum Ausdruck kommen, sondern daß in seiner SelbstdarStellung ihre Verbindung sichtbar wird. Sie ist schon fruchtbar, wenn der einzelne sich nicht damit begnügt, "eine rohe Masse irdischer Dinge gleichsam zerstörend zu verschlingen", sondern etwas vor sich hinstellt und es in "eine kleine Welt", die das Gepräge seines Geistes trägt, ordnet und gestaltet (10). Denn er stellt in seinem "bloßen Dasein" bereits die Menschheit dar und kann zum "Gesandten Gottes" werden und als "Mittler zwischen dem eingeschränkten Menschen und der unendlichen Menschheit" fungieren. Diese Bedingung für die Mittlerschaft erfüllen die Gebildeten, insofern sie in ihrer Erscheinung, in ihrem sichtbaren Tun die unendliche Menschheit in endlicher Gestalt zur Darstellung bringen. Daß die Funktion des Mittlers nicht von einem Handeln dessen, der zum Mittler wird, abhängt, sondern von demjenigen, dem als Ungebildeten der andere zum Mittler geworden ist, ermöglicht Schleiermacher eine Differenzierung des Mittlerbegriffs, durch die er die Kontroverse der Gebildeten über die Religion als Differenz des gebildeten Selbstverständnisses zu fassen vermag. Die in der Entgegensetzung der beiden Triebe enthaltene Abstufung zwischen der Ausrichtung auf das einzelne Endliche und auf das Unendliche im Überfliegen alles Endlichen läßt sich in eine Abstufung des Mittlerbegriffs überführen (vgl. das Drei-StufenSchema im dritten Monolog M60-66). Denn die Funktion des Mittlers zur Uberwindung der Differenz zwischen dem gebildeten und ungebildeten Bewußtsein ist abhängig von dem Niveau, auf dem der Ungebildete sich befindet. Gegenüber den "bloß Irdischen und Sinnlichen", bei denen der Trieb auf Genuß der einzelnen endlichen Erscheinungen überwiegt, e r füllen bereits diejenigen eine Mittlerfunktion, "die ihnen jene höhere Grundkraft der Menschheit begreifen lehren, indem sie ohne ein Treiben und Tun wie das ihrige beschauend und erleuchtend alles umfassen und keine andere Grenze kennen wollen als das Universum, welches sie gefunden haben" (11). Denjenigen gegenüber aber, die ein "ungebildeter, sein Ziel überfliegender Enthusiasmus rastlos im Universum umhertreibt" (8), kann nur der ein Mittler sein, der mit seinem "Streben nach Ausdehnung und Durchdringung" zugleich auch "jene mystische und schöpferische Sinnlichkeit" empfangen hat, "die allem Innern auch ein äußeres Dasein zu geben strebt" (11). In dieser zweifachen Bestimmung des Mittlerbegriffs kann Schleiermacher auf dem Boden der Mittlerfunktion der Gebildeten den Ungebildeten gegenüber die Differenz im gebildeten Selbst-
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Verständnis zum Ausdruck bringen, ohne daß Einvernehmen hinsichtlich des Anspruchs auf Gebildetsein zu gefährden. Denn bereits das "bloße Dasein" reicht, um eine Mittlerfunktion auszufüllen. Schon derjenige, der sich über das auf das Endliche gerichtete Bewußtsein erhoben hat zum Bewußtsein der unendlichen Menschheit, kann in seinem äußeren Handeln bereits de facto die unendlichen Menschen in endlicher Gestalt darstellen, auch wenn ihm das Selbstverständnis von sich als endlicher und individueller Gestalt der Menschheit fehlt. Kann er also denen zum Mittler werden, die auf das Irdische und Sinnliche gerichtet sind, so nimmt er selbst in seiner einseitigen Bewußtseinsrichtung auf das Unendliche die Position eines Ungebildeten ein, dem gegenüber wiederum derjenige Gebildete eine Mittlerfunktion übernehmen kann, der in seiner äußeren Erscheinung nicht nur die unendliche Menschheit, sondern auch seine eigene Individualität als endlicher Gestalt der Menschheit zur Darstellung bringt, der "allem Innern auch ein äußeres Dasein zu geben strebt" (11). Im Blick auf die gebildeten Verächter läßt Schleiermacher offen, welcher Stufe des Mittlers sie zuzurechnen sind. Denn daran, wie sie seine Rede über die Religion aufnehmen, zeigt sich, ob sie die Individualitätsanschauung teilen. Jedenfalls kann Schleiermacher die Dichter und Künstler neben den Sehern und Rednern zur höheren Stufe des Mittlers rechnen (12), die den Eindruck des Unendlichen in endlicher Gestalt "für andere darstellen" (vgl. M35). Aber "wahre Priester des Höchsten" (12) sind sie n u r , wenn sie der freien Geselligkeit der Inviduen Rechnung tragen, wenn auf den geselligen Umgang der Menschen abgezielt wird. Denn sie stellen "das Himmlische und Ewige dar als einen Gegenstand des Genußes und der Vereinigung", sie sind bestrebt, "den schlafenden Keim der besseren Menschheit zu wecken, die Liebe zum Höchsten zu entzünden, das gemeine Leben in ein höheres zu verwandeln" (12). Diese Mittlerfunktion erfüllen die Gebildeten durch "heilige Kunstwerke und begeisterte Reden, welche ausgestreut werden aufs Ungefähr, ob ein empfängliches Gemüt sie finde und bei sich Frucht bringen lasse" (12). Wenn dieser Fall immer und überall eintritt, ist die "Vollkommenheit der intellektuellen Welt" eingetreten. Wenn alle individuellen Menschen Gebildete sind, d . h . daß die Differenz zwischen einem gebildeten und einem ungebildeten Bewußtsein und damit auch die Mittlerfunktion aufgehoben ist, dann herrscht der Zustand der freien Geselligkeit der gebildeten Menschen. "Jeder leuchtete dann in der Stille sich und den andern, und die Mitteilung heiliger Gedanken und Gefühle bestände nur in dem leichten Spiele, die verschiedenen Strahlen des Lichts jetzt zu vereinigen, dann wieder zu brechen, jetzt es zu zerstreuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegenstände zu konzentrieren" (13). Soweit die Künstler und Dichter zur Verwirklichung dieses Ideals beitragen, gehören auch sie der höheren Stufe der Mittlerschaft an. So-
- 85 lange diese Vollendung aussteht, daß nur "mit Freunden und Teilnehmern vollendete Ideen" getauscht werden, bleibt den Gebildeten nichts anderes, als "mit kaum entworfenen Umrissen" in den leeren Raum "herauszubrechen" (13), um durch solch unaufhaltsames Wirken nach Mitgenossen zu suchen und die "Sehnsucht nach Mitteilung und Geselligkeit" zu befriedigen (14)1®®. Zusammenfassung Um den bei der Thematisierung der Religion auf dem Standpunkt der Gebildeten vorausgesetzten Zusammenhang zwischen Religion und Bildung herauszuarbeiten, ist von der Darstellungsform der Reden als Ausdrucksmittel des Gebildeten im Unterschied zu den Monologen ausgegangen worden. Es wurde versucht, auf dieser Basis die Begründung zu rekonstruieren, die Schleiermacher als Redner für die Notwendigkeit seines Redens gibt, indem er es als göttlichen Beruf auffaßt. Die parallele Struktur zwischen der gebildeten und der religiösen Gemeinschaft führte weiter zu Schleiermachers Auffassung der sichtbaren Kirche als einer Vermittlungsanstalt, in der die Menschen angeregt werden, ihre eigene Religion zu vollziehen. Auf dem Hintergrund dieser Auffassung wurde verständlich, daß Schleiermacher sich für die Notwendigkeit seines Redens gerade auf die Mittlerfunktion der Gebildeten beruft. Schließlich ließ sich zeigen, daß gerade die Berufung auf die Mittlerfunktion der Gebildeten den Zusammenhang von Religion und Bildung erkennen läßt, den Schleiermacher dadurch in Anspruch nimmt, daß er die Religion zum Gegenstand von Reden an die Gebildeten macht. Denn es ist nicht wie bei den Monologen die eigentümliche Bestimmung seiner individuellen Biographie, die ihn zur Rede über die Religion nötigt, wenn er auch nur, weil er ein religiöses Individuum mit einer eigenen Religion ist, über sie reden kann ( 14f) ; es ist auch nicht die in der Individualitätsanschauung der Gebildeten gegebene Beziehung des Individuums auf etwas, das es als Individuum, d.h. an dieser Stelle und als dies Wesen, das ist es, bestimmt hat; vielmehr ist es die Überwindung der Differenz zwischen Gebildeten und Ungebildeten, durch die Mittlerfunktion der Gebildeten, die die Thematisierung der Religion vor den Gebildeten notwendig macht. Der Zusammenhang von Religion und Bildung besteht also darin, daß der Gebildete, der sich als Individuum versteht, sein Selbstverständnis einer Vermittlung verdankt, die nicht auf einer vermittelnden Tätigkeit beruht, sondern so erfolgt ist, daß ihm ein anderer Gebildeter zum Mittler geworden ist. Dies Geschehen kann vom gebildeten Individuum nur religiös erfaßt werden. Diese im gebildeten Selbstverständnis enthaltene implizite Religion wird in den Reden so expliziert, daß zunächst die Religion als eine bestimmte Art menschlicher Äußerungen entwickelt wird, die von der Stufe des menschlichen Bewußtseins abhängt, und daß dann das
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Christentum als diejenige positive Religion aufgewiesen wird, welche als Religion der Gebildeten dieser Gestalt der Vermittlung entspricht. 2. Das Wesen der Religion und das gebildete Selbstverständnis Nachdem im ersten Abschnitt vom gebildeten Selbstverständnis aus die Religion in den Blick genommen worden ist, soll der Zusammenhang von Religion und Bildung an Schleiermachers Ausführungen über die Religion näher bestimmt werden. Das gebildete Selbstverständnis wird einer Stufe des religiösen Bewußtseins zugeordnet. Um den Zusammenhang von Religion und Bildung in dieser Perspektive zu untersuchen, muß zunächst auf Bestimmung und Entfaltung des Wesens der Religion durch den Redner eingegangen werden, indem eine Rekonstruktion des Argumentationsganges seiner Rede versucht w i r d
a) Die Kritik des Religionsverständnisses der gebildeten Verächter Dadurch, daß Schleiermacher sich für seine Rede auf eine innere Notwendigkeit b e r u f t , die sich aus der Mittlerfunktion der Gebildeten den Ungebildeten gegenüber ergibt, hat er nicht nur gerechtfertigt, daß er sich an die Gebildeten wendet (19f), sondern er hat mit seiner Berufung auf das gebildete Selbstverständnis zugleich einen Maß stab f ü r das Verständnis von Religion gefunden. Jedes Verständnis der Religion, das hinter dem gebildeten Standpunkt zurückbleibt, muß der Kritik verfallen. Aufgrund des mit der Thematisier un g der Religion durch einen Gebildeten erhobenen Anspruchs kann Schleiermacher den gebildeten Verächtern demonstrieren, daß ihre Verachtung nicht "gebildet" ist. Denn die Religion, die ihnen ein Gegenstand der Verachtung ist, begegnet ihnen als eine Äußerung menschlichen Geistes, die sie als eine solche anerkennen müssen. Darauf zielt die Argumentation des Redners. Als Äußerung eines individuellen Menschen unterliegt sie der Struktur von Ganzem und einzelnen, wie sie der Individualitätsanschauung eigentümlich ist. Die Idee des Ganzen, die immer nur ein einzelner hat, kann nur in der Totalität ihrer individuellen Darstellungen bewährt werden. Jede geistige Erscheinung kann deshalb unter einem doppelten Gesichtspunkt beurteilt werden, nämlich entweder vom "Mittelpunkt" aus, aus dem die Äußerung hervorgegangen ist, als ein "Produkt der menschlichen Natur" oder von seiner bestimmten Gestalt aus als "Erzeugnis der Zeit und der Geschichte" (22). Für einen Gegenstand der Verachtung ist die erste Betrachtungsweise widersprüchlich, weil das, was verachtet wird, nicht zugleich als aus einer "notwendigen Handlungsweise" hervorgegangen angesehen werden kann. Dieser Widerspruch kann dadurch umgangen werden, daß das Tun und die daraus resultierende Tat getrennt werden, daß aber das, woraus die Religion hervorgegangen ist, "ihr ganz
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heterogen" sei (24). Damit entfällt die innere Begründung der Religion. Ihr Begriff kann darum nur von den äußeren Erscheinungen der Religion abstrahiert werden: Ihr Begriff ist nur "aus dem Einzelnen zu rechtfertigen" (24). Im Streit um den rechten Begriff der Religion räumt der Redner den Verächtern zwar ein, daß auch noch die "ausgebildetesten Religionssysteme" in sich "ungereimt und vernunftwidrig" (25) sind. Aber er macht ihnen zum Vorwurf, daß diese bloß auf die äußere Erscheinung der Religion beschränkte Betrachtungsweise ihr als menschlicher Äußerung nicht gerecht wird. Die äußerliche Betrachtungsweise der Religion bewegt sich selbst noch auf der Stufe des menschlichen Bewußtseins, über die sie als gebildete Betrachtungsweise erhoben sein soll. Demgegenüber kann der Redner für einen besseren Begriff der Religion an das gebildete Selbstverständnis appellieren, das sich gerade über den an die endlichen Erscheinungen gebundenen Standpunkt e r hoben weiß: "denn jammern muß es jeden, der Sinn hat für alles, was aus dem Innern des Gemüts hervorgeht, und dem es Ernst ist, daß jede Seite des Menschen gebildet und dargestellt werde, wie die Hohe und Herrliche von ihrer Bestimmung entfernt ist und ihre Freiheit verloren hat, um von dem scholastischen und metaphysischen Geist barbarischer und kalter Zeiten in einer verächtlichen Sklaverei gehalten zu werden" (26). Mit diesem Appell für eine dem gebildeten Selbstverständnis angemessene Betrachtung der Religion als menschlicher Äußerung kehrt die Argumentation Schleiermachers nun nicht an ihren Ausgangspunkt zurück, daß die Erscheinungen der Religion aus dem inneren Wesen der menschlichen Natur zu begründen seien. Vielmehr ist der Begriff der Religion jetzt so zu bestimmen, daß zugleich der Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen Rechnung getragen wird. Er ist nicht aus der allgemeinen Natur des Menschen abzuleiten, sondern die Religion hat ihren Ort in der individuellen Erscheinung des Menschen. "Wo sie ist und wirkt, muß sie sich offenbaren, daß sie auf eine eigentümliche Art das Gemüt bewegt, alle Funktionen der menschlichen Seele vermischt oder vielmehr entfernt und alle Tätigkeit in eien staunendes Anschauuen des Unendlichen auflöst" (26). Auf die individuelle Eigentümlichkeit des Menschen muß der Begriff der Religion bezogen sein. Sind damit die bestimmten Erscheinungen der Religion der Kritik aufgrund des rationalistischen Religionsbegriffs der Verächter entzogen, so kann von diesem Verständnis als einer Bewegung im Gemüt des Individuums aus auch jenes Verständnis der Religion bestritten werden, daß ihr eine Funktion für einen ihr fremden Zweck einräumt Schleiermachers Argumentation zielt auf die innere Widersprüchlichkeit im gebildeten Selbstverständnis, wenn Recht und Sittlichkeit völlig von den Mitteln
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zu ihrer Durchsetzung getrennt werden. Denn sind die Gebildeten im Sinne des Mittlerbegriffs dazu " b e r u f e n . . . , die andern zu bilden" und sie sich ähnlich zu machen (32), so ist es zumindest als "Heuchelei" zu bezeichnen, wenn für die Erhebung auf den gebildeten Standpunkt eine solche Tätigkeit gefordert wird, die dann f ü r den Gebildeten nicht mehr notwendig und ein Gegenstand der Verachtung ist. Die Vorstellung, daß Recht und Sittlichkeit besonderer Mittel zu ihrer Durchsetzung bedürfen, steht in Schleiermachers Augen nicht auf der Stufe des gebildeten Bewußtseins. Voraussetzung f ü r diese Argumentation ist allerdings, daß Freiheit eben am Ort des individuellen, endlichen Daseins gedacht wird. Mit dieser Kritik stellt sich der Redner selbst die Aufgabe, einen solchen Begriff der Religion aufzustellen, der einerseits die Kritik der Aufklärung an der institutionalisierten Religion berücksichtigt, der aber andererseits die begegnenden Erscheinungen von Religion als selbständige Äußerungen von menschlichen Individuen begreift. Dadurch verändert sich unter der Hand auch der Charakter der Darstellung. Denn bei dem angemessenen Begreifen der Erscheinungen von Religion als Äußerungen menschlichen Geistes geht es nicht mehr um die gesellige Kommunikation zwischen gebildeten bzw. religiösen Individuen, sondern um eine Theorie der Religion. Schleiermacher f ü h r t den Ansatz beim Redner als gebildetem Individuum nicht so aus, daß er das gebildete Selbstverständnis expliziert; er schreibt keine religiösen Monologe. Er sucht die Kontroverse zwischen ihm und den gebildeten Verächtern durch eine dem gebildeten Standpunkt adäquate Religionstheorie zu seinen Gunsten zu entscheiden. Dabei bleibt das Verhältnis zwischen der Religion, die das einzelne Individuum äußert und der theoretischen Reflexion und Erklärung der relimo giösen Erscheinungen ungeklärt 1 . °
b) Die Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Moral Indem der Redner das Religionsverständnis der Verächter als ihrem gebildeten Selbstverständnis nicht angemessen zurückweist, steht er vor der Aufgabe, die das Thema der zweiten Rede bildet. Er muß das "Wesen der Religion" so bestimmen, daß möglich wird, die Erscheinungen der Religion als durch die Tätigkeit des Menschen hervorgebracht zu begreifen. Dazu muß der Redner den Ort der Religion im Menschen aufweisen. Er muß zeigen, "daß ihr eine eigne Provinz im Gemüte angehört" (37)1° 4 . Ein solcher Begriff der Religion kann nicht aus der Anschauung abgezogen werden, weil Religion nicht rein begegnet, so daß sie "unter irgendeiner wohlbekannten Gestalt" (39) vor Augen gestellt werden könnte. Vielmehr ist sie in ihren Erscheinungen nur so zu identifizieren, daß ein Begriff von ihr vorausgesetzt wird. Dieser Begriff ist nur dadurch zu gewinnen, daß unter den Tätigkeiten der menschlichen Seele eine be-
- 89 stimmt werden kann, auf die die Erscheinungen von Religion zurückgeführt werden können. Die verschiedenen Tätigkeiten der menschlichen Seele zeigen sich aber gerade in einer Zeit, in der "alles voll ist von harmonischer Ausbildung" (40), nicht abgesondert jede für sich, sondern nur vereinigt als Ausdruck des ganzen Menschen. Um diesen Ausdruck des allseitig gebildeten Menschen, den Schleiermacher durch die auf die Seelenvermögen angewendete Vorstellung der freien Geselligkeit beschreibt (40), auf die verschiedenen Tätigkeiten zurückführen zu können, ist von einem Zustand auszugehen, in dem sie abgesondert voneinander wirksam waren 105. Diese Argumentation, die in nuce den gebildeten Standpunkt widerspiegelt, insofern die Vorstellung von der allseitig gebildeten Persönlichkeit sowohl durch das Verhältnis von verschiedenen, zu einem Ganzen verbundenen Teilen interpretiert, als auch die Differenz zum ungebildeten Zustand markiert wird, in welchem die jetzt verbundenen Teile noch disparat in Erscheinung traten, liefert den Grund, die implizite verschiedene Bestimmtheit menschlicher Tätigkeit zu konstruieren. "Stellet Euch auf den höchsten Standpunkt der Metaphysik und der Moral, so werder Ihr finden, daß beide mit der Religion denselben Gegenstand haben, nämlich das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm" (41). Die nähere Bestimmung der in der Vorstellung von der allseitig gebildeten Persönlichkeit enthaltenen verschiedenen Tätigkeiten erfolgt auf dem Boden eines gemeinsamen Verhältnisses. Schleiermacher geht nicht von der reinen Tätigkeit des Selbstsetzens aus, sondern von der nach außen gerichteten Tätigkeit menschlicher Individuen. Auch für das gebildete wissenschaftliche Bewußtsein "auf dem höchsten Standpunkt" ist nicht die Tathandlung des Ich, sondern das unendliche Universum Gegenstand. Aber das Universum ist nicht an sich ein Gegenstand der Metaphysik oder der Moral, sondern nur als Moment in dem Verhältnis, das der Mensch zu ihm hat. Diese Relationalität zeigt sich schon darin, daß das Universum nicht Gegenstand einer "höchsten Philosophie" (46) ist, sondern nur in der Unterscheidung des Wissens in Metaphysik und Moral, d.h. nur in verschiedener Hinsicht zum Gegenstand gemacht werden kann. Schleiermachers Bestimmung der Religion als einer bestimmten Tätigkeit des Menschen ergibt sich also daraus, daß er das Problem, wie der Mensch das Unendliche wissen kann, nicht stellt, sondern von der verschiedenen Betrachtung des Verhältnisses ausgeht, in welchem der Mensch zum Unendlichen steht (171). Trotz der entgegengesetzten Richtung, in der das Verhältnis des Menschen zum Universum in den beiden Wissenschaften entfaltet wird (72), sehen beide "im ganzen Universum nur den Menschen als Mittelpunkt aller Beziehungen, als Bedingung alles Seins und Ursache alles Werdens" (51). Die Metaphysik "klassifiziert das Universum", sie hat die Tendenz,
- 90 "Wesen zu setzen und Naturen zu bestimmen" und "entspinnt aus sich selbst die Realität der Welt und ihre Gesetze" (42f). Denn sie "geht aus von der endlichen Natur des Menschen und will aus ihrem einfachsten Begriff und aus dem Umfang ihrer Kräfte und ihrer Empfänglichkeit mit Bewußtsein bestimmen, was das Universum für ihn sein kann und wie er es notwendig erblicken muß" (51). Die Moral "entwickelt aus der Natur des Menschen und seines Verhältnisses zum Universum ein System der Pflichten" (43), sie sucht das Reich der Freiheit, von der sie ausgeht, "ins Unendliche zu erweitern" (51). Bezogen auf das Verhältnis, in dem der Mensch zum Universum steht, zeigt sich die doppelte Beziehung in Metaphysik und Moral als einseitig. Denn auf der Seite des Menschen ist nur diejenige Beziehung thematisiert, die vom Menschen ausgeht und die ins Leere gehen muß, wenn sie nicht durch die Beziehung ergänzt wird, durch die das Universum für den Menschen ist und durch die erst das Verhältnis insgesamt für den Menschen i s t 1 0 6 . Die Möglichkeit, im menschlichen Gemüt eine eigene Provinz für die Religion zu finden, beruht also auf der Voraussetzung, daß das Universum und das Verhältnis, in dem der Mensch zu dem umgreifenden All steht, nicht an sich zum Gegenstand des menschlichen Bewußtseins wird, sondern daß am Orte des menschlichen Bewußtseins nur die verschiedenen Beziehungen innerhalb dieses Verhältnisses entfaltet werden können. Damit hat Schleiermacher der Kantischen Kritik der Theologie und der Fichteschen Kritik am Gedanken der Persönlichkeit GotteslO? insoweit Rechnung getragen, als keine über das Bezogensein des Menschen auf das Universum hinausgehenden Bestimmungen erfolgen. Es kennzeichnet die Position der Reden und ist zugleich ein Indiz für Schleiermachers Individualitätsanschauung, daß er das Wissen an das menschliche Bewußtsein in Differenz zum Unendlichen, d.h. in seinem Verhältnis zum Universum bindet. Da das Verhältnis des Menschen zum Universum durch Metaphysik und Moral nur in der vom Menschen ausgehenden Beziehung erfaßt ist, ist das gesamte Verhältnis des Menschen zum Universum überhaupt noch nicht erfaßt, wenn Religion nach dem "gemeinen Begriff" nur von Metaphysik und Moral aus bestimmt wird (43ff). Wird Religion durch Bestimmungen aus beiden Bereichen erschlossen, so stellt sich die Frage, worin denn die Einheit in diesem "Gemisch von Meinungen" zu suchen und was als einheitstiftendes Prinzip zu finden ist. Demjenigen Bereich aber, in welchem dies Prinzip anzusiedeln ist, sind die anderen beiden dann untergeordnet (46). Wird diese einseitige und formale Unterordnung schon dem Stand der philosophischen Wissenschaft nicht gerecht, so bleibt die Möglichkeit, die Religion als Wahrnehmung und Darstellung des "wunderbaren Parallelismus zwischen dem Theoretischen und Praktischen" (46) zu fas-
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sen. Indem aber damit in der Religion bereits gegeben wäre, was als höchste Philosophie dem philosophischen Streben nach Aufhebung des Dualismus vorschwebt, würde daraus die Anerkennung der Religion durch die gebildeten Verächter notwendig folgen. Mit der ironischen Wendung, daß er nicht einen Platz besetzen wolle, den er nicht behaupten könne (47), läßt Schleiermacher diese Möglichkeit offen. Aber seine spätere Erläuterung dieser Wendung! 08 ; in der er sich ausdrücklich gegen diese Möglichkeit ausgesprochen hat, daß die Religion mit der wiederhergestellten Einheit des Wissens identisch sei, liegt durchaus in der Linie des Ansatzes, durch den er in den Reden Religion und Wissen unterschieden hat, daß nämlich das Universum als absolute Einheit nur zugleich mit dem Verhältnis, in dem der Mensch zu ihm steht, also inadäquat nicht als an sich seiende Einheit Gegenstand f ü r den Menschen sein kann. Als Einheit des Wissens ist also das Wesen der Religion unterbestimmt, weil das Verhältnis des Menschen zum Universum nur einseitig erfaßt worden ist. Denn im Wissen ist nur die vom Menschen ausgehende Beziehung thematisch, nicht aber diejenige Beziehung, durch die die Differenz zum Universum und damit das Verhältnis zu ihm für den Menschen selbst erfaßt wird. Darin gründet die Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral. Zugleich ist ihr gegenseitiges Angewiesensein deutlich. So wenig ein religiöser Mensch ohne Denken und Handeln leben kann (68), so wenig kann aber auch ein denkender und handelnder Mensch ohne Religion sein. Das menschliche Individuum verfehlt seine Bestimmung, wenn nicht diese Beziehung entfaltet wird. "Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Übermut" (52). Das Gefühl der Unendlichkeit und Gottähnlichkeit wird nur dann nicht zur Hybris, "wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen" (52)109, Die Folgen der überheblichen Einseitigkeit weisen auf eine Kritik von der Individualitätsanschauung her. Das auf die bloße Identität gerichtete Wissen läßt der individuellen Verschiedenheit keinen Raum. Auf seiten der Spekulation drückt sich das aus in der Beschränkung auf das Äußere, daß abgesehen wird von der sich äußernden Tätigkeit, daß n u r "ein leeres Spiel mit Formeln" erscheint, das statt eines Systems Blendwerke, statt Gedanken Worte hervorbringt (53). Auf der Seite der Praxis bedeutet diese Kritik, die Schleiermacher direkt an die gebildeten Verächter richtet, daß sie "nur ein einziges Ideal" des Menschen kennen und deshalb bei allem "Wirken nach außen" versäumen, den "Menschen selbst zu bilden" (53). Die gebildeten Verächter verkennen, daß es neben der Weltbildung in der Ethik immer auch um Selbstbildung geht, weil sie den Menschen dem Universum abstrakt entgegensetzen, ohne ihn als Teil desselben zu begreifen, und weil ihnen das "Grundgefühl" für die sich in Mannigfaltigkeit und Individualität darstellenden "unendlichen und lebendigen Natur" abgeht (53).
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"Alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen. Nur so kann es innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und eigen gebildet werden, und sonst verliert Ihr alles in der Gleichförmigkeit eines allgemeinen Begriffs" (53). Geht es Schleiermacher auch in erster Linie darum, im Gegensatz zu dem Versuch, Religion aus dem Wissen abzuleiten, die Religion als eigenständig von Denken und Handeln zu unterscheiden, so zeigt der Zusammenhang der menschlichen Tätigkeiten die grundlegende Bedeutung der Religion. Sie liegt nicht darin, daß Metaphysik und Moral durch Religion als eine Art 'höheren' Wissens begründet werden. Spekulation und Praxis beruhen auf der Tätigkeit des Menschen. Die grundlegende Bedeutung der Religion besteht darin, weil jede Tätigkeit die Tätigkeit von endlichen und einzelnen individuellen Menschen ist, diese Bedingung aller Tätigkeit dem tätigen Subjekt bewußt zu machen und zu halten. Religion begründet die eigene Individualitätsanschauung. So kommt es bei der Spekulation darauf an, hinter das spekulative Resultat auf die gedanken- und systembildende Tätigkeit menschlicher Individuen zurückzugehen, um daran die Möglichkeit individueller Verschiedenheit zu entdecken (vgl. 27). Als Praxis ist die Tätigkeit des menschlichen Individuums selbst Gegenstand. Tätig ist der wirkliche Mensch nur als endliches Individuum, so daß sein Handeln zugleich die Bestimmung der Grenzen seiner Endlichkeit, das "Herausschneiden" des Endlichen aus dem Unendlichen bedeutet. Durch diese Vorstellung von dem durch die Individualitätsanschauung bestimmten ethischen Subjekt, das als handelndes Individuum zugleich endlich und unendlich ist, ist für Schleiermacher die abstrakte "Gleichförmigkeit" des allgemeinen Begriffs vom Menschen überwunden. Die Bedeutung der Religion für das Wissen liegt also darin, daß gegen die Herrschaft des Allgemeinen die Eigentümlichkeit der Indivdualität zur Geltung gebracht wird. Das aber berührt genau die Kontroverse um das gebildete Selbstverständnis. Denn es geht Schleiermacher gerade um die Darlegung der Bedeutung, die die Religion für das Selb st Verständnis der Gebildeten hat, das durch die Individualitätsanschauung bestimmt ist. Der Religion kommt diese Bedeutung zu, weil gezeigt werden kann, daß das Individuum seine Individualitätsanschauung nicht aus seinem individuellen Handeln gewinnen kann. Im Unterschied zur Betrachtung des Gebildeten als Mittlers für die Erhebung des Ungebildeten auf den gebildeten Standpunkt ist in der Religion die gelungene Vermittlung für das einzelne Individuum selbst thematisch. Die Individualitätsanschauung ist durch Religion konstituiert, die Schleiermacher als rezeptive Beziehung in dem Verhältnis des Menschen zum Universum bestimmt
- 93 c) Die Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl Die nähere Bestimmung des Wesens der Religion knüpft an das an, was man das anthropologische Grundverhältnis nennen kann. Wenn das Universum nur in dem Verhältnis, in dem der Mensch zu ihm steht, erfaßt werden kann, so bedeutet das nicht nur den Verzicht auf Bestimmungen über das 'An sich' des Universums, vielmehr bedeutet es auch, daß das Verhältnis des Menschen zum Universum sich nicht dem Menschen verdanken kann. Religion kann nicht auf das religiöse Vermögen des Menschen reduziert und aus ihm deduziert werden. Repräsentieren Metaphysik und Moral das vom Menschen auf das Universum gehende Handeln, so ist die andere Beziehung dieses Verhältnisses von Menschen aus als Wahrnehmung der Einwirkung des Universums zu erfassen. Religion ist weder aus dem Begriff des Universums, noch aus dem des Menschen abzuleiten, sondern innerhalb des Verhältnisses von beiden als Wahrnehmung zu beschreiben. Schleiermacher bestimmt das Wesen der Religion als einen Wahrnehmungsvorgang, und zwar als einen Wahrnehmungsvorgang 'höherer Art', weil er nicht auf die Wahrnehmung von Endlichem, sondern auf die Wahrnehmung des Unendlichen im wahrgenommenen Endlichen bezogen ist. In der Religion wird der Mensch im Endlichen des Unendlichen gewahr. Ihm begegnet das Universum, und er wird sich des Verhältnisses bewußt, in welchem er zum Universum steht. Den Wahrnehmungscharakter der Religion weisen die beiden Definitionen auf. Im Menschen ist Religion an das Vermögen der Rezeption gebunden im Unterschied zu seiner Spontaneität: "Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche" (53). "Sinn" als auf den wahrzunehmenden Gegenstand gerichtetes Vermög e n l H , das ihn als ein Ganzes aufzufassen sucht im Unterschied zum Verstehen (148f), und "Geschmack" bezeichnet nur die subjektive Seite der Religion, die für die Wahrnehmung des Unendlichen offen ist. "Sinn" und "Geschmack" sind darauf angewiesen, daß sich das Unendliche ihnen darbietet. Daher ist Religion ihrem Wesen nach "weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl" (50)112. go problematisch die Metaphorik von einer Anschauung des Unendlichen auch sein mag, die Pointe dieser Wesenbestimmung der Religion ist wohl darin zu sehen, daß Schleiermacher Religion nicht bloß als einen Akt des menschlichen Subjekts, sondern als Vollzug einer Wahrnehmung faßt, die auf das wahrzunehmende Andere bezogen ist. Durch die Orientierung am Vollzug umgeht er zunächst die Frage nach der Bedingung ihrer Möglichkeit und damit die Frage nach dem transzendentalen Subjekt. Dieser Ansatz entspricht der programmatischen Erklärung über die Monologen, daß in ihnen der idealistische Standpunkt ins Leben übertragen worden sei. Die Orientierung am Wahrnehmungsvorgang bestimmt die Entfaltung des Wesens der Religion. Ganz in Anlehnung an die transzendentale Ästhetik
- 94 Kants bestimmt Schleiermacher die sinnliche Anschauung. Allerdings ist er nicht auf die Form der Anschauung, sondern auf deren Vollzug a u s . Denn es kommt ihm auf den "Einfluß des Angeschauten auf den Anschauenden" (55) a n . Was nämlich vom Anschauenden "aufgenommen, zusammengefaßt und begriffen wird" ( 5 5 ) 1 1 3 , ist nicht die "Natur der Dinge", sondern ihre Erscheinung, d . h . wie sie f ü r den Anschauenden zur E r scheinung kommt. Eine Bestimmung d a r ü b e r hinaus, daß in der angeschauten Erscheinung ein a n d e r e s auf ihn einwirkt, ist auf dem Boden des Kantischen Kritizismus nicht m ö g l i c h ^ . Auf das Verhältnis der a n geschauten Erscheinung zu dem, was in ihr zur Erscheinung kommt, b e zieht Schleiermacher die Religion, indem in ihr mit Hilfe des Verhältnisses von Ganzem und Teil festgelegt wird, was zur Erscheinung kommt, nämlich nicht einzelnes, sondern im einzelnen das Ganze. "Anschauen des Universums" (55) beschreibt eine bestimmte Weise des Anschauens; nämlich "alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen" (56). Die Bedeutung dieser Bestimmung der Erscheinungsrelation durch das Verhältnis von e n d lichen Einzelnen und unendlichen Ganzen zeigt sich an den Folgen, die Schleiermacher f ü r die Religion als Anschauungsvorgang zieht. Neben der Beziehung der Mannigfaltigkeit auf die Einheit der transzendentalen Apperzeption sind die einzelnen Erscheinungen auf die Einheit des u n endlichen Ganzen des Universums bezogen. Das endliche Einzelne hat seinen Grund darin, daß das Unendliche in ihm f ü r den Anschauenden e r scheint. Die G r ü n d u n g des mannigfaltigen Einzelnen im Unendlichen konstituiert seine "selbständige Einzelheit" (61) im Vorgang des Anschauens. Daher kann der Redner die religiöse Anschauung an die Einzelheit der "unmittelbare(n) Wahrnehmung" (58) binden und sie von der n a c h t r ä g lichen V e r k n ü p f u n g und Zusammenstellung zu einem Ganzen a b h e b e n . Mit der Bindung der Anschauung des Universums an die selbständige Einzelheit der Wahrnehmung des Endlichen als Erscheinung des Unendlichen ist weiter der Gedanke der Perspektivität v e r b u n d e n . Das u n e n d liche Ganze wird nicht an sich angeschaut, sondern n u r so, wie es in seiner einzelnen bestimmten Erscheinung sich darstellt, neben der a n d e r e Anschauungen in gleicher Weise möglich sind. Aus der Beschreibung der Religion als Wahrnehmungsvorgang ergibt sich f ü r die Identifizierung der Phänomene der Religion zweierlei: Zum einen werden die Phänomene der Religion b e s c h r ä n k t auf solche, die dem Erscheinungsverhältnis e n t s p r e c h e n . Darüber hinausgehende Aussagen werden als "leere Mythologie" ausgeschlossen (56.57.58). Zum a n deren e r ö f f n e t die Bindung an den Vollzug der einzelnen Anschauung (58ff) ein Verständnis f ü r die Mannigfaltigkeit der Religion, die sich a u f g r u n d der Perspektivität nicht in ein System fassen läßt. Mit dem Wechsel des S t a n d p u n k t e s ä n d e r t sich die Ansicht des Ganzen. Gibt e s aber keinen Standpunkt oberhalb des einzelnen ("ihr könnt nicht sagen, daß Euer Horizont, auch der weiteste, alles umfaßt" (61)), so besteht darin eine E n t s p r e c h u n g zwischen dem gebildeten Selbstverständnis als
- 95 Individuum und der in ihrem Wesen als Anschauen bestimmten Religion. Wahre Religion wird vom Individualitätsbewußtsein begleitet, das seine Toleranz zeigen muß: "Jeder muß sich bewußt sein, daß die seinige nur ein Teil des Ganzen ist" (62). "Im Unendlichen... steht alles Endliche ungestört nebeneinander, alles ist eins und alles ist wahr" (64). Mit dem Individualitätsbewußtsein verbunden ist die Anerkennung und das Verständnis für die Verschiedenheit der anderen, die dem einzelnen allein sein systematisches Denken und absichtsvolles Handeln nicht möglich ist (65). Die Religion als Anschauung des Unendlichen im endlichen einzelnen öffnet, auf den Anschauenden selbst gewendet, diesem das Selbstverständnis als Individuum. Insofern konstituiert Religion die Freiheit des Individuums. Sie bewahrt es vor den Fesseln des Allgemeinen, die auf dem Boden des einzelnen nur als "Meinung" und "Begierde" auftreten können. "Alles, was ist, ist f ü r sie notwendig, und alles, was sein kann, ist ihr wahres, unentbehrliches Bild des Unendlichen" (65). Wird Religion als ein Wahrnehmungsvorgang bestimmt, als ein Anschauen, das im einzelnen Endlichen die Erscheinung des Unendlichen wahrnimmt, so entspricht diese Bestimmung dem anthropologischen Grundverhältnis des Menschen zum Universum, das in der Religion vom Menschen erfahren wird. Insofern die einzelne Erscheinung im unendlichen Ganzen des Universums ihren Grund hat, ist in dem Vorgang des religiösen Anschauens das Verhältnis f ü r den Menschen selbst konstituiert, in welchem er zum Universum steht. Von der Anschauung des im Endlichen sich darstellenden Unendlichen ist die Wirkung abzuheben, die das angeschaute unendliche Andere im Anschauenden ausübt. Diese Wirkung wird im Gefühl erfahren. Der Einfluß des Angeschauten muß "in Eurem Bewußtsein eine Veränderung hervorbringen" (66), die aber nicht nur als Wirkung der sinnlichen Erscheinung, sondern als Wirkung des darin zur Erscheinung Kommenden zu begreifen ist. Dem Erscheinungsverhältnis auf der Seite des Gegenstandes der Anschauung entspricht auf der Seite des Anschauenden das Verhältnis von Anschauung und Gefühl. Dies Verhältnis ist in der Religion, in der die Darstellungen des unendlichen Universums angeschaut werden, in dem Sinne festgelegt, daß in der Religion von der Bewegung des Gefühls nie abgesehen werden kann (67), daß also der Anschauende von der Offenbarung des Universums in seinem Gemüt so betroffen ist, daß er sowohl zur Äußerung seines Betroffenseins als auch zu neuem Anschauen des Universums getrieben wird. Als 'Gefühl' bezeichnet Schleiermacher - kantisch formuliert - die durch die Anschauung des Universums bestimmte Triebfeder, die erst eine über den einzelnen Vorgang der Anschauung hinausgehenden Kontinuität des Lebens in der Religion ermöglicht, insofern nämlich der Gegenstand der Anschauung ein "Objekt des Wohlgefallens" (Kant) ist. "Je unaufhaltsamer der Trieb, das Unendliche zu ergreifen, desto mannigfaltiger wird das Gemüt selbst überall und ununterbrochen von ihm ergriffen werden, desto vollkommener werden diese Eindrücke es
- 96 d u r c h d r i n g e n , desto leichter werden sie immer wieder erwachen und ü b e r alle anderen die Oberhand b e h a l t e n . . . ihre Gefühle ( s c . der Religion) sollen u n s besitzen, wir sollen sie a u s s p r e c h e n , festhalten, darstellen" (68) (vgl. 114). So wenig aber die Anschauung eine bestimmte Erkenntnis ist, so wenig kann das Gefühl in der Religion zur Willensbestimmung werden. Der Mensch "soll alles mit Religion t u n , nicht aus Religion" (67). Für die begegnende Religion bedeutet die doppelte Bestimmung ihres Wesens die Sicherung als eigenständige Erscheinung. Denn indem sie nicht auf den Anschauungsgehalt eingeschränkt ist, sondern auch den Bereich der religiösen Gefühlsäußerungen einschließt, die aber von der Anschauung und dem angeschauten Gegenstand abhängig sind, kann sie weder als unklare Erkenntnis k r i t i s i e r t , noch dem niederen Begehrungavermögen zugerechnet werden. Als Religion begegnen n u r Äußerungen von Anschauungen und Gefühlen, die auf ein jeweils einzelnes Anschauen des Unendlichen im endlichen einzelnen z u r ü c k z u f ü h r e n sind. Indem aber der Redner die Religion ihrem Wesen nach in Abhebung von der Erkenntniskritik Kants an den Vorgang der Wahrnehmung des Universums als des im endlichen einzelnen erscheinende unendliche Ganze bindet, ist es erforderlich, den Vorgang d e s religiösen Anschauens noch näher zu beschreiben. Denn die Entfaltung des Wesens der Religion in Analogie zum sinnlichen Anschauen vermag zwar die den gebildeten Verächtern begegnenden Erscheinungen der Religion als Äußerungen von r e ligiösen Anschauungen und Gefühlen zu e r k l ä r e n , aber der Vorgang des religiösen Anschauens selbst, der eine Verbindung des Menschen mit dem im Endlichen erscheinenden Unendlichen v o r a u s s e t z t , ist damit noch nicht b e s c h r i e b e n . Das hat seinen Grund darin, daß so, wie dieser Vorgang dem Betrachter e r s c h e i n t , bereits die Tätigkeit desjenigen, dessen Gemüt bewegt wurde, wirksam geworden i s t . "Das Faktum vermischt sich mit dem ursprünglichen Bewußtsein u n s e r e r doppelten Tätigkeit, der h e r r s c h e n d e n und nach außen wirkenden, und der bloß zeichnenden und nachbildenden" (72). Aber abgesehen von der getrennten Darstellung der Momente, die aus dem "inneren Handeln des Gemüts" dem Betrachter begegnen, kann u n t e r Absehung von dem bestimmten Resultat eine Beschreibung des Vorgangs des Anschauens selbst gegeben werden. Wie am Anfang jeder sinnlichen Wahrnehmung ein "geheimnisvoller Augenblick" s t e h t , in welchem "der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander geflossen und eins geworden sind" (73), so kann auch in der Religion f ü r den Vorgang des Anschauens ein e n t s p r e c h e n d e r Augenblick bezeichnet werden, der von den angrenzenden Momenten unterschieden i s t . Noch im Augenblick zuvor besteht die T r e n n u n g zwischen dem Anschauenden und dem Angeschauten, wenn auch eine Disposition f ü r e i n a n d e r b e s t e h t , insofern der Gegenstand der religiösen Anschauung sich formt als endliche Erschei-
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nung des Unendlichen und die Seele des Anschauenden ihr als "immer gesuchten Gestalt" (74) entgegenflieht. In dem Moment, in dem der Akt des Anschauens vollzogen wird, wird der Anschauende im Endlichen des Unendlichen inne, umfängt er es, wie "das heilige Wesen selbst": "Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele; denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie mein eigenes; sie ist in diesem Augenblicke mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen" (74). Noch in dieser Beschreibung wird die ursprüngliche Einheit im Gemüt nicht als Einheit an sich, sondern als Einheit von Momenten gefaßt, nämlich als Einheit von Leib und Seele. Im Akt des religiösen Anschauens wird der Anschauende zur Seele des Universums, das in seiner Totalität diesem Einheitspunkt als Welt gegenübertritt. Diese 'Weltherrschaft 1 11 ^ vergeht mit dem Augenblick des Schauens. Im Moment danach zerfällt die "heilige Umarmung", und es bleiben von ihr Gefühl und Anschauung. Diese "Liebesszene" (Seifert, 74) schließt die allgemeine Bestimmung des Wesens der Religion ab. In ihr wird die Voraussetzung eingeholt, von der diese Bestimmung ihren Ausgang nahm, daß es das Universum ist, zu dem der Mensch im Verhältnis steht. Denn daß der Mensch im Verhältnis zum Universum steht, kann vom Menschen als denkendem und handelndem Wesen nicht anders erfaßt werden, als daß er sich als vom Universum bestimmt e r f ä h r t . Diese Bestimmtheit darf aber die Freiheit des Menschen nicht aufheben, sondern muß gerade das Verhältnis des Menschen zum Universum f ü r diesen Menschen in seinem Denken und Handeln begründen. Deshalb wird das Verhältnis des endlichen Menschen zum Unendlichen als liebende Hingabe und Vereinigung beschriebenH6. Mit diesem Begriff der Religion hat Schleiermacher gegenüber den gebildeten Verächtern eine Position eingenommen, die ihre kritische Verachtung überbietet. Es ist ihm gelungen, das, was als Religion begegnet, als Resultat menschlicher Tätigkeit zu erklären, indem er die religiösen Erscheinungen zurückführt auf eine anthropologische Konzeption, die dem gebildeten Selbstverständnis entspricht. Denn der Gebildete kann den Menschen nicht anders denn als menschliches Individuum ansehen. Daß aber das Individuum Teil eines umfassenden Ganzen ist, daß es auf dieses Ganze bezogen ist, kommt dem Individuum nur durch die religiöse Wahrnehmung im Vorgang des Anschauens des Universums zum Bewußtseinll?. In der Religion erfährt das menschliche Individuum das Universum; es nimmt nicht Endliches als Endliches wahr, sondern Endliches als Darstellung des Unendlichen, Einzelnes als Erscheinung des Gänzen. Was als Religion begegnet, wird zwar durch die Beziehung auf menschliche Individuen relativiert, insofern die Äußerung von religiösen Anschauungen und Gefühlen durch die individuelle Perspektive des religiösen Individu-
- 98 ums bedingt ist. Aber der Inhalt der Religion wird nicht vollständig in subjektive Beliebigkeit aufgelöst. Denn mit dem anthropologischen Ansatz ist zugleich auch der Inhalt aller Religion gegeben, der von Schleiermacher durch den Begriff d e s Universums bezeichnet wird. Daß dieser anthropologische Ansatz beim Individuum selbst wiederum eine religiöse B e g r ü n d u n g verlangt, f ü h r t zu der Kontroverse um das gebildete Selbstverständnis u n d die Bedeutung der Religion f ü r die Gebildeten zurück. Schleiermacher hat mit dieser anthropologischen Bestimmung des Wesens der Religion einen Begriff g e f u n d e n , der es ihm erlaubt, in Übereinstimmung mit dem gebildeten Verständnis des Menschen alle Erscheinungen d e r Religion zu identifizieren, ob sie n u n ausdrücklich als Religion b e zeichnet werden oder nicht. Denn der anthropologische Ansatz der Religion impliziert, daß alle menschlichen Individuen Religion haben können, insofern sie ein Bewußtsein vom Unendlichen und damit von der Bezieh u n g ihres endlichen Wesens zum Unendlichen haben. Ob diese Menschen auch wirklich die Religion haben, die sie haben können (105), d . h . wirklich ein religiöses Leben in der Sehnsucht nach gelungenem Anschauen des Universums f ü h r e n , kann nicht entschieden werden. Wohl aber lassen sich einzelne Anschauungen und Gefühle zeigen, in denen das Anschauen des Universums zum Ausdruck gekommen ist. Schleiermacher kann deshalb diesen anthropologischen Begriff der Religion auch gegen die gebildeten Verächter selbst richten und ihnen ihre religiösen Anschauungen aufzeigen.
d) Die religiösen Anschauungen der Gebildeten Wenn Schleiermacher "ins Einzelne dieser Anschauungen und Gefühle" (71) hineinführen will, so bedeutet das nicht, daß er einzelne, durch die Eigentümlichkeit des religiösen Individuums bedingte Anschauungen und Gefühle darstellen will. Die mühsame Bestimmung des einzelnen innerhalb des Ganzen f ü h r t er nicht d u r c h . Vielmehr nutzt Schleiermacher die Differenzierungsmöglichkeit, die damit gegeben ist, daß der Gebildete sich nicht n u r als Individuum v e r s t e h t , sondern zugleich auch die I n dividualitätsanschauung an den gebildeten Standpunkt gebunden ist. Die mit dem Gebildetsein behauptete Distanz zu den Ungebildeten, die Schleiermacher d u r c h das Schema der Bewußtseinsstufen bestimmt erlaubt ihm eine Differenzierung der religiösen Anschauungen. Es handelt sich nicht einfach um "Felder der Epiphanie des Universum s " ^ ^ , sondern zugleich um eine Geschichte der religiösen Anschauungen (165ff). Der Horizont dieser Geschichte ist durch den anthropologischen Ansatz gegeben. Für die Gebildeten sind alle Menschen Individuen, und folglich kommt ihnen die Möglichkeit religiösen Anschauuens zu. Aber nicht alle Menschen sind gebildete Individuen, d . h . daß sie sich selbst als Individuum ansehen. Die religiösen Anschauungen sind von der erreichten
- 99 Stufe des Bewußtseins des religiösen Individuums abhängig. In der Abfolge der Bewußtseinsstufen haben dann auch die gebildeten Verächter ihren Ort. Dort wird der Zusammenhang von Religion und Bildung so thematisiert, daß die im gebildeten Selbstverständnis der Verächter implizite Religion identifiziert wird. Als Anschauung des Unendlichen im Endlichen ist die Religion an endliche Gegenstände der Anschauung gebunden. Eine Differenzierung der religiösen Anschauung ergibt sich daraus, ob das Endliche, das die Anschauung des Unendlichen vermittelt, in den Bereich der äußeren Natur oder den der inneren Menschheit gehört. Da für die religiöse Anschauung des Unendlichen im Endlichen gerade die Differenz zwischen dem Unendlichen und Endlichen konstitutiv ist, also weder ein Endliches unmittelbar als Unendliches genommen, noch im Endlichen gleichsam durch es hindurch das Unendliche angeschaut werden kann, erhält der Begriff der Religion in beiden Bereichen eine kritische Funktion. Aus dem Gebiet der äußeren Natur werden alle Gestalten der Naturreligion als Vorformen der Religion ausgeschlossen, die der Vorstellung des Weltgeistes nicht genügen. Dagegen kann Schleiermacher aufgrund der Differenz zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen den Bereich der Menschheit, in welchem sich die gebildeten Verächter als diejenigen bewegen, die sich über die Abhängigkeit von einzelnen und endlichen Erscheinungen der Natur erhoben haben, als Gegenstandsbereich der religiösen Anschauung wiedergewinnen, indem gegen die Abstraktion der unendlichen Menschheit die Differenz zwischen ihr und ihren individuellen Erscheinungen zur Geltung gebracht wird. Zugleich macht diese Kritik die Einseitigkeit offenbar, die in der Entgegensetzung von äußerer Natur und innerer Menschheit liegt und die auf einen der Anschauung des Universums in seinen Erscheinungen adäquateren Gegenstandsbereich verweist, als es Weltanschauung und Selbstanschauung sein können (168). Denn auch die Menschheit "ist nur ein Mittelglied zwischen dem Einzelnen und dem Einen" (105). Zwar liegt dieser höhere Gegenstandsbereich der religiösen Anschauung jenseits der von den Gebildeten erreichten Bewußtseinsstufe, aber die Andeutungen über die Funktion der Gebildeten bei der Palingenese der Religion im Blick auf eine mögliche Kunstreligion und auf die Tendenz zur Einheit in Philosophie und Wissenschaft (46f. 171f) zeigen die Richtung an, in die sich Schleiermachers Vorstellung von einer höheren Religion bewegt. Der endliche Gegenstand der religiösen Anschauung muß selbst in sich das Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen darstellen, wie es im Kunstwerk ebenso wie im menschlichen Individuum der Fall ist, insofern es sich bei beiden um eine endliche Darstellung des Unendlichen handelt. Dies ist an den Ausführungen der zweiten Rede nachzuweisen . Indem die Geschichte der religiösen Anschauungen auf den Begriff der Religion als Anschauung des Unendlichen im Endlichen bezogen und kritisiert wird, kommt sie nur indirekt in der Darstellung der beiden Berei-
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che religiöser Anschauung zur Geltung. Im Bereich der äußeren Natur zeigt sie sich in der negativen Gestalt der ausgeschlossenen Formen. F ü r die religiöse Anschauung ist ein Bewußtsein in Anspruch genommen, das zwischen sich als Anschauendem und dem angeschauten Gegenstand zu unterscheiden weiß, so daß alle Formen des Gefühls unmittelbarer Verbundenheit, nämlich "Furcht" und "Genuß" des Unsichtbaren als archaische Vorformen von der Religion ausgeschlossen sind. Denn f ü r die, die die "Herrschaft der N a t u r k r ä f t e über den Menschen" zu beseitigen helf e n , kann d u r c h diese Bewegungen des Gemütes keine Religion kommen (79). Auch die bloße Unendlichkeit der angeschauten Menge ist kein Gegenstand der religiösen Anschauung, weil sie nicht hinter die Erschein u n g dringt (80f). Religion ist e r s t dort zu finden, wo eine O r d n u n g in den Erscheinungen entdeckt wird, die zugleich auf einen umfassenderen Zusammenhang verweist, indem "neben der allgemeinen Tendenz zur O r d n u n g und Harmonie notwendig im Einzelnen Verhältnisse" a u f t r e t e n , "die sich a u s ihm selbst nicht völlig verstehen lassen" (84). Das t r i f f t nicht n u r zu f ü r den Bereich der lebendigen Materie in bezug auf Werden und Vergehen, sondern das gilt auch f ü r den Bereich der toten Materie, d e s sen Körper d u r c h "chemische Kräfte" gebildet und zerstört werden (86). In diesem das einzelne Dasein in seinem Werden und Vergehen ü b e r g r e i fenden Geschehen offenbart sich der "Geist der Welt". "Nur derjenige, . . . der nicht nur in allen Veränderungen, sondern in allem Dasein selbst nichts findet als ein Werk dieses Geistes und eine Darstellung und A u s f ü h r u n g dieser Gesetze, n u r dem ist alles Sichtbare auch wirklich Welt, gebildet, von der Gottheit d u r c h d r u n gen und eins" (87). Die Darstellung dieser religiösen Weltanschauung erfolgt also bereits auf der Stufe des gebildeten Bewußtsein, f ü r das die Herrschaft der Natur über den Menschen schon gebrochen ist (vgl. M60). "Den Weltgeist zu lieben und f r e u d i g seinem Wirken zuzuschauen" (80) setzt eben v o r a u s , daß die äußere Natur als Erscheinung aufgefaßt wird, hinter der ein Wirken e r k a n n t werden k a n n . Das gebildete Bewußtsein zeigt sich d a r in, daß f ü r den Anschauenden das Anschauen der Natur n u r durch Beg r i f f e , die nicht aus dem Anschauen selbst stammen, zur "Anschauung der Welt" (88) wird. Die b e g r i f f e n e Anschauung ist im Innern d e s Menschen g e g r ü n d e t . Die religiöse Anschauung im Bereich der äußeren Nat u r hat also n u r Bestand, wenn auch f ü r den Bereich der inneren Wahrnehmung die Möglichkeit der religiösen Anschauung aufgezeigt wird, d . h . daß das Erscheinungsverhältnis an der Anschauung des Menschen von sich selbst identifiziert wird. Denn n u r wenn Schleiermacher den R ü c k griff auf das Begreifen der Anschauung nicht als Frage nach der Bedingung ihrer Möglichkeit stellt, sondern an der Bindung der Religion an einzelne Akte des Anschauens festhält, so daß es bereits im inneren Leben des Menschen zur begriffenen Anschauung der, Religion kommt, ist eine religiöse Anschauung des Äußeren möglich. Das b e d e u t e t , daß der Mensch sich selbst als Erscheinung des Universums anschauen und b e -
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greifen muß, um auch in der äußeren Natur das Wirken des Universums anschauen zu können. Das innere Leben als 'Abbildung' des Universums angeschaut, macht erst "das äußere verständlich" (88). Die innere Anschauung ist insoweit Religion, als die Erscheinung als Teil eines umgreifenden Ganzen angeschaut wird. "Auch das Gemüt muß . . . in einer Welt angeschaut werden" (88). Solange die innere Anschauung bei der Erscheinung des einzelnen Menschen stehenbleibt und der Anschauende nicht hinter sich selbst als bloße Erscheinung zurückgeht, fehlt ihm beides: wahre Bildung und Religion. Um aber die Differenz zwischen sich und der Menschheit wahrzunehmen, muß der Anschauende seine eigentümliche Individualität als verschieden von anderen wahrnehmen. Die Menschheit findet der Mensch nur "in Liebe und durch Liebe" (89). Im anderen, nicht in sich selbst, begegnet dem einzelnen die Menschheit als Welt, wofür Schleiermacher Gen 2 heranzieht (vgl. M12). Die innere Anschauung ist nicht auf die bloße Innerlichkeit des einzelnen beschränkt, sondern ist wirklich Anschauung, weil in der Liebe zum Anderen erst das Verhältnis konstituiert ist, das in der äußeren Anschauung zwischen dem Anschauenden und dem angeschauten Gegenstand besteht. Die Liebe garantiert den Erfahrungscharakter der inneren Anschauung als Religion. Damit ist der entscheidende Punkt in der Argumentation des Redners gegenüber den gebildeten Verächtern der Religion erreicht. Sie, die in ihrem Bildungsdünkel meinen, die Religion verachten zu können, werden von Schleiermacher dabei behaftet, daß sie selbst in ihrem gebildeten Selbstverständnis offen f ü r religiöses Anschauen sind. Die Bedeutung der Religion f ü r die Gebildeten entwickelt Schleiermacher, indem er die f ü r das gebildete Selbstverständnis konstitutive Individualitätsanschauung in Blick auf die Differenz von Individuum und Menschheit auslegt. Das aber ist offenbar der springende Punkt in der Kontroverse um das gebildete Selbstverständnis und die Bedeutung der Religion, daß die gebildeten Verächter die Menschheit nicht im Sinne der Individualitätsanschauung Schleiermachers verstehen. Dieses in Schleiermachers Augen nicht vollkommen gebildete Selbstverständnis zeigt sich in ihrem Verhältnis zu den Ungebildeten. Statt daß sie ihnen so gegenübertreten, daß sie ihnen zu Mittlern werden können (lOf), ist ihr Bemühen darauf gerichtet, die Menschheit "zu bessern und zu bilden" (90, vgl. 53). Statt die Menschheit in den einzelnen anzuschauen, nehmen sie das Ideal eines einzelnen Menschen, dem die einzelnen Menschen nicht entsprechen. In ihrem pädagogischen Bemühen verfehlen sie die individuelle Bestimmung des einzelnen Menschen ebenso wie die unendliche Menschheit (vgl. 138ff). Statt auf ein abstraktes Ideal der Menschheit im einzelnen hinzuwirken, gilt es, die Menschheit im einzelnen Individuum anzuschauen. Daß der einzelne Mensch als individuelle Erscheinung der Menschheit angesehen wird, ist die religiöse Anschauung, die demjenigen Bewußtsein entspricht, f ü r das die Menschheit das Unendliche ist. Die religiöse Anschauung der Menschheit betrachtet "das Dasein eines jeden . . . als eine Offenbarung von ihr" (91).
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Schleiermacher entfaltet die Individualitätsanschauung als Inhalt der "Menschheitsreligion" 120_ j ) e r einzelne kann nicht isoliert als einzelner betrachtet werden, sondern ist als einzelne Erscheinung der Menschheit auf die Totalität ihrer Erscheinungen zu beziehen. Jede von ihnen hat als endliche Darstellung des Unendlichen "etwas Eigentümliches" (94), das, f ü r die anderen zur Darstellung zu bringen, die Erfüllung seiner individuellen Bestimmung bedeutet. Indem der einzelne seinen Grund nicht in sich selbst hat, sondern seine Individualität in der unendlichen Menschheit gegründet ist, "hat die Existenz eines jeden einen doppelten Sinn in Beziehung auf das Ganze" (94). Jeder ist einzeln nur in Beziehung auf die Totalität der anderen. Er ist "seinem inneren Wesen nach ein notwendiges Ergänzungsstück zur vollkommenen Anschauung der Menschheit" (94). Zugleich ist er nur in Beziehung zu den anderen ein einzelner: "die Vernunft der einen und die Seele der andern affizieren einander doch so innig, als es nur in einem Subjekt geschehen könnte" (96). In der Sphäre der Geselligkeit der Individuen vermittelt sich durch die einzelnen die Einheit des übergreifenden Ganzen. Der als religiöse Anschauung identifizierten Individualitätsanschauung entspricht, daß der einzelne Mensch sie nicht aus sich selbst heraus gewinnt. Darauf deutet schon, daß der Mensch auf einen anderen Menschen angewiesen ist, um die Menschheit zu entdecken (88). Aber nicht der andere bringt diese Entdeckung hervor, sondern er wird zum Mittler. Um sich zu dieser religiösen Anschauung der Menschheit zu erheben, sind die gebildeten Verächter selbst auf einen Mittler angewiesen, statt Mittler f ü r andere zu sein. Die isolierte Einzelheit ihrer Anschauung der Menschheit überwinden sie, indem ihnen einer von denen, "in denen die Menschheit sich unmittelbarer offenbart" (97) zum Mittler wird, sie in seiner individuellen Erscheinung überhaupt eine Darstellung der Menschheit erkennen. Diese religiöse Anschauung der Menschheit im anderen eröffnet einen Bildungsprozeß, in welchem das gebildete Individuum nicht nur seine eigene Individualität bestimmt, sondern zugleich auch aufgrund der Anschauung der anderen als verschiedene Darstellungen der Menschheit selbst zum "Kompendium der Menschheit" (99) wird. Wer sich selbst als eine solche allseitig gebildete Persönlichkeit anschaut, d . h . sich selbst in Beziehung zur Totalität der Erscheinungen des unendlichen Ganzen betrachtet, der "bedarf keines Mittlers mehr f ü r irgendeine Anschauung der Menschheit, und er kann es selbst sein f ü r viele" (99). Für den, der sich dieser religiösen und zugleich gebildeten Ansicht der Menschheit erhoben hat, öffnet sich eine weitere Anschauung des Universums. Denn als gebildetes Individuum sieht er nicht nur die einzelnen menschlichen Individuen, in denen sich die Menschheit darstellt, sondern er vermag daraus, daß er sich als Gebildeter über den gemeinen Standpunkt erhoben hat, die "inneren Veränderungen" der Menschheit zu erkennen:
- 103 "Die verschiedenen Momente der Menschheit aneinander zu knüpfen, und aus ihrer Folge den Geist, in dem das Ganze geleitet wird, erraten, das ist ihr höchstes Geschäft, Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion" (100). Der "hohe Weltgeist", der "über alles lächelnd hinwegschreitet" (103), folgt aber keinem anderen Gesetz, als dem, das in der Individualitätsanschauung der Gebildeten enthalten ist. Das Unendliche hat sich im Endlichen offenbart. Dadurch ist das Endliche über seine bloße Endlichkeit herausgehoben als Darstellung des Unendlichen. Daß das Endliche und einzelne sich als Darstellung des Unendlichen zeigen und als eine solche angeschaut werden wird, darin besteht die mit den gebildeten Individuen angebrochene Zukunft, in der es dann keine Mittler mehr zu geben braucht (vgl. 25, 231ff). Entsprechend bestimmt der Redner den Gang des Universums: Das "große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe" besteht darin, daß "das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche . . . in organische Bildung umgestaltet" wird: "Nichts soll tote Masse sein" (103f). Mit diesem Satz, der programmatisch Schleiermachers späteren Ansatz der Ethik vorwegnimmt, hat er die Grenze der Anschauung des Universums als Menschheit und der Menschheit als Universum bereits überschritten. Denn daß in der Folge der verschiedenen Momente der Menschheit die Menschheit selbst als etwas "Bewegliches und Bildsames" (104) sich zeigt, nötigt zu der Annahme eines den Bildungsprozeß der Menschheit übergreifenden Ganzen, das Menschheit und Natur umfaßt: "Nach einer solchen Ahndung von etwas außer und über der Menschheit strebt alle Religion, um von dem Gemeinschaftlichen und Höheren der beiden ergriffen zu werden" (105)121. Daß Schleiermacher über die 'Menschheit sreligion' nur andeutungsweise hinausweist, erscheint weniger mystisch und g e h e i m n i s v o l l ^ w e n n gesehen wird, daß die Identifikationen des Universums schon selbst über sich hinausweisen, weil das Identifizierte mit demjenigen, mit dem es identifiziert wird, nicht deckungsgleich ist. Wenn Schleiermacher die äußere Natur bzw. die Menschheit als Universum identifiziert, so hat er mit dem Begriff des Universums einen Standpunkt eingenommen, auf dem alle religiösen Anschauungen, die nicht das Universum als Universum auszudrücken vermögen, hinter dem vom Redner erreichten gebildeten Selbstverständnis zurückbleiben. Entsprechend der widersprüchlichen Einschätzung der gebildeten Verächter bleibt schließlich offen, auf welcher Stufe sie sich befinden. Zwar bricht Schleiermacher die Andeutung über eine höhere Anschauung mit dem Hinweis ab, die Gebildeten sollten erst einmal die Religion haben, die sie haben könnten (105). Aber schon in der Bestimmung des Überganges von der äußeren Natur zur Menschheit als religiöser Anschauung hat Schleiermacher die Tendenz angedeutet, die er in den Bemühungen der Gebildeten als unbewußtes Wirken für die Palingenese der Religion erkennt. Denn daß sich "im inneren Leben" das Universum abbildet und 1
- 104 "nur durch das innere das äußre verständlich" ist (88), bedeutet eben nicht die Einseitigkeit, die in der Behauptung, "die Menschheit selbst ist Euch eigentlich das Universum" (89) enthalten ist, sondern nimmt vorweg, was Schleiermacher als Ziel der höchsten Anstrengungen der gebildeten Verächter feiert: daß nämlich die Philosophie den Menschen erhebt zum "Begriff seiner Wechselwirkung mit der Welt" (171). "Eingerissen ist die ängstliche Scheidewand; alles außer ihm ist nur ein andres in ihm, alles ist der Widerschein seines Geistes, so wie sein Geist Abdruck von allem ist (171f). Damit hat Schleiermacher als religiöse Anschauung eingeholt, was er als anthropologische Konzeption für die Bestimmung des Wesens der Religion aufgestellt hat, daß das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm Gegenstand sowohl von Metaphysik und Moral als auch von Religion sei (41). Denn dafür, daß Philosophie sich zum Begriff der Wechselwirkung des Menschen mit der Welt erhebt, ist immer schon ein Bewußtsein bzw. eine Anschauung des Verhältnisses vorausgesetzt, das als Wechselwirkung gedacht wird. Dem Menschen wird dies Verhältnis in der religiösen Anschauung des Universums aufgrund dessen Offenbarung b e w u ß t 1 ^ .
e) Die Bedeutung der Gebildeten für die Bildung zur Religion (3. Rede) Im Blick auf die Bedeutung, die die Gebildeten auch als Verächter für die Palingenese der Religion der dritten Rede zufolge haben, läßt sich diese mit den Ausführungen der zweiten über die Religion, die die Verächter als Gebildete haben könnten (105), verbinden. Wirft der Redner den Verächtern vor, daß sie im einzelnen die Menschheit bilden wollen, ohne in ihm eine eigentümliche Offenbarung der Menschheit zu sehen (90f), so orientiert sich dieser Vorwurf an der Individualitätsanschauung. Diese eröffnet den Zugang zur religiösen Anschauung der Geschichte, nämlich der Menschheit in ihrem Werden, das sich in den einzelnen Individuen vollzieht (99). Um sich seines Verhältnisses zum Universum bewußt zu werden, ist das Individuum auf eine Handlung, auf eine Offenbarung des Universums angewiesen. Die Geschichte ist der Ort, an dem dies geschieht. In ihr vollzieht sich die Bildung zur Religion. Sofern die Geschichte den höchsten Gegenstand der Religion bildet, ist die Bildung zur Religion zugleich ein Gegenstand religiöser Anschauung. In dieser Bildungsgeschichte der Religion kommt den gebildeten Verächtern ein bestimmter Platz zu. Dabei macht sich Schleiermacher die Differenz des Gebildeten zu dem gemeinen Standpunkt, über den er sich e r hoben hat, als Indikator des geschichtlichen Fortschritts zunutze. Um zu einem geschichtlichen Verständnis der Bildung zu kommen, muß der Redner zunächst den pädagogischen Begriff der Bildung ausschließen. So wenig ein Mensch durch andere zur Menschheit gebildet werden
- 105 kann, so wenig kann ein Mensch durch andere zur Religion gebildet werden (138ff). Besteht Religion ihrem Wesen nach im Anschauen des Universums, so muß im Menschen selbst die Fähigkeit zur Religion liegen: "Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern" (144). Aber vollzogen wird das Anschauen des Universums erst, wenn wirklich eine Einwirkung durch das Universum erfolgt. Deshalb kann die Bildung zur Religion nicht als Ausbildung durch eine direkte Einwirkung derjenigen geschehen, die bereits die Anschauung des Universums vollzogen haben. Vielmehr befinden sie sich in einer Position, die der der Gebildeten gleicht, die in ihrer freien Äußerung und Mitteilung (134) anderen zum Mittler werden können. Was mitgeteilt wird, ist immer das Produkt der Tätigkeit eines einzelnen Individuums. Es kann wahrgenommen werden, aber es kann nicht die Tätigkeit im anderen hervorbringen (138). "Aus dem Innersten seiner Organisation muß alles hervorgehen, was zum wahren Leben des Menschen gehören und ein immer reger und wirksamer Trieb in ihm sein soll" (139). Das gilt vor allem dann, wenn der Gegenstand der Mitteilung eine Anschauung des Universums ist, d . h . der Vollzug der von der Mitteilung selbst verschiedenen Tätigkeit des Anschauuens, die ihrerseits eine Tätigkeit des Unendlichen zu ihrem Gegenstand hat. Durch die Mitteilung von religiösen Anschauungen und Gefühlen kann höchsten das "mimische Talent ihrer Phantasie" aufgeregt werden (140), nicht aber die anschauende Tätigkeit der Religion hervorgebracht werden. Diese Ausführungen Schleiermachers zeigen deutlich, daß sein Bildungsbegriff, sein Verständnis des Gebildeten als Individuum, die Erfassung der pädagogischen Tätigkeit als Bildung ausschließt. Subjekt der Bildung zur Religion kann ein endliches Individuum nicht sein. Vielmehr gilt: "Das Universum bildet sich selbst seine Betrachter und Bewunderer" (143). Ist es dem Bereich menschlich-individuellen Handelns entzogen, den Menschen zur Religion zu bilden, d.h. seine religiöse Anlage in ihm zu wecken, dann kann die Bildving zur Religion nur als ein Ereignis angeschaut werden, das in dem die einzelnen Individuen übergreifenden Zusammenhang der Geschichte seinen Grund hat. Die Bildung zur Religion wird als Geschichte selbst zum höchsten Gegenstand der religiösen Anschauung der Gebildeten (100). Denn findet die Geschichte der Menschheit in der Gemeinschaft von gebildeten Individuen ihr Ziel und ist das gebildete Selbstverständnis als durch eine religiöse Anschauung konstituiert zu begreifen, so trägt die Ausbreitung des gebildeten Standpunkts zur Bildung der Religion bei. Jeder Zustand während dieser Geschichte ist aber dadurch gekennzeichnet, daß die ideale Gemeinschaft sich allseitig bildender Individuen nicht verwirklicht ist. Die Gegenwart ist in dieser Rede geradezu als Anfangs zustand dieser Geschichte bestimmt. Der Gebildete, der sich im dritten Monolog als "Fremdling" und als "prophetischer Bürger einer spätem Welt" versteht (M 61), sieht
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sich in den Reden zusammen mit den gebildeten Verächtern als ein "kleines Häufchen" (155) gegen den h e r r s c h e n d e n S t a n d p u n k t , sieht die Mittler isoliert in ihrem Wirkungskreis ohne die ihre Sehnsucht befriedigende Gemeinschaft (14). Der Gegensatz, der den gegenwärtigen Zustand b e h e r r s c h t und der die gemeinsame Front des Redners mit den gebildeten Verächtern e r k l ä r t , wird von Schleiermacher durch den Übergang von der e r s t e n zur zweiten Bewußtseinsstufe bestimmt. Während der h e r r schende Standpunkt dem Endlichen und einzelnen v e r h a f t e t ist, haben sich die Gebildeten zum Unendlichen erhoben. Durch diese Fixierung auf das Endliche ist die h e r r s c h e n d e Tendenz des Zeitalters religionsfeindlich, während die Bestrebungen der Gebildeten dann gerade unbewußt zur "Palingenese der Religion" (163) beitragen. Der Redner stimmt zwar in die "Hilferufe" seiner Standesgenossen ü b e r den Untergang der Religion nicht ein (4), vielmehr sei das Zeitalter der Religion nicht u n g ü n s t i g e r als jedes andere (161), aber eine Vernachlässigung der Religion d u r c h die Gebildeten und eine "religiöse Beschränk u n g " der Zeitgenossen (143) kann er doch nicht leugnen. Die religiöse Anlage ist zwar bei jedem Menschen vorhanden, aber diese Anlage kann u n t e r d r ü c k t werden, indem das menschliche Individuum daran gehindert wird, im Endlichen das Unendliche anzuschauen. Die U n t e r d r ü c k u n g der Religion geschieht nicht durch die "Zweifler und Spötter", sondern durch die "verständigen und praktischen Menschen", die v e r h i n d e r n , daß der Sinn f ü r s Unendliche und das Streben nach Höherem Erfüllung finden, daß es zur "Gemeinschaft zwischen ihm und dem Universum" kommt (144). Indem sie immer auf "Arbeit u n d Spiel" aus sind, erscheint von ihrem "Standpunkt des bürgerlichen Lebens" aus jede "ruhige, hingebende Beschauung" als "Trägheit und Müßiggang" (148). In i h r e r B e s c h r ä n k u n g auf das endliche Handeln bleiben sie auf die Erscheinungen f i x i e r t . Ihnen geht es n u r um "Verstehen", um das Woher und Wozu, sie haben keinen Sinn f ü r das Was und Wie, f ü r "den ungeteilten Eindruck von etwas Ganzem" (149). Denn um etwas als Element des Ganzen anzuschauen, muß man "eine Sache . . . von ihrem eignen Mittlpunkt aus und von allen Seiten in Beziehung auf ihn b e t r a c h t e t haben" (153). Statt dessen halten diejenigen, die, "obwohl sie das Zeitalter bilden und die Menschen a u f klären . . . bis zur leidigen Durchsichtigkeit" (155), nicht Gebildete zu nennen sind, den Sinn in den "Schranken des bürgerlichen Lebens" 1 2 ^, indem sie das Angeschaute bloß auf das Handeln des Menschen und seine zweckmäßige Tätigkeit beziehen. Diese B e s c h r ä n k u n g der "verständigen und praktischen Menschen" auf das Endliche bedeutet deshalb die Vernichtung der Religion, weil sie das Unendliche vom Endlichen ausschließt. Die U n t e r d r ü c k u n g der Religion f ü h r t dazu, daß die u n t e r d r ü c k t e Anlage des Menschen sich in "religiösen Phänomenen" (157) ä u ß e r t , die die Signatur der Zerrissenheit an sich t r a g e n . Die religiöse Anlage, die in einer e r s t e n Regung den Menschen "über den Reichtum dieser Welt" hinaustreibt (145), bleibt der illusionä-
- 107 ren Täuschung verhaftet, "das Unendliche grade außerhalb des Endlichen, das Entgegengesetzte außerhalb dessen zu suchen, dem es entgegengesetzt wird" (145f). Das zeigt sich an den in sich gekehrten mystischen Naturen, die, in der Anschauung ihrer selbst begriffen, glauben, "daß es nicht nötig sei, sich selbst zu verlassen, sondern daß der Geist genug habe an sich, um auch alles dessen, was ihm das Äußere geben könnte, inne zu werden" (159). Das zeigt sich aber auch an den "phantastischen Naturen", die die "Unendlichkeit und Allgemeinheit des reizenden Scheines" suchen (158), die sich nicht "mit dem Realen der weltlichen Angelegenheiten" befassen mögen (157), die sich deshalb in einem "Mißverhältnis gegen die Zeit" befinden und "den Zusammenhang des Innern und Äußern" gänzlich zerreißend in "einem heiligen Wahnsinn" durch "Selbstmord des Geistes" enden (160). Gibt es wegen der Zerrissenheit der Zeit auch keine "anerkannten Repräsentanten der Religion" (161), so zeigt sich für den Redner zumindest eine Kongruenz zwischen der Richtung, die die "Bildung" nehmen muß, "wenn religiöse Menschen in einem höheren Stil wieder als . . . natürliche Produkte ihrer Zeit erscheinen sollen" (162) und dem Streben der Gebildeten, so daß diese "einer Palingenese der Religion" nicht wenig zu Hilfe kommen. Denn schon in ihrem pädagogischen Bemühen treten sie mit der Rousseauschen Idee von der "Heiligkeit des kindlichen Alters und von der Ewigkeit der unverletzlichen Willkür" auch ein für eine "unbegrenzte Freiheit des Sinnes" (164). Zugleich verbindet sich diese Idee mit dem Gedanken der "Selbstbeschränkung", d . h . der doppelten Einsicht, daß die Gebildeten nur durch Selbstbeschränkung geworden sind, was sie sind, und daß ihre Bildung sich nur durch Selbstbeschränkung vollzieht (164)125. Die Bedeutung für die Palingenese der Religion ergibt sich daraus, daß beides, die Entschränkung des Sinnes und die Beschränkung der Kraft, miteinander verknüpft, der Zerrissenheit der Zeit entgegenwirkt. Der Gedanke der Selbstbeschränkung wird nicht einfach im Sinne der von Fichte inspirierten Kunstauffassung der frühen Romantik verstanden, sondern er wird durch den religiösen Gedanken der Entschränkung des Sinnes modifiziert. Der Gedanke, daß die Gebildeten nur auf dem Wege der Selbstbeschränkung geworden sind, was sie sind, und daß es keinen anderen Weg gibt, "um sich zu bilden", wird im Sinne der Endlichkeit und Einzelheit der Individualitätsanschauung gedeutet. Denn wem dieser Gedanke einleuchten solle, der müsse "wissen ( ! ) , daß es keine Gegenstände geben würde, wenn nicht alles gesondert und beschränkt wäre" (164). Dies Wissen beruht aber auf religiös begründeter Individualitätsanschauung; "alles Endliche besteht nur durch die Bestimmung seiner Grenzen, die aus dem Unendlichen gleichsam herausgeschnitten werden müssen" (53). Entscheidend für die Religion ist gerade die mit der Selbstbeschränkung angezeigte Entschränkung des Sinnes. Die Zuversicht für die "Auferstehung der Religion" in der Gegenwart (170) stützt der Redner auf den Kunstsinn als der dritten der
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Richtungen des Sinnes (165), deren Vorherrschen jeweils einer bestimmten Kultur zugerechnet wird 126 # Religion ist der Vollzug der Anschauung des Unendlichen im Endlichen, des Universums in seinen Erscheinungen. Der Sinn als das Vermögen der Anschauung kann sich nach innen richten "auf das Ich selbst". In Anlehnung an die Terminologie Fichtes beschreibt Schleiermacher diese Richtung des Sinnes als Religion. Durch Absonderung alles dessen, was nicht Ich ist, verschwindet alles, was das Individuum bestimmt, d.h. das individuelle Selbst, und es entsteht aus diesem Verschwinden des Individuums die Anschauung des Universums (das Schleiermacher hier als absolutes Ich versteht), und der "Schreck der Selbstvernichtung" wandelt sich in das Gefühl des Unendlichen im Individuum (166). Diese Gestalt der Religion ist bereits durch den "uralten morgenländischen Mystizismus" (168) vertreten, während die Religion, die aus der Weltanschauung des nach außen gerichteten Sinnes hervorgegangen ist, durch die ägyptische Religion repräsentiert ist (168). Dagegen hat die Richtung des Sinnes, die beides verbindet, der Kunstsinn, noch nicht in einer "Kunstreligion" seine Erfüllung gefunden, obwohl bei den Griechen beide Gestalten der Religion durch den Kunstsinn "mit neuer Schönheit und Heiligkeit" überschüttet und in ihrer ursprünglichen Beschränktheit "freundlich" gemildert worden sind (168). Obwohl also die innere Verwandtschaft von Religion und Kunst noch nicht offenbar ist, ist in den Augen des Redners eine Religion zu erwarten, die durch den Anblick "großer und erhabener Kunstwerke" hervorgerufen wird und die als Vollendung der inneren und äußeren Religion zugleich ihre Rettung bedeutet. Diese Einheit wird nicht nur in Kunstwerken dargestellt, auch in ihrem wissenschaftlichen Bemühen sind die Gebildeten auf diese Einheit aus, so daß dieses Bemühen zugleich der "Auferstehung der Religion" dient. Denn indem die "Scheidewand" eingerissen ist, so daß für den Menschen "alles außer ihm . . . nur ein andres in ihm" (1711 ist, ergibt sich die "Aussicht, überall unter allen Verkleidungen dasselbe erkennend und nirgends ruhend als in dem Unendlichen und Einen" (172). Diese Erkenntnis öffnet den Sinn für die "Kunstreligion", d . h . diejenige Religion, zu der der die beiden anderen Sinnesrichtungen vereinigende Sinn führt (165f): "Das größte Kunstwerk ist das, dessen Stoff die Menschheit ist, welches das Universum unmittelbar bildet, und für dieses muß vielen der Sinn bald aufgehn" (173). Darin sieht Schleiermacher die zukunftsträchtigen Tendenzen seiner Zeit in der Pädagogik, der Kunstanschauung und der Wissenschaft kulminieren: daß die Menschheit selbst als ein Kunstwerk, d.h. als ein Gegenstand für den Kunstsinn erscheint. Die 'Menschheitsreligion', d.h. die religiöse Anschauung der Menschheit, die "unermüdet geschäftig (ist), sich selbst zu erschaffen, und sich in der vorübergehenden Erscheinung des endlichen Lebens aufs mannigfaltigste darzustellen" (92), ist damit in eine Gestalt überführt worden, in der die Trennung von der Natur be-
- 109 seitigt und eine der Individualitätsanschauung entsprechende Auffassung des Menschen als Einheit von Geist und Natur gewonnen ist. Die Menschheit als der durch das Universum gebildete Stoff führt als Gegenstand der Religion zur Anschauung der Geschichte des Universums. Adäquat ist diese Auffassung der Menschheit dem gebildeten Selbstverständnis, weil damit der endlichen, körperlichen Erscheinung der Menschheit im Individuum Rechnung getragen wird. Wie im Kunstwerk bildende Tätigkeit und gebildeter Stoff vereinigt werden, so ist die Menschheit nicht nur bildende Tätigkeit, sondern selbst wiederum Stoff für die unendliche Tätigkeit des Universums. Diese Kunstanschauung der Menschheit ist vorausgesetzt, wenn Schleiermacher in den Monologen das selbstbildende vom weltbildenden Handeln abhebt (M 33ff). Diese Wendung des Kunstsinnes, daß nicht nur das, was von Menschen hervorgebracht wird, sondern auch die Darstellung der Menschheit in ihren individuellen Erscheinungen selbst durch den Kunstsinn aufgefaßt werden kann, hat sich später in Schleiermachers Ethik darin niedergeschlagen, daß die Güterlehre zur ethischen Zentraldisziplin geworden ist. Das handelnde Individuum wird durch dieselben Bestimmungen erfaßt wie das, was durch sein Handeln hervorgebracht wird, nämlich als Einheit von Vernunft und Natur12?. Dieser Ausblick auf diejenige Gestalt der Religion, die durch das Wirken der Gebildeten unbewußt herbeigeführt wird, läßt die Geschichte der r e ligiösen Anschauung dort enden, wo sie ihren Anfang genommen hat. Denn indem für den Kunstsinn die Menschheit als ein vom Universum unmittelbar gebildeter Stoff erscheint, ist die religiöse Anschauung erreicht, die als Wesen der Religion bestimmt worden ist: die Anschauung des Universums im weitesten Sinne ( 5 0 ) . Allerdings räumt Schleiermacher ein, daß er selbst nicht auf diesem Wege die religiöse Anschauung des Universums gefunden habe (167), daß er die Beschränkung seiner Individualität erkennt, nicht Künstler zu sein (M 34). Aber die dem Kunstsinn entsprechende Religion bestimmt er als Anschauung des Universums; denn "die Möglichkeit der Sache steht klar vor meinen Augen, nur daß sie mir ein Geheimnis bleiben soll" (167). Schleiermacher selbst ist auf einem anderen Wege zu der Anschauung des Universums gekommen. Sein religiöser Sinn wurde durch Religion geweckt ( 1 4 ) . Der Redner hat bereits die Religion, von der er zeigt, daß die gebildeten Verächter sie haben können, wenn ihr Kunstsinn übergeht in die Anschauung des Universums. Das aber bleibt ihm zu zeigen, daß diejenige Religion, deren Wiedererweckung er durch das Wirken der Gebildeten erwartet, zugleich schon als die wirkliche Religion vorhanden ist, die ihm den religiösen Sinn geöffnet hat, so daß er als Gebildeter über die Religion der Gebildeten reden kann.
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3. Das Christentum als positive Religion der Gebildeten Daß Schleiermacher die Religionstheorie, die er auf dem gebildeten Standpunkt entworfen hat, nicht hat abschließen können, ohne das Christentum als positive Religion darzustellen, ist zu v e r s t e h e n , wenn die Differenz erkannt wird, die zwischen den beiden Arten der Thematisierung des Zusammenhanges von Religion und Bildung b e s t e h t . Im e r s t e n Abschnitt wurde gezeigt, was es bedeutet, wenn einer, der sich als gebildetes Individuum v e r s t e h t , die Religion zum Thema einer Rede macht. Im Selbstverständnis des Gebildeten als Individuum ist der Zusammenhang von Bildung und Religion bereits enthalten. Wer sich als individuelle Erscheinung b e t r a c h t e t , kann nicht a n d e r s als zugleich das a n zuschauen, was in ihm zur Erscheinung kommt. Weiter muß e r , was er als in ihm selbst n u r in individueller Gestalt sich darstellend anschaut, anderen Individuen mitteilen, um sich selbst und seine Religion, d . h . seine Anschauung des Unendlichen bestimmen zu können. Diese Kommunikation gelingt n u r im geselligen Umgang mit Individuen, die in gleicher Weise Gebildete sind, d . h . sich ebenfalls als Individuen v e r s t e h e n . Anderen, die sich noch nicht ü b e r das Gemeine erhoben haben, kann der Gebildete durch seine Selbstdarstellung zum Mittler werden, d u r c h den jeder einzelne von ihnen zum gebildeten Selbstverständnis angeregt wird. In den an die gebildeten Verächter der Religion gerichteten Reden wird der Zusammenhang von Bildung und Religion aber nicht als Explikation des gebildeten Selbstverständnisses thematisch, sondern der gebildete Standpunkt erhält innerhalb einer Religionstheorie seinen Ort als eine b e stimmte Stufe möglicher religiöser Anschauung und als gegenwärtige T e n denz f ü r die Palingenese der Religion, insofern e r eine bestimmte Anschauung des Unendlichen möglich macht. Schon die Grundlegung der Religionstheorie geschieht aber durch eine anthropologische Konzeption, die dem gebildeten Selbstverständnis Rechnung t r ä g t . Der Mensch wird als Individuum gefaßt, das als einzelnes und endliches Wesen in einem Verhältnis zu dem s t e h t , was vom Redner als Universum, d . h . als das Unendliche bestimmt wird, in welchem alles Endliche seinen Ort h a t . Die nähere A u s f ü h r u n g der religiösen Seite dieses Verhältnisses, nach der im Vorgang des Anschauens das Handeln des Universums auf das menschliche Individuum wahrgenommen und zum Ausdruck gebracht wird, zeigt den Begriff des Universums als geeignete Darstellung der Anschauung des Unendlichen auf dem gebildeten Standpunkt des R e d n e r s . Denn indem die Individualitätsanschauung der Tendenz nach zusammenstimmt mit den Bemühungen der gebildeten Verächter, d u r c h die die a b s t r a k t e T r e n n u n g von Natur und Menschheit, von Endlichem und Unendlichem, von Wesen und Erscheinungen beseitigt wird, muß auch dasjenige, was das gebildete Individuum in sich zur Erscheinung kommen sieht, eine adäquate Darstellung f i n d e n . Insofern die Individualitätsanschauung mit dem gebildeten
- Ill Selbstverständnis verbunden ist, gibt es über die individuelle Verschiedenheit der Menschen hinaus eine Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses, die zu einer die Menschheit selbst noch umgreifenden Bestimmung des Unendlichen f ü h r t . Die Bewußtseinsstufen spiegeln sich noch in des Redners Reflexion der durch den Atheismusstreit bestimmten S i t u a t i o n ^ ( 124): Der Begriff des Universums erweist sich als der überbietende Begriff f ü r das umfassende Ganze, der allein dem gebildeten Selbstverständnis adäquat ist. Denn von ihm gilt ebenfalls, was auf die Gottesvorstellung zutrifft, daß sie von der Bildungsstufe und von der Richtung der Phantasie abhängt (126ff). Gott als "freies Wesen" zu denken, beruht auf der Analogie zum Bewußtsein der Freiheit, der zufolge auch das, was als "ursprünglich wirkend" gedacht werden soll, nur als freies Wesen gedacht werden kann (129). Hängt dagegen die Phantasie am Verstand, der die Freiheit an das einzelne bindet, so daß nur endliche Tätigkeit in ihren Taten angeschaut werden kann, so kann die Einbildungskraft nur die Totalität des Endlichen als Welt erfassen. Der Begriff des Universums steht insofern zwischen diesen beiden Extremen, als er der Einwirkung des Unendlichen Rechnung trägt, ohne von der Endlichkeit seiner Darstellungen zu abstrahieren. Sofern das Universum unendliches Tun und endliche Tat umfaßt, ihm "jede Gattung mit ihrem Individuum" untergeordnet ist (126), ist es die adäquate Vorstellung auf dem gebildeten Standpunkt f ü r das in der Religion angeschaute Handeln des Unendlichen auf das gebildete Individuum. Aber obwohl die Bestimmung der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums der anthropologischen Konzeption des gebildeten Individuums entspricht, bestehen doch Unterschiede zwischen dem ausgeführten und dem vom Redner als Gebildetem thematisierten Zusammenhang von Religion und Bildung. Zwar kann der Redner in der Explikation dessen, was als Wesen der Religion bestimmt worden ist, seine eigene religiöse Anschauung einbringen, aber die Bestimmung des Wesens der Religion ist etwas anderes als der eigene Vollzug und die Darstellung der Anschauung und des Gefühls des Universums. Damit ist die weitere Schwierigkeit verbunden, daß Schleiermacher als gebildeter Redner nur Anspruch erheben kann, eine Selbstdarstellung seiner eigenen religiösen Individualität zu liefern, während er doch eine anthropologisch begründete Theorie der Religion mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung vorträgt. Schließlich bleibt die aufgestellte Religionstheorie darin hinter der Darstellung von vollzogener Anschauung durch das religiöse Individuum zurück, daß in ihr nur der einzelne Akt der Anschauung erfaßt ist, und damit die individuelle Perspektive in der religiösen Äußerung imbestimmt und die Einheit des religiösen Lebens des Individuums in den immer wieder vollzogenen Anschauungen des Universums unberücksichtigt bleibt. Hinzu kommt als weiteres Problem, daß Schleiermacher seine auf dem Boden der Individualitätsanschauung entworfene Religionstheorie letztlich nicht mit den zukunftsträchtigen Bestrebungen der Gebildeten vermitteln
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kann, auch wenn sie der Ρalingenese der Religion als Anschauung des Universums dienlich zu sein scheinen. Indem Schleiermacher nämlich den Ubergang des Kunstsinns zur Anschauung des Universums nur als einen möglichen erwartet und er gerade im Blick auf die Kunst seine Beschränktheit zugibt, stellt er sich als Gebildeter außerhalb dieses Zusammenhangs. Der Redner ist auf eine andere als die von ihm prognostizierte Weise zu seiner religiösen Anschauung gekommen: "Religion war der mütterliche Leib . . . " (14). Diese Differenz gegenüber den gebildeten Verächtern hat Konsequenzen für das gebildete Selbstverständnis. Erwartet der Redner, daß der Sinn vielen aufgehen müsse für dasjenige Kunstwerk, das das Universum unmittelbar aus dem Stoff der Menschheit bildet, so liegt in dieser Erwartung eine Übertragung, die in den Monologen hinter die Differenz zwischen weltbildendem Künstler und selbstbildendem Individualisten zurückgetreten ist. So ergänzt er die Äußerungen über den ihm mangelnden Kunstsinn: "Mir aber hat dies Alles nur der Sinn erspäht, denn meinen Gedanken ist es fremd. Aus jedem Kunstwerk strahlet mir die Menschheit, die drinn abgebildet, weit heller hervor als des Bildners Kunst; nur mit Mühe ergreif ich diese in späterer Betrachtung und erkenne ein wenig nur von ihrem Wesen" (M35, 5-10). Nicht in der Betrachtung des Kunstwerkes, sondern in der Betrachtung der Menschheit entzündet sich die religiöse Anschauung des Redners. Damit kehrt sich aber das Verhältnis von Bildung und Religion um. Denn statt daß der Gebildete mit seinem Kunstsinn sich zur Religion erhebt, hat die religiöse Anschauimg der Menschheit in ihren individuellen Gestalten den Redner auf den gebildeten Standpunkt erhoben. Beruht die gebildete Individualitätsanschauung, die Schleiermacher in den Reden und Monologen als höchste Stufe der Bildung bestimmt, auf der religiösen Anschauung des Universums, dann muß er die Religionstheorie auf sich selbst anwenden und den gebildeten Verächtern diejenige religiöse Anschauung und ihren Mittler aufweisen, an der sich seine eigene religiös konstituierte, gebildete Individualitätsanschauung entzündet hat. Deshalb muß der Redner die gebildeten Verächter "gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen" (237). Nachdem also der Zusammenhang von Religion und Bildung mit dem Selbstverständnis des Gebildeten als Individuum thematisch und als bestimmte Gestalt der religiösen Anschauung des Universums identifiziert worden ist, auf die der Redner die Bemühungen der Gebildeten hintendieren sieht, ist dieser Zusammenhang in dem geschichtlichen Prozeß religiöser Kommunikation und Vermittlung zu explizieren. Denn für das religiös und gebildet sich darstellende Individuum gilt, daß es nicht aus sich selbst zur Individualitätsanschauung gekommen ist. Da das gebildete Individuum selbst die religiöse Anschauung vollziehen muß, die sein Selbstverständnis konstituiert, kann auch derjenige, der ihm zum Mittler geworden ist,
- 113 nur eine solche religiöse Anschauung dargestellt haben, die ein gebildetes Selbstverständnis begründet. Deshalb kann Schleiermacher die Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt im Blick auf die religiöse Anschauung, die sein Selbstverständnis als Gebildeter angeregt hat, weiterführen, indem er zunächst die seinem Religionsbegriff adäquate Gemeinschaft einwickelt als den Ort, an dem diese Vermittlung der religiösen Anschauung geschieht, indem er dann die individuelle Gestalt der Religion als positive Religion darstellt, d . h . die religiöse Anschauung so bestimmt, daß sie als Äußerung eines individuellen Lebens erscheint, indem er schließlich das Christentum als die dem gebildeten Standpunkt entsprechende positive Religion bestimmt. a) Über das Gesellige in der Religion Die Bestimmung der religiösen Gemeinschaft in der vierten Rede folgt aus der anthropologischen Konzeption der Religion als der von menschlichen Individuen vollzogene Anschauung des Universums. Indem die Religion an die wahrnehmende Tätigkeit des Individuums gebunden ist, ergibt sich die freie Geselligkeit als Form für die religiöse Kommunikation der Individuen. Von dem geselligen Umgang der Gebildeten ist die religiöse Gemeinschaft dadurch unterschieden, daß nicht die freie Selbstdarstellung der Individuen überhaupt in ihr erfolgt, sondern daß individuell vollzogene Anschauungen des Universums mitgeteilt werden. Dieser Unterschied schlägt sich in der Begründung und in der Form der religiösen Kommunikation nieder. Die gesellige Natur des Menschen, der zufolge er mit den übrigen seiner Gattung in einer beständigen praktischen und intellektuellen Wechselwirkung steht, äußert sich darin, daß der einzelne mitteilt, was in ihm ist, und daß er danach strebt, in anderen die Kraft anzuschauen, die sie bewegt, "um sich vor sich selbst zu legitimieren, daß ihm nichts als Menschliches begegnet sei" (177). Diese Vergewisserung der individuellen Erfahrung durch den Konsens der Gemeinschaft ist vor allem dort notwendig, wo der einzelne sich "ursprünglich als leidend" fühlt (177), wo der einzelne das Unendliche im Endlichen anschaut und mit dieser Erfahrung auf Gemeinschaft angewiesen ist, um wegen der eigenen Endlichkeit an den Erfahrungen anderer Individuen teilzuhaben und diese an den eigenen teilnehmen zu lassen (178). Damit liefert der Redner die Begründung für seine Rede über die Religion nach, die sich aus dem Gegenstand selbst ergibt und über den Verweis auf die gebildete Individualität hinausgeht ( 3 , 5 , 1 4 ) . Die Begründung der religiösen Gemeinschaft auf die Erfahrung des Handelns des Universums entspricht der Form der religiösen Mitteilung. Die Religion als individuelles Anschauen des Unendlichen macht eine Gemeinschaft wechselseitigen Redens und Hörens notwendig. Wegen der Inadäquanz zwischen der endlichen Mitteilung und der Anschauung des Unendlichen, die mitgeteilt werden soll, ist eine Vermittlung durch
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Bücher ausgeschlossen, weil in ihnen zuviel von "dem ursprünglichen Eindruck verloren geht" (179), wie ebenso die Mitteilung in einem "gemeinen Gespräch", weil "diese Manier eines leichten und schnellen Wechsels treffender Einfälle" (180) gerade nicht der Anschauung und dem Gefühl des Unendlichen angemessen ist. In der Form der Rede als "Anstrengung und Kunst der Sprache" (181) ist vereinigt, was in den beiden ausgeschlossenen Extremen f ü r die religiöse Kommunikation förderlich ist: die über das einzelne und Zufällige einer Äußerung hinausgehende Darstellung eines Zusammenhanges, wie er allein dem Universum angemessen ist, und die Beziehung auf ein Auditorium, wie es der individuellen Perspektive der Darstellung entspricht. Die Rede ist durch die Sach- und Gemeinschaftsbezogenheit zugleich ausgezeichnet. Die Rede hebt die Wechselwirkung der Gemeinschaft nicht auf. Vielmehr verändert sich nur die Gestalt der Gegenwirkung. Die adäquate Antwort des Auditoriums auf eine religiöse Rede ist das durch die Rede ausgelöste Gefühl der Gemeinschaftlichkeit des Verhältnisses zum U n i v e r s u m 129. Es äußert sich in der Musik als der Muse der Harmonie: "In heiligen Hymnen und Chören, denen die Worte der Dichter nur lose und luftig anhängen, wird ausgehaucht, was die bestimmte Rede nicht mehr fassen kann, und so unterstützen sich und wechseln die Töne des Gedankens und der Empfindung, bis alles gesättigt ist und voll des Heiligen und Unendlichen" (183). Diese in Anschauung und Gefühl des Unendlichen vereinigte Gemeinschaft überbietet nicht nur jede politische, d . h . durch äußeren Zwang erzwungene Gemeinschaft (184), sondern auch den "Freundschaftsbund sittlicher Gemüter" (237). Denn in der religiösen Gemeinschaft ist das angeschaute und gefühlte Universum, und nicht das einzelne Individuum Gegenstand der Kommunikation, insofern "jeder, den Ruhm seiner Willkür, den Alleinbesitz seiner innersten Eigentümlichkeiten und ihres Geheimnisses nicht achtend, sich freiwillig hingibt, um sich anschauen zu lassen als ein Werk des ewigen und alles bildenden Weltgeistes" (237). Dieses Ideal der wahren Kirche als "priesterlichen Volks" (184), als einer "Gesellschaft von Menschen . . . , die mit ihrer Religion zum Bewußtsein gekommen sind und denen die religiöse Ansicht des Lebens eine der h e r r schenden geworden ist" (191f), teilen diejenigen, die wie der Redner in ihrem gebildeten Selbstverständnis religiös und in ihrer Religion gebildet sind (192). Die ideale religiöse Gemeinschaft, die dem Wesen der Religion als Wahrnehmung des Universums und des Verhältnisses, in welchem das menschliche Individuum zu ihm steht, durch das Individuum entspricht, ist wie die freie Geselligkeit durch keinen äußeren Zweck, sondern allein durch die Individuen, die Religion haben und in ihr leben, konstituiert. Aber so wenig wie die freie Geselligkeit bereits Wirklichkeit geworden ist, so wenig hat auch die vollkommene religiöse Gemeinschaft ihre Realisierung ge-
- 115 funden . Das religiöse Individuum wirkt wie das gebildete als einzelnes für die bessere Zukunft. Nur "hie und da" sendet die Gottheit Pdittler ( 9 ) . Daraus aber, daß jeder Zustand der religiösen Gemeinschaft vor der Verwirklichung dieses Ideals durch das Miteinander von religiös Gebildeten und Ungebildeten bestimmt ist, d . h . durch das Miteinander von solchen, die selbst eine Anschauung des Universums vollzogen haben und diese in die freie religiöse Gemeinschaft einzubringen vermögen, und solchen, die keine eigene Religion ausgebildet haben, gewinnt Schleiermacher einen Begriff von Kirche, der sie als religiöse Organisation dem staatlichen Einfluß entzieht. Entsprechend der Eigenständigkeit der Religion gegenüber Metaphysik und Moral ist die kirchliche Organisation allein durch das Ideal der freien Gemeinschaft religiöser Individuen bestimmt, dessen Verwirklichung sie dient, und jeder staatliche Einfluß hemmt den freien Fortgang der Religion. Denn darauf kommt es bei aller Herabsetzung der sichtbaren Kirche gegenüber der wahren Kirche, von der gilt, "daß alle wahrhaft religiösen Menschen . . . das lebendige Gefühl von einer solchen Vereinigung mit sich herumtragen und in ihr eigentlich gelebt haben" (192), dann doch an, daß es "eine vermittelnde Anstalt geben soll, durch welche die wahre Kirche . . . auch neuen Stoff an sich zieht und bildet" (218). Zwar sind diejenigen, die sich zu der viel kritisierten kirchlichen Organisation halten, wenn auch nicht ohne Sinn für Religion, so doch als "negativ religiös" (194) zu bezeichnen. Sie vermögen nicht das Universum, das auf sie wirkt, zu einer eigenen Anschauung zu bringen, sondern suchen "im Spiegel fremder Darstellung" die Befriedigung ihres Bedürfnisses (196). Durch den Verzicht auf eigene religiöse Tätigkeit, durch völlige Passivität (193) bleiben sie der Einseitigkeit und der Äußerlichkeit der auf sie einwirkenden Darstellung verhaftet. Sie orientieren sich an "Begriffen, Meinungen, Lehrsätzen" (198) und mißverstehen die symbolischen Handlungen als für sich bestehende Äußerlichkeit. Aber trotz dieser verkehrten Auffassung der Religion, die eben der entspricht, die die Gebildeten zum Gegenstand ihrer Verachtung gemacht haben, halten sie sich als solche, die Religion suchen, an diejenigen, die Religion haben (200). Die Gemeinschaft zwischen beiden besteht als Verhältnis zwischen Meister und Schüler ( e b d . ) . "Der eigentliche Hauptbegriff davon ist doch dieser, daß denjenigen, die in einem gewissen Grade Sinn für die Religion haben, die aber, weil sie in ihnen doch nicht zum Ausbruch und zum Bewußtsein gekommen ist, noch nicht fähig sind, der wahren Kirche einverleibt zu werden, absichtlich soviel Religion gezeigt werde, daß dadurch ihre Anlage für dieselbe notwendig entwickelt werden muß" (218f). Da die Ausbildung der individuellen Anlage zur Religion nicht durch "Kunst und fremde Tätigkeit in einem Menschen gewirkt werden kann" (138), sondern nur so, daß ein religiöses Individuum seine Religion dar-
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stellt, kann die vermittelnde Anstalt ihren Zweck nicht erreichen, wenn durch den Staat ein bestimmter Zustand der unvollkommenen Gemeinschaft zwischen religiös Gebildeten und Ungebildeten fixiert und staatlichen Zwecken unterworfen wird. Denn dadurch wird eben die Freiheit unterbunden, ohne die es nicht zur Religion der Individuen kommen kann und die sich darin niederschlägt, daß "Meister und Jünger . . . einander in vollkommener Freiheit aufsuchen und wählen dürfen" (221). Nicht darin liegt f ü r Schleiermacher der Ubelstand der gegenwärtigen Kirche, daß die allgemeine Gemeinschaftsfähigkeit der Religion durch Separation von sich mißverstehenden, weil von der individuellen Perspektive ihrer Religion absehenden religiösen Individuen und den durch sie irregeleiteten Suchenden aufgehoben wird, wogegen das Wöllnersche Religionsedikt gerichtet war. Eine solche "falsche und ausgeartete Kirche" kann in der religiös betrachteten Geschichte der Menschheit keinen Bestand haben. Das Verderbnis in der Kirche besteht gerade in der Beseitigung der Freiheit der Religion, indem sie durch eine Konstitutionsakte zu einer Korporation der bürgerlichen Welt erklärt wird (211). Sie geht ihrer Eigenständigkeit verlustig, indem sie mit der Erziehung Aufgaben des Staates erfüllt und der Staat die symbolischen Handlungen der Kirche (Kasuellen) f ü r seine eigenen Interessen ausnutzt (215). Aus der Diagnose folgt die Therapie. Damit die bestehende Kirche als Gemeinschaft von denen, die Religion haben, und denen, die Religion suchen, ihren Zweck erfüllen kann, ist es notwendig, daß nur solche zu Priestern eingesetzt werden, die "Virtuosen in der Religion" (219) sind, daß die freie Wahl von Meister und Jünger ermöglicht wird (221), daß die Trennung von Staat und Kirche vollzogen und die Kirche von fremden Aufgaben befreit wird (224). Eine solche Veränderung des gegenwärtigen Zustandes herbeizuführen, liegt nicht in der Macht des einzelnen Individuums, sie durch religiöse Organisation herbeizuführen, widerspricht dem Wesen der Religion als Wahrnehmung. Jeder tue das Seine (224). Solange das Bündnis der Kirche mit dem Staat nicht aufgelöst ist, wie immer das geschehen mag (226f), bleibt f ü r das religiöse Indiviuum nur das ruhige, gebildete Wirken im "Privaten" (224), durch die Darstellung seiner individuellen religiösen Anschauungen und Gefühle, durch sein "priesterliches Leben" in Kirche und Familie, durch das es gegen die bloße Äußerlichkeit und trotz der Verderbnis der äußeren Religionsgesellschaft f ü r die Bildung zur wahren Religion wirksam ist. Dadurch e r füllt es deren Zweck, nämlich daß die wahre Kirche als religiöse Gemeinschaft verwirklicht wird, in der dann die Aufgabe der religiösen Bildung nur noch in der "frommen Häuslichkeit" der Familie geschieht (230), weil alle Menschen gebildet und religiös sind und es eine äußere Religionsgesellschaft nicht mehr zu geben braucht. Das entscheidende Hindernis, das der Verwirklichung dieser idealen Gemeinschaft religiöser Invidieuen im Wege steht, deren Glieder allein in der Familie gebildet werden, insofern "beim ersten Erwachen der höheren
- 117 Kräfte in der heiligen Jugend unter der Pflege väterlicher Weisheit jeder der Religion teilhaftig (wird), der ihrer fähig ist" (232), sieht der Redner darin, das "Millionen von Menschen . . . unter dem Druck mechanischer und tinwürdiger Arbeiten" seufzen (230). Diese Feststellung wird erläutert: "Es gibt kein größeres Hindernis der Religion als dieses, daß wir unsere eignen Sklaven sein müssen, denn ein Sklave ist jeder, der etwas verrrichten muß, das durch tote Kräfte sollte bewirkt werden können" (231). In dieser Kritik seiner Zeit und ihrem utopischen Gegenbild faßt Schleiermacher zusammen, was ihm über die Entwicklung der Religion und Bedeutung des Wirkens der Gebildeten für diese Entwicklung vorschwebt. Es ist die Versklavung an das Endliche, wie sie als gewöhnliche Lebensansicht in den Monologen bestimmt worden ist (M 10), die Einseitigkeit des auf den Genuß des einzelnen gerichteten, sinnlichen Menschen (R 9ff), der eines Mittlers bedarf, der ihm "jene höhere Grundkraft der Menschheit begreifen" lehre (11), die Vorherrschaft der "verständigen und praktischen Menschen" (144), die auf dem bürgerlichen Standpunkt der Nützlichkeit den Sinn des Menschen für das Unendliche unterdrücken (148ff) - das alles findet seinen Ausdruck in dem "Seufzen der Millionen". Indem der Mensch nur als Endliches auf Endliches wirkend seiner Individualität als Erscheinung des Unendlichen nicht ansichtig wird, bleibt er sein eigner Sklave, der sich zu der seiner Bestimmung gemäßen Freiheit von der einzelnen, endlichen, sinnlichen Erscheinung zu der Herrschaft, die darin indiziert ist, daß er sein eigner Sklave ist, erheben kann. Das Gegenbild der glücklicheren Zeit, der fröhlicheren Welt, des leichteren Lebens, wo alle einseitige Mitteilung aufhört, weil freie Geselligkeit herrscht und eine zahlreiche und geschäftige "Versammlung der Anbeter des Ewigen" (232) besteht, ist in der schlechten Gegenwart repräsentiert durch die Minderheit der Gebildeten (155), in der sich beide Stufen der Mittler (lOf) vereinigen. Das zukunftsträchtige Streben der gebildeten Verächter (170ff), die "künstliche Bildung" (230), von der der Redner erwartet, daß sie das Zeitalter der Religion herbeiführen wird, nachdem es "auf dem einfachen Wege der Natur verfehlt worden" (209) ist 1 ·*!, bedeutet die Befreiung des Menschen von der Bindung an das bloß Endliche: "Das hoffen wir von der Vollendung der Wissenschaften und Künste, daß sie uns diese toten Kräfte werden dienstbar machen, daß sie die körperliche Welt und alles von der geistigen, was sich regieren läßt, in einem Feenpalast verwandeln werden, wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort aus zusprechen, nur eine Feder zu drücken braucht, wenn geschehen soll, was er gebeut" (231). In der Herrschaft über die äußere Natur erfüllten die Menschen ihre Bestimmung und stimmten mit dem Gang des Universums überein: "Nichts soll tote Masse sein" (103). Indem die mechanische Arbeit beseitigt, durch
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organisierende Tätigkeit die Herrschaft über die toten Kräfte e r r u n g e n und die körperliche Welt zum "Leib der Menschheit" (M16) gebildet wird, wird der Mensch zum "Freigeborenen", zum "Gott der Erde", der ein Leben "praktisch und beschaulich zugleich" f ü h r t , weil er "Ruhe und Muße ( h a t ) , in sich die Welt zu b e t r a c h t e n " (231). Entscheidend f ü r das gebildete Selbstverständnis des Redners und die religiös b e g r ü n d e t e Individualitätsanschauung ist weniger die Vorstellung der Herrschaft ü b e r die Körperwelt, die der Redner mit den Verächtern teilt, als vielmehr die Begrenzimg der Herrschaft auf den r e g i e r b a r e n Teil der geistigen Welt. Denn darin kommt die Ablehnung der pädagogischen Vorstellung von der V e r b e s s e r u n g des gegenwärtigen Zustandes zum Ausdruck, daß die Bildung des Menschen zur Religion wie zum Gebildeten nicht d u r c h eine bestimmte Tätigkeit hervorgebracht werden kann (138ff). Die gebildete Selbstbetrachtung und die religiöse Anschauung des Universums können zwar zur Darstellung gebracht werden, aber diese Darstellung vermag direkt nicht einen anderen Menschen zur Selbstb e t r a c h t u n g und zur Anschauung des Universums zu b r i n g e n . Er kann einem anderen n u r zum Mittler und Priester werden (lOff, 221ff). Insofern bleibt der wichtigste Teil der geistigen Welt, die menschlichen Individuen, der Herrschaft des Menschen entnommen, oder wie Schleiermacher in den Monologen sagen kann: "Was Welt zu nennen ich würdige, ist n u r die ewige Gemeinschaft der Geister, ihr Einfluß zueinander, ihr gegenseitiges Bilden, die hohe Harmonie der Freiheit" (M17). Nicht schon die bloße Herrschaft ü b e r die äußere Natur als Freiheit von der sinnlichen Welt durch Wissenschaft und Kunst, sondern e r s t ihre Beg r e n z u n g in den menschlichen Individuen macht es möglich, daß jedes Leben "praktisch und beschaulich zugleich" ist (231). Denn e r s t a u s dem Gedanken der Endlichkeit der menschlichen Individuen folgt, daß der "Gott der Erde" an der Versammlung der religiösen Individuen als "Anbeter des Ewigen" (232) teil h a t . Kommen im Zustand der Vollendung die Tendenzen von Wissenschaft und Kunst, die toten Kräfte dienstbar zu machen, mit der Tendenz der ä u ß e ren Religionsgesellschaft als vermittelnder Anstalt darin überein, daß sie zugleich mit dem Zustand der freien Geselligkeit von sich selbst als Individuen betrachtenden Menschen auch eine religiöse Gemeinschaft der das Universum anschauenden Individuen einschließt, so sind im unvollendeten Zustand beide Tendenzen deutlich zu unterscheiden. Denn es ist etwas a n d e r e s , ob einer die körperliche Welt bildet, damit die Herrschaft ü b e r die äußere Natur e r r u n g e n werden k a n n , oder ob er sich selbst bildet, um f ü r andere Mittler zu sein (M33f). Beides ist aber zur Herbeiführ u n g der Vollendung in gleicher Weise notwendig. Darin ist auf dem gebildeten S t a n d p u n k t die Kirche als vermittelnde Anstalt b e g r ü n d e t . Denn " f ü r die Unglücklichen, denen es daran (sc. an Ruhe und Muße) fehlt e , deren Organen die Kräfte entzogen waren, welche ihre Muskeln in
- 119 seinem (sc. mechanischem) Dienst unaufhörlich verwenden mußten, war es nötig, daß einzelne Glückliche auftraten und sie um sich her versammelten, um ihr Auge zu sein und ihnen in wenigen flüchtigen Minuten die Anschauungen eines Lebens mitzuteilen" (231f). Darin liegt die Rechtfertigung, daß der gebildete Redner zugleich Priester der äußeren Religionsgesellschaft ist und trotz aller Kritik an dem Zustand dieser vermittelnden Anstalt doch in ihr als religiöses und ge1 qo bildetes Individuum wirken k a n n 1 0 ' . Wer über der hochgestimmten Schilderung der wahren Kirche, deren Idealität als anzustrebender Zustand der Zukunft durch den dogmatischen Terminus der "triumphierenden Kirche" richtig bezeichnet wird, wer über der Abstraktheit des daraus abgeleiteten Begriffs der äußeren Religionsgesellschaft (226) nicht sieht, welche Bedeutung dieser vermittelnden Anstalt für das religiös begründete Selbstverständnis des Redners als Gebildeten und für die auf der Individualitätsanschauung begründeten Religionstheorie zukommt, der wird das Verhältnis zwischen dem Wesen der Religion und der Bestimmung des Christentums als positiver Religion kaum richtig bestimmen. Denn er sieht nur die weitere Entwicklung des Religionsbegriffs als Wahrnehmung des Universums zum Begriff der positiven Religion und zur Bestimmung der christlichen Zentralanschauungl33. Diese weitere Bestimmung erfolgt aber von dem Ausgangspunkt beim Individuum aus. Die unter der Vorstellung des Mittlers angezeigte Frage der Vermittlung kommt dabei nicht in den Blick. Es geht nur um die Möglichkeit der inhaltlichen Zusammengehörigkeit von religiösen Anschauungen verschiedener Individuen zu einem Religionsindividuum (261ff). Ist aber die Bestimmung des Christentums als eine besondere positive Religion nicht einfach als Antwort auf die Frage zu sehen, wie denn das religiöse Individuum dem Christentum angehören könne, - wobei dann die Schwierigkeit kaum zu lösen ist, daß Schleiermacher das Christentum eben nicht bloß als positive Religion unter anderen, sondern als "höhere Potenz" der Religion (293) bestimmt, - sondern als Lösung des Problems, das sich für den gebildeten Redner gegenüber den gebildeten Verächtern auf dem Boden der religiös begründeten Individualitätsanschauung stellt, was ihm denn zum Mittler für sein religiöses und gebildetes Selbstverständnis geworden ist, so zeigen sich die letzten beiden Reden als Rekonstruktion dieser geschichtlichen Vermittlung. Denn beides ist in gleicher Weise notwendig, daß eine vermittelnde Anstalt besteht, durch die sich das religiöse Leben von Individuum zu Individuum gleichsam fortpflanzen kann, die auf der Ebene der Allgemeinheit der Religion überhaupt entwickelt wird, weil alle Religion auf dem gebildeten Standpunkt an den individuellen Vollzug gebunden ist, und daß eine solche religiöse Anschauung in einer bestimmten Anstalt zur Darstellung gebracht werden kann, von der aus die religiöse begründete Individualitätsanschauung und die entsprechende Religionstheorie möglich wird. Aus der Rekonstruktion der Möglichkeit, im Kontext der Religion den gebildeten Standpunkt zu gewinnen, erklärt
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sich die Allgemeinheit der christlichen Zentralanschauung, in der im Grunde das, was als Wesen der Religion bestimmt worden ist, zum Gegenstand einer religiösen Anschauung und zur Zentralanschauung gemacht worden ist. Daß die Bestimmung des Christentums sich im Rahmen der Religionstheorie bewegt, so daß der Eindruck entstehen kann, das Christentum würde als eine positive Religion aus dem Begriff der Religion abgeleitet, ergibt sich die Eigenart, wie Schleiermacher die geschichtliche Vermittlung thematisiert. Um der Unableitbarkeit des freien religiösen Anschauens willen kann Schleiermacher die Vermittlung als solche nicht thematisieren, sondern nur die Bedingungen angeben, unter denen Vermittlung als Anstoß und Anregung geschehen kann. Dafür muß aber eine Identität des Vollzuges zwischen den Gliedern, zwischen denen es zu einer gelungenen Vermittlung gekommen ist, vorausgesetzt werden. So wenig dabei die individuelle Eigentümlichkeit von Bedeutung ist, um deren Wahrnehmung es bei der Individualitätsanschauung doch geht, so wenig kann auch ein historischer Abstand, eine Veränderung dessen, was vermittelt wird, in dieser Theorie in Anschlag gebracht w e r d e n 1 3 4 Obwohl Schleiermacher dadurch, daß er die Individualitätsanschauung an das gebildete Selbstverständnis bindet, die Dimension der historischen Vermittlung in dem Problem der Erhebung auf den gebildeten Standpunkt thematisiert, kann er diese Einsicht nicht innerhalb der Individualitätsanschauung selbst zur Geltung bringen. Hierin ist letzten Endes auch der Grund zu sehen, daß Schleiermacher zwar gegen Baurs Kritik die Historizität des Erlösers behaupten k a n n ^ ^ erfolgt durch die ausdrückliche Bezugnahme auf diesen Hintergrund, indem der Redner annimmt, seine Ausführungen über das Wesen der Religion könnten im Sinne der natürlichen Religion mißverstanden werden (243f, 272ff), d . h . der entwickelte Begriff der Religion und die Beschreibung des religiösen Anschauens könnte mit dem Vollzug des religiösen Anschauens verwechselt werden. Um aber einem solchen Mißverständnis vorzubeugen, muß die Unterscheidung von natürlicher und geoffenbarter Religion in den Reden selbst so festgelegt werden, daß dies Mißverständnis nicht eintreten kann. Das geschieht dadurch, daß auf der Differenz zwischen dem Wesen der Religion und ihren Erscheinungen beharrt und dies wiederum durch die Individualitätsanschauung festgelegt wird. Ihrem Wesen nach ist die Religion als Anschauung und Gefühl des Universums durch Individuen unendlich und kann eben nicht durch eine einzelne Anschauung oder durch eine begrenzte Anzahl von Anschauungen in ihrer Unendlichkeit erfaßt werden, sondern erst durch die Totalität der Anschauungen. Jede religiöse Erscheinung kann nichts anderes als eine endliche Darstellung der unendlichen Religion sein. Deshalb können die Ausführungen über das Wesen der Religion nicht mit der natürlichen Religion als einer Erscheinung von Religion identifiziert werden. Denn jede religiöse Erscheinung ist durch ein endliches religiöses Individuum hervorgebracht worden. Ist aber die natürliche Religion nur als eine Erscheinung von Religion zu betrachten, dann ist sie als ein defizienter Modus dessen zu kritisieren, was Schleiermacher als positive Religion bestimmt. Denn trifft auf die Religion zu, was von jeder unendlichen Kraft gilt, "die sich erst in ihren Darstellungen teilt und sondert", daß sie sich in "eigentümlichen und verschiedenen Gestalten" offenbart (241), dann muß jede Erscheinung der Religion durch ein individuelles Prinzip konstituiert sein. Aber gerade davon wird bei der natürlichen Religion abgesehen. Indem das "Wesen der natürlichen Religion . . . in der Negation alles Positiven und Charakteristischen" besteht (277), fehlt ihr eben das, was
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der Erscheinung der Religion wesentlich ist, ihre endliche Bestimmtheit als Erscheinung. Der im Wesen der Religion erschlossene Zusammenhang von Wesen und Erscheinung, daß das Unendliche im Endlichen zur Darstellung kommt, macht f ü r die religiöse Erscheinung gerade das erforderlich, was den Gebildeten auszeichnet, daß er sich als Individuum weiß: Die religiöse Erscheinung muß sich als Erscheinung der Religion zeigen, d . h . sie kann nur als positive Religion auftreten. Das aber bedeutet, daß die einzelnen Erscheinungen, in denen Religion begegnet, nicht nur als Darstellung von Religion überhaupt, sondern daß sie zugleich als eine individuelle Erscheinung der Religion, als eine durch ein religiöses Individuum hervorgebrachte Darstellung seiner religiösen Anschauung zu betrachten sind. Wird die positive Religion als Ausdruck eines religiösen Bewußtseins begriffen, so ist damit postuliert, daß ein individuelles Prinzip die Äußerungen des religiösen Individuums bestimmt (241). Dieses individuelle Prinzip muß dem Viesen der Religion adäquat sein, wenn durch dies Prinzip die religiöse Erscheinung der Religion erkennbar sein soll. Besteht jede Anschauung des Universums als eine Wahrnehmung durch ein Individuum für sich als einzelne (58), so ist die Religion als vollständige Anschauung des Universums erst mit der Totalität aller Anschauungen vollendet. Jede dieser einzelnen Anschauungen ist aber ein Teil der Gesamtanschauung und als solcher auf die anderen bezogen. Daß eine einzelne Anschauung des Universums durch die Beziehung zu anderen Anschauungen bestimmt ist, macht sichtbar, was sie ihrem Wesen nach ist: eine bestimmte Erscheinung von Religion. Das 'principium individui' kann nicht darin bestehen, daß eine Anzahl von Anschauungen willkürlich zusammengefaßt wird. Ihr fehlt der innere Zusammenhang durch ein einheitstiftendes Prinzip. Die willkürliche Abgrenzung haftet an der äußeren Erscheinung und hat die Tendenz zu Systemwesen und Sektieren (253), die zu der dem Wesen der wahren Kirche widerstreitenden Absonderung der "falschen und entarteten Kirche" (207) f ü h r t . Ebenso äußerlich ist es, wenn das Individualitätsprinzip mit den Kategorien identifiziert, durch die die religiösen Anschauungen klassifiziert werden. Denn die Anschauungsarten des Universums als Chaos, Vielheit und System (255, 126ff) und die Vorstellungsarten des Pantheismus und des Personalismus (256, 128f) sind von außen an die religiösen Anschauungen herangetragen. Das einzige der religiösen Erscheinung adäquate 'principium individuationis' kann nur in einer einzelnen religiösen Anschauung als Wahrnehmung des Unendlichen im Endlichen durch ein endliches Individuum bestehen, das zum einheitstiftenden Prinzip f ü r alle einzelnen Anschauungen gemacht wird: "Ein Individuum der Religion . . . kann nicht anders zustande gebracht werden als dadurch, daß irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür . . . zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht und alles darin auf sie bezogen wird" (259f).
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Indem die verschiedenen Anschauungen des Universums auf eine einzelne bezogen werden, entsteht das, was Schleiermacher als positive Religion begreift. Die einzelne Anschauung des Universums, auf die die anderen bezogen werden, fungiert als einheitstiftendes Prinzip f ü r ein System von Anschauungen, das zugleich durch die beschränkte Individualität der Zentralanschauung bestimmt ist. Es stellt so eine individuelle Erscheinung der Religion in ihrer Gesamtheit dar. Welche der religiösen Anschauungen, die jeder Mensch haben kann, f ü r ihn zur Zentralanschauung wird, ist nicht durch das angeschaute Universum bestimmt. Denn über seine Entwicklung hinaus kann über das Universum nichts ausgesagt werden, was nicht durch die Phantasie des anschauenden Individuums hervorgebracht worden ist. Die Zentralanschauung wird aus freier Willkür des Individuums dazu gemacht. Da jede Anschauung des Universums zur Zentralanschauung gemacht werden kann, ist der individuellen Vielfalt Rechnung getragen. Die Religion kann nur aus der Totalität der positiven Religionen, d . h . aus der Gesamtheit der individuellen Systeme von religiösen Anschauungen erkannt werden. Erst die positive Religion ist die dem Universum als Gegenstand der religiösen Anschauung adäquate Darstellung. Die einzelne religiöse Anschauung bleibt als Anschauung des Universums im Endlichen hinter diesem angeschauten Gegenstand zurück, wenn sie sich nicht an sich selbst als endliche Darstellung des Unendlichen zeigt. Das aber ist nicht schon bei der einzelnen religiösen Anschauung, sondern erst bei der positiven Religion der Fall. Mit diesem Begriff der positiven Religion f ü r jede "solche Gestaltung der Religion, wo in Beziehung auf eine Zentralanschauung alles gesehen und gefühlt wird, wo und wie sie sich auch bilde und welches immer diese vorgezogene Anschauung sei" (260), hat Schleiermacher diejenige Form gefunden, in der sich die Bildung zur Religion vollziehen kann, ohne daß der freie Vollzug des religiösen Anschauens durch das einzelne Individuum beeinträchtigt wird. Denn ist mit der auf eine Zentralanschauung gegründeten positiven Religion zugleich das Bewußtsein ihrer partikularen Individualität verbunden, dann kann keinerlei Zwang ausgeübt werden, dieselbe Anschauung ins Zentrum der positiven Religion zu rücken. Für den, der eine positive Religion ausgebildet hat und sie darstellt, spielt es keine Rolle, wie derjenige, der diese religiöse Äußerung wahrnimmt, sie versteht, ob er sie auf dieselbe Zentralanschauung bezieht als eine von seinem eigenen Bereich religiöser Erfahrung verschiedene Gestalt derselben positiven Religion oder ob er sie auf eine andere Zentralanschauung bezieht, der sie als eine andere positive Erscheinung der Religion zugeordnet wird (262). In beiden Fällen erreicht die Vermittlung ihr Ziel, insofern der, der die religiöse Äußerung wahrnimmt, nicht n u r einzelne religiöse Anschauungen und Gefühle hat, sondern eine eigene positive Religion ausbildet, d . h . ein dem gebildeten Selbstverständnis als Individuum analoges religiöses Leben f ü h r t . Entscheidend f ü r die Vermittelbarkeit der positiven Religion ist die Voraussetzung, daß verschiedene Individuen dieselbe Anschauung des Uni-
- 124 versums nicht nur haben, sondern sie auch zur Zentralanschauung erheben können. Diese Voraussetzung ist dadurch erfüllt, daß vom Individuum die Erscheinung des Unendlichen im Endlichen angeschaut und diese Anschauung von ihm zur Zentralanschauung gemacht wird. Die Möglichkeit, auf dem Boden einer gemeinsamen Zentralanschauung innerhalb der positiven Religion individuelle Verschiedenheit zur Geltung zu bringen, ist mit dem Akt der Willkür eröffnet, durch den eine bestimmte Anschauung ins Zentrum der individuellen Religion gesetzt wird. Denn die Menge der Anschauungen, die durch das religiöse Individuum auf seine Zentralanschauung bezogen werden können, unterliegt ebenso den Schranken des einzelnen Individuums (263), wie auch dies Beziehen selbst in den endlichen individuellen Lebensvollzug eingebettet ist. Die Fundamentalanschauung füllt einen bestimmten Augenblick im individuellen Leben aus, mit dem dann analog zum be wußten Leben des Individuums das religiöse Leben beginnt, so daß die Ausbildung der positiven Religion jeweils durch das individuelle Leben und seinen Bildungsprozeß geprägt ist (268). Garant für diese individuelle Differenzierung innerhalb der positiven Religion ist der Vollzug einer bestimmten Anschauung und ihre Einsetzung zur Zentralanschauung, der als Moment der jeweiligen Biographie erinnert wird: "Jeden, der so den Geburtstag seines geistigen Lebens angeben und eine Wundergeschichte erzählen kann vom Ursprung seiner Religion, die als eine unmittelbare Einwirkung der Gottheit und als eine Regung ihres Geistes erscheint, müßt Ihr auch dafür ansehen, daß er etwas Eigenes sein und daß etwas Besonderes mit ihm gesagt sein soll: denn so etwas geschieht nicht um eine leere Dublette hervorzubringen im Reich der Religion" (268)137. Daß das einzelne religiöse Individuum nicht mehr als Suchender auf eine bestehende Gestalt der positiven Religion fixiert ist, sondern "eine eigene religiöse Person mit einem Charakter und festen und bestimmten Zügen" ist, als die es sich rühmen kann, sozusagen "ein aktives Bürgerrecht in der religiösen Welt" ausübend zum Dasein und Werden des Ganzen beitragend (261), kann aber aufgrund der inhaltlichen Darstellung der religiösen Anschauung allein nicht entschieden werden. Vielmehr ist die Originalität der individuellen Verschiedenheit gebunden an das Zeugnis der 'Bekehrung', d.h. an das Zeugnis vom Beginn und der kontinuierlichen Fortführung eines selbständigen religiösen Lebens. Denn erst wenn entsprechend zum gebildeten Selbstverständnis auch die individuelle Besonderheit dessen, der Religion hat, als solche zum Ausdruck gebracht wird, erst wenn die individuelle Anschauung des Universums als Anschauung des Individuums, die individuelle Ausbildung der positiven Religion als individuelle Gestalt der positiven Religion kenntlich gemacht wird, ist die freie Geselligkeit unter religiösen Individuen und die Erfüllung der Mittlerfunktion gegenüber den Suchenden möglich.
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So bleibt wegen der im Anschauungsbegriff enthaltenen Differenz zwischen dem, was angeschaut wird, und dem, der es anschaut, der Unterschied zwischen dem Religionsindividuum und dem religiösen Individuum bestehen. Der Begriff der positiven Religion bringt nur die Individualität als Moment der Anschauung des Universums zur Geltung, während die Individualität dessen, der diese Religion hat, als biographische Erinnerung in die religiöse Gemeinschaft eingebracht wird. Dieser Unterschied bestimmt die vom Redner vorgetragene Auffassung des Christentums, insofern die christliche Zentralanschauung von ihrem Stifter unterschieden ist, obwohl dieser sich aufgrund der Zentralanschauung als Mittler versteht (303).
c) Das Christentum als die (!) positive Religion Mit dem Begriff der durch eine bestimmte Zentralanschauung organisierten Religion hat Schleiermacher diejenige Gestalt der Religion bestimmt, die nicht nur der wahren Kirche als der Gemeinschaft der religiösen Individuen adäquat ist, sondern sie auch als religiöse Gemeinschaft erst möglich macht. Denn nur wenn die Religion, die in Gestalt von religiösen Anschauungen und Gefühlen Gegenstand der gehobenen Kommunikation in der religiösen Gemeinschaft ist ( 180f), als eine Vielheit voneinander in bestimmter Weise verschiedener Religionen (238) aufgefaßt werden kann, ist die religiöse Gemeinschaft als wahre Kirche überhaupt erst von derjenigen Gemeinschaft unterschieden, in der die gebildeten Individuen einen freien geselligen Umgang pflegen. Im Blick darauf, daß der Redner, indem er die Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt auf sich selbst anwendet, diejenige Religion rekonstruieren muß, die f ü r sein r e ligiös begründetes gebildetes Selbstverständnis als Individuum zum Mittler und Anstoß geworden ist, ist dies Verständnis der Vielheit von positiven Religionen unumgänglich. Denn nur eine Religion, die eine Vielheit von Religionen neben sich zuläßt, kann zum Anstoß f ü r ein selbständiges religiöses und zugleich gebildetes Leben werden. Das bedeutet aber, daß Schleiermacher auf die Religion als positive Religion die Individualitätsanschauung anwendet, weil sie Einheit und Vielheit vereinigt. Damit aber die Religionen toleriert werden können als verschiedene Erscheinungen der unendlichen und unermeßlichen Religion (241), muß die positive Religion selbst als Religionsindividuum bestimmt sein, das auf die Menge der von ihr und untereinander verschiedenen Religionsindividuen bezogen ist. Daher ist mit dem Begriff der positiven Religion der gebildete Standpunkt verbunden, der als über das Gemeine zur Individualitätsanschauung erhoben, neben der Vielheit der verschiedenen Religionsindividuen auch eine Geschichte der Religion einschließt (242). Man hat dem Duktus der in den Reden vorliegenden Religionstheorie folgend, wie es sich f ü r die spätere an Hegels Religionsphilosophie anschließende Religionswissenschaft nahelegte, ohne daß sie der rekonstrukti-
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ven Bedeutung f ü r den gebildeten Standpunkt des Redners ansichtig wurde, die Wendung Schleiermachers zur positiven Religion im Gegensatz zum Verständnis der wahren Kirche und der vermittelnden Anstalt positiv gewürdigt als Wendung vom a b s t r a k t e n Gedanken zur geschichtlichen Wirklichkeit 138, Aber diese Interpretation stößt schon auf die Schwierigkeit, daß der aufgestellte Begriff der positiven Religion eben nicht an den geschichtlichen Religionen konkretisiert worden ist 139, sondern n u r am Judentum und am Christentum, wobei der Redner bemerkt: "Zwar sollte ich n u r von einer r e d e n : denn der Judaismus ist schon lange eine tote Religion" (286). Das könnte noch als ein Akt der Selbstbes c h r ä n k u n g v e r s t a n d e n werden, wenn nicht der Redner daran zweifeln würde, ob die gebildeten Verächter ü b e r h a u p t die verschiedenen Religionsindividuen klar erkennen können. "Ich weiß es nicht: aber ich f ü r c h t e , daß auch Religion n u r d u r c h sich selbst verstanden werden kann und daß Euch ihre besondere Bauart und ihr charakteristischer Unterschied nicht eher klar werden wird, bis ihr selbst irgend einer angehört" (286). Denn dem Begriff der positiven Religion zufolge kommt alles n u r darauf an, die Grundanschauung zu finden (281), durch die sie zu einer bestimmten Einheit zusammengeschlossen ist. Diese liegt eben nicht zu T a ge, sondern ist verstellt, weil zwischen dem Wesen einer einzelnen Religion und der Eigentümlichkeit der "Schule" d e r e r , die diese Religion haben, nicht unterschieden wird (282), weil das "Faktum" des Moments, in welchem eine bestimmte religiöse Anschauung "zuerst in der Welt als Fundament und Mittelpunkt einer eignen Religion aufgestellt worden ist . . . mit der Grundanschauung der Religion selbst" verwechselt wird (283), weil "bei den Heroen der Religion oder in den heiligen Urkunden" die Religion nicht rein zum Ausdruck gekommen ist (284), weil schließlich jede Religion in Gefahr s t e h t , daß ihre Einheit als Individuum a u f gelöst wird zugunsten eines der darin vereinigten Momente, der endlichen Bestimmtheit durch die abschließenden Lehrsätze der Systematiker und der unbestimmten Unendlichkeit d u r c h die "seichten Indifferentisten" (285). Zwar schließt der Redner ebensowenig die Möglichkeit, ü b e r den Kunstsinn zur Religion zu kommen (166f), aus, daß den gebildeten Verächtern bei den "rohen und ungebildeten Religionen" und bei der "schönen Mythologie der Griechen und Römer" eine Rekonstruktion gelingen könne (286). Aber bei der systematischen Religion, d . h . bei einer solchen Religion, der als Zentralanschauung eine Anschauung des "Universums in seiner höchsten Einheit" (286) als "Einheit in der Vielheit, als System", das "so e r s t seinen Namen verdient" (128) zugrundeliegt, muß der Redner ihnen den Punkt aufzeigen, u n t e r der sie zu betrachten ist (286). Denn er gehört zu denen, "die in ihr leben als in ihrem Element und sich immer weit e r in ihr bewegen, ohne den Wahn zu n ä h r e n , daß sie sie ganz umfassen können" (285). Die systematische Religion ist außerdem diejenige
- 127 Religion, in der der Inhalt der organisierenden Anschauung der Form der positiven Religion entspricht. Denn der Anschauung des Universums als Einheit in der Vielheit entspricht die positive Religion, indem sie diese Anschauung zum einheitstiftenden Prinzip einer Vielheit macht und zugleich selbst auf eine Vielheit von anderen Religionsindividuen bezogen ist. Daher kann vermutet werden, daß Schleiermacher ebenso wie er nicht wie die Verächter, die durch Bildung zur Religion kommen sollen, sondern durch Religion zur Bildung gekommen sind, auch nicht durch das gebildete Selbstverständnis, sondern durch die systematische Religion des Christentums zur Auffassung der Religionen als Religionsindividuen gekommen ist. Für diese Vermutung spricht einmal die christologische Formel in der Absichtserklärung am Anfang der fünften Rede: "Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen ; ich will Euch die Religion zeigen, wie sie sich ihrer Unendlichkeit entäußert hat und in oft dürftiger Gestalt unter den Menschen erschienen ist; in den Religionen sollt Ihr die Religion entdekken, in dem was irdisch und verunreinigt vor Euch steht, die einzelnen Züge derselben himmlischen Schönheit aufsuchen, deren Gestalt ich nachzubilden versucht habe" (237f). Ginge es Schleiermacher nur um die geschichtlichen Gestalten der Religion, so wäre die Anlehnung an Joh. 1, 14 und der Ausdruck der 'Entäußerung' (Phil. 2,7) eine unzutreffende Interpretation eines Erscheinungsverhältnisses. Sinnvoll ist diese christologische Anspielung aber dann, wenn nicht vorausgesetzt wäre, daß die unendliche Religion sich in unendlich vielen positiven Religionen darstellt, sondern wenn eine geschichtlich bestimmte Religion sich als positive Religion zeigt, von der her dann die anderen, oft dürftigen Gestalten der Religion als Religionsindividuen, d . h . positive Religionen, aufgefaßt werden, auf die sie bezogen sind. Diese Interpretation findet weiter einen Anhalt an einer Formulierung, durch die das Verhältnis zwischen allgemeinem Begriff und der Wirklichkeit der Religion erläutert wird: "Wollt Ihr von der Religion nicht nur im allgemeinen einen Begriff haben . . . wollt Ihr sie auch in ihrer Wirklichkeit und in ihren Erscheinungen verstehen, wollt Ihr diese selbst mit Religion anschauen als ein ins Unendliche fortgehendes Werk des Weltgeistes: so müßt Ihr . . . Euren Widerwillen gegen ihre Mehrheit ablegen" (242). Die Betrachtung der Geschichte der Religion ist hier offenkundig in Ubereinstimmung mit der zuvor aufgestellten Theorie der Religion - "Geschichte . . . ist der höchste Gegenstand der Religion" (100, vgl. 173) selbst religiös. Das ist aber nur möglich, wenn für die hier vorliegende Individualitätsanschauung der Religion als Einheit und Vielheit eine Religion vorausgesetzt ist, die sich selbst unter diese Anschauung stellt, d . h . eine Religion, die als positive Religion sich zeigt.
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Schließlich bestätigt die Bestimmung des Christentums ausdrücklich diese Vermutung: "Dieses, daß das Christentum in seiner eigentlichen Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, . . . macht das Unterscheidendste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form" (293f). Das Christentum als die "der erwachsenen Menschheit" würdige systematische Religion (291) ist damit als diejenige positive Religion bestimmt, von der alle anderen als Religionsindividuen aufgefaßt werden, durch die sich die unendliche Religion realisiert. Bevor aber diese Funktion des Christentums weiter betrachtet werden kann, ist seine eigentümliche Gestalt als systematische Religion im Verhältnis zum "Judaismus" zu beleuchten. Schleiermacher hat nicht das Christentum als die systematische Religion schlechthin bestimmt, sondern ihm die jüdische Religion vorangestellt. Aber er hat beide nicht als Religionsindividuen einander nebengeordnet, sondern sie durch die entwicklungsgeschichtlichen Begriffe der Kindheit und des Erwachsenen, die schon Lessing verwendet hat, in eine geschichtliche Perspektive gebracht. Allerdings kann diese Perspektive nicht durch eine bloß äußerliche Betrachtung gewonnen werden. Die jüdische Religion ist weder als tote Religion, noch als bloßer Vorläufer des Christentums (286) aufzufassen, sondern die geschichtliche Zuordnung trifft nur dann, wenn sie sich auf die Zentralanschauungen beider bezieht. Die ursprüngliche Anschauung des Christentums ist "der erwachsenen Menschheit würdiger" (291), während die jüdische Religion "einen so schönen kindlichen Charakter" hat (287). Die Zentralanschauung der jüdischen Religion besteht in der Idee "von einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung, von einer eigenen Reaktion des Unendlichen gegen jedes einzelne Endliche, das aus der Willkür hervorgeht, durch ein anderes Endliches, das nicht aus der Willkür hervorgehend angesehen wird" (287f). Der Tat-Folge-Zusammenhang der Vergeltung konstituiert die Geschichte des Judentums als fortdauernden Wechsel zwischen Reiz und Reaktion, die vorgestellt wird als Gespräch zwischen Gott und den Menschen, das als Tradition bewahrt und vergegenwärtigt wird und das aufgrund der erinnerten Geschichte Weissagungen erlaubt. Der kindliche Charakter zeigt sich gerade an der Möglichkeit von Weissagungen. Denn nur solange eine unmittelbare Vergeltung vorhersehbar, d . h . der Zusammenhang des Handelns überschaubar ist, hat diese Religion Bestand. Der Glaube an den Messias läßt sich unter den Bedingungen einer zunehmenden Verflechtung des Gottesvolkes mit den Völkern als ein Versuch begreifen, mittels der Hoffnung auf eine Restauration der ursprünglichen Verhältnisse die Religion der unmittelbaren Vergeltung am Leben zu erhalten. Mit dem Abschluß des Kanons fand die Geschichte der jüdischen Religion, das "Gespräch des Jehova mit seinem Volk" (290), ihr Ende. Ob und wieweit Schleiermachers Rekonstruktion dem Judentum Gerechtigkeit widerfahren läßt, kann hier auf sich beruhen. Aber das,
- 129 was er als Anschauung des Universums ins Zentrum der jüdischen Religion rückt, die Idee der unmittelbaren Vergeltung, ist im Blick auf seine eigene Theorie der Religion zu betrachten. Denn nicht eine bestimmte Anschauung des Universums im Endlichen ist zur Zentralanschauung gemacht worden, sondern das Wesen der Religion, das Verhältnis des Unendlichen und Endlichen hat eine nähere Bestimmung erfahren. Das Wesen der jüdischen Religion besteht in der Wechselwirkung zwischen dem aus Willkür hervorgegangenen Endlichen (Tat) und dem Endlichen, das weil nicht aus Willkür - als eine Wirkung des Unendlichen (Folge) angesehen wird. Diese Gestalt der Religion repräsentiert das Wesen der Religion nur unvollkommen. Denn die Wirkung des Unendlichen bezieht sich auf die zuvor erfolgte Tat, die auf der Willkür des Menschen beruht, nicht aber auf das Tun, so daß dem Wesen der Religion nicht in seiner auch für das Tun des individuellen Menschen konstitutiven Bedeutung Rechnung getragen ist. Der die Zentralanschauung der Vergeltung bestimmende innere Gegensatz, daß menschliches Handeln und göttliches Wirken einander entgegengesetzt sind, ist in der Zentralanschauung des Christentums aufgehoben. Das Christentum erweist sich nicht nur gegenüber der Beschränktheit der jüdischen Religion auf ein Volk als überschaubarer Horizont der Weissagungen, sondern auch gegenüber der Beschränktheit der zentralen Anschauung auf die Ethik als universal, und mit der Aufhebung der inneren und äußeren Schranken ist die Möglichkeit gegeben, daß das Christentum sich über das ganze Universum verbreiten kann (291). Diese Universalität hat ihren Grund in der ursprünglichen Anschauung des Christentums. Sie enthält den Zusammenhang von "Verderben und Erlösung, Feindschaft und Vermittlung", d . h . den Zusammenhang des "allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen und der Art, wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt", daß nämlich Punkte der Vermittlung, die zugleich endlich und unendlich sind, auftreten (291). Die Universalität des Christentums beruht also darauf, daß nicht eine bestimmte, d . h . durch ein bestimmtes Endliches vermittelte Anschauung des Universums willkürlich zur Zentralanschauung gemacht worden ist, sondern daß die Vermittlung des Unendlichen durch Endliches überhaupt zum Gegenstand der zentralen Anschauung erhoben wird. Schleiermachers Bestimmung dessen, was "die Gestalt alles religiösen Stoffes im Christentum und seine ganze Form bestimmt" (291), liegt auf der Ebene der Allgemeinheit, auf der die Religion ihrem Wesen nach und als positive Religion bestimmt worden ist. Das im Wesen der Religion erschlossene Verhältnis des Endlichen und Unendlichen ist im Christentum Gegenstand der zentralen Anschauung. Was als Wesen der Religion nach der Seite des religiösen Subjekts als Anschauung und Gefühl des Universums erfaßt ist, ist in der ursprünglichen Anschauung des Christentums nach der objektiven Seite dieses Geschehens explizit gemacht. Die im Wesen der Religion erfaßte Erfahrung des Unendlichen wird in der christlichen Zentralanschau-
- 130 ung expliziert nach der Seite des zur Erfahrung kommenden Unendlichen. Die religiöse Erfahrung wird selbst zum Gegenstand der Anschauung gemacht: nicht ein von der Anschauung abgelöster Gegenstand, sondern die Anschauung selbst wird von der Seite dessen aus, was angeschaut wird, in der christlichen Zentralanschauung rekonstruiert. Anschauung und Gefühl des Universums im Endlichen beruhen darauf, daß das Universum sich im Endlichen für ein Endliches darstellt. Daß nicht immer und überall das Universum im Endlichen angeschaut wird, ist Symptom dessen, was Schleiermacher als "Entgegenstreben alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen" bezeichnet. Denn daß die religiöse Anschauung auf einer Einwirkung des Universums im Endlichen beruht, hebt sie von der gewöhnlichen Anschauung des Endlichen ab, die es als isoliertes Endliches und nicht als Erscheinung des Unendlichen wahrnimmt. Indem die gewöhnliche Anschauung des Verhältnisses des angeschauten Endlichen zum Unendlichen nicht gewahr wird, ist sie selbst ihrer eigenen Endlichkeit nicht bewußt und hat Anteil am Entgegen streben des Endlichen gegen die Einheit des Ganzen. Aber die Beschränktheit der endlichen Anschauung wird erst erkennbar aufgrund der religiösen Anschauung, aufgrund der Einwirkung des Unendlichen durch das Endliche auf den endlichen Anschauenden. Denn erst wenn das Endliche nicht in seiner Isoliertheit, sondern in seiner Wahrheit als Er schein ung des Unendlichen offenbar ist, kann die Fixiertheit auf das isolierte Endliche erkannt werden. Deshalb gehören beide Seiten zusammen: die Anschauung des Entgegenstrebens des Endlichen gegen das Unendliche, d . h . das in seiner Isoliertheit erkannte Endliche, und die Anschauung der Aufhebung dieser Isoliertheit durch die Darstellung des Unendlichen im Endlichen. Aber beide Seiten bleiben zugleich unterschiedene Momente der einen christlichen Zen trai an schauung. Die Einheit von Differenz und Vermittlung wird nur als Einheit der Anschauung, nicht als Einheit des angeschauten Gegenstandes expliziert. Der kindliche Charakter der jüdischen Religion ergibt sich vor allem daraus, daß das Handeln des Universums auf das nicht aus Willkür hervorgehende Endliche als Reaktion der Vergeltung beschränkt ist. Demgegenüber kann der Redner behaupten, daß das Christentum "tiefer eindringt in den Geist der systematischen Religion" (291), wenn er zeigen kann, daß seine Zentralanschauung alles Endliche als entgegenstrebend gegen das Unendliche umfaßt. Dem Satz von den drei Sinnesrichtungen folgend (165), wird zunächst die äußere Welt und die moralische Welt der christlichen Zentralanschauung unterworfen. Aber während in der zweiten Rede der Bereich der dritten Sinnesrichtung offenblieb (104) und in der dritten Rede die Möglichkeit reflektiert (166f) wurde, vom Kunstsinn zur Religion überzugehen, so hat in der fünften Rede die r e ligiöse Welt die vermittelnde Position inne. In der physischen Welt zeigt sich die Vergänglichkeit des Endlichen und seine Unvollkommenheit als Folge des selbstsüchtigen Strebens der indi-
- 131 viduellen Natur, das sich aus dem Zusammenhang mit dem Ganzen losgerissen hat, was nicht nur die belebte, sondern im Blick auf die chemischen Kräfte (86) auch für die unbelebte Natur gilt. Erlösung bedeutet in diesem Bereich die Wiederherstellung dieses Zusammenhangs durch das "große, immer fortgehende Erlösungswerk der ewigen Liebe" (104), für das der Satz gilt "Nichts soll tote Masse sein" (103). In der moralischen Welt ist diese Wiederherstellung der Natur solange nicht möglich, wie die "Feindschaft gegen das Unendliche" besteht, die sich in der Unfähigkeit zeigt, "etwas hervorzubringen, worin der Geist des Universums wirklich lebte" (292). Die Erlösung in diesem Bereich geht aus von solchen "Gesandten der Gottheit", die entsprechend zur ersten Stufe der Mittler mit göttlichem Geist begabt sind, "um göttliche Kräfte auszugießen unter den Menschen" (292f), und durch "ihr bloßes Dasein" den Verderbenszusammenhang der nur endlichen menschlichen Natur unterbrechen, indem sie sich als "Mittler zwischen dem Endlichen und Unendlichen" zeigen. Indem aber die Beschränkung auf das isolierte Endliche durch die Anschauung des Unendlichen im Endlichen an diesen Mittlern überwunden wird, ergibt sich auch für die religiöse Welt die Gefahr der Fixierung auf das Endliche. Wird nämlich unter dem Eindruck der Anschauung des Universums von der Endlichkeit seiner Erscheinung abgesehen, so ist die religiöse Anschauung durch das "irreligiöse Prinzip" bestimmt (293); zwischen dem Endlichen und Unendlichen wird nicht unterschieden, das Unendliche wird verendlicht und die religiöse Anschauung des Unendlichen im Endlichen in ihr Gegenteil verkehrt, d . h . zu einer Anschauung des Endlichen gemacht. Denn nicht am Universum in seinen Darstellungen, sondern an einer einzelnen Darstellung des Universums, d . h . am Endlichen und Zufälligen haftet die Anschauung. Die Erlösung im Bereich der religiösen Welt bedeutet, daß die Endlichkeit der einzelnen religiösen Anschauung erkannt wird, daß die religiöse Anschauung auf die Religion selbst angewendet wird, daß die einzelne religiöse Anschauung als endliche Erscheinung der unendlichen Religion erfaßt wird, die erst mit allen anderen religiösen Erscheinungen die Religion in ihrer Totalität darstellt. Die Erlösung der religiösen Welt geschieht durch solche religiösen Individuen, deren Religion zugleich mit der Anschauung des Universums auch die Endlichkeit ihrer Erscheinung und damit den individuellen Charakter von Religion darstellt. Dieser Prozeß, daß "immer erhabenere Mittler" auftreten, daß "immer inniger . . . die Gottheit mit der Menschheit" vereinigt wird (293), ist Gegenstand der christlichen Zentralanschauung. "Dieses, daß das Christentum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, daß es die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet und so gleichsam eine höhere Potenz
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derselben ist, das macht das Unterscheidenste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form" (293f). Bevor die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Christentum als der Religion der Religionsgeschichte und dem Begriff der positiven Religion wiederaufgenommen wird, muß geklärt werden, wie sich diese Bestimmung zu dem verhält, was zunächst allgemein als christliche Zentralanschauung bestimmt worden ist. Eine Nebenordnung der Bereiche der natürlichen, sittlichen und religiösen Welt würde den Universalitätsanspruch des Christentums aufheben. Dieser ist nur dann gewahrt, wenn die religiöse Welt übergeordnet wird. Das ist der Fall, weil in der Religion als Anschauung des Unendlichen im Endlichen schon die Trennung überwunden ist, die die natürliche und sittliche Welt beherrscht. Zugleich ist aber mit der Religion als Anschauen des Handelns des Universums auch die Trennung zwischen Welt- und Selbstanschauung, zwischen Innen und Außen aufgehoben, so daß die Betrachtung der Religion hinsichtlich der Anschauung des Universums dasselbe wie die Betrachtung der Kunst leistet, nämlich in endlichen Darstellungen der Erscheinungen des Unendlichen im Endlichen das Universum anzuschauen. Hier zeigt sich, daß f ü r den gebildeten Redner das Christentum als Religion der Religionsgeschichte diejenige Funktion hat, von der er erwartet, daß der Kunstsinn sie f ü r die gebildeten Verächter leisten wird. Allerdings besteht darin der Unterschied, daß beim Christentum bereits die religiöse Anschauung der Geschichte gegeben ist, zu der die gebildeten Verächter erst kommen sollen. Denn nicht f ü r die gebildete Betrachtung, sondern unter der christlichen Zentralanschauung zeigt sich die religiöse Welt als eine Geschichte, in der "immer inniger . . . in jedem späteren Gesandten die Gottheit mit der Menschheit" vereinigt ist (293). Das aber setzt voraus, daß die vollendete Vereinigung von Gottheit und Menschheit geschehen ist, von der aus dieser Prozeß der Vereinigung überhaupt erkannt werden kann. Diese Voraussetzung gilt nicht nur f ü r die religiösen Individuen, die als Mittler auftreten, sondern auch f ü r die Religion, die sie gehabt und mitgeteilt haben. Die christliche Religion kann die Religion in ihrer Geschichte nur anschauen, wenn sie nicht nur ein Religionsindividuum ist, sondern sich selbst als positive Religion von der unendlichen Religion unterscheidend dem Bildungsprozeß der Religion unterstellt sieht. Eine höhere Potenz der Religion ist das Christentum nicht, weil es die Idee der Religion von ihren vielfältigen Erscheinungen unterscheidet, sondern weil es selbst in dem Sinne 'gebildet' ist, daß es sich selbst als eine positive Religion und damit die Form der positiven Religion überhaupt darstellt. Erst f ü r das als Religionsindividuum sich darstellende Christentum werden alle anderen Religionen ebenfalls zu individuellen Erscheinungen der unendlichen Religion, so daß in ihnen die Geschichte der Religion und in diesem Bildungsprozeß das Universum angeschaut werden kann. "Nirgends ist die Religion so vollkommen idealisiert als im Christentum" (295). Denn als Religionsindividuum hat das
- 133 Christentum sich selbst als endliche Gestalt der Religion von der unendlichen Religion unterschieden. Daraus leitet Schleiermacher die Polemik im Christentum ab, der Kampf gegen das irreligiöse Prinzip, das unter Verzicht auf diese Unterscheidung das Unendliche mit dem Endlichen vermischt und Endliches als unendlich erscheinen läßt. Jede endliche Darstellung des Unendlichen ist diesem inadäquat, und man muß über sie hinauskommen. Die Polemik des Christentums richtet gegen alles, was im Endlichen und einzelnen verharrt und es dadurch vom Ganzen isoliert. Sie richtet sich auch gegen das Christentum selbst. Die Geschichte des Christentums ist konstituiert durch die Aufgabe des "immerwährenden Polemisierens gegen alles Wirkliche ( ! ) in der Religion" - eine Aufgabe, die nie vollständig erfüllt werden kann (295f), solange das Ziel "unendlicher Heiligkeit" nicht erreicht ist. Schließlich richtet sich die Polemik auch gegen den einzelnen selbst. Denn jeder Moment im Leben, der nicht auf das Unendliche bezogen ist, ist nicht religiös qualifiziert und fällt damit unter die Polemik. Das "Ziel der Virtuosität im Christentum" besteht in einem religiösen Leben, d.h. daß die Religiosität ein Kontinuum im Menschen ist (298). "Von allem Endlichen sollen wir aufs Unendliche sehen; allen Empfindungen des Gemüts, woher sie auch entstanden seien, allen Handlungen, auf welche Gegenstände sie sich auch beziehen mögen, sollen wir imstande sein, religiöse Gefühle und Ansichten beizugesellen" (298f). Das Gefühl, das der Polemik des Christentums entspricht, ist das der Wehmut, die angesichts der Endlichkeit der Erscheinungen die unbefriedigte Sehnsucht nach dem Unendlichen zum Ausdruck bringt (299). Die oben geäußerte Vermutung, der Begriff der positiven Religion sei nicht einfach ein religionswissenschaftlicher Begriff, der aufgestellt wird, um die geschichtlichen Religionen und auch das Christentum als eine Religion unter den Religionen darunter zu subsumieren, hat durch Schleiermachers Verständnis des Christentums in der fünften Rede eine Bestätigung erfahren. In der Tat weist der Begriff der positiven Religion seiner Struktur nach eine Parallele zum Begriff der äußeren Kirche auf, insofern durch beide versucht wird, auf dem Boden der Individualitätsanschauung eine geschichtliche, die einzelnen Individuen übergreifende Größe zu erfassen. Beide bleiben aber in gleicher Weise abstrakt und hinter der geschichtlichen Wirklichkeit zurück, weil sie nur die Möglichkeit angeben, wie eine Vermittlung von Religion von der Individualitätsanschauung aus sich vollziehen kann, nämlich dadurch, daß ein religiöses Individuum durch Darstellung einer positiven Religion einem anderen zum Mittler wird. Aber gerade der Zusammenhang einer bestimmten Kirche und einer bestimmten Religion kommt dabei nicht in den Blick^O. Schleiermacher erfüllt in der fünften Rede, was er angekündigt hat: "Ich will Euch gleichsam zu dem Gott, der Fleisch geworden ist, hinführen" (237). Denn er stellt das Christentum dar als die positive Religion, von
- 134 der aus die positiven Religionen überhaupt erst als Religionsindividuen erkannt werden. Dazu war es unumgänglich, innerhalb der Religionstheorie den Begriff der positiven Religion aufzustellen, um diese Funktion des Christentums rekonstruieren zu können. Denn nur mit Hilfe der Vorstellung einer durch eine bestimmte Anschauung organisierten Religion kann Schleiermacher die Individualität und Geschichtsanschauung auf die Religion selbst übertragen. Der entscheidende Punkt der Argumentation ist, daß nicht einfach für einen wissenschaftlich Gebildeten, sondern für eine Religion selbst die Religionen als Religionsindividuen sich darstellen. Das ist der Fall, wenn diese Religion eine Zentralanschauung hat, die die Differenz zwischen dem Unendlichen und der Endlichkeit in seiner Anschauung des Unendlichen festhält. Das Christentum erfüllt mit seiner Zentralanschauung diese Bedingung, indem sie das vermittelnde Handeln des Universums zum Gegenstand hat, d . h . daß zwischen dem Mittler und dem, der ihn zum Mittler macht, unterschieden wird, und das gilt auch für die Anschauung dieses vermittelnden Handelns selbst. Schleiermacher hat die Ankündigung in der fünften Rede auch präzis formuliert, daß er "gleichsam" zu dem fleischgewordenen Gott hinführen wolle. Denn die christologische Formulierung bezieht der Redner auf die christliche Religion, nicht auf Christus oder die Christen, die diese Religion haben. Von ihr gilt, daß in ihr die Endlichkeit aller Gestalten der unendlichen Religion als Individualität zur Erscheinung gekommen ist. Wegen des anthropologischen Grundverhältnisses zwischen Mensch und Universum, bleibt die Differenz zwischen der religiösen Anschauung des Universums und dem, der diese Anschauung hat. In der Rekonstruktion des Christentums als geschichtlicher Voraussetzung für das religiös begründete Selbstverständnis des Redners schlägt sich diese Differenz darin nieder, daß der Stifter hinter der Religion, die er gestiftet hat, zurücktritt, daß er nur dadurch erfaßt wird, daß die Zentralanschauung seiner Religion auf ihn selbst angewendet wird. Angesichts der Warnung, das Faktum des Auftretens einer bestimmten Religion nicht mit der Grundanschauung der Religion selbst zu verwechseln (283), ist Christus zunächst als "Urheber des Herrlichsten . . . , was es bis jetzt gibt in der Religion", zu verstehen. Als Religion habendes Individuum ist es weder durch die "Reinigkeit seiner Sittenlehre", noch durch die "Eigentümlichkeit seines Charakters" (301), sondern allein durch die Anschauung des Universums, die er zur Zentralanschauung gemacht hat: "Aber das wahrhaft Göttliche (in ihm) ist die herrliche Klarheit, zu welcher die große Idee, welche darzustellen er gekommen war, die Idee, daß alles Endliche höherer Vermittlung bedarf, um mit der Gottheit zusammenzuhängen, sich in seiner Seele ausbildete" (301). Ist auch die Exklusivität des christologischen Dogmas im Blick auf den Stifter der christlichen Religion reduziert, indem weder das, was der Red-
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ner hier Idee nennt, unablösbar mit ihrem Träger verbunden ist, noch die Klarheit, zu der sie in ihm und durch ihn gekommen ist, auf ihn beschränkt werden kann, so daß nur die Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit, mit der diese Idee in ihm aufgetreten ist, den Stifter auszeichnen (302), so ist doch zu sehen, daß das Schema von der Idee und ihrem Träger nicht zum Verständnis dieses Satzes hinreicht, so als ob es irgendeine Idee sei, die Christus habe darstellen wollen. Vielmehr schließt der Inhalt der Idee ihre eigene Darstellung mit ein. Denn die Idee, daß alles Endliche höherer Vermittlung bedarf, muß selbst eine höhere Vermittlung sein, wenn sie als Idee von einem Endlichen soll dargestellt werden können. Aber diese Idee ist nur eine der höheren Vermittlungen unter anderen. Die Spannung in der Religionstheorie der Reden zwischen dem Begriff der positiven Religion und den beiden historischen Religionen, die sich daraus ergibt, daß eine Anschauung immer eine einzelne ist (58), die Zentralanschauung der beiden Religionen aber die Gestalt einer All-Aussage hat, findet ihren Niederschlag in der Individualitätsanschauung. Es kann nicht davon abgesehen werden, daß eine allgemeine Aussage die Aussage eines einzelnen ist. Das aber bedeutet, daß der Ort, an dem die Idee der Vermittlung ursprünglich und klar erfaßt und dargestellt worden ist, nur als einzelne Erscheinung der in der Idee angeschauten Vermittlung betrachtet werden kann. In dieser Doppelseitigkeit ist die Unterscheidung begründet, die der Redner vollzieht zwischen der christlichen Religion, die nach der Seite des Inhalts der Idee universale Geltung beansprucht, und dem Christentum als der Schule, die nach der Seite der Einzelheit als von Christus ausgehend notwendig partikular bleibt. Die Idee der Vermittlung qualifiziert ihren Träger. Der, der zuerst die Idee der universalen Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen gehabt hat, muß selbst Repräsentant dieser Vermittlung sein. Der Redner gewinnt dies durch eine einfache Überlegung: Daß alles Endliche der Vermittlung bedarf, um zur Gemeinschaft mit Gott zu kommen, daraus folgt, daß das Vermittelnde selbst nicht wiederum nur endlich und d . h . selbst der Vermittlung bedürftig sein kann. Vielmehr muß das Vermittelnde an beidem, dem Endlichen und Unendlichen, der menschlichen und der göttlichen Natur (302) teilhaben. Zu diesem Schluß im Blick auf seine eigene Person, die die Idee der universalen Vermittlung erfaßt und dargestellt hat, mußte der Träger dieser Idee kommen: "Dieses Bewußtsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, von der Ursprünglichkeit seiner Ansicht und von der Kraft derselben, sich mitzuteilen und Religion aufzuregen, war zugleich das Bewußtsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit" (302f). Und der Redner findet dies Bewußtsein in dem Zeugnis der Evangelien, demzufolge Jesus in der Verlassenheit vor dem Hohen Rat sich zu seiner Gottsohnschaft bekannt (Mk. 14, 62 p.) hat. Als er nämlich von nichts als dem aus seiner religiösen Anschauung fließenden Gefühl und dem Gefühl
- 136 seiner Gottheit unterstützt "jenes Ja aussprach . . . : so war dies die herrlichste Apotheose, und keine Gottheit kann gewisser sein, als die, welche so sich selbst setzt" (303). Aber dies ist eben keine ursprüngliche Setzung, sondern eine aus der Anschauung der vermittelnden Tätigkeit des Universums abgeleitete Selbstdarstellung. Die sich so darstellende Setzung macht seine Gottheit offenbar. Während aus der Darstellung seiner Religion der Gedanke der freien Vermittlung durch Christus als "Mittler für viele" (303) folgt, beruht das Christentum auf den Symbolen, durch die er in der Gewißheit seiner selbst als religiöses Individuum eine Schule gestiftet hat, "die ihre gleiche Religion von der seinigen ableiten würde" ( e b d . ) . So wenig Religion durch ein bestimmtes pädagogisches Handeln hervorgebracht werden kann (138), so wenig kann das Christentum als Schule die Religion Christi in den einzelnen Individuen hervorbringen. Vielmehr folgt gerade aus der christlichen Zentralanschauung von dem vermittelnden Tätigsein des Universums, daß der Stifter des Christentums nicht der einzige Mittler zu sein habe beanspruchen können (304), daß er nie die von ihm dargestellte Religion "für den ganzen Umfang der Religon" gehalten habe ( e b d . ) . In der Idee der universalen Vermittlung ist das Prinzip der Freiheit als Toleranz im Christentum nach innen und außen begründet. "Wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zugrunde legt, ist ein Christ ohne Rücksicht auf die Schule" (304). Im Christentum selbst ist die Idee der Vermittlung verschieden konkretisiert worden (305f). Von diesen Konkretionen gilt: "Jedes Prinzip ist echt christlich, solange es frei ist" (306), d.h. solange es sich als eine Gestalt der Vermittlung unter anderen begreift. Gegen jede Verabsolutierung einer einzelnen Vermittlung muß sich die Polemik der christlichen Religion (294ff) richten. Aus der Differenz zwischen dem Christentum als der Religion der positiven Religionen und dem Christentum als bestimmter positiver Religion und der auf den Stifter des Christentums bezogenen Schule lassen sich die Aussagen über die Vergänglichkeit der positiven Religion und des Christentums verstehen. Aus dem Begriff der positiven Religion folgt, daß die Zentralanschauung als Anschauung des Universums unvergänglich ist, daß aber ihre willkürliche Setzung zur Zentralanschauung nicht nur von dem Gemüt des jeweiligen Individuums, sondern auch von der "Lage der Menschheit" abhängt (307), d.h. von der Bewußtseinsstufe, die die Menschheit erreicht hat (126, 245, 255). Das findet nicht nur seine Bestätigung an den "kindischen Religionen" der Vergangenheit (308), sondern das ergibt sich aus der christlichen Zentralanschauung selbst. Die Idee der universalen Vermittlung bleibt auch dann erhalten, wenn die Vermittlung wirklich universal geworden ist, so daß es keinen Mittler mehr zu geben braucht, weil nichts endliches mehr da ist, daß der Vermittlung bedürftig ist, weil "der Vater alles in allem" ist (1. Kor 15, 28) (308). In dieser Utopie berührt sich das Christentum mit dem Ideal der freien Geselligkeit der Gebildeten (12f, 181ff, 230ff). Solange aber die
- 137 Idee der universalen Vermittlung, der freien geselligen Kommunikation nicht Wirklichkeit geworden ist, solange gibt es die Isolierung des Endlichen von der Gemeinschaft mit dem Universum und solange sind Mittler notwendig, die die Idee der universalen Vermittlung repräsentieren. J e des Auftreten solcher Mittler bedeutet dann eine "Palingenesie des Christentums" (309) als der Religion, in der diese Anschauung des Universums durch den, der sich seiner Mittlerschaft bewußt war, zuerst zur Zentralanschauung gemacht worden ist. Der Versuch, Schleiermachers Darstellung des Christentums in der fünften Rede auf dem Hintergrund seiner Religionstheorie zu interpretieren, unterschlägt nicht gewisse Unstimmigkeiten und Spannungen, sondern macht sie gerade deutlich. So wird man nicht umhin können festzustellen, daß das begriffliche Rüstzeug zur Darstellung der geschichtlichen Religion hinter dieser Darstellung zurückbleibt, daß diese mehr enthält, als im Begriff der positiven Religion impliziert ist. Das gilt nicht nur von der bereits erwähnten Spannung zwischen der Einzelheit der Anschauung und der Allgemeinheit dessen, was als christliche Zentralanschauung bestimmt wird, wobei die Unterscheidung zwischen dem einzelnen Anschauenden und der Erscheinung des Unendlichen im einzelnen, angeschauten Endlichen verwischt wird. Das gilt auch für den Inhalt der christlichen Fundamentalanschauung, die eben nicht zum Inhalt hat, was überhaupt Gegenstand von religiöser Anschauung sein kann, die Darstellung des Universums im einzelnen und Endlichen, sondern den Gesamtprozeß des Universums als Entgegenstreben des Endlichen gegen das Unendliche und die Aufhebung dieses Entgegenstrebens durch das vermittelnde Handeln des Unendlichen, - ein Prozeß, in den die Funktion der Religion als Vermittlung eingeschlossen ist. Denn über die Parallelität der vermittelnden Funktion des Gebildeten und der Religion hinaus zeigt sich der Unterschied in der Begründung. Während die vermittelnde Funktion des Gebildeten aus ihrem Erhabensein über die Ungebildeten, über das Rohe und Gemeine folgt, ist die vermittelnde Funktion der christlichen Zentralanschauung bezogen auf eine bestimmte Festlegung dieser Differenz. Zwar kann auch nach Schleiermachers Bildungsverständnis der Ungebildete sich nicht aus sich selbst auf den gebildeten Standpunkt erheben, aber nach seinem christlichen Verständnis ist dieses Nicht-können aktiv bestimmt als "Entgegenstreben alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen" ( 2 9 1 ) 1 4 1 . Bezieht sich der christliche Erlösungsgedanke auf dieses Verderben, so führt die Interpretation des Christentums als positiver Religion zu Unstimmigkeiten wegen der Unschärfe im Vermittlungsverständnis. Besteht nämlich ein Zusammenhang zwischen dem Begriff der sichtbaren Kirche und dem Begriff der positiven Religion, zwischen dem Priester und dem Mittler als Träger einer positiven Religion, dann wäre schon aufgrund dessen, daß der Urheber der christlichen Religion sich seiner Mittlerschaft bewußt war, der Tatbestand einer Schule, wie der Redner ihn
- 138 in der vierten Rede als auf der freien Wahl von Meister und Schüler beruhend (221) gegeben. Daß aber von der freien Gemeinschaftlichkeit noch einmal eine Schule abgehoben wird, für die der Urheber Symbole gestiftet habe, bevor sie existierte (303), bewahrt zwar die Kontinuität zwischen dem Urheber der Religion der Religionen und der partikularen E r scheinung der christlichen Kirche; aber doch nur so, daß nun die beiden Seiten der Individualitätsanschauung gesondert werden. Die Allgemeinheit und Universalität der Religion Jesu findet ihren Ausdruck in seiner Mittlerschaft, und aus der dabei implizierten Anerkennung anderer Mittler folgt der anstößige Satz: "wer dieselbe Anschauung in seiner Religion zu Grunde legt, ist ein Christ" (304). Dagegen wird die Vorstellung der 'Erlösungsmittlerschaft', daß die Anschauung der universalen Erlösung durch ihn ursprünglich und zu "herrlicher Klarheit" (301) gekommen ist, auf seine Individualität und Partikularität bezogen, die zugleich durch von ihm gestiftete Symbole und durch seine "persönlichen Denkwürdigkeiten" (304) Kennzeichen der bestehenden christlichen Kirche ist. Eine Erklärung für diese Differenz zwischen dem dargestellten Christentum lind dem Begriff der positiven Religion ist nicht in einer einseitigen Abhängigkeit zu finden. Weder wird das Christentum aus der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt abgeleitet, noch wird der gebildete Standpunkt mit der Zugehörigkeit zur bestehenden christlichen Kirche identifiziert. Offenbar ging es dem Redner gerade darum, diese Differenz nicht zu nivellieren. Fragt man aber weiter, welches Interesse dann an einer Darstellung des Christentums als positiver Religion im Zusammenhang der Reden besteht, so zeigt sich in dieser Darstellung nach ihrer allgemeinen Seite das Christentum als diejenige geschichtliche Religion, die für ihre Träger ein im Sinne der Individualitätsanschauung gebildetes Selbstverständnis möglich macht. Denn mit der christlichen Religion ist die Religion zuerst als positive Religion, d . h . als ein Religionsindividuum unter anderen aufgetreten. Damit ist die Möglichkeit gegeben, daß derjenige, der an dem Christentum Anteil hat und die religiöse Anschauung des Christentums teilt, nicht nur die Religion, die er hat, als Religionsindividuum begreift, sondern auch sich selbst, den Träger dieser Religion als Individuum versteht, d . h . daß er ein gebildetes Selbstverständnis haben kann. Insofern hat Schleiermacher in der Entfaltung der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt mit Hilfe des Begriffs der sichtbaren Kirche als vermittelnder Anstalt und der positiven Religion als der individuellen Form aller menschlichen Religion das Christentum r e konstruiert als den geschichtlichen Zusammenhang, innerhalb dessen ein religiös begründetes Selbstverständnis eines Gebildeten als Individuum auftreten kann, wie es der gebildete Redner vor den gebildeten Verächtern der Religion vertreten hat.
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IV. Die systematische Gestalt des Bildimgsbegriffs Die Aufgabe dieses ersten Teils der Untersuchung bestand darin, den inneren Zusammenhang aufzuzeigen, der die frühen Schriften Schleiermachers aus der sogenannten romantischen Periode seines Lebens als Entfaltungen einer theoretischen Konzeption erkennen läßt. Die Lösung f ü r diese Aufgabe ergab sich aus der Frage nach dem, was Schleiermacher unter den 'Gebildeten' verstanden hat. Da seine frühen Veröffentlichungen als Ausdruck eines gebildeten Selbstverständnisses interpretiert werden können und damit zugleich seine Bildungskonzeption erschlossen werden kann, ist - auch wenn Schleiermacher selbst aus systematischen Gründen keine explizite Darstellung dieses Bildungsverständnisses gegeben hat - doch nicht von außen ein Bildungsbegriff herangetragen worden, sondern durch die Interpretation dieser Schriften ist die systematische Funktion des Bildungsbegriffs f ü r das Denken des jungen Schleiermacher herausgearbeitet worden. Die systematische Struktur dieses Bildungsverständnisses soll im folgenden zusammenhängend dargestellt und in Verbindung damit auch eine aus ihrer eigenen Problemstellung her entwickelten kritischen Würdigung unterzogen werden. Diese erfolgt auch in der Absicht, die Punkte aufzuzeigen, die Schleiermacher genötigt haben können, eine solche Modifikation seines theoretischen Ansatzes vorzunehmen, daß ihm seine Darstellung in wissenschaftlicher Gestalt möglich geworden ist. Diese Veränderungen sind immerhin so einschneidend gewesen, daß entgegen Schleiermachers eigenem Verständnis seiner Entwicklung die in verschiedener Weise gedeutete Entgegensetzung des frühen und späten Schleiermacher sich später darauf stützen konnte. 1. Was Schleiermachers Verständnis des Gebildeten auszeichnet, ist wie schon an seinem Versuch einer Theorie des geselligen Betragens zu erkennen ist - die Verbindung zweier Momente, nämlich der inneren Struktur des gebildeten Selbstverständnisses, die durch die Individualitätsanschauung bestimmt ist, und der äußeren Struktur des Individuums in seinem gebildeten Selbstverständnis, das durch seine Beziehung auf den Standpunkt des gemeinen Lebens bestimmt ist. Die Verbindung beider Momente ist für Schleiermachers Theorie konstitutiv; und wie sich an den Reden als der ausführlichsten Darstellung der frühen Theorie Schleiermachers darlegen läßt, hätte es den Verlust der Einheit der Theorie zur Folge, wenn ihre Eigentûmlichkèit nur in dem Gedanken der Individualität gesehen und diese unmittelbar als Wendung zur Geschichte gedeutet wird.
- 140 Zwar ist mit dem Gedanken, daß nicht alle individuellen Erscheinungen des Ganzen gleichzeitig auftreten, sondern nur jeweils eine begrenzte Anzahl, die Vorstellung eines Nacheinander und eines Bildungsprozesses des Ganzen verbunden, aber dieser Gedanke hat doch nur begrenzende Bedeutung im Sinne einer zeitlichen Unvollendbarkeit des individuellen Bildungsprozesses . Für die Frage, was mit Individualitätsanschauung gegeben ist, ist dieser Gedanke nicht relevant. Das Individuum wird nur als Exemplar einer Gattung gefaßt, das auf die Gesamtheit aller Individuen bezogen ist, und die zeitliche Komponente ergibt sich aus der nacheinander erfolgenden Selbstbestimmung des gebildeten Individuums im geselligen Umgang mit anderen Individuen. Aber dieser Bildungsprozeß findet noch statt, wenn das Ideal der freien Geselligkeit realisiert ist (R 13,239). Geschichte kommt erst dann in den Blick, wenn nicht nur das zeitliche Nacheinander der Individuen betrachtet wird, sondern diese Betrachtung selbst als Moment in der Zeit gesehen wird. Denn erst wenn darauf re flektiert wird, daß diese Betrachtung nicht den menschlichen Individuen von Natur aus innewohnt, sondern daß es den gebildeten Standpunkt auszeichnet, daß das Individuum sich als eine eigentümliche Gestalt der Menschheit von allen anderen Individuen unterscheidet und dadurch auf diese ebenso angewiesen ist wie die Gesamtheit aller Individuen auf jedes einzelne Individuum, erst mit dieser Erhebung über den gemeinen Standpunkt wird die Geschichte sichtbar, die der höchste Gegenstand der religiösen Anschauung ist (R 100). Diese Verbindung der Individualitätsanschauung mit der Vorstellung von den Stufen des menschlichen Bewußtseins in seinem Verständnis des Gebildeten ist kennzeichnend für die Theorie des frühen Schleiermacher. 2. Bezogen auf den Bildungsbegriff ist aufgrund der Frühschriften dann freilich durchaus die Eigentümlichkeit der Schleiermacherschen Theoriebildung in der Betonung der Individualität zu sehen. Zwar wäre diese Auffassung durch einen genauen Vergleich des Schleiermacherschen Bildungsverständnisses mit dem der frühen Romantiker, vor allem F.Schlegels, noch im einzelnen zu bestimmen, aber sowohl in den Monologen wie auch in den Reden ist ein anderes Bildungsverständnis zu erkennen, von dem Schleiermacher seine eigene Bildungskonzeption abgehoben hat. Daß der Redner als ein Gebildeter vor den gebildeten Verächtern die Religion zum Thema einer Rede macht, weist auf eine Differenz hin, die sich nicht nur auf die Auffassung der Religion bezieht, sondern eine Bedeutung für das gebildete Selbstverständnis selbst hat, so daß es bei der Kontroverse über die Religion zugleich um das rechte Verständnis des Gebildetseins geht. Die Abweichung zeigt sich daran, daß es sowohl in den Reden als auch in den Monologen auf eine innere Unstimmigkeit im Verständnis der Verächter der Religion als Gebildete als auch der weltbildenden Künstler führt, wenn diese als Gebildete im Sinne der Individualitätsanschauung Schleiermachers aufgefaßt werden. Denn haben diese ein gebildetes
- 141 Selbstverständnis als Individuen, dann ist nicht zu erklären, warum die weltbildenden Künstler den Beruf zur Selbstbildung nicht akzeptieren (M 38f) und warum die Gebildeten die Religion verachten. Tun sie dies aber, dann können sie, ohne sich selbst zu widersprechen, sich selbst nicht als Individuen verstehen. Werden sie aber dennoch als Gebildete bezeichnet, dann muß dieser Ausdruck eine andere Bedeutung haben. Diese verschiedene Bestimmung des Gebildetseins kann sowohl in den Monologen als auch in den Reden genauer erhoben werden. Da das Gebildetsein bezogen ist auf einen Standpunkt, über den sich der Gebildete erhoben hat, so kann dieser Ausdruck die Beziehung zwischen aufeinanderfolgenden Bewußtseinsstufen bezeichnen, ohne daß in dem Ausdruck selbst schon die Stufe inhaltlich bestimmt ist, auf die er zu beziehen ist. Was in den Monologen als höchste Anschauung über das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit gestellt wird, das Bewußtsein der Eigentümlichkeit (M 31), und was als Idee der wahren Gemeinschaft der Geister als Ziel der Geschichte vorgestellt wird (M 60) und als Welt dem einzelnen freien Geist entgegengesetzt ist (M 17), das wird der ersten Rede durch den Gedanken der Mittlerschaft des Gebildeten verbunden (R 9-12). Bedeutet schon die Erhebung über die Abhängigkeit des Menschen vom sinnlich einzelnen zum Bewußtsein der Freiheit der unendlichen Menschheit die Einnahme eines gebildeten Standpunkts, durch dessen Darstellung der Gebildete einem Ungebildeten zum Mittler werden kann, so läßt sich das Verhältnis dessen, der ein Bewußtsein seiner Individualität erlangt hat, zu denen, die erst das Bewußtsein der allgemeinen Menschheit besitzen, entsprechend bestimmen. Wer das gebildete Selbstverständnis als Individuum erreicht hat, teilt zwar den gebildeten Standpunkt derer, die sich zum Bewußtsein der unendlichen Menschheit erhoben haben, aber indem er sich als einer darstellt, der sich selbst als eine eigentümliche endliche Gestalt der unendlichen Menschheit versteht, kann er ihnen wiederum zum Mittler dieses Selb st Verständnisses werden. Sofern dieser theoretischen Konstruktion, wie sie in den Frühschriften Schleiermachers greifbar ist, eine Differenz im Verständnis des Gebildetseins zugrundeliegt, wird man das charakteristische Merkmal von Schleiermachers Bildungsverständnis in seiner Individualitätsanschauung sehen können. 3. Wird durch das gebildete Selbstverständnis die Individualitätsanschauung auf die Geschichte des menschlichen Bewußtseins bezogen, so wird umgekehrt auch das Bildungsverständnis durch die Individualitätsanschauung bestimmt. Die systematischen Folgen zeigten sich bereits im ersten Satz der Theorie des geselligen Betragens, daß freie Geselligkeit auf einem Bedürfnis der Gebildeten beruhe (ThgB 3). Zwei Momente sind dabei vorausgesetzt: einmal, daß ein Individuimi dadurch ausgezeichnet ist, daß es als Individuum auf die Gesamtheit der anderen Individuen derselben Gattung bezogen ist und nur durch die Beziehung zu allen anderen Individuen bestimmt werden kann, daß jedes Individuum auch in einer eigentümlichen Gestalt die Gattung repräsentiert, die in den einzelnen Individuen verschieden sich darstellt. Die andere Voraussetzung besteht
- 142 darin, daß dieser Zusammenhang nicht f ü r irgendwelche Gegenstände gilt, sondern auf den zurückbezogen, der diese Anschauung von sich h a t . Daraus ergibt sich das B e d ü r f n i s des Gebildeten nach f r e i e r Geselligkeit. Denn wer sich selbst als Individuum v e r s t e h t , ist auf die anderen Individuen angewiesen, wenn er seine Individualität bestimmen will. Das gebildete Selbstverständnis als Individuum e r ö f f n e t einen Bildungsprozeß, in welchem das Individuum die Eigentümlichkeit seiner Individualität immer bestimmter darstellt, wozu es auf die anderen Individuen ebenso angewiesen ist, wie diese auf jedes einzelne Individuum. Mit dem individuellen Bildungsprozeß ist zugleich auch der Bildungsprozeß des Ganzen v e r b u n d e n . Denn solange nicht alle Individuen der Gattung vorhanden sind und die gegenseitige Bestimmung ihrer Eigentümlichkeit, d . h . die individuellen Bildungsprozessè, nicht abgeschlossen sind, kann auch das Ganze von den Individuen nicht vollständig e r f a ß t sein, sondern n u r so, wie es in jedem von ihnen, die miteinander geselligen Umgang pflegen, zur Darstellung gekommen i s t . Um die Verwirklichung dieses im Selbstverständnis des Gebildeten als Individuum enthaltenen Ideals u n t e r den h e r r s c h e n d e n Bedingungen geht e s in allen drei Früh sehr iften, ob es sich dabei nun um bestimmte Gesellschaften handelt oder um die monologische Selbstdarstellung in der Hoffnung, auf verwandte Geister zu stoßen, oder um rednerische Darstellung der Religion als konstitutives Merkmal der Individualitätsanschauu n g , die auch die gebildeten Verächter teilen müssen. Indem aber diese praktische Absicht nicht a n d e r s zum Zuge gebracht werden k a n n , als daß derjenige, der sie expliziert, seine eigene Darstellung ihr linterordnet, muß das gebildete Selbstverständnis die Darstellungsform bestimmen. Während die Geselligkeit als das Gemeinsame, auf das sich das B e d ü r f nis aller Gebildeten r i c h t e t , d u r c h eine Theorie darstellbar ist, besteht zwischen diesem Medium das Allgemeinen und der Selbstdarstellung des Gebildeten keine hinreichende E n t s p r e c h u n g . Das Bildungsverständnis kann nicht dargestellt werden, ohne daß es auf den Darstellenden selbst anwendbar ist. Da n u n das Bildungsverständnis d u r c h die Individualit ä t s a n s c h a u u n g bestimmt ist, ist n u r eine Explikation möglich, die der Individualität des Darstellenden gerecht wird, d . h . deren Gestalt den Bedingungen d e s freien geselligen Umgangs von Individuen g e n ü g t . Insofern sind Rede u n d Monolog die dem Gegenstand der Darstellung e n t sprechenden Formen. In ihnen findet als Selbstdarstellung des darstellenden Individuums das gebildete Selbstverständnis ü b e r h a u p t seine Darstellung. Das gilt auch f ü r die Religionsschrift, insofern Schleiermacher seine Religions- und Christentumstheorie in der Gestalt von Reden an die gebildeten Verächter vorgelegt h a t . Wenn die Darstellungsform der Rede, die in der freien Geselligkeit ihren Ort hat, nicht willkürlich auf diese Theorie bezogen ist, dann muß das darin zum Ausdruck kommende gebildete Selbstverständnis f ü r die Theorie selbst konstitutive Bedeutung haben.
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4. Durch die Verbindung der beiden Momente im gebildeten Selbstverständnis stellt sieh f ü r jedes von ihnen eine Frage, deren Beantwortung die Einbeziehung der Religion erforderlich macht. Indem die Individualitätsanschauung auf das gebildete Selbstverständnis bezogen ist, stellt sich von der Individualitätsanschauung aus f ü r den Gebildeten die Frage, wie er dazu gekommen ist, sich als Individuum zu verstehen, wozu er offenbar gekommen sein muß, wenn er als Gebildeter sich über den gemeinen Standpunkt erhoben hat. Indem umgekehrt der gebildete Standpunkt auf die Individualitätsanschauung bezogen ist, stellt sich die Frage, wie eine Erhebung auf den gebildeten Standpunkt überhaupt möglich ist. Wenn auch die Fragen zusammenhängen, so ist doch das Erfragte zu unterscheiden. Die erste Frage bewegt sich innerhalb der Individualitätsanschauung. Damit ein Individuum sich als Individuum versteht, ist es notwendig, daß es eine Vorstellung von der Gattung hat, deren individuelle Erscheinung es ist, um sich als begrenztes Individuum von ihr zu unterscheiden und die Verschiedenheit der anderen Individuen ertragen zu können. Für das gebildete Individuum stellt sich die Frage, wie es diese f ü r sein Selbstverständnis konstitutive Vorstellung gewinnt. Die zweite Frage bewegt sich also im Zusammenhang des gebildeten Bewußtseins. Wie immer die Frage nach der Bildung des Gebildeten, d . h . nach der Erhebung auf den gebildeten Standpunkt auch sonst beantwortet werden mag, indem das gebildete Selbstverständnis als Individualitätsbewußtsein bestimmt ist, ist die Möglichkeit ausgeschlossen, daß die Bildung zum Gebildeten durch eine bildende Tätigkeit von Gebildeten hervorgebracht werden kann. Vielmehr ist die Bildung zu gebildeten Individuen als ein die endlichen Individuen übergreifendes Geschehen zu fassen. Beide Fragen hängen aber nicht nur darin zusammen, daß f ü r die Frage das jeweils nicht in Frage stehende Moment des Bildungsbegriffs als Voraussetzung in Anspruch genommen ist, sondern auch darin, daß in beiden nach dem die endlichen Individuen übergreifenden Ganzen gefragt ist. Beide Fragen werden von Schleiermacher mit Hilfe seiner Religionstheorie beantwortet. Denn Religion hat es mit dem Verhältnis des Menschen zum umgreifenden Ganzen zu tun, in das er selbst gehört. Beide Fragen nötigen zur Explikation des Religionsbegriffs. Die Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt muß zunächst die f ü r menschliche Individuen überhaupt konstitutive Erfahrung des umgreifenden Ganzen explizieren. Denn n u r , wenn es eine solche Erfahrung des Ganzen gibt, wenn ein Wissen des Ganzen nicht schon dem Menschen von Natur aus zukommt, ist die Möglichkeit gegeben, daß das Bildungsverständnis durch die Individualitätsanschauung bestimmt wird. Aber diese religiöse Erfahrung des Ganzen f ü h r t nicht unmittelbar zu einem gebildeten Selbstverständnis als Individuum, sondern als Erfahrung ist sie abhängig von dem Bewußtseinsstand dessen, der die Erfahrung macht. Insofern unterliegt die Religion selbst der Geschichte des menschlichen Bewußtseins. Denn sie hat es zunächst mit dem Ganzen zu tun, das e r fahren wird, nicht aber mit dem, der es e r f ä h r t . Als Erfahrung wird Religion definiert als Anschauung und Gefühl des Universums, wobei es die
- 144 Vereinigung des Angeschauten mit dem Anschauenden ist (Liebesszene), die die religiöse E r f a h r u n g k o n s t i t u i e r t . Da f ü r die anthropologische Konzeption auf dem gebildeten S t a n d p u n k t die religiöse Anschauung des Universums konstitutive Bedeutung f ü r das menschliche Individuum in seinem Wissen und Tun h a t , d . h . f ü r die Beziehungen in diesem Verhältnis, die vom Menschen ausgehen, so muß die Religion von Metaphysik u n d Moral unterschieden werden als E r f a h r u n g derjenigen Beziehung, die vom Universum ausgeht und durch die das Verhältnis des Menschen zum Universum e r s t konstituiert wird. Durch den Begriff des Universums wird das in der Religion angeschaute Ganze so e r f a ß t , daß es die Geschichte des menschlichen Bewußtseins als Gegenstand der religiösen Anschauung auf dem gebildeten Standpunkt ebenso einschließt, wie die Einheit von Geist und Natur im Kunstwerk als Gegenstand einer möglichen Kunstreligion. Denn das Universum wird in der Religion in seinen endlichen Erscheinungen angeschaut. Die Explikation der religiösen E r f a h r u n g als Gefühl und Anschauung des Universums f ü h r t zur Geschichte der religiösen Anschauungen, weil in der Theorie der Anschauung des Unendlichen im Endlichen das Endliche, vermittels dessen das Universum e r f a h r e n wird, nicht bestimmt i s t . Obwohl durch den kritischen Gebrauch des Religionsbegriffs, an dem sich alle religiösen Anschauungen messen lassen müssen, die Geschichte der religiösen Anschauungen nivelliert wird bis auf verschiedene Bereiche der religiösen Anschauung, sind doch die Stufen der Geschichte d e s menschlichen Bewußtseins nicht zu v e r k e n n e n . Die Anschauung des Endlichen der ä u ß e r e n Natur entspricht n u r dann dem Begriff der Religion, wenn ih ihm das Wirken des Weltgeistes angeschaut wird. Die Anschauung der Menschheit entspricht n u r dann dem Begriff der Religion, wenn die unendliche Menschheit in ihren endlichen, individuellen Erscheinungen angeschaut wird. Ist in beiden Bereichen das Angeschaute n u r dann dem Begriff der religiösen Anschauung adäquat, wenn es von dem religiösen Individuum als Erscheinungsverhältnis genommen wird, so ist dabei immer schon Schleiermachers Bestimmung der Religion in Anspruch genommen. Die u r s p r ü n g l i c h religiöse E r f a h r u n g , die der Darstellung religiöser Anschauungen zugrundeliegt, ist dadurch noch nicht e r f a ß t . Das ist e r s t beim Kunstwerk und beim gebildeten Individuum der Fall. Hier ist das Angeschaute selbst eine endliche Erscheinung des Unendlichen und b r i n g t dies dem Begriff der Religion adäquate Verhältnis zur Darstellung. Dasjenige Endliche, das in sich das Unendliche in endlicher Gestalt f ü r a n d e r e s Endliches darstellt, enthält die Möglichkeit der religiösen E r f a h r u n g , wie sie in der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt e r f a ß t wird. Die Anschauung eines Kunstwerks und eines menschlichen Individuums entspricht der Individualitätsanschauung als der höchsten Stufe menschlichen Bewußtseins. Abgesehen von den Andeutungen ü b e r eine mögliche Kunstreligion ist in den Reden deshalb die Geschichte der höchste Gegenstand der religiösen Anschauung, wobei analog zur N a t u r anschauung auch hier das Wirken des Weltgeistes angeschaut wird.
- 145 Die Religionstheorie gibt also eine Antwort, die die beiden Fragen, die sich mit Schleiermachers Bildungsbegriff stellen, verknüpft. Die für die Individualitätsanschauung des Gebildeten konstitutive Erfahrung des Ganzen erfolgt als religiöse Anschauung, die aber erst dann die dem gebildeten Selbstverständnis entsprechende Stufe erreicht hat, wenn das angeschaute Endliche in sich das Verhältnis zum Unendlichen repräsentiert, das Gegenstand der religiösen Anschauung ist. So ist bei der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum sowohl der religiösen Unmittelbarkeit in der Anschauung des Universums Rechnung getragen, d . h . daß das Selbstverständnis des Gebildeten nicht durch Endliches hervorgebracht sein kann, als auch dem Bildungsverständnis, indem es auf die Geschichte des menschlichen Bewußtseins bezogen ist. Erst wenn ein endlicher Gegenstand angeschaut werden kann, der in sich die Erscheinung des Unendlichen im Endlichen für anderes darstellt, wird diejenige religiöse Anschauung möglich, die für die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses notwendig ist. Zugleich hat damit auch die zweite Frage eine Antwort gefunden. Die Bildung der Gebildeten impliziert die religiöse Konstitution und schließt die Bildung durch Gebildete aus. Aber die religiöse Konstitution ist an die Anschauving von Endlichem gebunden, das in seiner Endlichkeit das Unendliche darstellt, so daß der Gebildete für einen anderen zum Mittler werden kann. In der Tätigkeit des Gebildeten kommt nur seine endliche Individualität zur Geltung, während in seinem Mittlertum das Unendliche, das sich in dieser und in anderer individueller Gestalt darstellt, selbst zum Zuge kommen kann. Deshalb ist die Geschichte der höchste Gegenstand der Religion. An den Äußerungen der menschlichen Individuen wird der Gang des Weltgeistes anschaubar. Im Kontext dieser religiösen Anschauung der Geschichte kann das Wirken der gebildeten Verächter als der Palingenese der Religion dienlich betrachtet werden. Auch die gebildeten Verächter repräsentieren als Individuen das Unendliche in endlicher Gestalt, wenn sie für die unendliche Menschheit wirken. Nur erfüllen können die Gebildeten ihre Mittlerfunktion nicht selbst, sondern die Bildung zum Gebildeten vollzieht sich durch dessen religiöse Anschauung des Universums, das durch ein gebildetes Individuum auf den Anschauenden wirkt, so daß dieser zugleich eine religiöse Anschauung und ein gebildetes Selbstverständnis als Individuum gewinnt. 5. In der Religionstheorie Schleiermachers sind religiöse Unmittelbarkeit (Vollzug des Anschauens des Universums durch das einzelne religiöse Individuum) und die Vermittlung dieser Unmittelbarkeit durch Endliches so verbunden, daß die religiöse Konstitution der Individualitätsanschauung für den Gebildeten zugleich mit der geschichtlichen Vermittlung des gebildeten Selbstverständnisses behauptet werden kann. Denn das Unendliche bedarf eines Endlichen, an dem es zur Erscheinung kommt, um mit Hilfe dieses "Mittlers" angeschaut werden zu können. Die religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses ist an einen solchen Mittler gebunden, der selbst ein durch Religion Gebildeter ist.
- 146 Mit der Definition der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums durch das anschauende Individuum ist der Individualitätsanschauung im Bildungsverständnis Rechnung getragen, so daß in der Theorie der Begriff der Religion als die vom Individuum vollzogene und dargestellte Anschauung des Universums der Struktur der Individualitätsanschauung folgen kann. Allerdings gilt diese Betrachtung der Religion nur für den Gebildeten, nicht für die religiösen Individuen selbst. Die religiösen Individuen sind noch nicht als gebildete Individuen bestimmt. Vielmehr besteht in der Auseinandersetzung mit den gebildeten Verächtern die Leistung der Religionstheorie zunächst nur darin, daß das, was als Religion begegnet, als Anschauung des Universums durch religiöse Individuen erklärt werden kann. Die Religion als Darstellung von Anschauungen des Universums wird als eine in der Auffassung des Menschen als Individuum für diesen notwendige Tätigkeit gerechtfertigt. Aber so wenig jeder Mensch, den der Gebildete seinem Selbstverständnis zufolge als Individuum ansehen muß, selbst die Individualitätsanschauung schon teilt, so wenig schließt seine Darstellung dessen, was als Religion identifiziert werden kann, ein, daß das Individuum durch sie bereits ein Gebildeter ist. Das aber ist mit der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt intendiert. Der Redner kann gegenüber den gebildeten Verächtern nicht bei dieser Identifikation von Darstellungen religiöser Anschauungen stehenbleiben, sondern muß die Kontroverse im Bildungsverständnis lösen, indem er die konstitutive Bedeutung der Religion für das gebildete Selbstverständnis aufzeigt. Denn bestimmt der Redner den Übergang vom Kunstsinn zur Kunstreligion als eine ihm fremde Möglichkeit (R 167), während er selbst von der Religion zur Bildung als Gebildeter gekommen ist (R 21), so muß er mittels seiner Religionstheorie diese Möglichkeit seiner eigenen Genese zum Gebildeten durch Religion rekonstruieren. Dazu ist es einerseits notwendig, daß der Begriff einer religiösen Gemeinschaft aufgestellt wird, durch die eine dem Bildungsverständnis adäquate Form der Vermittlung gedacht werden kann. Denn nur eine religiöse Gemeinschaft, innerhalb derer die Bildung zur Religion sich nicht anders vollzieht, als daß durch die Darstellung von Religion die Möglichkeit geschaffen wird, daß andere Individuen selbst zum eigenen Vollzug der Anschauung des Universums und zur Darstellung dieser Anschauung kommen können, erfüllt die Voraussetzung für die religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses. Aus dem anthropologischen Ansatz der Religionstheorie beim religiösen Individuum legt sich die Vorstellung der wahren Kirche als einer religiösen Gemeinschaft nach Art der freien Geselligkeit nahe. Von diesem Ideal aus läßt sich eine religiöse Gemeinschaft ableiten, in der durch die Darstellung von religiösen Individuen, entsprechend der Mittlerfunktion der Gebildeten, die Bildung zur Religion sich vollziehen kann. Aus dieser
- 147 Vorstellung leiten sieh dann die kirchenreformerischen Überlegungen Schleiermachers zur Trennung von Staat und Kirche ab. Diese Ableitung des Kirchenbegriffs innerhalb der gebildeten Religionstheorie enthält zwei problematische Implikationen: Einmal bleibt der Status der 'ungebildeten' religiösen Individuen ungeklärt, die nicht nur eine religiöse Anlage hahen, sondern sich als Suchende einem 'gebildeten' religiösen Individuum wie einem Meister anschließen müssen, also f ü r die Zugehörigkeit zur äußeren Kirche bereits eine Tätigkeit, die Religion intendiert, vollziehen müssen, ohne daß diese Tätigkeit bereits der selbständige Vollzug von Religion ist. Zum anderen muß auf der Seite der 'gebildeten' religiösen Individuen über den ursprünglichen Theorieansatz hinaus ein Bewußtsein von der Individualität der jeweils eigenen religiösen Anschauung angenommen werden, damit die wahre Kirche als Gemeinschaft religiöser Individuen überhaupt möglich ist. Damit hätten diese bereits erfüllt, was in der fünften Rede erst als durch die positive Religion des Christentums möglich aufgewiesen wird. Darin schlägt der gebildete Standpunkt durch, auf dem diese Religionstheorie entworfen ist. Denn nur wenn das religiöse Individuum den Begriff von Religion teilt, der seine Religion als Anschauung und Gefühl des Universums identifiziert, vermag es, die Vielheit von Anschauungen des Universums zu ertragen, die die Voraussetzung f ü r den Kirchenbegriff bildet. Nicht zufällig läßt Schleiermachers Explikation dieses Kirchenbegriffs in der Idealisierung der Brüdergemeinde und in dem Problem von Staat und Kirche einen durch das Christentum bestimmten Hintergrund erkennen. Nicht daß er zu abstrakt ist, sondern daß er nicht abstrakt genug ist, wäre an diesem Kirchenbegriff zu kritisieren, wenn er als Begriff der religiösen Gemeinschaft entworfen worden wäre. Darin aber, daß Schleiermacher nicht streng zwischen dem Standpunkt der Theorie und dem Standpunkt, der durch die Theorie erfaßt wird, unterscheidet, kommt das systematische Interesse dieser Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt zum Ausdruck. Es geht nicht um eine vollständig ausgeführte Religionstheorie, sondern - wie dieser Kirchenbegriff zeigt geht es darum, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen eine religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses möglich ist. 6. Da im Unterschied zur freien Geselligkeit der Gebildeten in der religiösen Gemeinschaft nicht die SelbstdarStellung der gebildeten Individuen den Gegenstand der Kommunikation bildet, sondern mit der Anschauung des Universums ein vom Darstellenden verschiedener Gegenstand, ist f ü r die religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses eine weitere Bedingung notwendig. Der Gegenstand der Darstellung muß so bestimmt sein, daß er diesem Begriff der religiösen Gemeinschaft bzw. dem der freien Geselligkeit entspricht, d . h . dieser Gegenstand darf keiner von dem anschauenden Individuum abgesonderten Darstellung fähig sein. Denn nur wenn die dargestellte Religion der Individualitätsanschauung entspricht, kann eine religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses gedacht werden.
- 148 Der Begriff der positiven Religion knüpft daran an, daß eine Anschauung nur als einzelne gegeben ist (R 58). Damit ist aber die einzelne religiöse Anschauung dem im Endlichen angeschauten Universum nicht adäquat. Die Vielheit einzelner Anschauungen kann mit der Einheit des Ganzen nur dadurch zur Entsprechung gebracht werden, daß das einzelne Individuum seine einzelnen religiösen Anschauungen des Universums so verknüpft, daß es sie unter eine dieser Anschauungen als der Fundamentalanschauung bringt. Dadurch ist ein Religionsindividuum, d.h. eine positive Religion konstituiert. Das organisierende Prinzip ist den durch es zum Religionsindividuum organisierten Anschauungen adäquat. Dieser Begriff der positiven Religion entspricht darin dem Begriff der vermittelnden Gemeinschaft, daß das Organisieren zum Religionsindividuum von den einzelnen religiösen Individuen vollzogen wird (R 262f ) und dabei nicht nur offen bleibt, welche Anschauung zur Fundamentalanschauung gemacht wird, sondern auch dann, wenn dieselbe Anschauung zur Fundamentalanschauung gemacht wird, die organisierende Funktion jeweils nur die von jedem einzelnen Individuum in seiner religiösen Gemeinschaft vollzogenen Anschauungen des Universums erfaßt. Diese Möglichkeit ist auf das Meister-Schüler-Verhältnis in der sichtbaren Kirche bezogen. Denn dort tritt dieser Fall ein. Indem das organisierende Prinzip als religiöse Anschauung bestimmt ist, ist es nicht nur von einer Erscheinung des Universums, sondern auch von einem Endlichen, in welchem das Universum zur Erscheinung kommt, abhängig. Da die erste bestimmte religiöse Ansicht eines religiösen Individuums seine Fundamentalanschauung bildet (264f), ist damit, wie immer das Universum sonst noch seine Betrachter bilden mag, auch der Fall der gelungenen Vermittlung in der sichtbaren Kirche eingeschlossen. In ihr ist das Endliche, in dem das Universum zur Darstellung kommt, bestimmt als die Darstellung der Anschauung des Universums durch ein religiöses Individuum. Indem diese religiöse Darstellung als positive Religion durch eine Zentralanschauung organisiert sich zeigt, ist die Möglichkeit gegeben, daß eben diese Zentralanschauung zu dem Endlichen wird, an dem sich die erste bestimmte religiöse Anschauung des Schülers entzündet, so daß diese Zentralanschauung, die selbst der vom Schüler vollzogenen Anschauung des Unendlichen im Endlichen entspricht, als die erste in ihm vollzogene Anschauung von ihm zur organisierenden Fundamentalanschauung gemacht wird. Die Problematik des Begriffs der positiven Religion liegt darin, daß er zwei Funktionen zugleich erfüllen muß. Indem er dem für die Theorie konstitutiven Begriff der Religion als der von einzelnen Individuen vollzogenen Anschauung des Universums Rechnung tragen muß, soll er zugleich eine überindividuelle, aber nicht alle Individuen umfassende Kontinuität möglich machen, indem von den religiösen Individuen die Religionsindividuen als positive Religionen unterschieden werden, denen mehrere religiöse Individuen angehören können. Während dieser Begriff im Blick
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auf das einzelne religiöse Individuum eine im Kontext der Theorie liegende nähere Bestimmung der dargestellten Religion leistet, indem in der Darstellung der Anschauung des Universums die Individualität des Darstellenden und Anschauenden als Moment der Einheit zur Geltung gebracht wird, geht die an die Differenz zwischen Darstellendem und Dargestellten anknüpfende Ablösung der Religionsindividuen über die Theorie hinaus. Innerhalb dieser Theorie ist kein Grund vorhanden, der eine solche Ablösung notwendig macht. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß sie keinen organisatorischen Anhalt im Kirchenbegriff findet. Man hat diesen Begriff als einen solchen aufgefaßt, der die theoretische Konstruktion der Religion mit ihrer geschichtlichen Erscheinung vermittelt. Aber gerade die Beziehung des Begriffs der positiven Religion auf die geschichtlichen Religionen macht seine Abstraktheit sichtbar. Die Religionen lassen sich zwar als Religionsindividuen begreifen, aber damit ist über ihre geschichtliche Wirklichkeit nichts anderes ausgesagt, als daß jede von ihnen nur eine individuelle Gestalt der Religion neben unendlich vielen anderen individuellen Gestalten vorgestellt wird. Über die Möglichkeit einer individuellen Kontinuität aufgrund derselben Zentralanschauung hinaus enthält der Begriff der positiven Religion keine weitere Bestimmung. Eine solche Bestimmung ist aber auch nicht notwendig, wenn es in den Reden nicht um die Erfassung der großen Religionen der Geschichte, sondern nur um die Rekonstruktion derjenigen Religion geht, innerhalb derer und durch die ein gebildetes Selbstverständnis möglich ist. Denn dazu braucht Schleiermacher nur zu zeigen, daß der Begriff der positiven Religion im Christentum Wirklichkeit geworden ist. 7. Das Christentum ist nicht nur als eine systematische Religion dem Begriff der positiven Religion zu subsumieren, sondern es muß als eine solche Religion aufgezeigt werden, in der der Begriff der positiven Religion selbst zur Darstellung gekommen ist. Wenn nämlich die Entfaltung des Christentums in den Reden eine Funktion für den gebildeten Standpunkt hat, insofern die Voraussetzung f ü r das gebildete Selbstverständnis des Redners eingeholt wird, dann kann diese Funktion nicht dadurch erfaßt werden, daß von der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt das Christentum als positive Religion identifiziert wird. Die Funktion wird aber dann expliziert, wenn vom Christentum gezeigt werden kann, daß es sich selbst als positive Religion verstanden hat und noch versteht. So erfüllt das Christentum nicht nur die Bedingungen der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt, sondern zugleich die Bedingung, unter der eine religiöse Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses gedacht werden kann. Schleiermacher bestimmt das Christentum als die wirkliche positive Religion, indem er seine Zentralanschauung als eine Anschauung bestimmt, die einerseits das als Wesen der Religion erkannte Verhältnis des Unendlichen und Endlichen selbst zum Gegenstand hat, die aber andererseits
- 150 sich selbst von der ihrem Wesen nach unendlichen Religion als eine ihrer endlichen Gestalten unterscheidet und damit auf alle anderen Gestalten der Religion bezogen ist. Das Christentum ist die sich als positive Religion wissende Religion, die das Universum in den Religionen und ihrer Geschichte anschaut und insofern eine höhere Potenz derselben (293f). Mit dem Selbstverständnis des Christentums als Religionsindividuum ist sowohl die Anerkennung aller anderen Religionen als Religionsindividuen verbunden als auch die Polemik gegen jede Auffassung der Religion, die dieser Individualitätsanschauung der Religion widerstreitet. Dieser Explikation des Christentums als positiver Religion, d.h. als dargestellter Anschauung des Universums in seinen Erscheinungen, muß die Auffassung dessen, der diese Anschauung zuerst gehabt und dargestellt hat, entsprechen. Dieser muß die Darstellung seiner religiösen Anschauung nicht nur auf seine endliche Individualität als Anschauender beziehen, sondern auch auf das angeschaute Universum, das in ihr zur Darstellung kommt. Im Blick auf die Erscheinung des Universums ist die religiöse Darstellung als eine Form seiner Selbstdarstellung zu fassen, so daß dem, der seine Religion als Religion darstellt, das "Bewußtsein seiner Mittlerschaft" (R 303) zugesprochen werden kann. Darin sind aber die beiden Momente der Individualitätsanschauung enthalten, nämlich daß mit der Erkenntnis seiner Endlichkeit die Anerkennung anderer Mittler gegeben ist, zugleich aber daß, indem mit der Selbstunterscheidung des endlichen Mittlers von dem Unendlichen, das sich durch ihn vermittelt, das wahre religiöse Verhältnis zur Darstellung kommt, ihm auch das "Bewußtsein seiner Gottheit" zugesprochen werden kann. Aufgrund der Differenz zwischen der christlichen Zentralanschauung und ihrem Mittler folgt dann weiter - und damit wird die Möglichkeit, über den Kunstsinn zur Religion zu kommen, aufgenommen - , daß allein die christliche Zentralanschauung über die Zugehörigkeit zum Christentum entscheidet, nicht aber die bestimmte Form der Vermittlung, noch ihre organisatorische Gestalt, d . h . die Zugehörigkeit zu der durch den ersten Träger der Zentralanschauung gestifteten Schule (R 303f). Der Gedanke der Mittlerschaft enthält auch sein Ende, weil diese Vermittlung nur solange stattfindet, wie es Menschen gibt, die dieser Vermittlung bedürfen. Insofern liegt in der christlichen Zentralanschauung auch die Anerkennung der Vergänglichkeit des Christentums (R 308), ohne daß sie (bloß als Anschauung ohne organisierende Funktion) selbst vergänglich wäre (R 307). 8. Kann Schleiermacher durch seine Darstellung des Christentums zeigen, daß in ihm als geschichtlicher Religion die Bedingungen gegeben sind, die von der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt für das Verständnis jeder Religion zu fordern sind, so daß damit zugleich gezeigt ist, daß innerhalb des Christentums auch ein gebildetes Selbstverständnis des Menschen als Individuum möglich ist, so macht doch sei-
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ne Darstellung deutlieh, daß das Christentum nicht darin aufgeht, 'Bildungsreligion ' zu sein, d . h . der gebildeten Religionstheorie zu entsprechen. Daß die Stufe, über die sich die Gebildeten erhoben haben, nicht nur als "noch nicht gebildet" bestimmt wird, sondern dem Entgegenstreben des Endlichen gegen das Unendliche zugerechnet wird, ist als Ausdruck des christlichen Sündenverständnisses zu begreifen, das auch gegen eine ungebrochene Erfüllung der im Mittlergedanken implizierten Erwartung vom Ende der Vermittlung geltend gemacht wird: "Die Verderblichkeit alles Großen und Göttlichen in den menschlichen und endlichen Dingen ist die eine Hälfte von der vir sprünglichen Anschauung des Christentums" (R 308). Dieser Auffassung korrespondiert das Verständnis der Vermittlung als Erlösung, ohne daß aber das über die in der religiösen Selbstdarteilung enthaltene Möglichkeit des Mittlertums hinausgehende Moment der Erlösung als Vollzug durch den Mittler explizit gemacht würde. Allein in der Darstellung der Kirche ist eine Andeutung zu erkennen. Denn die christliche Kirche wird über den Begriff der sichtbaren Kirche als vermittelnder Anstalt hinaus durch die zusätzliche Bedingung bestimmt, daß sie auf die durch den Mittler der christlichen Zentralanschauung gestifteten Symbole und seine "persönlichen Denkwürdigkeiten" (303f) bezogen ist. Diese Bedingung steht nicht in Übereinstimmung mit dem Verständnis der durch Mittler konstituierten sichtbaren Kirche, insofern hier dem Mittler selbst bei der Vermittlung eine aktive Funktion zukommt, während der Mittler durch die Darstellung seiner religiösen Anschauung nur die Möglichkeit für eine Vermittlung bereitstellt, deren Vollzug nicht in seiner Macht liegt. 9. Wenn der Zusammenhang zwischen Schleiermachers Bildungsbegriff, nämlich dem gebildeten Selbstverständnis als Individuum, und der Religionstheorie der Reden, die die konstitutive Bedeutung der Religion f ü r das gebildete Selbstverständnis entfaltet, und schließlich der Darstellung des Christentums als der positiven Religion, innerhalb deren es zu einem gebildeten Selbstverständnis hat kommen können, zutreffend bestimmt, so ergibt gerade die von Schleiermacher festgehaltene Differenz zwischen der Wirklichkeit des Christentums und seiner systematischen Funktion f ü r den Bildungsbegriff den Anlaß f ü r eine innere Kritik, die die im Bildungsbegriff intendierte Einheit des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum an seiner Darstellung zu bewähren sucht. a) Das mag auf den ersten Blick verwundern. Denn gegenüber anderen Auffassungen der Reden zeigte sich Schleiermachers Stärke doch darin, daß er eben keine einseitige Identifikation vollzogen hat, also weder die Gebildeten zu Christen erklärt, noch die Christen zu Gebildeten erhoben hat. Die festgehaltene Differenz ist der Reflex des Zwiespaltes zwischen dem in den Konfessionen partikular gewordenen Christentum und dem durch Vernunft aufgeklärten Bewußtsein, um dessen Überwindung es
- 152 Schleiermacher bei seinen Reden doch auch gegangen ist. Damit steht Schleiermacher auf der Linie derjenigen theologischen Reflexion, die ( z . B . Semler) die negativen Folgen des Konfessionalismus für das allgemeine Bewußtsein zu überwinden sucht. Aber gerade dieses Nebeneinander zwischen dem Christentum in seiner für die Gebildeten relevanten Gestalt und seiner nicht zu übersehenden geschichtlichen Wirklichkeit zeigt die Schwäche des systematischen Ansatzes. Auf diese Schwäche stößt man, wenn die Darstellung des Christentums nicht einfach auf die zuvor in den Reden entwickelte Religionstheorie bezogen wird, sondern wenn ihre Funktion für den Bildungsbegriff Schleiermachers reflektiert wird. Denn dort tritt die Differenz zwischen der Theorie und der geschichtlichen Wirklichkeit ihres Gegenstandes in Spannung zu der im Bildungsbegriff intendierten Einheit. Im Blick auf die Religionstheorie zeigt die Darstellung des Christentums nur, daß auch das Christentum unter diese Theorie subsumiert werden kann und daß die Bestimmungen der Religionstheorie offen sind für die geschichtlichen Bestimmungen ihres Gegenstandes. Das zeigt sich an den Begriffen des Verderbens und der Erlösung als Bestimmungen der christlichen Zentralanschauung. Die Bestimmungen der Religionstheorie über die Vermittlung des Endlichen und Unendlichen können durch andere, hier christliche Vorstellungen ausgedrückt werden, ohne daß die Verschiedenheit des Ausdrucks eine systematische Bedeutung erlangt. Für die Theorie ist die Verschiedenheit des Ausdrucks gleichgültig. Im Sinne dieser Gleichgültigkeit läßt sich auch verstehen, daß Schleiermacher neben seinem Kirchenbegriff das Selbstverständnis der Kirche als einer auf Christus bezogenen Organisation berücksichtigen kann. Denn für seine an der Zentralanschauung orientierte Religionstheorie ist jede Vorstellung einer vermittelnden Anstalt möglich, die dem Wesen der Religion als Anschauung des Universums durch das einzelne Individuum nicht widerspricht. Das ist der Fall, solange zwischen der religiösen Anschauung und ihrem Träger unterschieden wird (R 283). Bezieht man diese durch die Religionstheorie differenzierte Darstellung des Christentums auf den Bildungsbegriff, nämlich als die positive Religion, innerhalb derer es zu einem gebildeten Selbstverständnis kommen konnte, so macht diese Unterscheidung zwischen für die Theorie relevanten und gleichgültigen Momenten im Christentum die Abstraktheit des Bildungsbegriffs sichtbar, die in Spannung zu der von ihm intendierten Einheit steht. Diese Abstraktheit macht erst seine theoretische Explikation möglich. b ) Die Spannung, die die differenzierte Darstellung des Christentums für den Bildungsbegriff Schleiermachers bedeutet, liegt vor Augen, wenn man die Intention dieses Begriffs von Schleiermacher in seiner Bemerkung über die Monologen ausgesprochen findet: Ihm sei es darum gegangen, den philosophischen Standpunkt ins Leben zu übertragen, offenbar also gerade um die Überwindung der philosophischen Abstraktion. Sofern die abstrakte Subjektivität durch den Individualitätsgedanken ersetzt
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wird, ist in dieser Bemerkung die Intention des Bildungsbegriffs zu erkennen. Sie ist nicht nur in den ausdrücklichen Ausführungen über das Individualitätsbewußtsein als höchste Stufe des menschlichen Bewußtseins verwirklicht, sondern vor allem auch in der Darstellungsform der Reden und Monologen. In ihnen findet der gebildete Standpunkt in der Weise seine Darstellung, daß sich ein gebildetes Individuum an die anderen gebildeten Individuen wendet. Das Allgemeine findet nur in der Besonderheit eines Indidivuums seine Darstellung. Gerade aber diese Intention, durch die Selbstdarstellung des Gebildeten die Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit zur Darstellung zu bringen, muß scheitern, wenn in der differenzierten Darstellung des Christentums eine weitere geschichtliche Wirklichkeit desselben abgehoben wird, die seine Erfassung als positive Religion übersteigt. c) Die genauere Untersuchung von Schleiermachers Bildungsbegriff gibt den Grund für diese Spannung zu erkennen. Die im Bildungsbegriff intendierte Einheit der Individualität ist selbst nur ein Moment des Bildungsbegriffs, neben dem als zweites Moment die Bestimmung des Gebildetseins, d.h. die Beziehung auf den ungebildeten Standpunkt konstitutiv ist. Daß beide Bestimmungen sich zwar gegenseitig bedingen, aber doch selbständig nebeneinander stehen, macht die fehlende Explikation der Einheit beider Momente sichtbar. Weder wird das Gebildetsein als inhaltliche Bestimmung der Individualitätsanschauung expliziert, noch die Individualitätsanschauung im Zusammenhang des Gebildetseins. Bei der Identifikation im gebildeten Selbstverständnis als Individuum bleiben die impliziten Bestimmungen der beiden identifizierten Momente einander äußerlich. Das hat Folgen für die Explikation des gebildeten Selbstverständnisses. Die Selbstdarstellung des Gebildeten verlangt die gesonderte Darstellung von zwei Momenten, nämlich auf der einen Seite die des individuellen Bildungsprozesses, die für das gebildete Individuum unumgänglich ist, und auf der anderen Seite die Frage der Genese des gebildeten Selbstverständnisses, das die notwendige Voraussetzung für den Bildungsprozeß darstellt. Hierin liegt der Grund für die Unterscheidung zwischen Ethik und Religionstheorie als an der Individualitätsanschauung orientierten, ihrer Struktur nach parallelen Theorien. Diese Unterscheidung hat ihren signifikanten Ausdruck darin gefunden, daß Schleiermacher auch in der dem gebildeten Selbstverständnis entsprechenden Darstellungsform mit den religiösen Reden und den ethischen Monologen zu zwei Darstellungen gekommen ist, über deren Zusammengehörigkeit er in seinem Tagebuch festgestellt hat: "Selbstanschauung und Anschauung des Universums sind Wechselbegriffe". Diese Differenz steht auch hinter der Entgegensetzung der Religion gegenüber Metaphysik und Moral in der zweiten Rede. d) Die fehlende innere Einheit des Bildungsbegriffs zeigt sich schließlich auch als Abstraktheit an seinen beiden Momenten. Die in der Erhebung zum Gebildeten vollzogene Abstraktion wird durch den Individualitätsgedanken nicht ausgeglichen. So ergibt sich die Unstimmigkeit, daß eine
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Abstraktion als geschichtliche Zukunft behauptet wird. Die im Bildungsgedanken enthaltene Abstraktion zeigt sich in Wilhelm Meisters Wendung zum Theater, die die Abwendung von dem beschränkten Dasein als Kaufmann bedeutet. Schleiermacher bot in seiner Theorie des geselligen Betragens eine parallele Wendung. Der Gebildete strebt nach geselligem Umgang, der im Unterschied zu den Beschränkungen des beruflichen und häuslichen Lebens frei ist. Die Freiheit des Gebildeten bedeutet die Negation der Beschränkungen des Lebens. Diese Negation findet sich in der beklagten Verhinderung der Entfaltung der religiösen Anlage durch die praktischen und verständigen Menschen ebenso wie in der prophetischen Pose des Gebildeten als Bürger einer späteren Welt. So sehr diese Negation in der Erhebung über das bloße Bestimmtsein um der Freiheit des Gebildeten willen notwendig sein mag, sie wird durch den Gedanken der Selbstbestimmung des gebildeten Individuums nicht aufgehoben. Denn der Gebildete wird nur als der sich im Bildungsprozeß bestimmende und darin seine Bestimmung realisierende vorgestellt, nicht aber werden die Bestimmtheiten, über die sich der Gebildete erhoben hat, im Sinne der individuellen Selbstbestimmung rekonstruiert. Von diesen Bestimmtheiten wird aber nicht schlechthin abstrahiert, sondern in der Negation werden sie als negierte festgehalten, auf die der Gebildete bezogen bleibt. Das zeigte der doppelte Mittlerbegriff der ersten Rede, wie überhaupt für das Konzept der Vermittlung die Negation jeder direkten Bestimmung, aber so, daß das Negierte als Mittler im Dienste der Vermittlung des Unendlichen erhalten bleibt, kennzeichnend ist. Aber als positives Moment kann es eben nicht festgehalten und zur Geltung gebracht werden. Das zeigt gerade die differenzierte Darstellung des Christentums. Diese Abstraktion durch Negation schlägt sich auch in der Individualitätsanschauung nieder. Das wird deutlich, wenn man den mit der Darstellungsform erhobenen Anspruch mit dem in den Reden und Monologen dargestellten Inhalt vergleicht. Der Form nach tritt Schleiermacher auf als ein Individuum unter Individuen, das seine individuelle Eigentümlichkeit für die anderen zur Darstellung bringt. Dem Inhalt nach zeigt sich diese Darstellung aber gerade nicht als individuelle Selbstdarstellung, biographisch geben beide Schriften wenig her, sondern als Darstellung des gebildeten Standpunkts überhaupt. Das ist auch notwendig, weil die freie Geselligkeit an die Voraussetzung des gebildeten Selbstverständnisses gebunden ist und nur unter dieser Voraussetzung überhaupt gelingen kann. Also geht es Schleiermacher - und das ist dann der Einwand - in der Form individueller Selbstdarstellung um ein Allgemeines, nämlich um die Durchsetzung und Anerkennung seines Bildungsbegriffs, daß nämlich jeder Gebildete sich selbst als Individuum verstehen muß. Diese Voraussetzung für den freien geselligen Umgang kann eben nicht als individuelle Eigentümlichkeit Schleiermachers unter die verschiedenen Eigentümlichkeiten der Individuen eingeordnet werden, sondern sie ist der Boden,
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auf dem überhaupt die Vielheit individueller Verschiedenheit möglich ist, deren Bestimmungen f ü r die theoretische Grundlage dann gleichgültig sind. Daß aber jedes seiner Individualität bewußte Individuum den allgemeinen Gedanken der Individualität in Anspruch nehmen muß, und daß es als Gebildeter diesen Gedanken gegenüber den Ungebildeten explizieren muß, wenn es zur allgegenseitigen Anerkennung der individuellen Verschiedenheit kommen soll, erklärt zwar Schleiermachers Darstellung. Aber eben daran scheitert dann die poetische Fiktion, nur als eigentümliches Individuum auf zutreten. Die Doppeldeutigkeit der Individualitätsanschauung dokumentiert sich auch an der Darstellung des Christentums. Das Christentum wird von Schleiermacher als die sich als positive Religion wissende Religion dargestellt. Damit wird an einer eigentümlichen Religion die Voraussetzung f ü r die Wahrnehmung individueller Verschiedenheit unter den Religionen explizit. Aber doch nur so, daß seine individuelle Besonderheit, die jedes Religionsindividuum haben muß, auch wenn es sich als Individuum versteht, weil es sich immer nur als ein bestimmtes Individuum verstehen kann, zurücktritt hinter der sich in ihm zeigenden Positivität von Religion überhaupt. Angesichts der sich wissenden Individualität ist seine individuelle Bestimmtheit gleichgültig, wenn auch davon nicht abgesehen werden darf. Sonst würde Schleiermacher seinen Ansatz aufgeben, daß das Allgemeine immer nur in einer individuellen Gestalt gegeben ist. Aber über die Allgemeinheit des Individualitätsgedankens hinaus hat eben die individuelle Eigentümlichkeit keine systematische Bedeutung. e) Diese Kritik der Bildungstheorie des jungen Schleiermacher, die sich an der Frage orientierte, inwiefern die Einheit des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum zur Darstellung gekommen ist, verfolgt die Absicht, bestimmte Schwierigkeiten dieser Theorie sichtbar zu machen, so daß sich Schleiermachers spätere Darstellungen seiner Theorie nicht einfach durch äußerliche biographische Daten (Auflösung des romantischen Freundeskreises, Übergang auf Katheder und Kanzel und damit verbunden die Nötigung zur wissenschaftlichen Form der Darstellung) , sondern durchaus auch als Lösungen bestimmter Schwierigkeiten seiner frühen Theorie verstehen lassen. Die gebildete Darstellungsform mit ihrer poetischen Fiktion der freien Geselligkeit hat ihren Abgesang in der Weihnachtsfeier von 1806 gefunden, indem in ihr die freie Geselligkeit im Familien- und Freundeskreis dargestellt worden ist, während sich der Autor selbst nicht mehr als Glied dieser Geselligkeit einbringt. Vor allem aber fällt von den Schwierigkeiten, die Einheit des Bildungsbegriffs zur Darstellung zu bringen, ein Licht auf die Doppelheit von Schleiermachers Wissenschaftssystem, das auf der Seite der Philosphie das idealistische, aus der Idee des Urwissens abgeleitete System darstellen kann und zugleich daneben die Theologie als ein selbständiges System von wissenschaftlichen Disziplinen vertreten kann (KD § 6). In dieser Doppelheit ist die Differenz der im Bildungsbegriff verbundenen Momente ausgearbeitet.
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Β . CHRISTLICHER GLAUBE UND WISSENSCHAFTLICHE BILDUNG DIE VERÄNDERTE GESTALT DES BILDUNGSBEGRIFFS IN SCHLEIERMACHERS SPÄTEREM WERK Gibt der Begriff der Bildung, der das Selbstverständnis des Gebildeten als Individuum bezeichnet, eine profilierte, wenn auch nicht unproblematische Konzeption in den Frühschriften zu erkennen, die deren inneren Zusammenhang zu erhellen vermag, so ist mit dieser Konzeption eine Basis für eine Klärung von Schleiermachers späterer Systembildung gegeben. Die Möglichkeit einer solchen Klärung ist vorläufig zu betrachten, um den weiteren Gang der Untersuchung festzulegen. Geht man von den immer wieder beobachteten Differenzen aus, die dazu führen, daß von Schleiermachers Frühschriften die Werke der späteren Systembildung abgehoben werden!42 ( s o erlaubt der bisher untersuchte Bildungsbegriff eine differenzierte Beschreibung dieser Unterscheidung. Die Schwierigkeit einer Beschreibung dieser Lebensabschnitte, die Dilthey folgt, zeigt sich am Übergang zwischen beiden, wenn erklärt wird, wie Schleiermacher über die Romantik seiner Genossen hinaus zur wissenschaftlichen Systembildung gekommen ist. Ist nämlich die spätere Periode in dieser Weise charakterisiert, dann ist diese Charakteristik für die als vorangehende von dieser abgehobenen Periode ausgeschlossen. Der Übergang läßt sich dann als Änderung des geistigen Klimasl43 beschreiben, in welchem der Eklektiker gelebt hat. Der Grund für die einzelnen beobachteten Änderungen im Werk Schleiermachers ist von hier aus vor allem in bestimmten äußeren Einflüssen gesehen worden* 4 ^ Demgegenüber erlaubt der untersuchte Bildungsbegriff eine differenziertere Beschreibung. Denn die einzelnen beobachteten Änderungen lassen sich auf den durch ihn bezeichneten systematischen Zusammenhang beziehen und so an ihrem systematischen Ort erfassen, daß nach den Gründen für diese Änderungen und nach ihrer Bedeutung für die Konzeption insgesamt gefragt werden kann. Dabei wird der Bildungsbegriff nicht einfach als konstantes Element in dem Prozeß von Schleiermachers Theoriebildung festgehalten 145. Vielmehr wird es gerade darum gehen, die Änderungen in dem durch ihn bezeichneten Gedankenzusammenhang zu erfassen . Die folgende Untersuchung orientiert sich zunächst nicht an der zweiten Ausgabe der Reden von 1806, sondern an Schleiermachers Ethik. Sie folgt damit der Tendenz der Forschung, die Änderungen der Religionstheorie der Reden auf die veränderte Auffassung der Wissenschaft zurückzuführen die auch hinter der Charakterisierung von Schleiermachers späterem Werk als System s t e h t 1 4 7 . Darüber hinaus setzt sie aber nicht einfach ein bestimmtes Wissenschaftsverständnis als gegeben voraus, sondern versucht, angeregt durch die festgehaltene Umdeutung,
- 157 die die Begriffe der Wissenschaftslehre Fichtes in dem systematischen Kontext der Individualitätsanschauung in den Monologen erfahren hab e n d e , nach dem systematischen Zusammenhang zu fragen, innerhalb dessen Schleiermacher dies Wissenschaftsverhältnis rezipieren kann, und nach der Modifikation, die sich aus seiner Rezeption für dieses ergibt. Um aber überhaupt eine Rezeption und die in ihr erfolgte Modifikation des Rezipierten erkennen zu können, ist von einem vorhergehenden, bestimmten Wissenschaftsverständnis auszugehen, von dem es abgehoben werden kann. Schleiermachers ethische Entwürfe lassen Änderungen im Wissenschaftsverständnis erkennen, die eine solche Interpretation erlauben. Im folgenden wird versucht, zunächst die eigenständige Konzeption der Ethik als Wissenschaft zu erkennen, die die "Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803) bestimmt. Läßt sie sich auf den gebildeten Standpunkt zurückführen als den Ort, auf dem diese Kritik der Sittenlehre möglich ist, so ist damit eine Begründung der Ethik als Wissenschaft auf gewiesen, die deutlich von derjenigen unterschieden ist, die Schleiermacher in seinen ethischen Entwürfen seit 1805 mit der Deduktion aus der höchsten Idee des Wissens unternommen hat. Eine Erklärung dieser Änderung ergibt sich aus der Schelling-Rezension (1804), die sich als ein in Gestalt einer Kritik vorgetragener eigener Entwurf Schleiermachers erweisen wird. Die Kritik an Schellings System des Wissens gibt die Intention der Reden zu erkennen und macht zugleich eine Veränderung der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt deutlich, die in der zweiten Ausgabe der Reden von 1806 ihren Niederschlag gefunden hat. Die einzelnen Änderungen im Text der zweiten Rede lassen sich im Zusammenhang der Religionstheorie unter der in der Schelling-Rezension eröffneten Perspektive begreifen. Zugleich kann dadurch auch die Veränderung des gebildeten Standpunkts genauer bestimmt werden. Die systematische Bedeutung dieser Änderung des gebildeten Standpunkts zeigt sich an dem Begriff der Theologie als positive Wissenschaft, den Schleiermacher in der "Kurzen Darstellung" entfaltet hat. Die Einleitung der Glaubenslehre wird sich schließlich im Unterschied zur wissenschaftssystematischen Perspektive der Enzyklopädie als Rezeption des Argumentationszusammenhanges der Reden auf dem modifizierten gebildeten Standpunkt, d.h. auf dem Boden des theologisch-wissenschaftlichen Bewußtseins erweisen.
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I. Die Konstitution der Ethik als Wissenschaft auf dem gebildeten Standpunkt: Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) Da der Zusammenhang zwischen Schleiermachers Bildungsbegriff und seiner philosophischen E t h i k 1 4 9 nicht auf den ersten Blick evident ist, muß zunächst in einer Vorüberlegung herausgestellt werden, in welcher Weise das gebildete Selbstverständnis für die Ausarbeitung des ethischen Themas und die Ethik für die Untersuchung des Bildungsbegriffs relevant ist. Die vorliegende Gestalt von Schleiermachers Ethik legt ihre Einordnung in das System des Wissens nahe 1 ^®. Aber damit sind die Dokumente, in denen sich Schleiermachers lebenslange Beschäftigung mit der ethischen Thematik niedergeschlagen hat, nur zum Teil erfaßtl^l. Die in ihnen aufbewahrte Geschichte der Gedanken Schleiermachers, die gerade hinsichtlich der Konstitution der Ethik als Wissenschaft keinen eindeutigen Abschluß gefunden hat, kommt nicht zur Geltung, wenn davon ausgegangen wird, daß die Ethik als Wissenschaft mit der Idee des Wissens konstituiert istl52< Sofern dieser Geschichte für die Ausbildung von Schleiermachers Ethik eine Bedeutung zukommt, ist die der systematischen Gestalt vorangehende Thematisierung der Ethik mit einzubeziehen. Die folgende Untersuchung läßt sich vom Thema her eingrenzen. Da Schleiermachers Bildungsbegriff an seinen Frühschriften erhoben worden ist und nach der Veränderung der durch ihn bezeichneten Konzeption gefragt wird, ist unter Vernachlässigung der früheren Arbeiten zur Ethik jener Abschnitt dieser Geschichte zu betrachten, der den Übergang zur systematischen Gestalt der Ethik dokumentiert. Wegen der Konzentration auf die Veränderung des Bildungsbegriffs wird eine weitere - aus Gründen des Arbeitsumfangs e r forderliche - Beschränkung auf die Konstitution der Ethik als Wissenschaft vorgenommen. Vom gebildeten Selbstverständnis her läßt sich zwischen der Thematisierung der Individualitätsanschauung in der Ethik und der Thematisierung der Ethik auf dem Standpunkt der gebildeten Individualitätsanschauung unterscheiden. So sehr es im Rahmen des Themas liegt, an der ausgeführten Gestalt der Schleiermacher sehen Ethik zu untersuchen, wo und wie die im Bildungsbegriff erschlossene Individualitätsanschauung zur Geltung gebracht worden ist - was es z . B . bedeutet, daß das Handeln der Vernunft auf die Natur nur dann ein Gegenstand der Ethik ist, wenn es von einer bereits vorausgesetzten Vereinigung der Vernunft mit der Natur a u s g e h t * ^ , welche Vorstellung weiter hinter der dreiteiligen Durchführung der Ethik als Güter-, Tugendund Pflichtenlehre stehtl^ 4 und schließlich im Blick auf die Frage nach der ethischen Begründung der Theologie, welche Bedeutung der Thematisierung der Religion innerhalb der Ethik zukommt und welche Stellung
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der Bereich der Gefühlsoffenbarung innerhalb der sittlichen Welt einnimmt 155 _ go m u ß sich die folgende Untersuchung auf die wesentliche Voraussetzung dieser Fragen konzentrieren. Denn sie werden auf dem Boden des untersuchten Bildungsbegriffs gestellt und setzen einen bestehenden Zusammenhang zwischen dem gebildeten Selb st Verständnis und der ethischen Thematik voraus. Es ist aber zu fragen, inwiefern ein solcher Zusammenhang über die Zeit der Frühschriften hinaus besteht. Daher wird sich die folgende Untersuchung auf die Frage nach der Konstitution der Ethik als Wissenschaft beschränken. Bereits die Theorie des geselligen Betragens läßt erkennen, wie auf dem Boden des gebildeten Selbstverständnisses das Thema der Ethik gestellt ist. Um eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes der Geselligkeit im Blick auf das Ideal der freien Geselligkeit zu erreichen, muß der einzelne in der Lage sein, sein Handeln diesem Zweck gemäß zu bestimmen. Dazu muß er sich einer Theorie bedienen, durch die er den Zusammenhang zwischen dem einzelnen Handeln zu erfassen und sein eigenes Handeln aufgrund dieser Erkenntnis so zu vollenden vermag, "daß er ihm seine Stelle im System anweist" (ThgB 7). Auch in der Beschränkung des ethischen Themas auf das gesellige Betragen ist der Ansatz zu seiner Ausführung wohl zu erkennen. Denn nicht nur der abgesonderte Bereich der Geselligkeit, sondern alle Bereiche des Lebens stehen für den Gebildeten unter der Frage nach der vollkommenen Bestimmung seines einzelnen Handelns. Das ethische Thema ist durch die Individualitätsanschauung des Gebildeten näher bestimmt. Für das gebildete Individuum ist es unumgänglich, ein System von Handlungen aufzustellen, um dem einzelnen, vor allem seinem eigenen Handeln seine Stelle im Ganzen anweisen zu können. Diese ethische Reflexion ist nicht nur zur Beurteilung von Handlungen möglich, sondern f ü r jede einzelne Willensbestimmung des gebildeten Individuums notwendig, damit der Gebildete seinem Selbstverständnis gemäß handeln wird. Für die Bestimmung des einzelnen im Ganzen ist zweierlei erforderlich: Zum einen muß ein Umriß des Ganzen aufgestellt werden, d . h . es müssen Kategorien gefunden werden, mit denen das einzelne überhaupt als Teil eines Ganzen erfaßt werden kann. Zum anderen muß der gegenwärtige Zustand des Bildungsprozesses bestimmt werden, in welchem sich das Ganze, dessen Teil jedes vergangene, gegenwärtige und zukünftige Handeln ist, befindet. Demzufolge muß die ethische Theorie folgende Bedingungen erfüllen: Um dem einzelnen Handeln seine Stelle im Ganzen angeben zu können, müssen die Kategorien der Ethik dem Begriff des Handelns entsprechen, den sie erfassen sollen. Stützt sich diese Einordnung auf die durch einzelne Handlungen bereits realisierte Gestalt des Ganzen, so muß das sichtbare Resultat der Handlungen in die ethische Theorie einbezogen sein. Die Reflexion des ethischen Themas auf dem gebildeten Standpunkt f ü h r t zu der Vermutung, daß ein Zusammenhang besteht zwischen der gebildeten Individualitätsanschauung und dem eigentümlichen Charakter der Ethik Schleiermachers als deskriptive Ethik sowie der Priorität, die die Güter-
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lehre hat. Die f ü r die Individualitätsanschauung konstitutive Relation des Ganzen und des einzelnen als sein Teil und ihre Explikation in einem Bildungsprozeß legen eine nichtimperativische und nicht am Pflicht- bzw. Tugendbegriff orientierte Durchführung des ethischen Themas zumindest nahe. Läßt sich der Zusammenhang zwischen dem Bildungsbegriff und dem ethischen Thema so fassen, daß auf dem gebildeten Standpunkt eine ethische Theorie notwendig ist, durch die die Stelle des einzelnen Handelns im Ganzen sich bestimmen läßt, so ist die Individualitätsanschauung auch für die Theoriebildung selbst in Anschlag zu bringen. Denn wie das einzelne Handeln, für das der Gebildete seinem Selbstverständnis gemäß eine ethische Theorie entwickelt, ist auch diese Theorie an die individuelle Perspektive gebunden, unter der der Gebildete das Ganze des Handelns sieht. Ist mit der Theorie der Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben, so ist von dem Ausgangspunkt beim gebildeten Individuum aus die Allgemeinheit der Theorie erst zu erweisen. Hat man die Entsprechung vor Augen, die in Reden und Monologen zwischen Inhalt und Form besteht, wenn sie auf den gebildeten Standpunkt zu beziehen sind, so ist durch diese Vorüberlegung, wie auf dem gebildeten Standpunkt die Ethik thematisch wird, der Verstehenshorizont f ü r die Frage nach der Konstitution der Ethik als Wissenschaft gewonnen, vor die sich Schleiermacher gestellt sah, wenn er sich zunächst an einer Kritik der bisherigen Sittenlehre versucht hatl56_ um nicht Gefahr zu laufen, in Schleiermachers Kritik der Sittenlehre hineinzutragen, was dann in ihr auch gefunden wird, ist es notwendig, den Argumentationsgang dieser Kritik zu rekonstruieren, um seine systematischen Implikationen deutlich zu machen.
1. Die Kritik der bisherigen Sittenlehre als Kritik ihrer wissenschaftlichen Form Schleiermacher hat durch den Begriff der 'Grundlinien' schon angezeigt, daß es um einen die einzelnen Entwürfe der bisherigen Sittenlehre übergreifenden Zusammenhang, d . h . um ihre Geschichte geht. In der Einleitung wird diese Betrachtungsweise näher dargelegt, indem die gewöhnliche, in einzelnen ethischen Entwürfen geübte Kritik und die gewöhnlichen Darstellungen der Geschichte der Ethik einer Kritik unterzogen werden. Die gewöhnliche Darstellung der bisherigen Sittenlehre orientiert sich an verschiedenen Schulen. Der Ausdruck 'Schule', der einen geschichtlichen, d . h . die Überlieferung betreffenden Sinn gehabt hat, bezeichnet in Schleiermachers Augen "mehr eine zufällige und halb erdichtete, als auf etwas Wirkliches und Wesentliches sich beziehende Vorstellungsart" (16.8-10) 1 5 7 . Schleiermacher erläutert seine Behauptung, indem er diesem Ausdruck einen "wissenschaftlichen Sinn" gibt, der mit dem überein-
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stimmt, was in der gebildeten Religionstheorie über die sichtbare Kirche als vermittelnde Anstalt dargelegt worden i s t ^ ^ . Dort dient der Begriff der Schule, d.h. das Verhältnis zwischen Meister und Schüler, dazu, die Möglichkeit der Vermittlung einer Anschauung von einem Individuum zu einem anderen auszusagen, ohne daß der eigenständige Vollzug des Anschauens durch jedes der Individuen ausgeschlossen ist. Eben dieses Verständnis der Schule begründet Schleiermachers Ablehnung der an verschiedenen Schulen orientierten Darstellung der Geschichte der Ethik. Denn er macht gegenüber der im Ausdruck der Schule intendierten Abgeschlossenheit die mannigfaltige Ausprägung der ursprünglichen Ansicht durch die Schüler geltend, insofern von den Schülern "der eine dem, der andere jenem Teile des Ganzen sich vorzüglich widmen" (16, 26f). Deshalb kann nun aber weder die innere Abgeschlossenheit der Schule behauptet werden, noch ist das Verhältnis der inneren Verschiedenheit zu der äußeren von anderen Schulen geklärt. In ihrem Kern richtet sich die Kritik auf die Verschiedenheit der Schulen, deren jeweilige Eigentümlichkeit eben nur im Verhältnis zu den anderen bestimmt werden kann (17,8-11), was aber wegen der Unbestimmtheit des Begriffs der Schule nicht möglich ist. Schleiermacher verbindet also in dieser Argumentation zwei Momente: Einmal relativiert er den Ausdruck 'Schule' als eine abgeschlossene, selbständige Größe, indem er auf den Ursprung der Verschiedenheit zurückgeht, nämlich auf individuelle Menschen, die das Ganze jeweils nur partikular, ihrer Natur gemäß erfassen und nur einander ergänzend das Ganze vorläufig darzustellen vermögen. Zum anderen geht Schleiermacher von der so problematisierten Verschiedenheit der ethischen Schulen aus und behauptet, daß ihre Eigentümlichkeit jeweils nur im Zusammenhang mit den anderen bestimmt werden kann. Das aber bedeutet, daß ein Zusammenhang in den Blick genommen wird, innerhalb dessen eine solche Bestimmung des einzelnen möglich ist. Aufgrund dieser Kritik kommt Schleiermacher zu dem Schluß: "Besser also scheint es getan, nach den zur Lösung der ethischen Aufgabe unumgänglichen Erfordernissen das Ganze zu ordnen" (17,55-17). Indem Schleiermacher die Entwürfe der bisherigen Sittenlehre als verschiedene Lösungen der ethischen Aufgabe erfaßt, hebt er auf die hinter der jeweiligen Besonderheit der Entwürfe liegende Allgemeinheit der Ethik ab. Sofern die ethische Aufgabe in dieser Allgemeinheit konzipiert werden kann, lassen sich die Kriterien angeben, an denen die einzelnen Entwürfe der bisherigen Sittenlehre zu messen sind. Eine erste Näherbestimmung dessen, was Schleiermacher als die ethische Aufgabe versteht, ergibt sich aus der Erläuterung seiner kritischen Absicht. Auf dem Boden des Verständnisses der mannigfaltigen Verschiedenheit der bisherigen ethischen Entwürfe durch den Begriff der Schule bewegt sich auch die Kritik, die Schleiermacher an der gewöhnlichen Kritik der Ethik ü b t . Die ethischen Entwürfe befinden sich im Zustand des
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unentscheidbaren Streites, weil jede "bestimmte Darstellung von ihren Grundsätzen aus die übrigen prüft und würdigt" ( 9 , 9 ) . Dabei liegt der Mangel weniger darin, daß die Verschiedenheit der einzelnen Darstellungen, "inwiefern eine von der andern abweicht", nicht durch "einzelne Blicke . . . von den vorteilhaftesten Stellen (des) eigenen Weges auf den des anderen" erfaßt werden kann, sondern dafür "etwas Vollständigeres" notwendig ist (9,14-19), als vielmehr darin, daß für den jeweils zu kritisierenden Entwurf vorgängig in Anspruch genommen ist, daß er "sich bereits als der richtige erwiesen" habe (9,29f), so daß eine Verschiedenheit gar nicht als Verschiedenheit in den Blick kommen kann. Ein solcher Anspruch des ethischen Entwurfes kann nun nicht durch einen von außen herangetragenen, fremden Gesichtspunkt, wie die Obereinstimmung mit der bürgerlichen Gesellschaft oder Gottes Gebot erwiesen v/erden. Daran soll sich vielmehr ihre Richtigkeit prüfen lassen, "daß sie ihre Aufgabe der Form nach vollständig und rein gelöst" haben (10,9). Denn "es gibt nämlich gar für jede eigentliche Wissenschaft, wie doch die Ethik sein will und soll, keine andere Kritik, als die der wissenschaftlichen Form, und eine solche aufzustellen soll hier versucht werden" (10,12-16).
Schleiermachers Argumentation entspricht seiner zuvor dargelegten Kritik der gewöhnlichen Darstellung der Geschichte der Ethik. Er setzt bei der Verschiedenheit der ethischen Entwürfe an und geht auf das ihnen gemeinsame Allgemeine zurück. Dies Allgemeine wird dadurch näher bestimmt, daß jede Lösung der ethischen Aufgabe der wissenschaftlichen Form genügen soll. Diese Beschränkung auf die wissenschaftliche Form ist in ihrer Bedeutung genauer zu bestimmen. Denn ganz so formal, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, hat Schleiermacher das Kriterium für die ethischen Entwürfe nicht verstanden. Das zeigt seine Argumentation, mit der er den Sinn seiner Kritik näher erläutert. Zunächst ist aufgrund der vorangegangenen Kritik der gewöhnlichen Kritik deutlich, daß durch die Beschränkung auf die wissenschaftliche Form Schleiermacher dem Streit um die obersten Prinzipien der Ethik entgeht, indem er ihn offen läßt. Das Kriterium der wissenschaftlichen Form bedeutet, daß über die inhaltliche Bestimmung des obersten Prinzips nicht vorab entschieden ist. Dadurch trägt Schleiermacher der Tatsache Rechnung, daß verschiedene ethische Entwürfe im Laufe der Geschichte gemacht worden sind. Der nun drohenden Gefahr der Beliebigkeit, daß die wissenschaftliche Form in verschiedener Weise inhaltlich bestimmt werden kann, begegnet Schleiermacher mit dem Argument der Einheit des Gegenstandes der Wissenschaft und der Entsprechung von Form und Inhalt. Seine Kritik steht nämlich unter einer zweifachen Voraussetzung. Einerseits ist gefordert, daß die ethische Aufgabe für alle Entwürfe in gleicher Weise und eindeutig gestellt ist, oder - wie er sagt - daß "der Begriff derselben gegeben ist" (11,16). Auf der anderen Seite ist gefordert, daß es nur eine Lösung für
- 163 die gestellte ethische Aufgabe geben kann ( 10,20ff). Dafür beruft er sich auf die Einheit des wissenschaftlichen Gegenstandes. Wenn es nämlich mehrere Lösungen der Aufgabe gibt, so bedeutet das, daß dasjenige, was als Gegenstand dieser Wissenschaft als gegeben angenommen wurde, keine Einheit hat, und "daß die Ethik sich nicht eigne, eine Wissenschaft zu sein" (10,31f). Aus der Annahme der Einheit des Gegenstandes der ethischen Wissenschaft folgt aber, daß Form und Inhalt, "Gestalt und Gehalt einander zur Bewährung dienen" ( l l , 7 f ) . Gerade also von der Entsprechung von Form und Inhalt im Blick auf die Einheit des Gegenstandes leitet Schleiermacher die Möglichkeit seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre ab. Denn nur unter der Voraussetzung dieser Entsprechung kann die Kritik der wissenschaftlichen Form zugleich eine Kritik des in dem jeweiligen Entwurf dargestellten Inhalts bedeuten. Bemerkenswert ist dabei, daß Schleiermacher diesen Wissenschaftsbegriff, der dem Kantischen Begriff der transzendentalen Logik entspricht 159 ; a i s bloß formale Bedingung aufstellt, der die ethischen Entwürfe genügen müssen, daß er ihn nicht als zureichenden Grund für eine adäquate Darstellung der Ethik als Wissenschaft versteht. Das ist zwar auf dem Hintergrund der Auseinandersetzung und Kritik, die Schleiermacher an Kants Ethik und ihrer Begründung geübt hatl59a > nicht überraschend, aber es ist doch immerhin genauer zu betrachten, wie Schleiermacher den Zusammenhang zwischen diesem Wissenschaftsbegriff und den verschiedenen Entwürfen der bisherigen Sittenlehre, von denen er ausgeht, bestimmt. Um diesen Zusammenhang herstellen zu können, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Zum einen ist es notwendig, eine inhaltliche Bestimmung der Ethik zu geben, damit dieser Begriff der Wissenschaft überhaupt auf die ethischen Entwürfe appliziert werden kann. Schleiermacher muß also den ethischen Gegenstand bezeichnen, der einer wissenschaftlichen Darstellung fähig ist und durch den diese Wissenschaft als ethische bestimmt ist. Darüber hinaus muß aber der gegebene Begriff der Ethik wiederum so unbestimmt sein, daß er die Verschiedenheit ethischer Entwürfe überhaupt zuläßt. Denn nur aus dieser Differenz zwischen dem allgemeinen Begriff und den verschiedenen Entwürfen zieht das kritische Unternehmen Schleiermachers seinen Sinn, daß nämlich "eine wie die Ethik so vielfach bearbeitete Wissenschaft, wenn nur der Begriff derselben gegeben ist, ganz ohne weder einen von den bisherigen Versuchen anzuerkennen, noch auch einen neuen zuvor anzustellen, dennoch der Kritik unterworfen werden kann" ( 1 1 , 1 5 - 1 9 ) . Die Kritik unterscheidet sich von einem ethischen Entwurf dadurch, daß in ihr von der Eigentümlichkeit, durch die er von anderen verschieden ist, abgesehen wird und nur der allgemeine von den Entwürfen in verschiedener Weise ausgeführte Begriff der ethischen Wissenschaft als Bedingung entfaltet wird, denen sie unterworfen sind. Wie dieses Verhältnis des Allgemeinen und Eigentümlichen genauer bestimmt ist, kann erst erörtert werden, nachdem der Begriff der ethischen Wissenschaft untersucht worden ist.
- 164 Dem Begriff der Wissenschaft zufolge müssen in der Ethik, wenn sie Wissenschaft sein soll, Form und Inhalt einander entsprechen. Schleiermacher stellt nun einen solchen Begriff der Ethik auf, bei dem diese Bedingung erfüllt ist. Alle Ethik hat es mit dem menschlichen Handeln zu tun, genauer mit derjenigen Bestimmung des Handelns, durch die es als sittlich qualifiziert wird. Auf dieses Kriterium der Sittlichkeit bezieht Schleiermacher die wissenschaftliche Form. Er definiert, daß ein Entwurf der Ethik als Wissenschaft dort vorliegt, "wo ein zusammenhängendes und das Gebiet umfassendes System verheißen worden ist, welches das zufällige menschliche Handeln unter einer Idee betrachtet, nach der, was darin ihr angemessen ist, ausschließend und ohne Ausnahme als gut gesetzt, als böse aber ebenso alles mit ihr Unvereinbare verworfen wird" (11,27-32). Die Einheit des Gegenstandes einer Wissenschaft ist eine solche, die Mannigfaltigkeit in sich einschließt und dadurch einer Darstellung fähig ist, die ihrer wissenschaftlichen Form nach als System zu bezeichnen ist. Die Einheit eines solchen Systems wird gewährleistet durch eine Idee, nach der über die Zugehörigkeit des einzelnen zum System entschieden werden kann. Diesen Begriff der Wissenschaft als System wendet Schleiermacher auf das sittliche Handeln als den Gegenstand der Ethik an. Dabei geht es ihm nicht um die Frage, wie eine Bestimmung des Handelns möglich ist, sondern um die Bestimmung, durch die ein unbestimmtes, aber bestimmbares (zufälliges) Handeln bestimmt werden kann. Der Umfang des Systems wird durch die jeweilige Idee definiert. Wie immer sie also bestimmt sein mag, sie garantiert die Einheit des Zusammenhangs menschlichen Handelns, das als sittlich aufgefaßt wird. Denn über die Sittlichkeit des einzelnen Handelns entscheidet die Zugehörigkeit zu einem durch eine Idee definierten Handlungsganzen. Dieser Begriff der ethischen Wissenschaft trägt Schleiermachers kritischer Absicht darin Rechnung, daß er die Idee, die das System zu einem Ganzen zusammenschließt, unbestimmt läßt. Damit ist vorerst der Ort für das Verhältnis des Allgemeinen und Eigentümlichen der ethischen Entwürfe bezeichnet. Denn die Idee eines ethischen Systems muß so gefaßt sein, daß sie ihre systematische Funktion erfüllt und zugleich die Eigentümlichkeit der verschiedenen Entwürfe zuläßt. Die inhaltliche Bedeutung des Systemgedankens für die Ethik, der der Individualitätsanschauung darin analog ist, daß wie das gebildete Individuum sich als Teil eines Ganzen versteht, auch das einzelne Handeln durch seine Zugehörigkeit zum Ganzen des menschlichen Handelns als sittlich qualifiziert wird, stellt Schleiermacher in den Abgrenzungen des Materials heraus, das von seiner Kritik erfaßt wird. Durch das Kriterium der wissenschaftlichen Form ist die Reichweite der Kritik beschränkt. Denn sie gilt nur für solche Entwürfe, die den "Anspruch, eine eigne und echte Wissenschaft sein zu wollen . . . mit dem Wort oder der Tat" erhoben haben ( l l , 2 4 f f ) . Mit dieser weiten Formulierung umfaßt Schlei-
- 165 ermacher die gesamte Geschichte der phñosophischen Ethik. Schleiermacher will sowohl solche Entwürfe erfassen, deren Ausführung hinter der formulierten Intention zurückgeblieben ist, was - wie seine Kritik zeigen wird - mehr oder weniger auf die gesamte bisherige Sittenlehre zutrifft, als auch solche, die zwar den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht ausdrücklich erhoben haben, deren Ausführung aber diesen Anspruch erkennen läßt (11,33-12,24, vor allem Piaton). Durch den Systemgedanken âls Bestimmung der wissenschaftlichen Form ist aber eine zweifache Abgrenzung v o l l z o g e n ^ · ) nämlich auf der einen Seite diejenigen ethischen Sätze, die hinter einer zusammenhängenden Darstellung zurückbleiben und auf der anderen Seite diejenigen ethischen Darstellungen, deren Zusammenhang durch eine nicht der Ethik angehörende Idee gewährleistet ist. Dabei können beide Extreme einander ergänzen, indem die "sittlichen Aussprüche der gemeinen Rede und Meinung" (12,30f), deren Zusammenhang nicht auf einer "Einheit der Grundsätze" (13,19f) beruht, durch eine der Ethik fremde Beziehung in einen Zusammenhang gebracht werden, wie sie in der Berufung "auf empfangene Gebote" vorliegt (12,32), so daß sie in der "Ethik der Gottseligkeit" als "Darlegung des gebietenden Inhaltes einer Offenbarung" bestimmt werden (12,4-6). (
Daß der Systemgedanke darüber hinaus die sittliche Bestimmung des einzelnen Handelns einschließt, zeigt Schleiermacher, indem er den bei Kant und Fichte zentralen Begriff der Freiheit aus der Ethik ausschließt. Die ethischen Entwürfe werden auf das "zufällige menschliche Handeln" als ihren Gegenstand festgelegt und alles ausgeschlossen, "was von oben oder unten diesem angehängt zu werden pflegt" (13,27-30). Genau das aber geschieht in Schleiermachers Augen durch die Anwendung des Begriffs der Freiheit. Seine Argumentation, die nur auf den auf die Ethik bezogenen Teil seiner umfassenderen Kritik an Kant und Fichte darstellt, trägt Schleiermacher in zwei Schritten vor, indem er zunächst darlegt, daß der Begriff der Freiheit nicht in das abgesteckte Gebiet der Ethik fällt, und dann den doppelten Ort dieses Begriffs aufzuzeigen. Sein erstes Argument richtet sich dagegen, daß dem Gegensatz zwischen der Kausalität der Natur und der Freiheit eine Bedeutung für die Sittlichkeit zukommt1®^. Den Gegensatz von gut und böse bezieht er statt dessen auf den Unterschied zwischen dem Ideal und seiner Verwirklichung, indem er zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit, zwischen Schönheit und Häßlichkeit unterscheidet (14,21f). Damit hat er das Problem der Sittlichkeit verlagert, insofern nicht nach dem Grund und der Möglichkeit sittlichen Handelns, nicht nach der Bestimmbarkeit des Willens gefragt ist, diese vielmehr vorausgesetzt und die richtige Bestimmung des Handelns zum Kriterium für die Sittlichkeit des realen Handelns gemacht wird. Schleiermacher kann eine solche Position einnehmen, weil er die Möglichkeit einer Bestimmung des Handelns voraussetzt. Sie ist dadurch gegeben, daß die "allgemeinen Gesetze des menschlichen Handelns"
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(9,3f) einer Darstellung als System fähig sind, die über die Sittlichkeit der einzelnen Handlung zu entscheiden erlaubt. Der Systemgedanke macht einen unmittelbaren Rekurs auf die Freiheit unnötig. Durch die Beschränkung der Ethik auf das einzelne Handeln und seine direkte Zuordnung zum Ganzen des menschlichen Handelns unter Umgehung der Übertragung der Handlung auf das handelnde Individuum, kann Schleiermacher den Ort der Freiheit jenseits der Ethik bestimmen. Niedriger als die ethische Wissenschaft liegt der Begriff der Freiheit, insofern er nur dann im Blick auf eine einzelne Handlung zur Anwendung kommt, wenn die sittliche Beurteilung zu Zweifeln Anlaß gibt, die auf den Täter zurückfallen. Ein höherer Gebrauch des Begriffs der Freiheit liegt vor, wenn er auf den Menschen selbst bezogen wird. Hier gibt Schleiermacher eine aufschlußreiche Bestimmung: Freiheit hat eine einheitsstiftende Funktion im Menschen, "insofern sie die menschliche Natur in ihren wesentlichen Beziehungen erst zusammensetzend darstellen" soll (15,7f). Diese Funktion wird nun aber näher dahin bestimmt, daß die Freiheit "die Verhältnisse der Persönlichkeit zu der Eigenschaft des Menschen, vermöge deren er ein Teil eines Ganzen ist, bestimmen soll" ( 15,9ff). In dieser Bedeutung ist der Begriff der Freiheit auf die Individualitätsanschauung bezogen, wobei Schleiermacher auf die religiöse Seite des Individuums anspielt, ohne das ausdrücklich zu sagen. Die Bedeutung der Religion für die Freiheit des Individuums wird durch zwei Beobachtungen gesichert. Betrachtet man die nähere Bestimmung des Begriffs der Freiheit, so kann das bezeichnete Verhältnis nicht anders aufgefaßt werden, als daß das religiöse Bewußtsein des Menschen, vermöge dessen er sich als Teil eines Ganzen weiß und es deshalb auch sein kann, zum Bestimmungsgrund für die äußeren Verhältnisse der Persönlichkeit gemacht werden soll und daß das so geordnete Verhältnis durch den Begriff der Freiheit bezeichnet wird. Zum anderen bestimmt Schleiermacher das Verhältnis dieser Reflexion zur ethischen Wissenschaft näher; Freiheit in dieser Bedeutung ist immer vorausgesetzt. Sie kann nicht von einer Wissenschaft mit einem begrenzten Gegenstand, wie es die Ethik mit dem Handeln als ihrem Gegenstand ist, erfaßt werden. Schleiermacher setzt nun einen Satz hinzu, der eine vorsichtige Interpretation dieser Zuordnung darstellt, die gegen Kant und Fichte seine eigene, schon in den Reden eingenommene Position andeutet: "Womit jedoch nicht gesagt ist, daß jene Frage (sc. der Freiheit) zu demjenigen Höheren gehöre, wovon die Ethik abgeleitet werden müßte" (15,14-16). Ohne diesen Satz überinterpretieren zu wollen, läßt er doch einen Unterschied im 'Höheren' erkennen, nämlich zwischen der höheren Wissenschaft und dem Ort der Freiheit. Dieser Unterschied kommt mit dem überein, was oben über den Idealismus Fichtes und den Standpunkt des gebildeten Individuums ausgeführt wurde. Diese Bemerkung Schleiermachers ist beiläufig und hat nur eine negative Funktion, insofern sie die Behauptung unterstützt, daß der Begriff der Freiheit nicht in das Gebiet der Ethik gehört.
- 167 Daher kann die Entschlüsselung dieser Andeutung auch nur indirekt daran bewährt werden, wie Schleiermacher seinen Begriff der Ethik begründet, ohne auf den Begriff der Freiheit zu rekurrieren. Diese Begründung kann aber nicht erkannt werden, ohne daß das Verhältnis zwischen diesem Begriff der Ethik und den einzelnen ethischen Begriffen untersucht ist. Damit ist zunächst auf Schleiermachers Kritik der obersten Ideen einzugehen. 2. Die Bestimmung der Verschiedenheit der obersten Grundsätze zum Zwecke ihrer Kritik Schleiermacher hat mit diesem Begriff der Ethik als Wissenschaft das Allgemeine näher bestimmt, das nach seiner Auffassung in den verschiedenen Entwürfen der bisherigen Sittenlehre intendiert worden ist. Da diesem Begriff zufolge der Gegenstand der Ethik als Gesamtzusammenhang des menschlichen Handelns bestimmt ist, dem jedes einzelne Handeln, das sittlich sein soll, angehören muß, so ist die Darstellung dieses Gegenstandes in einem System geboten. Die Kritik der bisherigen Sittenlehre kann sich also statt an den verschiedenen Schulen an der systematischen Darstellung des menschlichen Handelns orientieren. Aber Schleiermacher geht es nicht um eine buchstäbliche Realisierung, die nur dort möglich gewesen wäre, wo dieser Begriff auch ausdrücklich so aufgestellt worden wäre. Um prüfen zu können, inwiefern in den Entwürfen der bisherigen Sittenlehre Ansprüche auf die Wissenschaftlichkeit der Ethik erhoben und inwieweit sie auch realisiert worden sind, ist die weitere Differenzierung des Begriffs erforderlich. Die Kritik kann sich dann an seiner systematischen Entfaltung orientieren. Schleiermacher unterscheidet drei Momente, denen er jeweils ein Buch seiner Kritik widmet. Damit das menschliche Handeln als Ganzes zur Darstellung kommt, ist erstens eine Idee erforderlich, durch die das vielfältige menschliche Handeln zur Einheit zusammengeschlossen wird. Durch die leitende Idee wird "diejenige Beschaffenheit das Handelns (angegeben), durch welche jedes einzelne als gut gesetzt wird, und welche sich überall wiederfinden muß, indem das ganze System nur eine durchgeführte Aufzeichnung alles desjenigen ist, worin sie erscheinen kann" (17,2327). Die Idee ist als einheitsstiftendes Moment in der Weise auf die systematische Darstellung des menschlichen Handelns bezogen, daß sie nicht nur als Kriterium der Zugehörigkeit des einzelnen Handelns zum Ganzen fungiert, sondern daß sie selbst der Entfaltung zu diesem systematischen Ganzen fähig und das System aus ihr abzuleiten sein muß. Darauf richtet sich die Kritik der Tauglichkeit der obersten Ideen im ersten Buch.
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Diese systematische Entfaltung der obersten Idee geschieht durch die ethischen Begriffe, wobei Schleiermacher zwischen formalen Begriffen, die einer weiteren Unterteilung fähig sind, und letzten realen Begriffen, "welche nicht weiter als teilbar gedacht werden und ein Prinzip der Einheit in sich selbst haben" (124,17-19), unterscheidet. Schließlich ist das so aufgestellte systematische Ganze auf die Gesamtheit des menschlichen Handelns zu beziehen, die in diesem System zur Darstellung kommen soll. Dabei ist zu prüfen, "ob die Gesamtheit dieser Begriffe die ganze Sphäre des möglichen menschlichen Handelns ausfüllt, so daß nichts, was darin ethisch gebildet werden könnte, ausgeschlossen, und nichts, was sich als Gegenstand sittlicher Beurteilung zeigt, unbestimmt gelassen worden; kurz ob das System auch vollständig und geschlossen ist" (18,10-15). In dieser Gliederung der Kritik zeigt sich wiederum, daß der Wissenschaftsbegriff, den Schleiermacher zugrundelegt, eine inhaltliche Bestimmung enthält. Denn nur die beiden ersten Momente sind rein formal, während das dritte Moment sich auf die Adäquatheit zwischen dem aufgestellten System und dem, was in ihm dargestellt wird, bezieht. Jedes System muß sich daran bewähren lassen, ob jedes mögliche und jedes wirkliche sittliche Handeln in ihm erfaßt werden kann. Indem Schlèiermacher diesen Begriff der ethischen Wissenschaft als systematische Darstellung des menschlichen Handelns seiner Kritik zugrundelegt, hat er den Ort bestimmt f ü r dasjenige, worin die einzelnen Entwürfe der bisherigen Sittenlehre voneinander verschieden sind. Wenn die als System vorgestellten Entwürfe der ethischen Wissenschaft wirklich voneinander abweichen, so kann das seinen Grund nur in der verschiedenen Bestimmung der obersten Idee des ethischen Systems haben. Das ist aber n u r möglich, wenn der Begriff der Ethik verschiedene Bestimmungen der obersten Idee zuläßt, d . h . wenn das Ganze des menschlichen Handelns verschieden aufgefaßt werden kann. Diese Bedingung sucht Schleiermacher dadurch zu klären, daß er nach dem "verschiedenen Ursprung" der Ideen fragt (19,5). Er beantwortet diese Frage, indem er die Möglichkeit f ü r die Verschiedenheit der obersten ethischen Ideen aufweist . Schleiermacher unterscheidet drei Möglichkeiten, eine Wissenschaft zu konstituieren durch die Aufstellung eines obersten Grundsatzes. Da ist zunächst das "Bedürfnis der Vernunft", die, um die wissenschaftliche Form bemüht, einzelne Sätze unter einer höchsten Idee zu vereinigen sucht. Dabei wird der oberste Grundsatz mittels der vorgegebenen Sätze gefunden, die durch ihn begründet werden. Neben diesem formalen Bedürfnis gibt es das Bedürfnis nach einem bestimmten Gegenstand, f ü r dessen wissenschaftliche Darstellung "der eine sich bei dieser, der andere bei jener Idee beruhigt (hat), wie jede die vorliegende Forderung zu e r füllen schien" (19,14-16). Schließlich "erscheint der noch Wissenschaft-
- 169 licheren Vernunft . . . diese Forderung selbst nur als ein einzelnes und ihr Grund als ein selbst noch weiter zu begründendes" (20,5-7). Der oberste Grundsatz einer bestimmten Wissenschaft ist danach aus der "Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhange aller Wissenschaften" (20,10f) abzuleiten, oder zumindest an diese anzuknüpfen (19,16ff). Es ist nicht zu übersehen, daß eine Deduktion im strengen Sinne aus der höchsten Wissensöhaft Schleiermachers kritische Geschichte der Ethik überflüssig machen würde. Diese wäre ohne Bedeutung für eine Darstellung der Ethik als Wissenschaft. Denn "wäre nun jene höchste Erkenntnis bereits auf eine unbestrittene Art mit dem unmittelbaren Bewußtsein allgemeiner Übereinstimmung gefunden: so würde aus unserem Standort die Ethik, welche sich in dieser gründete, allen übrigen vorzuziehen sein" (20,32-21,4). Damit gäbe es auch keine verschiedenen obersten Ideen in der ethischen Wissenschaft und keine voneinander verschiedenen Darstellungen. Anders dagegen steht es mit dem Versuch, die Ethik an die höhere Wissenschaft anzuknüpfen, weil dabei die Selbständigkeit der Ethik als Wissenschaft anerkannt ist, so daß, ohne die Verknüpfung beurteilen zu müssen, der vorgegebene Entwurf der Ethik als Wissenschaft der Kritik unterzogen werden kann (38,5f). In seiner Argumentation gegen die strenge Deduktion verfährt Schleiermacher ähnlich wie zuvor beim Begriff der Freiheit, indem er eine Definition der höchsten Wissenschaft gibt, die ein Gelingen der Deduktion ausschließt. Seine Definition ist gegen Fichte gerichtet. Das bringt Schleiermacher zum Ausdruck, indem er von ihm den Begriff der Wissenschaftslehre übernimmt, ihn aber in zweifacher Hinsicht anders bestimmt. Die erste Bestimmung ist ausdrücklich gegen Fichtes Wissenschaftslehre formuliert. Denn nach Schleiermachers Auffassung kann die Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang alles Wissens nicht selbst wiederum auf einem obersten Grundsatz beruhen, "sondern nur als ein Ganzes, in welchem jedes der Anfang sein kann, und alles einzelne gegenseitig einander bestimmend nur auf dem Ganzen beruht, ist sie zu denken, und so daß sie nur angenommen oder verworfen, nicht aber begründet und bewiesen werden kann" (20,1317). Diese Bestimmung ist auf den ersten Blick nicht besonders plausibel. Ein wenig verdeutlicht wird diese Entgegensetzimg, wenn man hinzunimmt, daß Schleiermacher diese Möglichkeit am ehesten bei Piaton und Spinoza realisiert sieht. Ihnen sei die Begründung der Ethik aus einer höheren Wissenschaft "vielleicht" gelungen, weil sie "objektiv philosophiert haben, das heißt, von dem Unendlichen als dem einzigen notwendigen Gegenstande ausgegangen sind" (38,5-5). Dem ist zweierlei zu entnehmen: Einmal wird das Ganze als Unendliches und einzig notwendiger Gegenstand bestimmt, wobei eine Höhe zum Begriff des Universums nicht zu
- 170 verkennen ist. Zum anderen ist nach Schleiermachers Meinung damit eine Objektivität gewährleistet, die beim Ausgehen vom obersten Grundsatz nicht gegeben ist. Diese Auffassung der Prinzipien als nur subjektive Konzeption eines Ganzen hat eine Analogie in der Religionstheorie. Die Zentralanschauung, die das Religionsindividuum der positiven Religion konstituiert, beruht auf freier Willkür, durch die eine beliebige Anschauung des Universums dazu gemacht wird (R 259). Die Funktion des obersten Grundsatzes besteht in der Einheitsstiftung eines Ganzen, aber sie ist immer auf das Subjekt bezogen, das als Teil dieses Ganzen die Einheitsstiftung vollzieht. Diese gestiftete Einheit ist nicht mit derjenigen identisch, die als Einheit des Ganzen vorausgesetzt ist. Das wird deutlich, wenn man die zweite Bestimmung hinzunimmt. Schleiermacher gibt nämlich als Grund dafür, daß er dem Ausdruck 'Wissenschaftslehre' den Vorzug gibt, an, dieser bezeichne "das höchste Ziel des menschlichen Wissens", während der Ausdruck 'Philosophie' "nur im allgemeinen auf eine zu unternehmende Übung und Verbesserung des menschlichen Verstandes hindeutet" (20,25-33). Bezieht man dies auf die zuvor gegebene Erklärung, so zeigt sich jene erste Bestimmung als eine Beschreibung dieses höchsten Zieles menschlichen Wissens. In seiner Vollendung soll demnach die Einheit des Ganzen durch die Gesamtheit seiner einzelnen Teile repräsentiert sein, so daß jedes einzelne aufgrund seiner Beziehungen zu allen anderen das Ganze in seiner Einheit darzustellen vermag. Eine definitive Bestimmung des einzelnen Grundsatzes in der höchsten Wissenschaft ist dann nur möglich, wenn die Gesamtheit der einzelnen gegeben ist. Solange dag nicht der Fall ist, ist eine Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhange aller Wissenschaften als Aufgabe gestellt. Diese Aufgabe, so wäre zu folgern, kann deshalb nicht durch einen obersten Grundsatz gelöst werden, weil ihm als subjektives Prinzip für den Zusammenhang von subjektiven Prinzipien die Objektivität abgeht, auf die diese immer bezogen sindl62_ Aüf jeden Fall läßt der Zustand der höchsten Wissenschaft eine Deduktion der Ethik nicht zu, womit Schleiermacher weder die Bemühungen abtut, eine höchste Wissenschaft zu finden, noch die Möglichkeit ausschließt, daß eine Deduktion der Ethik erfolgen kann. Für diese Entschlüsselung von Schleiermachers doch nur beiläufigen Bemerkungen über die höchste Wissenschaft, die mit dem Zusammenhang vom Ganzen und vom einzelnen und der noch ausstehenden Gesamtheit der einzelnen eine analoge Struktur erkennen lassen, wie sie im Bildungsprozeß des gebildeten Individuums vorliegt, lassen sich zwei weitere Indizien anführen. Einmal werden von hier aus die Einwände verständlich, die Schleiermacher gegen Fichtes Wissenschaftslehre erhebt. Sie beziehen sich auf ihre Vollständigkeit und auf die Anerkennung, die sie hätte finden müssen. Schleiermacher gibt keine direkte Begründung für seine Kritik an Fichtes Konzeption der Wissenschaftslehre, sondern übt nur eine indirekte Kritik im Sinne jenes dritten Momentes, das er als
- 171 Kriterium für die Entwürfe der Sittenlehre genannt hat. Der gelungene Entwurf der Wissenschaftslehre sei zu bestreiten, "solange er nicht in seiner ungetrennten Darstellung bis zu den Gründen aller wissenschaftlichen Aufgaben und den Methoden ihrer Auflösung herabgeführt ist" (20,23-25). Daß das nicht der Fall ist, zeigt sich für Schleiermacher daran, daß Fichte seine eigene Ethik eben nicht aus der Wissenschaftslehre deduziert (26) und daß er keine Naturwissenschaft aufgestellt hat (344). Es ist aber kein Argument, das den Fichteschen Ansatz der Wissenschaftslehre ausschließt. Der andere Einwand gegen die Realisierung der Wissenschaftslehre bezieht sich darauf, daß die höchste Erkenntnis nicht "auf eine unbestrittene Art mit dem unmittelbaren Bewußtsein allgemeiner Ubereinstimmung gefunden" wird (21,10). Dieser zunächst äußerlich anmutende Einwand greift die Differenz zwischen dem in der Behauptung der höchsten Erkenntnis aufgestellten Anspruch auf Allgemeinheit und seinem in der Bestreitung sichtbaren Fehlen der allgemeinen Anerkennung auf. Diese Kritik hat nur dann einen Sinn, wenn dem Kritiker eine Lösung dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit vor Augen steht. Wenn Schleiermacher den Anspruch im Sinne eines anzustrebenden Ideals aufrechterhält, so steht damit jeder Versuch auf dem Wege zu diesem Ziel unter einer Vorläufigkeit, die seine Bestreitung erklärt, insofern diese Vorläufigkeit nicht zum Ausdruck gebracht ist. Schleiermachers Kritik an Fichtes Wissenschaftslehre ist also durchaus darin prinzipieller Art, daß sie sich auf eine ausführliche Kritik dieses Ansatzes nicht einläßt. Sie erkennt - wie die Übernahme des Begriffs der Wissenschaftslehre zeigt - die Aufgabe an, die sich Fichte gestellt hat. Aber Schleiermacher bestreitet, daß Fichte eine befriedigende Lösung dieser Aufgabe gelungen sei. Deshalb richtet sich seine Kritik auf die Punkte, an denen sichtbar wird, daß Fichtes Wissenschaftslehre den aufgestellten Begriff der Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaft nicht verwirklicht hat. Das zweite Indiz, das für das Verständnis der höchsten Wissenschaft im Sinne eines Bildungsprozesses spricht, ergibt sich aus dem, was Schleiermacher durch diese Kritik von Fichtes Wissenschaftslehre erreichen will. Durch den Ausschluß der direkten Deduktion des obersten ethischen Grundsatzes behauptet Schleiermacher überhaupt die Möglichkeit seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre. Sie beruht gerade auf der Differenz zwischen dem Begriff der ethischen Wissenschaft und ihrer unterschiedlichen Durchführung. Schleiermacher nimmt also an, daß ein allgemeiner Begriff aufgestellt werden kann. Nur bestreitet er, daß die ethische Wissenschaft vollkommen und vollständig auf geführt werden kann. Das aber gilt nicht nur für die Ethik, sondern für jede bestimmte Wissenschaft. Deshalb kann Schleiermacher in der Einleitung der Kritik der Sittenlehre auf ihren vorbildlichen Charakter hinweisen. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf den gegenwärtigen Zustand der Wissenschaften:
- 172 "Vielleicht möchte bei dem gegenwärtigen Zustande der Wissenschaften und dem immer noch obwaltenden Streit über die ersten Prinzipien eine solche Art der Kritik wie diese auch für andere Zweige der E r kenntnis sich nützlich erweisen, um von einem Punkt aus, der außerhalb des streitigen Gebietes liegt, dasselbe zu vermessen" ( 5 , 2 8 - 6 , 5 ) . Hier zeigt sich die Vorstellung, daß der Streit um die ersten Prinzipien einen Zustand kennzeichnet, in welchem das einzelne eines Ganzen nicht definitiv festgelegt werden kann, daß es aber möglich sei, unabhängig von den ersten Prinzipien den Umriß des ganzen Gebietes anzugeben. Diese Möglichkeit beruht auf der "wissenschaftlichen Form" ( 6 , 7 f ) , d . h . daß der jeweilige Gegenstand der Wissenschaft in einem System zur Darstellung gebracht werden muß. Der Streit um die Prinzipien dagegen zeigt an, daß das einzelne des Ganzen weder insgesamt gegeben ist, noch vom einzelnen vollständig aufgefaßt werden kann, so daß der Zusammenhang des einzelnen unter verschiedenen Prinzipien dargestellt werden kann. Die Prinzipien sind von demjenigen einzelnen abhängig, dessen Zusammenhang sie gewährleisten. Können nun auch diese Prinzipien der einzelnen Wissenschaften wiederum als Gegenstand der höchsten Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften gedacht werden, so bleibt auch sie daran gebunden, inwieweit ihr einzelnes vollständig aufgefaßt ist. Eine Deduktion jeder bestimmten Wissenschaft ist bei dieser Ansicht der Prinzipien nicht möglich. Nachdem Schleiermacher die definitive Konstitution der Ethik als Wissenschaft durch ihre Ableitung aus der höchsten Wissenschaft ausgeschlossen hat, bleibt ihm zu untersuchen, ob diese Möglichkeit nicht zumindest als eine "Entstehungsart der zu untersuchenden obersten Ideen" in der bisherigen Sittenlehre berücksichtigt werden muß ( 2 1 , 1 7 f ) . Das Ergebnis der Untersuchung ist negativ. Diese Möglichkeit liegt weder dort vor, wo die Philosophie als Zusammenhang von Logik, Ethik und Physik bestimmt worden ist, "ohne den gemeinschaftlichen Keim, aus welchem dieser drei Stämme, aufzuzeigen, noch auch höhere Grundsätze aufzustellen" (21,2628), noch dort, wo die Philosphie in theoretische und praktische eingeteilt wird, wobei diesen Teilen eine "allgemeine Philosophie vorgesetzt (wird), welche die gemeinschaftlichen Grundbegriffe derselben enthält; eine noch allgemeinere aber, um beide Teile zu verbinden, wird nicht ebenso gefunden" ( 2 2 , 1 3 - 1 5 ) . In beiden Einteilungen der Philosphie stellt die Ethik einen nicht ableitbaren, selbständigen Teil dar. Die vier Entwürfe der Ethik, die den Versuch einer Verknüpfung unternommen haben, zeigen in Schleiermachers Untersuchung dasselbe Resultat. Kant habe die Ethik nur vorgefunden und er habe auch nicht den Gedanken gehabt, "sie hervorzubringen und von einem Mittelpunkt des menschlichen Wissens zu beschreiben" ( 2 5 , 1 8 - 2 1 ) . Bei Fichte ist "die Verknüpfung mit dem ersten Ringe der menschlichen Erkenntnis . . . für unhaltbar und wie nicht vorhanden anzusehen" ( 3 4 , 2 9 - 3 1 ) . Piaton und Spinoza sei es "vielleicht" gelungen, "die Ethik aus einer höheren Wissenschaft her zu
- 173 begründen", weil sie "objektiv philosophiert haben, das heißt, von dem Unendlichen als dem einzigen notwendigen Gegenstande ausgegangen sind". Aber "auch diese mögen die Idee der Sittenlehre eher gehabt haben als den Gedanken dieser Verknüpfung" ( 3 8 , 2 - 7 ) . Mit diesem Ergebnis hat Schleiermacher die Möglichkeit ausgeschlossen, die Ethik wissenschaftlich, d . h . durch Ableitung ihrer höchsten Idee aus der höchsten Wissenschaft, zu konstituieren. Wo ist aber dann der Ursprung der höchsten Idee, durch die die Ethik als Wissenschaft, d . h . in einem System dargestellt werden kann, zu suchen? Schleiermacher unterscheidet zwei Bedürfnisse, die zusammen die Entstehung der obersten ethischen Idee erklären. Durch das sittliche Bedürfnis, das er "das Bewußtsein der innern sittlichen Zunötigung" nennt ( 3 8 , 1 0 ) , ist die Idee der Ethik als Wissenschaft begründet. Denn es ist dasjenige Bewußtsein, das zur Lösung der Frage nach der Sittlichkeit seines Handelns die systematische Darstellung des menschlichen Handelns insgesamt in der ethischen Wissenschaft notwendig macht. Kann die innere sittliche Zunötigung nur im Zusammenhang mit dem Handeln anderer Menschen befriedigend ausgesprochen werden, so ist dieses Bewußtsein auf die vorhandenen Darstellungen sittlichen Handelns durch "einzelne ethische Begriffe und Sätze" ( 3 8 , 1 1 ) bezogen. Ihnen gegenüber entsteht das Bedürfnis der Vernunft, das "einzeln Gefundene", das "nicht mit Bewußtsein noch nach festen Gesetzen" gebildet ist (38,13f) aufgrund des sittlichen Bewußtseins zu sichten, es "entweder zu vereinigen oder außer Wert zu setzen" ( 3 8 , 1 7 f ) . Beide Bedürfnisse werden befriedigt, indem derjenige, der diese Bedürfnisse hat, einen obersten ethischen Grundsatz aufstellt. Daraus erklärt sich dann die Verschiedenheit der obersten Grundsätze. Denn das Bewußtsein der inneren Zunötigung gibt der Individualität Raum, indem "der eine sich bei dieser der andere bei jener Idee" beruhigt hat, die seine innere Zunötigung befriedigend ausgesprochen hat, und das einzelne, was das sittliche Bewußtsein vorgefunden hat, muß nicht für alle dasselbe sein. Auf die Frage, worin der Grund für die verschiedenen Entwürfe der Ethik als Wissenschaft liegt, wird man angesichts dieses Ergebnisses folgendes sagen müssen. Indem Schleiermacher für den gegenwärtigen Zustand des Streites um die ersten Prinzipien der Wissenschaften eine Deduktion der Ethik ausschließt, öffnet er den Raum für die Verschiedenheit dadurch, daß er die verschiedene Bestimmung des allgemeinen Begriffs der Ethik als Wissenschaft zurückbezieht auf die individuellen Bedingungen desjenigen, der unter einer obersten Idee eine systematische Darstellung der Ethik unternommen hat. Man wird weiter sagen müssen, daß Schleiermacher die Frage der Begründung der Ethik als Wissenschaft zurücknimmt auf die Erklärung des Faktums, daß Entwürfe der ethischen Wissenschaft gemacht worden sind. Dafür muß er die Evidenz des Begriffs der Ethik als Wissenschaft bei den Autoren dieser Entwürfe voraussetzen. Verständlich wird die Evidenz dieses Begriffs der Ethik als
- 174 systematische Darstellung des menschlichen Handelns, wenn man unterstellt, daß er die Individualität der Autoren, auf die die Verschiedenheit der ethischen Entwürfe zurückzuführen ist, im Sinne der Individualitätsanschauung versteht, der zufolge das einzelne Handeln eines Individuums im Zusammenhang des gesamten menschlichen Handelns zu bestimmen ist. Das setzt allerdings voraus, daß diese Autoren ein Bewußtsein ihrer Individualität gehabt haben. Auf jeden Fall wird man sagen können, daß Schleiermacher bei seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre vom Individualitätsbewußtsein ausgeht, das im Bildungsbegriff der Reden und Monologen erschlossen worden ist. Die Einsicht, daß Schleiermacher die Geschichte der Ethik unter der Individüalitätsansch&uung des gebildeten Standpunktsi betrachtet, wird durch eine weitere Überlegung gestützt. Ausgehend davon, daß Schleiermacher für seine Kritik einen Begriff der ethischen Wissenschaft in Anspruch nimmt, ihn aber nicht zu einer Darstellung der Ethik nutzt, sondern ihn nur kritisch gegen die bisherige Sittenlehre wendet, erhebt sich die F r a g e 1 6 3 ) was es denn für Schleiermachers eigene Ethik, die er doch anstrebt, austragen soll, daß er eine Kritik der bisherigen Sittenlehre als Vorarbeit unternimmt. Schon die erste Antwort führt zur Individualitätsanschauung. Denn offenbar ist Schleiermacher der Auffassung, daß, solange eine Deduktion der Ethik aus der höchsten Wissenschaft nicht möglich ist, die bisherige Sittenlehre mit ihren verschiedenen Entwürfen für die eigene Darstellung der Ethik von Bedeutung ist. Solange die Verschiedenheit der Autoren bei der Darstellung der Ethik als Wissenschaft eine Rolle spielt, ist es unabdingbar, eine "vollständige Ubersicht über die bisherigen Fortschritte der Ethik als Wissenschaft" zu gewinnen, um so die Kompetenz zu erwerben, "über den Wert des so v e r arbeiteten Inhalts sein Urteil zu fällen" ( 1 8 , 1 9 - 2 2 ) . Denn in den ethischen Entwürfen liegt der Inhalt der Ethik in verschiedenem Umfang und in verschiedener Weise dargestellt vor. Der so bereits wissenschaftlich verarbeitete Inhalt der Ethik ist für jeden weiteren ethischen Entwurf in gleicher Weise zu berücksichtigen, wie auch die Ethik als Wissenschaft überhaupt auf bereits vorhandene ethische Begriffe und Sätze angewiesen ist. Ein Unterschied liegt nur darin, daß es sich bei den ethischen Entwürfen nicht mehr nur um einzelnes, sondern um den Zusammenhang des einzelnen handelt, der durch die jeweilige höchste Idee in verschiedener Weise hergestellt worden ist. Der bereits verarbeitete Inhalt der Ethik ist also für den eigenen Entwurf dadurch zu erschließen, daß die Eigentümlichkeit der verschiedenen Ideen bestimmt wird, unter denen der ethische Inhalt in einem System zur Darstellung gekommen ist. Diese Bestimmung der individuell verschiedenen Darstellungen der Ethik dient der Bestimmung der eigenen Ethik, die ja in gleicher Weise durch die Individualität ihres Autors bedingt ist. Denn darin ist der Sinn der kritischen Geschichte der Sittenlehre zu sehen, daß die individuellen Bedingungen nicht unreflektiert die Darstellung der ethischen Wissenschaft
- 175 bestimmen und den Streit um die ersten Prinzipien hervorrufen, von dem Schleiermacher bei seiner Kritik der Moral ausgegangen ist. Vielmehr vermag Schleiermacher auf diese Weise den Ort zu bestimmen, den sein eigener Entwurf in der Geschichte der Ethik als Wissenschaft einnehmen soll, und die Eigentümlichkeit dieses Entwurfs in seiner Darstellung zum Ausdruck zu bringen. Der gebildete Standpunkt äußert sich also darin, daß aufgrund der Einsicht in die individuelle Bedingtheit der verschiedenen Entwürfe der ethischen Wissenschaft versucht wird, die eigene individuelle Perspektive mit Hilfe der bereits vorliegenden individuellen Entwürfe zu bestimmen, und damit den Bildungsprozeß der ethischen Wissenschaft mit dem eigenen Entwurf voranzubringen. Aber mit der Wendung zur Geschichte der Ethik, in der Absicht, die individuelle Perspektive der eigenen Darstellung der Ethik zu bestimmen und zugleich des bereits verarbeiteten Inhalts der Ethik sich zu vergewissern, ist erst eine Seite des gebildeten Standpunkts erfaßt. Sie hat zwar darin ihren Grund, daß in der gegenwärtigen Situation der Wissenschaften jeder ethische Entwurf durch die individuellen Bedingungen seines Autors bestimmt ist. Aber Schleiermacher nimmt keine Bestimmung der verschiedenen individuellen Perspektiven vor, sondern unterwirft die verschiedenen Entwürfe der bisherigen Sittenlehre einer Kritik, die gerade von der jeweiligen Eigentümlichkeit absieht und sich auf die wissenschaftliche Form beschränkt. Seine Kritik soll nur zeigen, wo die Ethik bereits als Wissenschaft oder warum sie noch nirgends zustande gekommen ist ( l l , 4 f ) . Damit richtet sich diese Kritik aber genau auf die Voraussetzung, ohne die eine Bestimmung der Eigentümlichkeit der verschiedenen Entwürfe nicht möglich ist. Denn diese Bestimmung ist nur möglich, wenn der Begriff der Wissenschaft, der nach Schleiermachers Auffassung in dem Anspruch der Ethik, eine Wissenschaft zu sein, enthalten ist, auch in den einzelnen Entwürfen der bisherigen Sittenlehre zur Darstellung gekommen ist. Der herrschende Streit, wie er sich in der gewöhnlichen Kritik der Sittenlehre zeigt, macht offenbar, daß diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, daß die Verschiedenheit der einzelnen Entwürfe nicht reflektiert worden ist. Ist das aber der Fall, so zeigt das eine Differenz in der Auffassung der Ethik, die systematische Bedeutung hat. Während die Entwürfe der bisherigen Sittenlehre nur den Anspruch erheben, den Inhalt der Ethik in wissenschaftlicher Form darzustellen, erweist sich dieser Anspruch f ü r den, der wie Schleiermacher ihre Verschiedenheit betrachtet, als zu unmittelbar. Schleiermacher unterscheidet zwischen dem ethischen Gegenstand und der individuell bedingten obersten Idee, unter der dieser individuell aufgefaßte Gegenstand wissenschaftlich dargestellt worden ist. Darin, daß dieser komplexere Begriff der Darstellung der ethischen Wissenschaft auf die Entwürfe der bisherigen Sittenlehre angewendet wird, besteht eine konstruktive Leistung der Kritik. Denn in ihr werden diese Entwürfe erst als individuel-
- 176 le Gestalten der ethischen Wissenschaft konstituiert, was sie ihrem eigenen Anspruch nach nicht sind. Diese Kritik beruht auf einer Argumentation, die derjenigen analog ist, die das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen in den Reden bestimmt hat. Für denjenigen, der die individuelle Bedingtheit der systematischen Darstellungen der Ethik erkannt hat - und diese Einsicht ist notwendige Voraussetzung der Argumentation - , sind alle Entwürfe der bisherigen Sittenlehre dieser Einsicht unterworfen. Insofern also Schleiermacher in der Kritik der bisherigen Sittenlehre die ethischen Entwürfe einem Begriff der Ethik unterwirft, der ihre individuelle Verschiedenheit einbezieht, kommt damit auch die andere Seite des gebildeten Selbstverständnisses zur Geltung, das sich in seiner Individualitätsanschauung über den gemeinen Standpunkt erhoben und wegen der Einsicht in die individuelle Verschiedenheit der Entwürfe über den Streit um die ersten Prinzipien erhaben weiß. Diese Seite des gebildeten Standpunkts findet ihren Niederschlag in einer Überlegung, mit der Schleiermacher seine Kritik beschließt. Angesichts des negativen Ergebnisses seiner Kritik, daß die bisherigen Entwürfe der bisherigen Sittenlehre "dasjenige noch fast gänzlich verfehlten", was die Ethik als Wissenschaft sein soll ( 3 4 1 , 4 ) , stellt Schleiermacher die Frage, "ob also der Ethik gar kein Sinn kann zugeschrieben werden als Wissenschaft bis sie vollkommen ist, oder ob man wenigstens sagen könne, sie werde als eine solche, und unter welchen Bedingungen" ( 3 4 1 , 7 - 1 0 ) . Er beschreibt mit dieser Alternative eben die Situation der ethischen Wissenschaft, die durch den Ausschluß ihrer deduktiven Begründung gekennzeichnet ist. Neben dem Verzicht auf den Anspruch als Wissenschaft ergibt sich in Analogie zur Individualitätsanschauung die Möglichkeit, daß in den verschiedenen Entwürfen die Ethik als Wissenschaft sich als in einem Bildungsprozeß, d . h . in einem Werden begriffen zeigt. Für diese Möglichkeit führt Schleiermacher zwei Argumente an: Einerseits kann ein einzelnes nicht für sich vollendet sein, ohne daß mit ihm zugleich alle anderen einzelnen und in der Gesamtheit des einzelnen auch das Ganze vollendet ist. Als eine bestimmte einzelne Wissenschaft ist die Ethik als vollendet denkbar "nur in Vereinigung mit allen anderen unter einer höchsten (Wissenschaft), welche für alle den gemeinschaftlichen Grund des Daseins enthält, und eine jede bestätigt durch den Zusammenhang mit allen übrigen" ( 3 4 2 , 1 - 4 ) . Das Verhältnis der höchsten Wissenschaft zu den einzelnen läßt sich unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Vollendung nur so denken, daß "die untergeordneten sich zugleich und nach gleichen Regeln in Gestalt und Inhalt der Vollendung nähern, und eben hierdurch auch jene Idee sich allmählich entwickelt" (342,7-10). Denn anders müßte von der bereits vollendeten höchsten Wissenschaft ausgegangen werden. Andererseits hat die Ethik als eine bestimmte Wissenschaft einen realen Gegenstand. Dadurch unterscheidet sie sich von den
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als Hilfswissenschaften bezeichneten Disziplinen der Mathematik (Größenlehre) und Vernunftlehre (Logik). Als Darstellung eines Realen aber ist die Ethik von dessen Entwicklung abhängig, und sie kann "sich nicht anders als mit diesem zugleich vollkommen entwickeln" (342,16f). Der Bildungsprozeß der Ethik als Wissenschaft kann nur so gedacht werden, daß ein Zusammenhang zwischen beiden Bedingungen hergestellt wird. Der Fortschritt der Wissenschaften und ihres Zusammenhangs hängt von der Entwicklung des Sittlichen im Menschen ab und umgekehrt ist diese Entwicklung durch jenen Fortschritt bedingt. Daß Schleiermacher dieses Wechselverhältnis in einem gemeinschaftlichen Dritten begründet sieht, wie er beiläufig anmerkt, kann angesichts seiner Auffassung von höchster Erkenntnis als Erkenntnis des Absoluten nicht überraschen. Auf dem Boden des Wechselverhältnisses f ü h r t er die Abhängigkeit der sittlichen Entwicklung vom wissenschaftlichen Fortschritt den Parallelismus in der Entwicklung der Ethik und des Wissens überhaupt an (343f), bis hin zu den zwei Gestalten des "dynamischen Idealismus", von denen Fichte die Ethik und Schelling die Naturwissenschaft ausgebildet hat. Auf der anderen Seite ist eben nicht nur die einzelne Wissenschaft, sondern auch die gesamte menschliche Erkenntnis vom sittlichen Bewußtsein abhängig. Um das behaupten zu können, muß Schleiermacher auf die individuelle Verschiedenheit und das Bewußtsein der Individualität rekurrieren. "Wie nun der Charakter der einzelnen Wissenschaften, wie jeder sie darstellt, abhängig ist von der Beschaffenheit des sittlichen Bewußtseins in ihm, so auch im allgemeinen die wahre Idee eines Systems der menschlichen Erkenntnis, ohne welche keine Wissenschaft vollkommen sein kann und durchaus wahr, von der vollkommenen Sittlichkeit in der Idee wenigstens oder, welches dasselbe ist, von dem vollständigen Bewußtsein der höchsten Gesetze und des wahren Charakters der Menschheit." (345,7-14) Dieser'Schluß vom einzelnen aufs Ganze setzt die gebildete Individualitätsanschauung voraus. Denn in ihm ist zugleich mit dem Bewußtsein der individuellen Besonderheit das Ganze im Bewußtsein gegenwärtig. Das aber ist vorausgesetzt, wenn von dem eigentümlichen Charakter der wissenschaftlichen Darstellung, f ü r die das Individualitätsbewußtsein in Anspruch genommen ist, auf die Abhängigkeit der Idee eines Systems der menschlichen Erkenntnis von der Idee der vollkommenen Sittlichkeit als dem Bewußtsein der höchsten Gesetze der Menschheit geschlossen wird. Diese Abhängigkeit zwischen der Idee des Systems des Wissens und der Idee der vollkommenen Sittlichkeit erlaubt Schleiermacher, eine Zäsur in der Geschichte der Sittenlehre zu machen, die diese Geschichte gemäß den Stufen des Bewußtseins gliedert. Solange nämlich diese Idee des Sittlichen nicht vorhanden ist, "ist auch noch nicht die Ethik werdend
- 178 als Wissenschaft, sondern nur ihre Idee" (345,26f). Die Entwicklung der Ethik vollzieht sich zusammenhanglos durch einzelne Entwürfe, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, ohne ihn einlösen zu können. Das aber ist der Zustand, in welchem sich die bisherige Sittenlehre bezogen auf den kritischen Standpunkt Schleiermachers gezeigt hat. Eine höhere Stufe ist dort erreicht, wo das sittliche Bewußtsein der höchsten Gesetze und des wahren Charakters der Menschheit, damit der "Keim der wahren Ethik" vorhanden ist. Das aber ist bei den in Schleiermachers Sinne Gebildeten der Fall. Mit der Ausbreitung des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum vollzieht sich daher auch das "Werden der wahren Sittenlehre" als Bildungsprozeß. "Denn werdend kann sie immer nur sein, bis wenigstens von allen, welche die Bildung des Geschlechts repräsentieren, jenes Bewußtsein anerkannt ist, weil vorher im Kampf die Ansicht von dem ganzen Gebiet des Sittlichen, welches sie darstellen soll, zu sehr beschränkt ist und getrübt, als daß es tadellos könnte in Formeln gefaßt werden, welche den ganzen Fortschritt der notwendigen Entwicklung in sich begreifen" (345,19-25). Dieser Satz gibt unter ausdrücklicher Beziehung auf den gebildeten Standpunkt Schleiermachers, dessen allgemeine Anerkennung durch den gebildeten Repräsentanten des gegenwärtigen Geschlechts noch aussteht, den Ort seiner Kritik in der Geschichte der Sittenlehre an. Angesichts des negativen Resultats zeigt es sich, daß sie sich als Kritik zurückwendet auf den Zustand, in welchem erst die Idee von der ethischen Wissenschaft ausgebildet worden ist und der durch den Kampf der beschränkten und getrübten Ansicht von dem ganzen Gebiet des Sittlichen gekennzeichnet ist. Von diesem Zustand ist Schleiermachers Kritik ausgegangen. Für diese Kritik ist aber die vollausgebildete Idee der vollkommenen Sittlichkeit bereits in Anspruch genommen, so daß sie den höheren Zustand repräsentiert, in welchem das sittliche Bewußtsein "unaustilgbar, wenngleich nur von wenigen anerkannt, fortgepflanzt wird" (342, 17f) und die Gebildeten das Werden der Ethik als Wissenschaft fordern. Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß Schleiermachers Kritik der bisherigen Sittenlehre von eben dem Standpunkt aus entworfen worden ist, den er als Gebildeter in Reden und Monologen eingenommen hat. Diese Kritik ist die Äußerung dessen, der sich als gebildeter "Bürger einer spätem Welt" (M 61) versteht.
3. Die Konstitution der Ethik als Wissenschaft auf dem gebildeten Standpunkt Schleiermacher hat den von ihm aufgestellten Begriff der ethischen Wissenschaft zum Zwecke der Kritk weiter entfaltet. Jeweils am Anfang der
- 179 einzelnen Bücher hat er die Bedingungen aufgestellt, denen ein Entwurf der Ethik als Wissenschaft genügen muß, um dann daraufhin die Entwürfe der bisherigen Sittenlehre zu überprüfen. Dem kann an dieser Stelle nicht im einzelnen nachgeangen werden. So muß hier die Rekonstruktion der Klassifikation unterbleiben, die Schleiermacher für die individuell bestimmte Verschiedenheit der obersten Ideen entwickelt (41-69). Ebenso kann auch die Ableitung der ethischen Begriffe, vor allem das Verhältnis der formalen Begriffe zu den drei obersten Ideen (121ff) nicht weiter verfolgt werden. Unter der Frage nach der Konstitution der Ethik als Wissenschaft wird im folgenden nur der Zusammenhang näher betrachtet werden, der zwischen der mit dem Wissenschaftsbegriff erhobenen Systemforderung und der - Schleiermachers spätere Ethik vorwegnehmenden - dreifachen Darstellung der Ethik besteht. Die Darstellung der Ethik als Wissenschaft gründet in derjenigen Auffassung des Sittlichen, der zufolge das menschliche Handeln dann sittlich ist, wenn es als ein Ganzes vorgestellt wird, das sich in der Gesamtheit des einzelnen Handelns realisiert, so daß mittels der Zugehörigkeit zum Ganzen über die Sittlichkeit des einzelnen Handelns geurteilt werden kann. Trotz der Einheit des Ganzen findet Schleiermacher für die wissenschaftliche Ethik die dreifache Gestalt der obersten Ideen. Dabei will beachtet sein, daß er zuvor die Deduktion der obersten ethischen Idee ausgeschlossen hat und sie an das sittliche Bewußtsein gebunden hat. Schleiermacher gewinnt die drei obersten ethischen Ideen unter der Frage nach den Bedingungen der Tauglichkeit, d.h. unter der Frage, wie muß die oberste Idee beschaffen sein, die das menschliche Handeln in einem zusammenhängenden und das Gebiet umfassenden System darzustellen vermag? Da das Kriterium der Sittlichkeit nach Schleiermachers Begriff der Ethik in der Zugehörigkeit des einzelnen Handelns zum Ganzen des menschlichen Handelns liegt, muß der oberste Grundsatz der Ethik die Struktur des Handelns aufweisen. Schleiermacher unterscheidet an der einzelnen Handlung eines menschlichen Individuums drei Momente: Derjenige, der handelt, bringt durch den gesetzmäßigen Vollzug seiner Handlung ein bestimmtes Produkt der Handlung hervor. Soll nun die einzelne Handlung als sittlich durch die Zugehörigkeit zum Ganzen menschlichen Handelns qualifiziert wer deh, so muß auch der oberste Grundsatz der Ethik durch den Zusammenhang von drei ethischen Ideen erfaßt sein: durch den Weisen, das Gesetz und das höchste Gut. Schleiermacher erläutert diesen Zusammenhang durch eine mathematische Vorstellung. Der sittliche Grundsatz tritt als Gesetz auf, sofern er das zufällige Handeln sittlich qualifizieren soll. Die Idee des Gesetzes verhält sich zu der des höchsten Gutes wie die mathematische Funktion zu ihrer anschaulichen Darstellung als Kurve, die durch die Einsetzung fixer Werte in die Funktion entsteht. Nach diesem Muster will Schleiermacher die sittliche Aufgabe lösen. Ausgehend von einem fixen Wert soll "durch Ausübung des in dem Grundsatz angezeigten Verfahrens auch jedesmal
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die Tat gefunden (werden), die in jener Gesamtheit des ethischen Lebens das zu diesem Punkt gehörige Glied darstellt" (71,9-12). Dies Verfahren betrifft aber n u r einzelne Punkte, f ü r die nach dem ethischen Gesetz die entsprechende Tat aufgesucht wird. Durch die Idee des Weisen wird die Kontinuität, das stetige Fortrücken von Punkt zu Punkt gewährleistet. Der Weise ist derjenige, der "durch stetige Fortrückung auf der Linie des Lebens das höchste Gut im Zusammenhang und ohne Abweichung hervorbringt" (71,22-24). Alle drei Ideen hängen gleich u r sprünglich untereinander zusammen, keine kann ohne die anderen bestehen (71,28f). Jede stellt den höchsten Grundsatz in einer eigenen u n entbehrlichen Gestalt dar (74,10f). Stellen die drei obersten Ideen das sittliche Handeln in seiner Gesamtheit dar, so ist das einzelne Handeln als sittliches durch die entsprechenden formalen Begriffe der Tugend, der Pflicht und des Guten bezeichnet. Die Selbständigkeit der drei verschiedenen systematischen Darstellungen der Ethik beruht darauf, daß bei der sittlichen Beurteilung der einzelnen Handlung nicht von der Tugend des einzelnen und der bestimmten Pflicht auf ein bestimmtes einzelnes Gut geschlossen werden kann. Sondern die Sittlichkeit des einzelnen Handelns ergibt sich nur aus der Bestimmung ihrer einzelnen Momente in dem durch die jeweilige Totalitätsidee repräsentierten Ganzen. Diese drei selbständigen Gestalten der Ethik scheinen nun aber die Einheit des Sittlichen im einzelnen aufzuheben. Denn um die Sittlichkeit einer Handlung zu bestimmen, müssen drei Einordnungen vorgenommen werden, und es fragt sich, ob sie auch notwendig sind, oder ob nicht eine von ihnen ausreicht, um ein Urteil über die Sittlichkeit einer Handlung zu begründen. Nun ist eine abschließende Bestimmung des einzelnen nur möglich, wenn die Gesamtheit aller einzelnen vorhanden ist. Die dreifache Bestimmung der Sittlichkeit erlaubt also unter den Bedingungen des noch fortgehenden sittlichen Gesamtprozesses, der eine eindeutige Bestimmung der Sittlichkeit nicht zuläßt, eine höhere Genauigkeit in der Erfassung des sittlichen Gehaltes einer einzelnen Handlung als eine nur einfache Bestimmung. Unter diesen Bedingungen zeigt sich aber, ohne daß die Selbständigkeit der beiden anderen Gestalten beeinträchtigt würde, der Vorrang der Güterlehre. Denn eine Entscheidung über die Sittlichkeit einer Handlung ist ohne Güterlehre nicht möglich. Weder durch die Bestimmung des tugendhaft Handelnden, noch durch die Bestimmung des einzelnen Momentes, in welchem das Sittengesetz zur Anwendung kommt, ist eine Handlung als einzelne erfaßt. Erst mit ihrem Resultat ist der Vollzug einer Handlung sichergestellt und eine, wenn auch nicht endgültige, Beurteilung nach ihrem sittlichen Gehalt möglich. Auf diesen Zusammenhang fällt ein anderes Licht im Zusammenhang des dritten Buches der Kritik, in welchem Schleiermacher die ethischen Entwürfe unter dem Gesichtspunkt der vollständigen Erfassung des ethischen Gegenstandes einer kritischen Sichtung unterwirft. Da er im e r -
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sten Buch seiner Kritik die Deduktion des obersten Grundsatzes und damit die Konstitution der Ethik als Wissenschaft durch die höchste Wissenschaft ausgeschlossen hat, kommt der Beziehung der ethischen Entwürfe auf den ethischen Gegenstand grundlegende Bedeutung zu. Diese Kritik der ethischen Entwürfe ist nämlich nur möglich, wenn der ethische Gegenstand als ein solcher gezeigt werden kann, der einer dreifachen systematischen Darstellung fähig ist. Sofern Schleiermacher einen so beschaffenen Gegenstand der Ethik aufweisen kann, ist die Ethik als Darstellung dieses Gegenstandes als Wissenschaft möglich und erfolgt in der genannten dreifachen Gestalt. Zunächst untersucht Schleiermacher "die Anwendung der Idee eines Systems auf die Ethik" (247), d . h . er fragt nach der Beschaffenheit des Gegenstandes der Ethik, auf dessen Darstellung die Idee des Systems sich anwenden läßt. Zum anderen aber zeigt Schleiermacher, wie es zur dreifachen Gestalt der Ethik kommt. Die Idee eines Systems ist zwar in dem begründet, was Schleiermacher als wissenschaftliches Bedürfnis der Vernunft zu einem der Ursprünge der obersten Grundsätze erklärt hat, so daß sie ihm als "Forderung der Vernunft" im Blick auf menschliche Erkenntnis (247,3ff) gilt. Aber solange es keine Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhange aller Wissenschaft gibt (20), ist die Darstellung der Ethik als Wissenschaft nicht begründet und bleibt den "Einwendungen des Skeptikers" (247,6) ausgesetzt. Eine Sicherung der systematischen Darstellung der Ethik ist unter diesen Bedingungen auf der Seite der Erkenntnis, des Idealen, nicht möglich, es sei denn, die Idee des Systems hätte Anhalt am Realen, am Gegenstand der Ethik (248,1 I f f ) . Dieser Gegenstand ist in dem inhaltlichen Bedürfnis (19) als dem zweiten der Ursprünge der obersten Grundsätze gegeben, das Schleiermacher als "Bewußtsein der innern sittlichen Zunötigung" bestimmt hat (38,10). Der Gegenstand, der in diesem sittlichen Bewußtsein erschlossen ist, kann in einem System dargestellt werden, wenn er mindestens eine der beiden Bedingungen erfüllt: einmal, wenn er als "ein in sich beschlossenes Ganzes, dessen Teile nur aus dem Ganzen und durch dasselbe können verstanden werden" (248,16ff) aufgefaßt werden muß; zum anderen, wenn er als eine "Gesamtheit" angeschaut werden muß, und zwar entweder als Gesamtheit von mannigfaltigen, einzelnen Äußerungen einer Kraft oder als Gesamtheit von einzelnen Darstellungen eines Allgemeinen (248,19ff). In dieser doppelten Bedeutung wird der Begriff des Systems im Bereich der Natur gebraucht, nämlich sowohl von den "Weltkörpern", die einerseits als ein Ganzes, wenn auch nicht als das umfassende Ganze, andererseits als einzelne Äußerungen der "physischarchitektonischen Kraft", deren "Regel, nach der die Gesamtheit des einzelnen das Ganze erschöpft" (248,31ff) noch nicht entdeckt ist, als auch von den "organischen Körpern". Ist in beiden Fällen der Vorbehalt
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zu machen, daß das Gesetz, nach welchem sich die Kraft im einzelnen äußert, nicht gefunden ist, so kann die "Idee eines Systems" - denn eine Idee ist sie dann nur - auch auf das menschliche Handeln in beiden Bedeutungen angewendet werden, indem einerseits das einzelne Kunstwerk als ein Ganzes, andererseits die Künste und ihre Produktion als Äußerung von Kräften angesehen werden. Kann der Bereich des menschlichen Handelns unter der Idee eines Systems betrachtet werden, so muß auch seine Darstellung systematisch ausfallen, wenn sie "die Idee nicht verlassen will, linter welcher das Reale... wenngleich nur problematisch, ist angeschaut worden" (249,12f). Diese Wendung ist aufschlußreich. Denn sie zeigt denselben erkenntnistheoretischen Standpunkt, der in den Reden eingenommen worden ist. Entscheidend ist - und darin folgt Schleiermacher der Kritik Kants - , daß der Gegenstand der Ethik nicht unmittelbar angeschaut werden kann. Vielmehr werden nur Erscheinungen angeschaut, aber sie werden unter der problematischen Idee einer Kraft als deren Äußerungen bzw. unter der Idee eines Ganzen als deren Teile angesehen. Woher stammt aber diese Idee, durch die die angeschaute Mannigfaltigkeit des einzelnen zur Einheit des ethischen Gegenstandes zusammengebracht wird? Aus dem Bereich des Idealen ist sie nicht zu gewinnen. Das hat Schleiermacher gerade ausgeschlossen. Vielmehr gehört sie - so sagt Schleiermacher ausdrücklich - zur Anschauung des Realen als die Idee, unter der die Erscheinungen angeschaut werden. "Und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (R 56). Explizit hat Schleiermacher die religiöse Konstitution der Ethik als Wissenschaft nicht gemacht. Aber der Gang seiner Argumentation legt sie zumindest nahe. Damit der Gegenstand der Ethik in einem System wissenschaftlich dargestellt werden kann, muß dieser Gegenstand als systematisch darstellbar auf gewiesen werden. Da aber der ethische Gegenstand nicht wie ein einzelnes Kunstwerk vollständig als ein Ganzes gegeben ist, sondern nur als eine Vielzahl von einzelnen Phänomenen, so ist die Einheit des Realen, das als die Kraft, die sich in den einzelnen Erscheinungen äußert, vorgestellt wird, eine Idee, die sich nicht wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern religiöser Anschauung verdankt. Für diese Annahme gibt Schleiermacher noch ein weiteres Indiz. Er fügt nämlich genau an diese Reflexion eine beiläufige Bemerkung über den Unterschied zwischen den realen Wissenschaften und der Logik und Mathematik an (342). Die Vernunftlehre und die Größenlehre dienen als Beispiel dafür, daß eben nicht im Bereich des Idealen, sondern nur in dem des Realen die Wissenschaft als Darstellung dieses Realen die Gestalt eines Systems hat (249). Damit verstärkt Schleiermacher noch einmal seine Argumentation, daß die ethische Wissenschaft durch eine Anschauung des Realen konstituiert ist und nicht aus dem Erkenntnisvermögen gewonnen werden kann. Für die Idee des Ganzen, unter der das Reale an-
- 183 geschaut wird, kann sich Schleier mâcher nicht auf die Verstandeserkenntnis berufen. Im ersten Schritt dieser Argumentation hat Schleiermacher gezeigt, daß, wenn die Ethik eine Wissenschaft sein soll, der ethische Gegenstand als ein Reales unter der Idee einer im einzelnen erscheinenden Kraft angeschaut werden muß. Im zweiten Schritt muß er nun die entwickelte Dreigestaltigkeit der Ethik aus der Anschauung des realen Gegenstandes der Ethik begründen. Darauf bezieht sich die Bedingung der formalen Vollkommenheit für ethische Entwürfe. Da durch die Ableitung aus einer höheren Einheit der für die Ethik konstitutive Zusammenhang der drei obersten Ideen und deren formale Begriffe nicht gewonnen werden kann, aber auch durch "bloße Zusammenstellung jener drei Behandlungen der Ethik" (131,3f) sich dieser Zusammenhang nicht ergibt, bleibt die Frage offen, wie dieser Zusammenhang evident gemacht werden kann. Ist jede Einheit außerhalb dieses Zusammehhangs ausgeschlossen, so bleibt allein die Möglichkeit, daß das Reale der Ethik unter einer der drei Ideen angeschaut und aus ihr der ganze Zusammenhang erschlossen wird. Nun lassen sich -vwie Kánt schon feststellte - weder die Pflichtmäßigkeit einer Handlung, noch auch die Tugendhaftigkeit eines Handelnden anschauen. Vielmehr ist - so argumentiert Schleiermacher - die Aufstellung eines Gesetzes, das den Streit der Neigungen zu entscheiden erlaubt, und die Bestimmung des sittlichen Gefühls innerhalb der umfassenderen Erkenntnis der menschlichen Natur möglich. Auf dem Boden einer solchen Anthropologie ließe sich dann aber die Selbständigkeit der ethischen Wissenschaft schwerlich behaupten. Der Begriff der Güter dagegen garantiert ihre Selbständigkeit, weil er - wie Schleiermacher sagt - "allein kosmisch" ist und eine Aufgabe b e zeichnet, die Vom Menschen in der Welt wahrgenommen wird, die also den Rahmen der menschlichen Natur überschreitet. Denn der Begriff der Güter bezeichnet das anschauliche Reale der Ethik, das aus der Lösung der objektiven Aufgabe entsteht, "was nämlich der Mensch bilden und darstellen soll in sich wie außer sich" (321,22f). Sind aber Pflicht und Tugend durch die doppelte Bildungsaufgabe, die Schleiermacher, wenn auch nicht als begründet, so doch als evidentes Verständnis der Bestimmung des Menschen auffaßt (312,18ff), auf die anschauliche Realität der Güter bezogen, so lassen sich Sittengesetz und sittliches Gefühl von dort her bestimmen. Durch die Bildungsaufgabe des Menschen als Selbst- und Weltbildung sieht Schleiermacher die Ethik als Wissenschaft konstituiert. Da der Begriff der Güter auf die Bildungsaufgabe bezogen ist, ist andererseits eine Explikation des Tugend- und Pflichtbegriffs unumgänglich, wenn Güter als Produkte menschlichen Bildens sollen begriffen werden können. "Zur Bewährung ihrer Realität" muß sowohl das "Vermögen in der menschlichen Natur" als auch "die Regel für
- 184 das dabei zu beobachtende Verfahren" (312,27-30) für "das, was dargestellt werden soll", aufgewiesen werden. Sofern also die Ethik als Wissenschaft nicht aus der höchsten Wissenschaft abgeleitet wird, sondern auf der Anschauung des realen Sittlichen beruht, ergibt sich der Vorrang der Güterlehre. Denn in ihr ist der Zusammenhang der drei Gestalten der Ethik geschlossen. Um diesen Zusammenhang aufzuzeigen, ist ein besonderer formaler Teil nötig, der die Übereinstimmung der drei Gestalten der Ethik in einem Entwurf anhand der "Reduktion der Formeln, durch welche das Gesetz bezeichnet wird, oder der Weise, auf die des höchsten Gutes" (313,16-19) aufweist. Denn die Vereinbarkeit der verschiedenen Darstellungen des Sittlichen kann weder durch die Beziehung von einzelnen, noch durch Beziehung eines Ganzen auf ein einzelnes, sondern allein durch die Beziehung der verschiedenen Gestalten des Ganzen demonstriert werden. Von hier aus lassen sich die Bestimmungen, die Schleiermacher zum Zwecke der Kritik der bisherigen Sittenlehre über den Begriff der ethischen Wissenschaft gegeben hat, zusammenfassend überblicken: 1. Als grundlegende Bestimmung der Ethik zeigt sich das Verhältnis des Ganzen und seiner einzelnen Teile. Ihm entspricht die Ethik in ihrer Form als System. Die systematische Gestalt der Ethik ist aber das Merkmal ihrer Wissenschaftlichkeit. Das zeigt Schleiermachers einleitende Überlegung über die Kritik der wissenschaftlichen Form, die auf den Begriff der Ethik als systematische Darstellung des menschlichen Handelns rekurriert. Das ist auch aus den Ausführungen über den Ur^ sprung des obersten ethischen Grundsatzes zu entnehmen, den Schleiermacher im sittlichen Bewußtsein findet. Ausdrücklich wird dies Verhältnis erst im letzten Buch seiner Kritik thematisiert. 2. Dieser Begriff der Ethik beruht auf einer Nachordnung von Form und Inhalt im Sinne der Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und seiner Darstellung. Schleiermacher nimmt den Gegenstand als real gegeben in Anspruch und zwar als so gegeben, daß er eine systematische Darstellung möglich macht, die das wissenschaftliche Bedürfnis der Vernunft zu befriedigen vermag. Auf diese Konstitution als reale Wissenschaft geht letztlich der deskriptive Charakter von Schleiermachers Ethik zurück. Diesen Begriff der ethischen Wissenschaft begründet Schleiermacher negativ dadurch, daß er die Möglichkeit der Deduktion aus der höchsten Wissenschaft geschichtlich ausschließt, positiv dadurch, daß er das Gegebensein des ethischen Gegenstandes demonstriert. 3. Wie die Geschichte der bisherigen Sittenlehre zeigt, kann sich Schleiermacher nicht auf die allgemeine und selbstverständliche Evidenz des ethischen Gegenstandes berufen. Im Gegenteil - eine vollständige und umfassende Darstellung des menschlichen Handelns in einem System hat es noch nicht gegeben. Das Gegebensein des ethischen Gegenstandes kann Schleiermacher demnach nur dann demonstrieren, wenn er zugleich
- 185 das Bewußtsein bestimmt, für das der ethische Gegenstand gegeben ist. Eine solche Bestimmung nimmt Schleiermacher vor, wenn er den Ursprung des obersten Grundsatzes der Ethik im "Bewußtsein der inneren sittlichen Zunötigung" (38,10) findet. Die Antwort auf die Frage, worin denn die sittliche Zunötigung für das Bewußtsein bestehe, ist seinem Hinweis auf die Bestimmung des Menschen zu entnehmen, die er als die doppelte Bildungsaufgabe der Selbst- und der Weltbildung versteht. Auf dem Boden der Bildungsaufgabe des Menschen besteht die sittliche Zunötigung in der Aufgabe, "was nämlich der Mensch bilden und darstellen soll" (312). Für denjenigen, der diese Auffassung von der Bestimmung des Menschen teilt und sich dieser sittlichen Zunötigung bewußt ist, muß der von Schleiermacher aufgewiesene Gegenstand der ethischen Wissenschaft evident sein. 4. Als realen Gegenstand für die systematische Darstellung der ethischen Wissenschaft definiert Schleiermacher den gesamten Bereich des sittlich bestimmten und bestimmbaren Handelns. Die sittliche Bestimmung des zufälligen menschlichen Handelns geschieht dadurch, daß es als ein einzelnes Glied des menschlichen Handelns in seiner Gesamtheit aufgefaßt und sein Ort in diesem Ganzen zumindest näherungsweise bestimmt werden kann. Die Einheit und Abgrenzung des Gegenstandes, der die ethische Wissenschaft begründet, ist also keineswegs unmittelbar gegeben. Gegeben ist nur das zufällige menschliche Handeln. Zum Gegenstand der Wissenschaft wird dies Reale erst, wenn es "unter einer Idee" (11) betrachtet wird, wenn es als ein Ganzes und eine Gesamtheit angeschaut wird (248). Der Gegenstand der Ethik wird demnach durch das anschauende Bewußtsein konstituiert. Diese Konstitution darf aber nicht im Sinne Kants als Erkenntnis a priori verstanden werden, sondern als die Konstitution eines realen Gegenstandes, indem einzelnes unter der problematischen Idee eines Ganzen angeschaut wird. Sofern diese Anschauung des einzelnen im Ganzen nach den Reden als religiöse Anschauung und das anschauende Bewußtsein als religiöses identifiziert werden kann, kann die Behauptung von einer religiösen Konstitution der Ethik als Wissenschaft in Schleiermachers Kritik der Sittenlehre aufgestellt werden. 5. Aus der Anschauung des menschlichen Handelns in seiner Gesamtheit ergibt sich der Vorrang der Güterlehre und die Selbständigkeit der Ethik gegenüber der Anthropologie. Allein nach seiner äußeren Seite, in der sich das menschliche Handeln in seinen Produkten verselbständigt, ist es ein selbständiger, vom Menschen unterschiedener, Gegenstand der Anschauung. Das in seinen Produkten anschaubare menschliche Handeln ist der Gegenstand, den die Ethik nach seinen drei Seiten als Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre wissenschaftlich in einem System darstelt. Diese Bestimmungen geben den gebildeten Standpunkt der Frühschriften in der Kritik der Sittenlehre als Voraussetzung zu erkennen. Sowohl im Blick auf die verschiedenen Darstellungen der Ethik in ihrer Geschichte
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und ihre Kritik als auch im Blick auf den ethischen Gegenstand, der den Begriff der Ethik als Kriterium der bisherigen Sittenlehre konstituiert, lassen sich die beiden Aspekte des gebildeten Selbstverständnisses aufweisen, nämlich die Individualitätsanschauung und das Gebildetsein. Ebenso wird auch der Zusammenhang beider in Schleiermachers Kritik durch den gebildeten Standpunkt gewährleistet. Denn dieser Zusammenhang ist keineswegs selbstverständlich. Steht außer Zweifel, daß Schleiermacher seiner Kritik der bisherigen Sittenlehre eine eigene ethische Konzeption zugrunde gelegt hat, so ergibt sich das Problem, wie diese Konzeption begründet werden kann, ohne daß sie selbst der Kritik verfällt . a) Im Blick auf die verschiedenen ethischen Entwürfe der bisherigen Sittenlehre dokumentiert ihre Kritik die Überlegenheit des gebildeten Kritikers. Sie drückt sich darin aus, daß der Kritiker den wahren Begriff der ethischen Wissenschaft f ü r seine Kritik in Anspruch nehmen und seine unvollkommene, d . h . individuell beschränkte Erfassung und Darstellung in den Entwürfen der bisherigen Sittenlehre aufweisen kann. Diese Überlegenheit beruht auf dem Fortschritt des sittlichen Bewußtseins und nicht - das ist gegen Fichte gerichtet - auf dem Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins. Dieser Fortschritt besteht in der Individualitätsanschauung. Das zeigt sich vor allem in der Auffassung des ethischen Gegenstandes. Aber auch in der Betrachtung der Geschichte der Ethik kommt die Individualitätsanschauung zum Zuge. Sie äußert sich darin, daß Schleiermacher zwischen der Kritik der Moral und seinem eigenen Entwurf unterscheidet. Damit erkennt er die eigene individuelle, d . h . beschränkte Perspektive in der Darstellung des ethischen Gegenstandes an. Seine gebildete Überlegenheit besteht nur darin, daß er sich dem Streit um die ersten Prinzipien der Ethik enthoben weiß, weil er die individuelle Perspektive als Verschiedenheit in der ethischen Darstellung selbst zum Ausdruck zu bringen vermag und weil auf dem gebildeten Standpunkt die streitenden und strittigen ethischen Entwürfe nichts anderes als individuell verschiedene Auffassungen des ethischen Gegenstandes sind, deren jeweilige Besonderheit nicht in der Darstellung zum Ausdruck gekommen ist. Allerdings lassen die Andeutungen Schleiermachers über seinen eigenen Entwurf eben die Zweideutigkeit e r kennen, die bereits an der Konzeption der Reden und Monologen bemängelt wurde. Auch hier deutet alles auf eine Identifikation des allgemeinen Gedankens der Individualität mit der individuellen Besonderheit hin, insofern Schleiermacher die Individualitätsanschauung als seine eigene individuelle Besonderheit zum Zuge bringen will. Zwar dient der allgemeine Gedanke der Individualität zur Bestimmung des Ortes, den sein eigener Entwurf gegenüber den Entwürfen der bisherigen Sittenlehre einnimmt (68), aber die Anerkennung individueller Verschiedenheit auf dem gebildeten Standpunkt verlangt eine darüber hinausgehende Bestimmung der eigenen individuellen Besonderheit.
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b) Das Gegebensein des ethischen Gegenstandes in der Anschauung als reales einzelnes unter der Idee eines Ganzen ist an ein sittliches Bewußtsein gebunden, das den Menschen und auch sich selbst als Gattungswesen, d . h . als Individuum mit Vernunft und Phantasie, versteht. Daß die Sittlichkeit des Handelns bestimmt werden kann, hat dessen Anschaubarkeit zur Voraussetzung. Darauf beruht der Vorrang der Güterlehre. Die Voraussetzung impliziert aber die Vorstellung verschiedener handelnder Subjekte und deren Gesamtheit. Diese Vorstellung ist in der Individualitätsanschauung enthalten, die als Bestimmung des gebildeten Selbstverständnisses darüber hinaus das reflexive Moment enthält, daß derjenige, der die Menschen als Individuen begreift, sich selbst als Individuum verstehen muß. Das gebildete Selbstverständnis als Individuum ist das höhere sittliche Bewußtsein. Denn in ihm ist begründet, daß die Bestimmung des Menschen in der Bildungsaufgabe besteht, nämlich, das, was in der Individualitätsanschauung als Idee bestimmt ist, sich selbst und das Ganze, dessen Teil das Individuum ist, zur realen Bestimmtheit zu bilden. Da diese Auffassung von der Bestimmung des Menschen, auf der der Begriff der Ethik in Schleiermachers Kritik der Sittenlehre beruht, an das entsprechende Bewußtsein gebunden ist, so liegt darin der Anspruch des Gebildetseins, insofern es eine höhere Stufe repräsentiert als dasjenige, das sich in den Entwürfen der bisherigen Sittenlehre dokumentiert hat. Das durch das gebildete Selbstverständnis bestimmte sittliche Bewußtsein verbindet die Kritik der bisherigen Sittenlehre und die ihr zugrunde liegende Konzeption der Ethik. c) Diese ethische Konzeption enthält bereits die Grundlinien von Schleiermachers späteren ethischen Entwürfen. Sowohl an der Auffassung der Ethik als reale Wissenschaft als auch an der Dreiteilung ihrer Darstellung unter Vorrang der Güterlehre hat Schleiermacher festgehalten. Hinzu kommt die besondere Berücksichtigung des Bereichs der Selbstbildung, die Bedeutung der Phantasie und der Formen der Geselligkeit. Aus dieser Beobachtung sind systematische Konsequenzen zu ziehen. Kann nämlich die ethische Konzeption Schleiermachers in festen Umrissen schon für eine Zeit festgemacht werden, in der er die Konstitution der Ethik durch das System des Wissens ausdrücklich ausgeschlossen hat, so muß sich die spätere systematische Ableitung der Ethik als nachträgliche Begründung dieses Konzepts betrachten lassen. Das bedeutet im Zusammenhang dieser Untersuchung, daß die systematische Ableitung der Ethik eben diejenige Auffassung des Menschen als Individuum und Gattungswesen begründen muß, die zuvor als mit dem gebildeten Standpunkt gegeben vorausgesetzt werden konnte. Das Thema der Untersuchung, das gebildete Selbstverständnis, das in der ethischen Konzeption der Kritik der Sittenlehre in dem Vorrang der Güterlehre zum Ausdruck kommt, bleibt insofern auch in Schleiermachers späteren systematischen Entwürfen der Ethik erhalten165.
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II. Der Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins: Schleiermachers Schelling-Rezension von 1804 Daß Schleiermachers Kritik der bisherigen Sittenlehre nicht nur bei ihrem Erscheinen auf weitgehendes Unverständnis stieß1®®, sondern daß sie auch später keinerlei Wirkung gehabt hat, daran trägt weniger der auf den ersten Blick nicht ganz durchsichtige Aufbau und die daher auch nicht sofort einleuchtende Kritik an Kant und Fichte die Schuld 1 ® 7 , als vielmehr ihr Autor selbst. Denn kaum ein Jahr nach ihrem Erscheinen veröffentlicht er in der Jenaischen Literatur-Zeitung im April 1804 eine Rezension von Schellings 1803 erschienenen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums1®**, ¡η d e r e r ¿ a s d a r in enthaltene System als gelungenen Entwurf der höchsten Wissenschaft feiert. Während er sich zuvor in der Kritik der Moral noch zu der Feststellung genötigt sieht, daß die Aufstellung der höchsten Wissenschaft zwar angestrebt, aber nirgend gelungen sei, daß vielmehr in der Einteilung der Philosophie in eine theoretische und praktische "der Gedanke an eine systematische Verknüpfung aller menschlichen Erkenntnis" nicht anzutreffen sei1®*' und daß die beiden Darstellungen des "dynamischen Idealismus" nicht nur die Einseitigkeit aufweisen, daß die eine nur eine Ethik, die andere nur eine Naturwissenschaft aufgestellt habe, sondern beide sich auch in "einem wichtigen und bedenklichen Streit" befinden, ein Indiz dafür, daß dieser Idealismus "wohl schwerlich die Ahnenprobe seiner Abstammung von einer Idee der höchsten Erkenntnis bestehen möchte" (KdS 344), so sieht Schleiermacher jetzt in Schellings Vorlesungen eine Wende eingetreten. Diese Wende besteht nach Schleiermachers Auffassung nicht in dem philosophischen Gedanken Schellings, auf dem das System der Erkenntnis ruht. Eine Wende sieht er vielmehr damit eingetreten, daß Schelling im Unterschied zu Kant und Fichte die "unnachlässige Forderung an jede Philosophie" erfüllt habe, "ein System der Erkenntnisse und ihres Zusammenhanges wenigstens im Umriß aufzustellen" (580f). Denn erst das aufgestellte System ermöglicht die Kritik: Daß nämlich die Philosophie "nach ihren eignen Grundsätzen etwas mit ihnen und mit sich selbst übereinstimmendes zu Stande bringt, ist gleichsam die äußere Probe ihrer innern Wahrheit und Haltbarkeit" (581,3-6). Daß Schleiermacher nicht die philosophische Grundlegung, sondern das begründete System der Erkenntnisse einer Kritik unterwirft, und die Grundlegung dadurch nur indirekt bewährt wird, erklärt sich, wenn er mit den Vorlesungen Schellings, die zu dessen identitätsphilosophischer Phase seit 1801 gerechnet werden 17 ®, einen Fortschritt im Bereich der Wissenschaft eingetreten sieht. Dieser Fortschritt besteht darin, daß die in den Reden bereits angedeutete (R 46) und in der Kritik der Sittenlehre erörterte Aufgabe einer höchsten Wissenschaft von den Gründen und dem Zusammenhang aller Wissenschaften (KdS 20) von Schelling mit der Aufstellung des Systems der Erkenntnisse erfüllt worden ist.
- 189 Indem Schleiermacher aber Schellings Entwurf feiert, verstellt er den Zugang für das Verständnis der in der Kritik der Sittenlehre unternommenen Konstitution der Ethik als Wissenschaft! 7 !. Denn der von Schleiermacher anerkannte Fortschritt der Wissenschaft muß sich auf die Kritik der Sittenlehre darin auswirken, daß die von Schleiermacher dort noch ausgeschlossene Möglichkeit, den höchsten Grundsatz der Ethik durch Ableitung aus der höchsten Wissenschaft zu gewinnen, realisiert ist. Die in der Rezension ausgesprochene Anerkennung des Schellingschen Systems hat also zunächst eine Änderung in der Begründung der Ethik als Wissenschaft zur Folge. Diese Änderung wird im folgenden anhand der kritischen Bemerkungen in der Rezension zu bestimmen sein. Die Konsequenzen der Anerkennung reichen sehr viel weiter. Findet die Lösung, die Schelling mit seinem System der Erkenntnisse gefunden hat, trotz aller Kritik, die Schleiermacher daran übt, eine Anerkennung im Grundsätzlichen, so bedeutet das eine Veränderung in der Durchführung der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt, auch wenn Schleiermacher schon auf den bleibenden Unterschied zwischen Religion und höchster Philosophie hingewiesen hat (R 46). Diese Veränderung betrifft aber auch die Funktion der Religion für das gebildete Selbstverständnis, so daß danach zu fragen ist, was dieser Fortschritt der Wissenschaft für den Bildungsbegriff Schleiermachers bedeutet und wie er die auf dem gebildeten Standpunkt evidente Selbständigkeit der Religion zu bewahren und zu bewähren vermag. Die Andeutungen der Folgen, die sich mit der Anerkennung des identitätsphilosophischen Ansatzes Schellings ergeben, erfordern ein genaueres Verständnis davon, in welchem Sinne diese Anerkennung erfolgt und welche Konsequenzen sich aus ihrer Charakterisierung als Fortschritt der Wissenschaft sowohl für das System Schellings als auch für das Bildungskonzept Schleiermachers ergeben. Damit ist der Horizont bezeichnet, unter dem die folgende Untersuchung Schleier m achers Rezension betrachten wird. Denn darauf, daß die Anerkennung, die Schleiermacher dem Entwurf Schellings zuteil werden läßt, nicht zugleich Übereinstimmung bedeutet, führt bereits die Analogie dieser Rezension zur Kritik der Sittenlehre: Der Entwurf Schellings wird auch der Kritik der wissenschaftlichen Form unterzogen. Wie Schleiermacher die ethischen Entwürfe an dem gemessen hat, was in ihnen zur Darstellung zu bringen ist, nämlich an dem vorausgesetzten Begriff der ethischen Wissenschaft und der darin implizierten systematischen Form, so wird entgegen der von Schelling gewählten Form von Vorlesungen über das akademische Studium, die keine strenge Ableitung aus den höchsten Prinzipien zu sein beansprucht (Schelling, 4 8 1 ) 1 7 2 , die implizite Konstruktion des Systems aller Erkenntnisse zum Ausgangspunkt einer Kritik gemacht, die Schellings Ausführungen über die einzelnen Gegenstände des Systems daran mißt, ob sie der Konstruktion des Systems entsprechen. Dabei ist keineswegs ausgemacht, daß der philosophische Ansatz, dessen innerer
- 190 Wahrheit und Haltbarkeit diese "äußere Probe" zur Bewährung dient, mit dem Schellings identisch ist. Das ist umso weniger zu vermuten, als Schleiermacher trotz der Anerkennung, die er Schellings Entwurf zuteil werden läßt, nicht nur an einzelnen Punkten, sondern durchweg die zentralen Stellen des Systems aller Erkenntnisse kritisiert. Es ergibt sich daher die Aufgabe, den systematischen Zusammenhang der Einzelkritik an Schellings Darstellung zu erkennen und ihn in Beziehung zu dem durch den Bildungsbegriff bezeichneten Zusammenhang zu setzen. Auf diesem Wege wird sowohl die Eigentümlichkeit von Schleiermachers Rezeption des identitätsphilosophischen Ansatzes Schellings sichtbar werden als auch die Veränderung, die sich aus dieser Rezeption für Schleiermachers Verständnis des Gebildetsein ergibt. In der Hauptsache besteht Schleiermachers Kritik in dem Nachweis, daß Schelling die von ihm entworfene Organisation zwar aus einem "inneren Typus" der Philosophie abgeleitet hat, daß aber das System der realen und positiven Wissenschaften in zwei Punkten unzulänglich ist. Einmal ergeben sich Unstimmigkeiten bei der Bestimmung der Theologie als reale und zugleich als positive Wissenschaft und zum anderen erhält die reale Wissenschaft der Geschichte als ideale Welt keine bestimmte Darstellung. Diese Unzulänglichkeit meint Schleiermacher aufgrund der von Schelling gegebenen "genaueren Darstellung von dem Typus der Philosophie" (584, 40f) beseitigen zu können. Das führt zu dem Resultat, daß Schleiermacher die Theologie als reale Wissenschaft ausscheidet und statt dessen Religion in ein Verhältnis zu Philosophie und Kunst setzt und daß er die reale Wissenschaft der Geschichte als historische Konstruktion der Sittlichkeit bestimmt. Auf dem damit bestimmten Verhältnis zwischen ethischer Wissenschaft und sittlichem Handeln beruht auch die Kritik, die Schleiermacher an Schellings Beziehung der positiven Wissenschaften auf den Staat übt. Dieser Überblick gibt bereits eine Andeutung davon, daß Schleiermachers kritische Rezension von Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums durch einen eigenen Entwurf bestimmt ist. Diesen gilt es aus den kritischen Bemerkungen Schleiermachers zu erheben. 1. Die Kritik an Schellings Bestimmung der Theologie und des Christentums Es entspricht dem kritischen Verfahren, wenn Schleiermacher die Aufstellung des identitätsphilosophischen Prinzips, das Urwissen als die Idee des an sich selbst unbedingten Wissens und die Idee des Absoluten als der Indifferenz des Idealen und Realen, kein Wort der Kritik verliert, sondern von ihm als dem konstruktiven Prinzip des Systems aller Erkenntnisse ausgehtl73 : Der Philosophie wird die Identität des Idealen und Realen "zum Grunde gelegt" (580,3). Daraus folgt der oberste Ge-
- 191 gensatz des Systems zwischen der Philosophie als der idealen Darstellung des Urwissens und allem anderen Wissen als seiner realen Darstellung, das durch Absonderung und Trennung bestimmt ist und das nicht im Individuum, sondern allein in der Gattung im unendlichen historischen Prozeß real eins werden kann (Schelling 514; IV,581). Die Konstruktion besteht nun darin, daß ein innerer Typus der Philosophie aufgestellt wird, nach dem das reale Wissen als Darstellung des Absoluten zu organisieren ist. Schleiermachers Argumentation, die zum Ausschluß der Theologie aus dem Kreis der realen Wissenschaften und zur Auflösung der Abhängigkeit zwischen Theologie und Philosophie führt, besteht in dem Nachweis, daß Schellings Konzeption der Theologie sich nicht in Übereinstimmung mit der philosophischen Grundlegung befindet, und in dem Aufweis desjenigen Typus der Philosophie, der diesem Nachweis Rechnung trägt und den Kreis der realen Wissenschaften ohne Theologie konstituiert. Schelling bezieht die drei positiven Wissenschaften der oberen Fakultäten dadurch in das System aller Erkenntnisse ein, daß er sie auf drei unterschiedene Momente im inneren Typus der Philosophie als der idealen Darstellung des Absoluten zurückführt. Dem absoluten Indifferenzpunkt stehen die beiden relativ einander entgegengesetzten Momente gegenüber, von denen einer das in der realen, der andere das in der idealen Welt ausgedrückte Absolute repräsentiert. Entsprechend diesen drei Momenten gibt es drei reale Wissenschaften, von denen die Theologie den Indifferenzpunkt, die Wissenschaft der Natur das reale Moment und die Wissenschaft der Geschichte das ideale Moment objektiv darstellt. Jede stellt das Real-Werden des Absoluten nach einer Seite dar, während die Objektivation der Philosophie in ihrer Totalität, d . h . die umfassende reale Darstellung des Absoluten, in der Kunst erfolgt. An die reale Wissenschaft der Geschichte schließt sich als positive Wissenschaft die Jurisprudenz, die es mit der Organisation der Rechtsverfassung, an die reale Wissenschaft der Natur schließt sich die Medizin an, die es mit dem Organismus zu tun hat (Schelling, 516f). Bei diesem System der Wissenschaften fällt auf, daß die Theologie zugleich als positive und als reale Wissenschaft, d.h. als unmittelbare Wissenschaft des absoluten göttlichen Wesens bestimmt ist. Weiter ist zu bemerken, daß Schelling im Bereich der realen Darstellung des Urwissens den realen Wissenschaften als einseitigen Objektivationen die Kunst als vollkommene Objektivation der Philosophie gegenüberstellt. Schleiermacher dagegen leitet aus dem inneren Typus der Philosophie nur zwei reale Wissenschaften ab, unterscheidet aber im Bereich der realen Darstëllung des Absoluten drei Gebiete: neben die realen Wissenschaften tritt, der Philosophie korrespondierend, nicht nur die Kunst, sondern auch die Religion. Schleiermacher löst damit den Zusammenhang zwischen den drei positiven Wissenschaften der oberen Fakultäten und dem inneren Typus der Philosophie auf. Er ordnet nicht den drei unterschiedenen Momenten jeweils eine reale Wissenschaft zu, sondern geht von den beiden
- 192 Polen des Verhältnisses zwischen den drei Momenten aus. Dem absoluten Indifferenzpunkt stehen die beiden anderen relativ entgegengesetzten Momente gegenüber. Schelling selbst hat dies Verhältnis als den "notwendigen Typus der Philosophie" bezeichnet: nämlich "den absoluten Zentralpunkt gleicherweise in den beiden relativen und hinwieder diese in jenem darzustellen" (Schelling, 516). Wegen dieser wechselseitigen Darstellung - so folgert Schleiermacher - braucht der absolute Indifferenzpunkt nicht als selbständiges Moment im realen Wissen objektiviert zu werden, wenn nur seine Darstellung in den beiden relativ entgegengesetzten Momenten gewährleistet ist. "Reale Wissenschaften sind nur die Darstellungen der beiden Relationen für sich, also die historische Construction der geistigen Welt und die historische Construction der Natur, welche beide zusammen, eben insofern sie als real Eins angesehen werden können, auch die reale Darstellung des Urwissens ausmachen" (585,6-11). Als reale Darstellung des Urwissens können die beiden realen Wissenschaften angesichts seines sukzessiven Real-Werdens nur angesehen werden, wenn sie als "Ganze" (585,21) gedacht und durch die Beziehung auf die spekulative Beschränkung der Darstellung des Absoluten auf das Ganze folgt, daß eine Darstellung der absoluten Indifferenz im einzelnen durch eine reale Wissenschaft nicht möglich ist. Die Beziehung des einzelnen zum Absoluten wird vielmehr durch Religion und Kunst wahrgenommen. Bevor aber diese Bestimmungen näher betrachtet werden, ist auf die Konsequenzen zu blicken, die die Wahl dieses anderen, gleichfalls bei Schelling formulierten Typus der Philosophie nach sich zieht. Zunächst ist festzuhalten, daß die Differenz zwischen Schelling und Schleiermacher erst im Übergang vom Bereich der idealen Darstellung des Urwissens in den Bereich seines Real-Werdens aufbricht, während es in der Philosophie selbst, wie die Berufung auf Schelling zeigt, keine Differenz zu geben scheint. Dennoch hat der Ausschluß der Theologie aus dem Kreis der realen Wissenschaften zumindest eine differierende Auffassung der philosophischen Grundlegung zur Voraussetzung. Sie läßt sich etwa so formulieren, daß für Schelling, vom Gedanken des Absoluten ausgehend, die Objektivation dels Urwissens und sein sukzessives Real-Werden im Wissen aufgefaßt und dargestellt werden kann, während für Schleiermacher jede Darstellung des Absoluten nur durch Relationen wiederzugeben ist. Eine Darstellung des Absoluten ist für ihn nur möglich als das Β e ziehungs Verhältnis zwischen der Einheit und dem relativen Gegensatz. Daher kann es eine Darstellung des Absoluten an sich ohne dieses Be ziehungs Verhältnis nicht g e b e n 174. ist diese Beschreibung zutreffend, so zeigt sie, daß Schleiermacher gegenüber Schelling an der Intention der Reden festhält, nur das kritische Verfahren, das Schleiermacher in der Rezension anwendet, verhindert, daß die Differenz im Denken des Absoluten explizit wird.
- 193 Statt dessen wird unter dem Schein des Konsensus in der philosophischen Grundlegung der Dissens in Schleiermachers Kritik an Schellings Bestimmung der Theologie als reale Wissenschaft offenbar. Schleiermachers Argumentation zielt auf die Inadäquatheit zwischen der Bestimmung des Gegenstandes der Theologie als unmittelbare Wissenschaft des absoluten und göttlichen Wesens und ihrer Bestimmung als reale Wissenschaft: "wie kann sich dieses (sc. das göttliche Wesen) successiv an sich offenbaren, da es ja die absolute Form des Absoluten ist, in der Nicht-Absolutheit nur getrennt unter der Gestalt der beiden relativ entgegengesetzten zu erscheinen" (584,7-10). Die Einheit des Idealen und Realen hat keine Repräsentanz im realen Wissen, sondern die Einheit des relativ Entgegengesetzten wird durch die Beziehung auf die Philosophie gewährleistet. Entsprechend ordnet Schleiermacher den Gegensatz zwischen dem Christentum und der griechischen Mythologie, den Schelling auf der positiven Seite der Theologie macht, den beiden realen Wissenschaften zu und bestimmt sie als "höhere Ansicht" von Geschichte und Natur. Die Theologie ist daher keine reale Wissenschaft, die durch einen eigenen Gegenstand konstituiert ist, "sondern vielmehr hat sie den Gegenstand mit ihnen (sc. den realen Wissenschaften) gemein, zeigt sich aber als eine ganz verschiedene Behandlung desselben" (584,29-31). Diese Transformation des Theologiebegriffs zieht die Aufgabe nach sich, die Verschiedenheit der Behandlung auf zuweisen. In der Sache deutet Schleiermacher mit der höheren Ansicht von Natur und Geschichte als eine vom realen Wissen verschiedene Behandlung desselben Gegenstandes die Selbständigkeit der Religion an offen bleibt hier, wie er an der Bestimmung der Theologie als Wissenschaft festhalten kann und wie er das Verhältnis zwischen Religion und Theologie bestimmt. Die Kritik an Schellings Bestimmung der Theologie zieht die Kritik an dessen Darstellung des Christentums als dem Gegenstand, auf den die Theologie nach ihrer positiven Seite bezogen ist, nach sich. Dabei ist zu beachten, daß diese Darstellung nach dem Ausschluß der Theologie als reale Wissenschaft in den Bereich einer der anderen, in diesem Fall in den der realen Wissenschaft der Geschichte gehört. Schleiermacher findet die Darstellung des Christentums bei Schelling "im ganzen vortrefflich", kritisiert aber, daß Schelling den Gegensatz zwischen griechischer Mythologie und Christentum nirgends klar aufgelöst habe (586,14). Dieses Argument bezieht sich auf die Struktur des realen Wissens und bemängelt, daß der Gegensatz des Idealen und Realen nicht auf seine Einheit bezogen worden ist. Die Tragweite dieser kritischen Bemerkung wird sichtbar, wenn sie auf Schellings "historische Konstruktion des Christentums" (Schelling, 520) bezogen wird. Unter diesem Titel stellt Schelling die besondere Beziehung der Theologie zur Geschichte dar, die ihr nicht nur als reale Wissenschaft, die wegen des sukzessiven Real-Werdens des Urwissens eine historische Seite hat, sondern die ihr zukommt, weil sie auf diejenige Religion bezogen ist,
- 194 die das Universum als Geschichte anschaut. Die Theologie ist also nicht nur auf die Geschichte ihres Gegenstandes bezogen, sondern die Anschauung dieser Geschichte ist selbst eine Bestimmung des Gegenstandes der Theologie 1 7 6 . Die Einbeziehung des geschichtlichen Bewußtseins in das Christentum führt dazu, daß der Gegensatz gegen die griechische Mythologie zeitlich als Periodisierung der Geschichte gefaßt wird. Schelling erfaßt gemäß der drei Momente des inneren Typus der Philosophie die Abfolge der geschichtlichen Perioden unter den Ideen der Natur, des Schicksals und der Vorsehung, die dieselbe Identität in verschiedener Weise ausdrücken: Der bewußtlosen Identität der Natur stehen die beiden anderen Momente in relativem Gegensatz einander gegenüber. "Das Schicksal ist Vorsehung, aber im Realen erkannt, die Vorsehung ist Schicksal, aber im Idealen angeschaut" (Schelling, 524). Die Bewegung zwischen diesen Momenten ergibt sich aus ihrer Beziehung auf die Stufen der Bewußtseinsgeschichte. Auf die bewußtlose Identität mit der Natur folgt die Entzweiung mit dem Schicksal und die Wiederherstellung der Einheit auf einer höheren Stufe als bewußte Versöhnung unter der Idee der Vorsehung. "Das Christentum also leitet in der Geschichte die Periode der Vorsehung ein" (Schelling e b d . ) 1 7 7 . Wenn Schleiermacher in seiner Kritik an der Aufhebung des Gegensatzes von Christentum und Mythologie im realen Wissen beharrt, so bedeutet das zunächst den Ausschluß der Schellingschen Konzeption der Religionsgeschichte aus dem Gegenstandsbereich der realen Wissenschaften. Das mag auf den ersten Blick vielleicht überraschen, weil diese Konzeption eine gewisse Ähnlichkeit mit Vorstellungen aufweist, die Schleiermacher in den Reden entwickelt hat 1 7 ®, insofern diese Auffassung der Bewußtseinsgeschichte für sein Verständnis des Gebildeten konstitutiv ist und sie in dieser Funktion mit Hilfe der Religionstheorie expliziert worden ist. Aber unter Berücksichtigung der Einsicht, daß diese Kritik in einem Zusammenhang mit dem Ausschluß der Theologie aus dem Kreis der realen Wissenschaften steht, wird man zweierlei festhalten müssen. Einmal muß unter der relativen Entgegensetzung des Idealen und Realen die Beziehung des Christentums auf die Geschichte unter Ausschluß der Natur als einseitige Objektivation des Urwissens und eine wissenschaftliche Darstellung, die sich allein auf das Christentum stützt, ihrem durch den Religionsbegriff bezeichneten Gegenstand als nicht adäquat erscheinen. Dem trägt Schleiermacher mit seinem Beharren auf der konstruktiven Auflösung des Gegensatzes Rechnung. Zum anderen wird in dem Ausschluß der Offenbarungsgeschichte aus dem Bereich der realen Wissenschaften eine Transformation zu vermuten sein, die, in Entsprechung zu der Funktion der Religionstheorie für das gebildete Selbstverständnis, die Bewußtseinsgeschichte an den Ort des individuellen Subjekts bindet.
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2. Die Ergänzung des realen Wissens durch Religion und Kunst Da Schleiermacher den inneren Typus der Philosophie als Darstellungsverhältnis faßt und das selbständige Real-Werden des Absoluten in der Offenbarungsgeschichte der Religion und ihre Erfassung durch die Theologie ausschließt, muß er eine andere Bestimmung für die Präsenz des Absoluten im Prozeß seines Real-Werdens folgern. Ist die philosophische Darstellung des Absoluten als Verhältnis zwischen dem absoluten Indifferenzpunkt zwischen dem Idealen und Realen und dem relativen Gegensatz zwischen beiden bestimmt, so ist eine andere Behandlungsart desselben Gegenstandes zu suchen, d . h . es sind vom Wissen abweichende Bestimmungen der Beziehung zwischen dem einzelnen Endlichen und dem Absoluten auf zuweisen. In dem von Schleiermacher aufgestellten inneren Typus der Philosophie ist die Objektivation des Absoluten als Indifferenzpunkt im Wissen ausgeschlossen. Eine Identifikation des Absoluten im Prozeß seines RealWerdens ist dann nur möglich, wenn die Relation im Gegensatz des Idealen und Realen durch die Beziehung auf den absoluten Indifferenzpunkt im Idealen gewährleistet ist. Für das Wissen ist diese Indifferenz in der Philosophie als der idealen Darstellung des Absoluten gegeben. Daher können die beiden realen Wissenschaften nur als Ganze die Objektivation der beiden Momente des relativen Gegensatzes von Idealem und Realem darstellen, die als Darstellung des Absoluten identifiziert werden können, wenn sie auf die Philosophie als die ideale Darstellung des Urwissens bezogen werden. Hier gilt, was Schleiermacher für das Verhältnis der drei Gestalten der Ethik festgestellt hat, daß nur vom Ganzen auf das Ganze gegangen werden kann (KdS 313). Diese Darstellung des Absoluten im philosophischen Wissen schließt die Beschränkung des realen Wissens in sich, daß es nicht mit einer einzelnen Bestimmung das Absolute im einzelnen Moment seines Real-Werdens erfassen kann. Die beiden realen Wissenschaften können das einzelne Endliche nur jeweils nach einer Seite des relativen Gegensatzes von Natur und Geschichte auffassen. In der Bestimmung des Wissens ist das einzelne Endliche zuerst auf das jeweilige Ganze der idealen bzw. realen Welt und erst durch die Beziehung auf den Indifferenzpunkt der Philosophie auf das Absolute bezogen. Angesichts dieser Beschränktheit der realen Wissenschaften entsteht für den Bereich des Endlichen die Aufgabe, die Präsenz des Absoluten im Endlichen als Moment seines sukzessiven Real-Werdens wahrzunehmen. Die Lösung dieser Aufgabe findet Schleiermacher in Kunst und Religion. Das Absolute ist durch die "Ineins-Bildung des Idealen und Realen" im einzelnen zur bestimmten Erscheinung zu bringen. Das geschieht durch die Kunst. Für diese Vereinigung ist aber bereits in Anspruch genommen, daß das Absolute im einzelnen zur Darstellung gebracht werden kann. Diese Voraussetzung ist in der Religion gegeben, insofern in ihr "das
- 196 einzelne Endliche, sei es nun real oder ideal, unmittelbar im Unendlichen geschaut wird, in welchem von selbst und immer das Ideale und Reale als Eins und dasselbe erblickt werden muß" (585,34-36). Diese Bestimmung von Religion und Kunst entspricht der Darstellungsform des Absoluten. Während Schelling die Kunst als Objektivation der Philosophie in ihrer Totalität bestimmt, diese Darstellung des Absoluten also alle drei Momente einschließen muß, faßt Schleiermacher die Kunst als "Ineinsbildung des Idealen und Realen", d . h . als Vereinigung des relativ Entgegengesetzten, die durch das Bilden des Künstlers als "Darstellung des Absoluten auch im einzelnen relativen" (585,30) herbeigeführt wird. Kunst ist hier definiert durch die Beziehung des r e lativ Entgegengesetzten auf einen Indifferenzpunkt, der f ü r den Künstler vorausgesetzt ist, wenn er diese Vereinigung zustande bringen kann. Diese Differenz im Kunstverständnis wirft ein Licht auf den späteren ethisch-technischen Gebrauch des Kunstbegriffs im Sinne von 'ars' bzw. 'techne' bei S c h l e i e r m a c h e r Hier in diesem Zusammenhang bildet sie die Voraussetzung f ü r die später zu betrachtende Identifizierung von Geschichtswissenschaft und Sittenlehre. Entsprechend ist auch die Religion durch das Darstellungsverhältnis bestimmt. Wiederum geht es nicht um die unmittelbare Offenbarung des Absoluten im Endlichen, sondern darum, daß durch eine Beziehung auf das Absolute als Indifferenz des Idealen und Realen das einzelne Endliche im Unendlichen, d . h . als Erscheinung des Unendlichen identifiziert wird. Kommt es in der Kunst durch das künstlerische Bilden zur Darstellung des Absoluten im einzelnen, so wird das in der Religion bezeichnete Beziehen als Anschauung bestimmt. Wie für die Kunst ist auch f ü r die Religion eine Instanz in Anspruch genommen, durch die dieses Beziehen des einzelnen Endlichen auf das Absolute vollzogen wird. Es ist nicht zu übersehen, daß dieser Begriff der Religion eben derjenigen transformierten Gestalt entspricht, in die Schleiermacher zuvor die Theologie als eine von der realen Wissenschaft verschiedene Behandlung desselben Gegenstandes ("höhere Ansicht" 584,23) überführt hat. Diesem Verständnis der Religion entspricht die Kritik, die Schleiermacher an Schellings Begriff der Religion übt. Führt dieser die Theologie als reale Wissenschaft ein, die den Indifferenzpunkt objektiviert, so erfordert das Verhältnis der Theologie zur Religion eine besondere Klärung. Diese vermißt Schleiermacher, wenn er kritisiert, daß bei Schelling die Differenz zwischen Religion und Wissen verwischt und der Religionsbegriff "gleichsam mit Gewalt eingeführt und ohne weiteres für dasselbe (sc. wie die Theologie) erklärt wird" (586,10f). Bereits hier deutet sich jene Definition der Theologie an, die Schleiermacher 1811 in seiner Enzyklopädie gibt, daß Theologie als positive Wissenschaft durch die Beziehung auf "eine bestimmte Religion" konstituiert istlSO. Diese über das System der Erkenntnisse hinausgehenden Bestimmungen von Religion und Kunst machen deutlich, daß Schleier m acher das, was
- 197 Schelling als Darstellung des Absoluten in der Philosophie und in der Kunst faßt, in ein anderes Verhältnis ü b e r f ü h r t . Schelling hat die Kunst als die vollkommene Objektivation der Philosophie in ihrer Totalität bestimmt. Dies kann Schleiermacher in seine Konzeption von der Darstellung des Absoluten als Beziehung zwischen dem absoluten Indifferenzpunkt und dem realen Gegensatz übernehmen, indem er als zweites reales Moment die Religion einfügt, nämlich: "wie, indem auf der einen Seite die Philosophie selbst als Erscheinung der Kunst eingebildet wird, auf der anderen aber die Religion nichts weiter ist, als die in der Welt der Erscheinungen sich unmittelbar offenbarende Philosophie die ideale und reale Darstellung des Urwissens sich zwiefach ineinander schlingen" (585,40ff). Schleiermacher gibt, ohne es weiter ausführen zu können, eine Zuordnung der drei Darstellungsbereiche des Absoluten. Die Philosophie als die ideale Darstellung des Urwissens findet nicht nur ihre reale Darstellung in der Kunst, sondern auch in der Religion. Beide stehen der Philosophie gegenüber als solche, die es mit der Welt der Erscheinungen, mit dem Endlichen und einzelnen zu tun haben. Aber darin, daß sie das einzelne Endliche auf das Absolute beziehen, sind sie der Philosophie ihrem inneren Typus nach gleich. Das Beziehen des relativen Gegensatzes auf die Indifferenz geschieht im künstlerischen Ineinsbilden des idealen und realen Endlichen ebenso wie im religiösen Anschauen des idealrealen Endlichen im Absoluten. Beide sind voneinander in der Richtung unterschieden. Kunst hat die Tätigkeit zur Voraussetzung, durch die die Philosophie eingebildet wird. Der Künstler ist der Träger der Tätigkeit, aus der die Einheit des Idealen und Realen in der Welt der Erscheinungen resultiert. Religion dagegen ist durch die "Unmittelbarkeit" der Anschauung ausgezeichnet. Daß sie das einzelne Endliche "unmittelbar im Unendlichen" schaut, ist gleichbedeutend mit ihrer Bezeichnung als "die in der Welt der Erscheinungen sich unmittelbar offenbarende Philosophie" 1 ® 1 . Nicht auf der Spontaneität, sondern auf der Rezeptivität des Individuums beruht die Religion. Ihre Unmittelbarkeit bedeutet die Negation der nach außen gerichteten Tätigkeit. Daher besteht in der zweifachen Verschlingung der idealen und realen Darstellung des Urwissens eine Abfolge. Ist Kunst als reale Darstellung des Urwissens an den Vollzug des Ineinsbildens gebunden, so ist die unmittelbare Offenbarung der Philosophie in der Welt der Erscheinungen die Voraussetzung f ü r diese Tätigkeit, durch die Philosophie zur Erscheinung kommt. Dem Prozeß des Real-Werdens des Urwissens in der Kunst ist der Prozeß der sich unmittelbar offenbarenden Philosophie in der Religion vorgeordnet. Allerdings schwingt in dieser Formulierung mit, daß die unmittelbare Offenbarung der Philosophie im Wissen vor geordnet ist. Denn die ideale Darstellung des Urwissens geschieht im Wissen desjenigen, für den Religion und Kunst Erscheinungen der Philosophie sind. Die unmittelbare Offenbarung ist auch der Philosophie ihrer durch Wissen vermittelten Erscheinungen vorgeordnet.
- 198 Schleier mâcher stellt also - und diese Feststellung muß angesichts der äußeren Gestalt der Rezension und der ausdrücklichen Anerkennung des Schellingschen Entwurfes überraschen - seine eigene Konzeption v o r 1 8 2 . Nimmt man die Kritik an Schellings Auffassung von Theologie und Christentum zusammen mit den veränderten Bestimmungen der Begriffe der Kunst und der Religion, so ist nicht zu übersehen, daß die Vorstellungen des Rezensenten weit von dem Entwurf entfernt sind, den er rezensiert. Dieser Abstand und die Einbettung des Systems der Erkenntnisse in einen umfassenderen Zusammenhang kommen in der Forderung am Ende der Rezension zum Ausdruck, es sei "eine dem System der Erkenntnis gegenüberstehende Aufgabe für jede Philosophie auch ein ihren Grundsätzen gemäßes System der Gesinnungen und des Lebens aufzuführen" (592,40ff). Was Schleiermacher darunter verstanden wissen will, deutet er in der anschließenden Frage an, ob die Bestimmung des Handelns durch Ideen trotz Schellings Polemik gegen alles, was nicht Wissenschaft und Kunst ist, in diesem System nicht auch durch etwas "anderes" (593,1) erfolgen kann. Dies 'Andere' bezeichnet gerade den Ort, den in dem vom Rezensenten aufgeteilten Systementwurf die Religion einnimmt. Führt man die Rekonstruktion des abweichenden Entwurfs des Rezensenten von dem inneren Typus der Philosophie her durch, so zeigt sich als inneres Zentrum der Kritik am Schellingschen System, daß Schleiermacher die Objektivation des Indifferenzpunktes im realen Wissen negiert, um an der Darstellung des Absoluten im Vollzug von Religion, Wissen und Kunst festhalten zu können. Dieser Vollzug ist an individuelle, endliche Subjekte gebunden, so daß hinter der Auflösung der Einheit des Schellingschen Systems das im Bildungsbegriff gefaßte Interesse Schleiermachers an dem Menschen als Individuum zu erkennen ist. Ist nicht nur in der Beschreibung der Religion als Anschauen die Konzeption der Reden zu erkennen, sondern auch in der Zuordnung von Religion zur Philosophie und Kunst, auf die das System der Erkenntnisse ausgeweitet wird, so ist zu fragen, was im Zusammenhang der Religionstheorie der Reden die Anerkennung bedeutet, die Schleiermacher dem Schellingschen Entwurf zuteil werden läßt. 3. Die Kritik an Schellings Auffassung des Staates und seiner Bestimmung der positiven Wissenschaften Wenn Schleiermachers Kritik an Schellings System des Wissens in der abweichenden Darstellungsform des Absoluten ihren Grund hat, so ist davon auch jener Zusammenhang betroffen, den Schelling zwischen den positiven Wissenschaften und dem Staat hergestellt hat. Diese Kritik, die für den später zu untersuchenden Begriff der Theologie als positiver Wissenschaft von Bedeutung ist, ist an dieser Stelle zu berücksichtigen,
- 199 weil sie den Zusammenhang zwischen der Kritik an Schellings Auffassung der Theologie und seinem Begriff der Moral und praktischen Philosophie sichtbar macht. Schelling hat die positiven Wissenschaften als solche definiert, die "durch oder in Beziehung auf den Staat Objektivität erlangen" (Schelling, 516). Er bezieht die in den drei oberen Fakultäten getriebenen Wissenschaften, die auch Kant den Sanktionen der Regierung unterworfen gesehen h a t ^ , j n d a s System aller Erkenntnisse durch den Gedanken ein, daß das reale Wissen als sukzessive Offenbarung des Urwissens in einer objektiven Erscheinung und äußeren Organisation sich darstellen muß, die wiederum ein Abdruck des inneren Organismus der Philosophie zu sein hat (Schelling, 514). Diese äußere Organisation des Wissens geschieht dadurch, daß das Wissen durch Handeln in dessen Produktion zur Darstellung kommt. Der Staat, selbst die allgemeinste Gestalt des objektiv gewordenen Wissens, die nach dem Urbilde der Ideenwelt geformt ist, begreift in sich den Organismus für das Wissen, nämlich die Fakultäten. Dieses Verhältnis des Staates zur Organisation des Wissens unterliegt der Kritik Schleiermachers, weil das, was selbst ein Produkt des Wissens ist, die Objektivierung des Wissens soll bestimmen können (582,16ff). Schleiermacher macht einen Unterschied zwischen derjenigen Organisation des Wissens, die sich dem Interesse des Staates verdankt und für ihn vorhanden ist, indem sie der Theorie einer "für ihn unentbehrlichen empirischen Praxis" dient (582,24f) und solcher, die allein aus der Natur des Wissens abgeleitet wird, die zwar im Staat sein kann, aber als "Größe(n) gleicher Gattung" (582,35f), nämlich als objektiv gewordenes Wissen, das durch den Staat weder privilegiert oder beschränkt, sondern aufgrund seiner "Selbstbeschränkung" (542,38) von ihm in ihrer Autonomie anerkannt werden muß. Schleiermacher löst damit die Beziehung zwischen dem Staat und den positiven Wissenschaften auf und bestimmt ihre Organisation als "freie Verbindungen zur ergänzenden Uberlieferung des historischen Wissens" (582,41f), d.h. als "Organisationen, welche unmittelbar auf das Wissen selbst gehen und aus seiner Natur als eines sukzessiven und historischen notwendig folgen" (582, 26ff). Da Schleiermacher eine Objektivation des absoluten Indifferenzpunktes im realen Wissen ausschließt, kann es für ihn auch keine äußere Organisation der absoluten Indifferenz geben. Er kann demnach Schellings Auffassung vom Staat als Abbild der Ideenwelt nicht teilen. Vielmehr schwächt er dessen Auffassung dahin ab, daß "Schelling den Staat für eine alles gesellige umfassende Form" halte (582,14f). Fehlt dem Staat damit aber die Absolutheit, die ihm als Abbild der Ideenwelt zugekommen ist, so müssen auch seine Ansprüche auf Privilegierung und Sanktionierung der positiven Wissenschaften entfallen.
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Schleiermacher depotenziert sozusagen den Staat. Er ist nicht ein selb ständiges Subjekt gegenüber dem, was im Staat ist. Der Staat repräsentiert nicht an sich die Einheit des Absoluten, sondern diese ist ihm voraus. Die Indifferenz hat ihren Ort dort, wo das Wissen in Handeln übergeht. Der Staat selbst ist aus einem bestimmten Handeln hervorgegangen. Als solches Produkt menschlichen Handelns stellt der Staat diejenige Größe dar, in die alle Größen 'gleicher Gattung' Inbegriffen sind. Insofern steht der Staat den positiven Wissenschaften nicht beziehungslos gegenüber. Diese Beziehung thematisiert Schleiermacher in der Aussage, es gehe in der positiven Wissenschaft um die Theorie einer f ü r den Staat unentbehrlichen Praxis; also nicht die Praxis des Staates, sondern die in ihm f ü r ihn geübte Praxis ist der Gegenstand der Theorie. Darin hat Schleiermachers Unterscheidung der beiden Organisationsformen ihre kritische Spitze, wobei er sich an die Figur seiner Polemik gegenüber den gebildeten Verächtern anlehnen kannl84. wird nämlich von der individuellen Beschränktheit des Staates, die ihm als eine unter anderen Größen gleicher Gattung zukommt, abgesehen und der Staat im Sinne Schellings als Abbild der Ideenwelt aufgefaßt, dann bringt er durch seinen bestimmenden Einfluß solche Organisationen hervor, die nur "Theorie - und zwar im trüben Sinne - einer für ihn unentbehrlichen, empirischen Praxis" (582,24) betreiben, nicht aber - so wird man ergänzen müssen - diejenige Theorie dieser Praxis, die sich durch die Klarheit der Wissenschaft auszeichnet. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn der Staat durch Selbstbeschränkung die Freiheit der wissenschaftlichen Theorie der für ihn unentbehrlichen Praxis garantiert. Diese Selbstbeschränkung des Staates dient der freien, nicht durch Fremdbestimmung reglementierten, sondern allein auf wissenschaftliche Theorien gestützten Praxis. Sie dient also letztlich der Freiheit derjenigen Instanz, die den Übergang von Theorie und Praxis vollzieht, d . h . des Staatsbürgers. Damit ist noch einmal von einem anderen Punkt aus das Interesse sichtbar geworden, in welchem Schleiermacher Schellings Konstruktion eines Systems aller Erkenntnisse kritisiert. Dieses Interesse läßt sich so formulieren: Ist das Absolute durch das Verhältnis von absoluter Indifferenz und relativem Gegensatz darstellbar und die Einheit dieses Verhältnisses vorausgesetzt, so kann kein Endliches an und f ü r sich als Darstellung des Absoluten gelten, sondern nur als Moment in dem entsprechenden Verhältnis zu einem Indifferenzpunkt. Das menschliche Individuum ist nun nicht nur Indifferenzpunkt im Endlichen, sondern zugleich Instanz, die die Einheit dieses Verhältnisses gewährleistet, indem es die Darstellung des Absoluten im Endlichen als Darstellung des Absoluten identifizieren kann, obwohl es selbst vom Absoluten verschieden ist. Kann diese vorausgesetzte Differenz in der Gestalt des religiösen Verhältnisses explizit gemacht werden, so ergibt sich damit jenes TheoriePraxis-Verhältnis, demzufolge das Individuum sein Handeln der Individu-
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en angewiesen ist und durch dieses wechselseitige Verhältnis der Fortschritt im Prozeß des Real-Werdens des Absoluten vorgestellt wird. Als das Moment der Theorie in einem solchen Verhältnis hat Schleiermacher die positiven Wissenschaften bestimmt, die durch die Einflußnahme des nicht als Repräsentant des Absoluten gedachten Staates zur trüben Theorie werden würden. Dieses Verhältnis liegt der Identifikation der Ethik und der realen Wissenschaft der Geschichte zugrunde, mit der die Kunst im realen Wissen erfaßt wird. 4. Die Identifikation von Geschichtswissenschaft und Ethik Die bisherigen Punkte der Kritik des Schellingschen Systems aller Erkenntnisse lassen ebenso wie die damit zusammenhängenden Ergänzungen erkennen, daß dem Rezensenten Schleiermacher ein eigener Entwurf vorgeschwebt hat, in den er seine bisherigen Entwürfe ein zubringen bemüht war. Das gilt in besonderem Maße für seine Ethik, deren Umrisse in der Kritik der bisherigen Sittenlehre vorliegen. Schleiermacher geht auch in diesem Punkt der Form der Rezension entsprechend vor, indem er die Unzulänglichkeiten der Schellingschen Darstellung moniert und unter der Fiktion gemeinsamer Voraussetzungen diese Kritik im einzelnen durch den konstruktiven Vorschlag der Identifikation der Ethik und der realen Wissenschaft der Geschichte überwunden sieht. Aufgrund des veränderten Systemansatzes unterliegt nicht nur der Begriff der Religion, sondern auch die Wahrnehmung der Kunst innerhalb des Schellingschen Systems der Kritik. Wird Kunst gemäß der Darstellungsform des Absoluten begriffen, so verändert sich auch der Zusammenhang mit dem realen Wissen. Der Vorwurf der Verwirrung und Dürftigkeit, den Schleiermacher erhebt, beruht auf der Voraussetzung, daß Kunst als Ineinsbilden des Idealen und Realen im einzelnen Endlichen eine Tätigkeit und ihr Resultat darstellt, das im realen Wissen zumindest dem Umriß ihres Gebietes nach erfaßt werden kann (586). Diese Kritik steht im Hintergrund, wenn Schleiermacher die Aussage Schellings aufnehmen kann, Staat und Kirche müßten als Kunstwerke sich bewähren lassen (587,4). Staat und Kirche sind hier als Resultat eines Handelns aufgefaßt, durch das Wissen verobjektiviert und äußerlich dargestellt wird. Dieses Verständnis, das die im Zusammenhang mit den positiven Wissenschaften betrachtete Kritik von Schellings Staatsauffassung bestätigt, faßt den Begriff des Handelns im Sinne von Kunst, als eine Darstellung des Absoluten im einzelnen Endlichen durch Ineinsbildung des Idealen und Realen. Die Forderung nach einer angemessenen Darstellung der Kunst im realen Wissen bezieht die Kritik an den Ort im Schellingschen Entwurf, an den diese Darstellung in den Augen Schleiermachers gehört. Die Kritik hat zwei Seiten, insofern Schleiermacher einerseits eine Lücke im System
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findet, und andererseits einen Bereich der Philosophie, der keinen bestimmten Ort im System hat. Dieser Bereich steht wiederum in einem Zusammenhang mit dem ethischen Verständnis der Kunst. Eine Lücke im System ergibt sich für die von Schelling aufgestellte reale Wissenschaft der Geschichte, die bei ihm nach Schleiermachers Meinung nicht die bestimmte Darstellung erhalten hat, die sie hätte erhalten können. Die Ursache dafür sieht er in dem Hauptmangel des Schellingschen Systems, dem Begriff der Theologie, insofern gerade die höhere Ansicht der Geschichte ihm zugeordnet wird, so daß für die reale Wissenschaft der Geschichte nur ihre pragmatische Behandlung übrig bleibt, d.h. die Anordnung der empirischen Begebenheiten "nach einem durch das Subjekt entworfenen Zweck" (Schelling, 542). Diese Alternative zur Auffassung der Geschichte unter dem Gedanken der göttlichen Vorsehung bedeutet für Schleiermacher den Verzicht auf eine wissenschaftliche Darstellung der Geschichte. Sie wird zum Objekt, "welches Religion und Kunst, jede nach ihrer Weise und in ihrer Form, bearbeiten sollen" (587,21f). Schelling sieht nach Meinung Schleiermachers davon ab, daß nicht nur die Begebenheiten das Objekt der Historie sind, sondern daß es sich bei ihnen um die "Realisation der Organisation der idealen Welt" handelt (587,34). Dieser Kritik korrespondiert auf der anderen Seite, daß Schleiermacher feststellt, Schelling habe zwar viel "Schönes" über die Moral gesagt, ihr aber keinen Ort im System der Erkenntnis eingeräumt (589). Wie beim Begriff der Kunst, kann Schleiermacher von seinem Entwurf her weitergehende Bestimmungen fordern. Soll der Anspruch auf die ganze Philosophie Bestand haben, so muß der Gegensatz des Theoretischen und Praktischen in dem System aufgehoben sein. Nach dem Typus, von dem Schleiermacher ausgeht, gibt es, wenn sich die Philosophie als ideale Darstellung des Urwissens auf beide Momente des relativen Gegensatzes bezieht, "in den realen Wissenschaften etwas der praktischen (sc. Seite) entsprechendes" (589,27f). Dies 'Entsprechende' bestimmt er mit Hilfe der Schellingschen Aussagen, daß die Sittlichkeit in der allgemeinen Freiheit objektiviert wird, und daß die Konstruktion dieser sittlichen Organisation derjenigen der Natur parallel laufen soll. So kommt Schleiermacher zu dem Schluß: "die sogenannte Wissenschaft der Geschichte, die sich gar nicht recht auffinden lassen wollte, weil sie weder auf dem philosophischen noch auf dem religiösen Standpunkt stehen sollte, sei eigentlich die historische Konstruktion der Sittlichkeit" (589,38-41). Diese kritische Korrektur, die die aufgewiesenen "Lücken in dem System der Erkenntnisse" (590,3f) ausfüllen soll, hat ihre Spitze darin, daß die Wissenschaft der Geschichte als historische Konstruktion der objektivierten Sittlichkeit die Aufgabe der praktischen Philosophie zu erfüllen vermag. In der Identifikation von Historie und Ethik kommt Schleiermachers
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eigene Konzeption der Ethik, wie sie der Kritik der Sittenlehre zugrunde liegt, zum Tragen. Zugleich ergibt sich damit auch jenes Verhältnis zwischen realem Wissen und Kunst als Theorie-Praxis-Verhältnis, das die Kontinuität mit der durch den Bildungsbegriff bezeichneten Konzeption sichtbar werden läßt. Die Geschichte ist Gegenstand einer Wissenschaft, wenn die einzelnen Begebenheiten in einem Zusammenhang aufgefaßt werden können, der ihnen selbst innewohnt und nicht von einem philosophischen oder religiösen Standpunkt abhängt. Dies ist nach Schleiermacher dann möglich, wenn die Begebenheiten dem Begriff der Sittlichkeit zugeordnet, d . h . wenn sie als Resultate sittlichen Handelns aufgefaßt werden können. Dabei ist weiter vorausgesetzt, daß das sittliche Handeln insgesamt einen Zusammenhang bildet, der eine wissenschaftliche Darstellung möglich macht. Einen solchen Begriff der Sittlichkeit hat Schleiermacher seiner Kritik der Sittenlehre zugrunde gelegt: Das Kriterium der Sittlichkeit und die sittliche Bestimmung des einzelnen Handelns ist durch die Zugehörigkeit zum Ganzen des menschlichen Handelns gegeben 1 8 5 . Die sittliche Bestimmung des Handelns setzt die systematische Darstellung der Gesamtheit menschlichen Handelns durch die ethische Wissenschaft voraus. Mit diesem Begriff der Ethik gewinnt Schleiermacher den Zusammenhang der historischen Begebenheiten, dessen Fehlen er bei Schelling bemängelt. Die Identifikation von Ethik und Historie ist aber nur möglich, wenn auch das Moment des geschichtlichen Werdens in der Ethik enthalten ist. Das ist der Fall, weil das Ganze des menschlichen Handelns eine Idee ist, unter der das einzelne als ein Moment seiner Realisierung angeschaut wird. Um das einzelne Handeln sittlich zu bestimmen, bedarf es nicht nur des bestimmten Umrisses des sittlichen Gesamtprozesses, sondern auch der Bestimmung desjenigen Zustandes des Prozesses, in dem das einzelne Handeln erfolgt. Wegen dieser Beziehung auf empirische Begebenheiten kann Schleiermacher die Ethik mit der realen Wissenschaft der Geschichte identifizieren und sie als historische Konstruktion der Sittlichkeit bestimmen, die an den sichtbaren Resultaten des menschlichen Handelns orientiert ist. Der Vorrang der Güterlehre in der Ethik kommt darin zum Ausdruck, daß Schleiermacher mit Hilfe dieser Ethisierung der Geschichte den Äußerungen Schellings über Staat und Kirche einen anderen Sinn gibt: Sie sind als "ideale Produkte" zu verstehen, "in denen das Handeln sich äußerlich ausdrückt" (589,42f). Anders ist dieser Sinn, weil bei Schleiermacher an die Stelle einer Philosophie der Kunst die Darstellung der Kunst in der realen Wissenschaft der Ethik t r i t t . Staat und Kirche als Kunstwerk bewähren, bedeutet, sie als ideale Produkte menschlichen Handelns aufzufassen. Damit sind sie als Gegenstände der Ethik bestimmt. Durch diese Einbeziehung der Kunst in den Bereich der realen Wissenschaft der Ethik, die sich auf die Transformation des Kunstbe-
- 204 griffs gründet, ergibt sich zwischen dem Wissen und der Kunst als unterschiedenen Darstellungen des Absoluten das Theorie-Praxis-Verhältnis. Zwar ist, sofern es Kunst mit der Darstellung des Absoluten im einzelnen zu tun hat, eine adäquate Darstellung im realen Wissen nicht möglich, wohl aber kann Kunst nach ihrer idealen Seite, d . h . nach der Seite des Handelns, das die künstlerische Darstellung des Absoluten hervorbringt, durch die reale Wissenschaft der Ethik dargestellt werden. Umgekehrt ist zur Bestimmung des künstlerischen Bildens das Wissen um den sittlichen Gesamtprozeß vorausgesetzt 1 ^®. Das Verhältnis zwischen der Ethik als realer Wissenschaft und der Kunst als sittlichem Handeln hat zur Voraussetzung, daß die Bestimmung des Handelns durch ethisches Wissen und das Begreifen sittlichen Handelns durch ethisches Wissen vollzogen wird. Insofern zeigt sich an diesem Punkt, daß die durch den Bildungsbegriff bezeichnete Konzeption auch hier noch enthalten ist, insofern in diesem Verhältnis das gebildete Selbstverständnis die implizite Voraussetzung darstellt. Damit hängt auch zusammen, daß Schleiermacher die Ethik auf das menschliche Handeln eingrenzen kann. Solange diese Implikation nur vorausgesetzt und nicht explizit gemacht wird, kann er die Ethik im Gegenüber zur Physik entwerfen, in der die sittliche Bestimmung der einzelnen Handlung aus dem Ganzen menschlichen Handelns und nicht aus der Beziehung auf den Täter gewonnen wird, so daß die Freiheits- und Willensproblematik aus der Ethik ausgeschlossen
Zusammenfassung Mit dem durch die Bestimmung der realen Wissenschaft der Geschichte als Ethik festgelegten Verhältnis zwischen Religion, Philosophie und Kunst wird das Urteil bestätigt, daß in Schleiermachers Schelling-Rezension viel stärker, als es die Form der Rezension und der erste Anschein erwarten lassen, eine Kontinuität mit der durch den Bildungsbegriff bezeichneten Konzeption gewahrt ist. Dies Urteil zieht drei zusammenhängende Fragen nach sich: Zunächst ist zu fragen, worauf der Eindruck beruht, daß die Übereinstimmung mit Schelling viel weiter reiche, als es wirklich der Fall ist? Damit verbindet sich die zweite Frage: Worin besteht die Veränderung gegenüber der früheren Fassung seiner Konzeption und welche Bedeutung hat dabei der Fortschritt der Wissenschaft, den Schleiermacher im Schellingschen Entwurf eingetreten sieht? Schließlich: Welche Konsequenzen hat diese Veränderung für Schleiermachers Konzeption der Ethik, die in der Kritik der Sittenlehre enthalten ist? 1. Der Eindruck weitreichender Übereinstimmung zwischen Schelling und seinem Rezensenten beruht vor allem auf der Form der Rezension, indem sie sich auf das philosophisch begründete System der Erkenntnisse kon-
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zentriert und bestimmte Korrekturen daran vornimmt, ohne die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Ort der Erkenntnisse ausdrücklich und die ihnen zugrunde liegende Differenz im Grundsätzlichen sichtbar zu machen. Man kann vermuten, Schleiermacher selbst habe diesen Eindruck intendiert, insofern es ihm darum gegangen ist, durch seine Rezension die allgemeine Bedeutung, die in seinen Augen der Schellingschen Schrift zukommt, den darin vollzogenen Fortschritt der Wissenschaft publik zu machen 1 QQ und die bestehenden Differenzen da-
hinter zurücktreten zu l a s s e n 1 . Dafür hat sich Schleiermacher auf seine Kritik der Sittenlehre als Vorbild berufen können, in der gemäß dem gebildeten Selbstverständnis als Individuum zwischen der allgemeinen Aufgabe und der individuellen Ausführung unterschieden wird. Entsprechend bildet die allgemeine Aufgabe der Philosophie, ein System der Erkenntnisse aufzustellen, den Ausgangspunkt der Rezension. Indem die Durchführung dieser Aufgabe überprüft und korrigiert wird, ergibt sich der Eindruck, daß der Konsensus auch die philosophische Grundlegung dieses Systems einschließt. - Tatsächlich aber zeigen die Korrekturen, daß Schleiermacher ein anderes System vor Augen steht. Während Schelling aus dem identitätsphilosophischen Ansatz ein umfassendes System der Erkenntnisse ableitet, das auch die positiven Wissenschaften einschließt, gewinnt Schleiermacher durch den Ausschluß der Theologie und die Bestimmung der Historie als Ethik ein System, durch das das Verhältnis der Philosophie gegenüber Kunst und Religion festgelegt ist. Die Differenz im Grundsätzlichen läßt sich dadurch beschreiben, daß das Absolute nicht in gleicher Weise thematisiert wird. Während für Schelling die Bedeutung des Urwissens in der Philosophie darin besteht, das Absolute zu denken, beharrt Schleiermacher auf der Differenz zwischen dem Absoluten und seiner Erscheinung bzw. Darstellung. Folglich findet er in der Philosophie nur den Typus, dem jede Darstellung des Absoluten folgen muß. Die Philosophie ist die ideale Darstellung dessen, was in Religion und Kunst realiter geschieht. Innerhalb dieses Zusammenhanges erfüllt die Philosophie dann durchaus die angegebene Aufgabe, ein System aller Erkenntnisse zu konstituieren, indem ihr die beiden realen Wissenschaften zugeordnet werden, so daß wiederum ein Verhältnis entsteht, daß dem Typus der Darstellung des Absoluten adäquat ist. Allerdings muß Schleiermacher dafür, daß er zwischen dem Absoluten und seiner Darstellung unterscheidet, eine Instanz annehmen, die diesen Unterschied machen kann. Diese Voraussetzung, die in der Identitätsphilosophie Schellings als das Denken des Absoluten zum Thema geworden ist, ist auf dem gebildeten Standpunkt Schleiermachers vorgegeben. Denn der Gebildete, der sich selbst als Individuum versteht, hat immer schon diesen Unterschied zwischen sich als Individuum und dem Ganzen, dessen Teil er ist, gemacht. So ist der Befund, daß sich für Schleiermacher das Problem, das Absolute zu denken, nicht stellt, ein Indiz dafür, daß auch die Schelling-Rezension vom gebildeten Standpunkt aus konzipiert ist. Auf dem gebildeten Standpunkt, der die fortgeschrittenste
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Entwicklung menschlichen Bewußtseins r e p r ä s e n t i e r t , zeigt sich in dem Schellingschen Entwurf insofern ein Fortschritt der Wissenschaft, weil nicht n u r ein System aller Erkenntnisse aufgestellt worden ist, sondern vor allem, weil das Prinzip dieses Systems eine dem gebildeten Selbstverständnis adäquate Bestimmung des Verhältnisses von Religion, Wissen und Kunst möglich macht. Angesichts der Bedeutung, die diesem E n t wurf auf den gebildeten Standpunkt zufällt, und dem d a d u r c h wiederum bewährten Bewußtsein der Allgemeinheit haben die Differenzen, die als Abweichungen innerhalb des Systems erscheinen, keine allgemeine Bed e u t u n g , sondern fallen in den Bereich individueller Verschiedenheit und Vervollkommnung. 2. Aus den Korrekturen an dem Schellingschen Systementwurf d u r c h Schleiermacher läßt sich ein eigenständiger Entwurf r e k o n s t r u i e r e n , d e r eine Kontinuität zu der Konzeption, die in den zuvor u n t e r s u c h t e n Schriften zum Ausdruck gekommen ist, zu erkennen gibt. Der gewonnene Zusammenhang erlaubt die Bestimmung der Differenz, die sich f ü r diese Konzeption d a r a u s e r g e b e n , daß der Schellingsche Systementwurf als Fortschritt der Wissenschaften aufgefaßt wird. Diese Differenz kann u n ter der Voraussetzung, daß d u r c h das gebildete Selbstverständnis als Individuum das Moment der Identität in diesem Zusammenhang bezeichnet werden kann, im Blick auf jene f ü r den gebildeten Standpunkt in den Reden grundlegende Konzeption des Menschen als Individuum im Universum formuliert werden. Sie b e t r i f f t zwei Punkte; das Verhältnis des Menschen zum Universum und das Verhältnis von Religion und Wissen. Die dem gebildeten Selbstverständnis entsprechende Vorstellung des Menschen als Individuum im Universum, durch die Religion, Metaphysik und Moral in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt worden sind, ist d u r c h eine a b s t r a k t e r e und komplexere Bestimmung ersetzt worden. Religion, Philosophie und Kunst werden als verschiedene Darstellungen des Absoluten bestimmt, deren Verhältnis zueinander durch das Verhältnis des idealen Ganzen und des realen einzelnen Endlichen bestimmt ist. Der Philosophie kommt eine doppelte Funktion zu; sie enthält als ideale Darstellung des Urwissens diesen Darstellungstypus des Absoluten und ist zugleich der ideale Indifferenzpunkt f ü r die realen Wissens c h a f t e n . Repräsentiert das Wissen insgesamt das Moment des Idealen, insofern Philosophie u n d die beiden realen Wissenschaften auf das ideale Ganze des Absoluten bezogen sind, so stehen ihm Religion u n d Kunst als die beiden aufs reale einzelne bezogenen Darstellungen des Absoluten g e g e n ü b e r . Indem Schleiermacher von der a b s t r a k t e n Bestimmung des Verhältnisses der Darstellung des Absoluten ausgeht und das menschliche Individuum als den Indifferenzpunkt f ü r den relativen Gegensatz dieses Verhältnisses voraussetzt, der zugleich zwischen dem Absoluten und seiner Darstellung zu unterscheiden und diese Darstellung als Darstellung des Absoluten zu identifizieren vermag, kommt die konstitutive Bedeutung der Religion f ü r das menschliche Individuum nicht zum Aus-
- 207 druck. Daß sie aber implizit in diesem Entwurf enthalten ist, zeigt das Verhältnis zwischen Religion und Wissen. Indem die Philosophie den Typus der Darstellung des Absoluten aufstellt, der es nicht zur erlaubt, das Wissen als Darstellung des Absoluten zu begreifen, sondern auch Religion und Kunst als auf das reale einzelne bezogene Darstellungen des Absoluten zu bestimmen, scheint sich das Verhältnis zwischen Religion und Metaphysik und Moral umgekehrt zu haben. In dem Entwurf der Schelling-Rezension wird die Religion von der Philosophie aus bestimmt als eine dieser beiden Darstellungen des Absoluten. Der Vorrang, der der Religion in den Reden zukommt, insofern durch sie die Konstitution des Verhältnisses des menschlichen Individuums zum Universum explizit gemacht wird, und durch dieses Verhältnis die vom Menschen ausgehenden und in Metaphysik und Moral explizierten Beziehungen des Menschen zum Universum festgelegt werden, scheint zugunsten der Philosophie als idealer Darstellung des Urwissens als des Wissens des Absoluten zu entfallen. Dennoch, obwohl die Philosophie hinsichtlich der Darstellung des Absoluten der Kunst und Religion gleichgeordnet ist, kann Schleiermacher einen Vorrang der Religion festhalten. Mit der Theologie wird auch ihr Gegenstand, das sukzessive Offenbarwerden der absoluten Indifferenz des Idealen und Realen, das in der geschichtlichen Anschauung des Christentums seine höchste Stufe erreicht hat, aus dem realen Wissen ausgeschlossen. Dies sukzessive Offenbar-Werden des Absoluten ereignet sich in der Religion, die Schleiermacher als die "in der Welt der Erscheinungen sich unmittelbar offenbarende Philosophie" dieser vorordnet (585). Also nicht die Art der Beziehung des Menschen zum Universum zeichnet die Religion vor Metaphysik und Moral aus, - Religion wie Philosophie sind Darstellungen des Absoluten - , wohl aber ihre Funktion für die menschlichen Individuen. Die Philosophie macht nur explizit, was in der Religion bereits real geworden ist. Diese gegenüber den Reden anders bestimmte Zuordnung von Religion und Philosophie hat eine problematische Konzequenz. Konnte Schleiermacher angesichts der noch ausstehenden höchsten Philosophie die Religionstheorie der Reden als religiöse Rede und Explikation der Religion des Gebildeten verstehen und die Religion unmittelbar als Gefühl und Anschauung des Universums bestimmen, so fällt diese Explikation, wenn der Fall der höchsten Philosophie eingetreten ist, unter die philosophisch begründete Darstellung des Absoluten. Soll die Ursprünglichkeit der Religion gegenüber der Philosophie für die menschlichen Individuen behauptet werden, so entsteht das Problem, wie denn diese ursprüngliche religiöse Erfahrung soll dargestellt werden können. 3. Schließlich sind die Konsequenzen zu betrachten, die sich von dem Systementwurf Schleiermachers in der Schelling-Rezension für seine ethische Konzeption ergeben. Denn die Identifikation der Ethik mit der realen Wissenschaft der Geschichte zeigt zwar, daß Schleiermacher
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seine ethische Konzeption innerhalb dieses Systementwurfs hat zur Geltung bringen können. Aber diese Kontinuität erlaubt es, im Blick auf die Kritik der Sittenlehre, die ja als Vorarbeit für die eigene Ethik anzusehen ist, die Differenzen anzugeben. Sie beziehen sich sowohl auf die Begründung der Ethik als Wissenschaft als auch auf die Bestimmung des ethischen Gegenstandes. Die auffallendste Änderung gegenüber der Kritik der Sittenlehre besteht darin, daß die dort noch ausgeschlossene Möglichkeit der Abteilung der Ethik aus der höchsten Wissenschaft verwirklicht werden kann. Schleiermacher braucht zur Begründung der Ethik als Wissenschaft nicht mehr auf die Geschichte der Ethik und die Entwicklung des sittlichen Bewußtseins zu rekurrieren, sondern kann sich auf den Begriff der Ethik als reale Wissenschaft, die historische Konstruktion der Sittlichkeit, stützen. Obwohl mit der Ethik auch der Theorie-Praxis-Zusammenhang als Bestimmung des Verhältnisses zwischen der realen Wissenschaft der Ethik und der Kunst in den Systementwurf einbezogen wird, ist wegen dieser Einordnung der unmittelbare Zusammenhang zwischen der sittlichen Bestimmung des Handelns und der ethischen Theorie als Wissenschaft für das gebildete Individuum zumindest beeinträchtigt. Allerdings bleibt auch für die höchste Wissenschaft jener Unterschied bestehen, den Schleiermacher für seine Kritik der Sittenlehre zwischen dem Begriff der Wissenschaft und der durch die Individualität desjenigen, der einen Entwurf unternimmt, beschränkten, d . h . unvollkommenen Ausführung gemacht hat, unter der Voraussetzung, daß Schleiermacher an dem Standpunkt eines gebildeten Individuums festgehalten hat. Dann verändert sich nur der Ort, an dem das Problem der Individualität im Wissen zu diskutieren ist. Wichtiger ist die durch die Einbeziehung der Ethik ins System erweiterte Bestimmung des ethischen Gegenstandes. Zwar hat Schleiermacher die ausschließliche Beziehung der Ethik auf das menschliche Handeln in seiner Gesamtheit festgehalten und damit auch den Vorrang der Güterlehre. Aber der Begriff des menschlichen Handelns in seiner Gesamtheit wird nicht mehr unmittelbar aus dem sittlichen Bewußtsein des gebildeten Individuums gewonnen, sondern aus der realen Darstellung des Urwissens in der Philosophie abgeleitet und nach dem Typus der Darstellung des Absoluten durch das Verhältnis der Indifferenz und der relativen Entgegensetzung des Idealen und Realen bestimmt. Wenn aber die Ethik nicht unmittelbar auf das sittliche Bewußtsein bezogen ist, dann stellt sich die Aufgabe, das einzelne Subjekt des sittlichen Handelns innerhalb der ethischen Wissenschaft zu konstituieren 189.
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III. Von der gebildeten Individualitätsanschauung zur gebildeten Lebensanschauung: zur zweiten Auflage der Reden (1806) Gegenüber der Kritik der Sittenlehre bedeutet die Schelling-Rezension Schleiermachers zwar nicht die prinzipielle Aufgabe des gebildeten Standpunkts, aber doch eine noch genauer zu bestimmende Veränderung des durch den Bildungsbegriff bezeichneten Zusammenhanges. Die eingetretene Möglichkeit der höchsten Wissenschaft erweist ihre Tragweite in der Konstitution der Ethik. An die Stelle der Kritik ihrer Geschichte tritt die Deduktion aus der Dialektik, d.h. daß sich Schleiermacher für die Konstitution der Ethik auf ein allgemeines Bewußtsein von der höchsten Wissenschaft beruft Die Änderung des Ansatzes der Ethik signalisiert eine Verschiebung des gebildeten Standpunkts, auf dem die Kritik der Sittenlehre entworfen ist. Die in der Kritik an Schellings System sichtbare eigene Konzeption Schleiermachers erlaubt eine vorläufige Erfassung dieser Verschiebung. Auf der einen Seite ist in der Kritik an dem inneren Typus der Philosophie, den Schelling seinem System der Erkenntnisse zugrunde legt, Schleiermachers Bemühen um die Selbständigkeit der Religion zu erkennen, das in dem Ausschluß der Theologie aus dem Kreise der realen Wissenschaften seinen Niederschlag findet. Auf der anderen Seite wird die Selbständigkeit der Religion anders als in den Reden gegenüber der Philosophie als höchster Wissenschaft behauptet. Die Beziehung zwischen Religion und Philosophie ist in zweifacher Weise bestimmt: a) Der Schellingschen Abfolge von Philosophie und Kunst als der vollständigen Objektivation der Philosophie wird die Religion vorgeordnet als die "in der Welt der Erscheinungen sich unmittelbar offenbarende Philosophie" (Br IV, 585). b) Gegenüber dem durch Philosophie begründeten realen Wissen ist die Religion dadurch ausgezeichnet, daß sie es mit dem Verhältnis des einzelnen zum Absoluten zu tun hat, das nicht durch reales Wissen vermittelbar ist. Religion sieht das einzelne Endliche unvermittelt als Erscheinung des Absoluten an. Diese Bestimmungen machen deutlich, daß gerade dann, wenn die Intention der Reden über die Religion festgehalten werden soll, das Wesen der Religion in ihrer Beziehung zur Philosophie in anderer Weise zu bestimmen ist. Wenn es noch eines Beleges bedarf, daß die Schelling-Rezension Schleiermachers nur eine Veränderung und Verschiebung der durch den Bildungsbegriff bezeichneten Konzeption bedeutet, so hat Schleiermacher ihn selbst gegeben. Denn er hat nicht eine neue Darstellung seiner Religionstheorie aufgrund des hinter der Kritik an Schelling stehenden Entwurfs vorgelegt, sondern er hat die Reden über die Religion neu auflegen lassen und die Änderung dort ein-
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getragen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, an den Reden die Verschiebung des gebildeten Standpunkts zu untersuchen. Die veränderte Bestimmung des Wesens der Religion gibt die Modifikation des gebildeten Selb st Verständnisses zu erkennen. Um nicht einzutragen, was erst Ergebnis sein kann, wird im folgenden versucht, zunächst die in der zweiten Ausgabe der Reden vorgenommenen Veränderungen zu erheben und dann nach ihrer Bedeutung für das Konzept des Bildungsbegriffs zu fragen. Schleiermacher hat nicht in einen bereits der Öffentlichkeit übergebenen Text eingegriffen, ohne dieser gegenüber Rechenschaft zu geben. Daher ist zuerst zu betrachten, wie Schleiermacher selbst die Änderungen der Reden verstanden hat bzw. verstanden wissen wollte, bevor diese Änderungen selbst untersucht werden.
1. Die Zueignung der Reden an den Jugendfreund Anders als in der dritten Auflage der Reden, in der Schleiermacher sowohl mit den Mißdeutungen abwehrenden Erläuterungen, die vor allem die Übereinstimmung dieser Auffassungen mit denen der Glaubenslehre sicherstellen sollen, als auch mit einem an die anonyme Allgemeinheit seiner Leser gerichteten Vorwort aus der poetischen Form der Reden herausgetreten ist, ist in dem Vorwort zur zweiten Auflage durchaus der Versuch zu sehen, die Reden sozusagen neu zu adressieren. Indem Schleiermacher die Reden nachträglich seinem Jugendfreund Brinckmann zueignet, erhält die Reflexion des Abstandes zu ihnen wiederum eine poetische Gestalt 192 . Wenn man die durch die Schelling-Rezension dokumentierte veränderte Auffassung der Religion im Verhältnis zur Philosophie voraussetzt, so kann man verstehen, daß Schleiermacher zunächst sich des Abstandes zu seinem gerade siebenjährigen Erstling bewußt ist. Wie reflektiert er diesen Abstand und wie rechtfertigt er die Neuauflage? Zuerst greift Schleiermacher die literarische Fiktion der Reden auf: Reden als solche sind orts- und zeitgebunden. Ort und Zeit haben sich in den Augen Schleiermachers so verändert, daß - wie er in einem Brief schreibt - "die ganze Anlage des Buches nicht mehr paßt" 1 ^. indem Schleiermacher den empfundenen Abstand zu den Reden auf deren Zeitbedingtheit zurückführt, überläßt er sie der vergangenen Zeit und distanziert sich von ihnen: "Thema und Ausführung war mir abgedrungen von der Zeit und den Umgebungen, und stand in der genauesten Beziehung auf die, welche mich zunächst hören sollten" (Ρ I X ) . Eben diese Nötigung durch die Zeitumstände hindert ihn auch, in den Reden ein "Kunstwerk höherer Art" zu sehen, das, analog zur Unterscheidung in der Theorie der Geselligkeit, auf freier Mitteilung beruht. Diese Distan-
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zierung von den Reden erlaubt es Schleiermacher, auf seine hinter den Reden Stehende biographische Identität zu rekurrieren. Das geschieht durch die Zueignung an seinen Jugendfreund Brinckmann, der zum Zeugen wird durch die Erinnerung "an jene Zeit . . . wo sich gemeinschaftlich unsere Denkart entwickelte" ( e b d . ) . Sind die Reden kein Kunstwerk, nicht freie Selbstdarstellung des Individuums, sondern nur seine von den Umständen abgenötigte und von ihnen bestimmte Darstellung, so gewinnt Schleiermacher hinter den Reden die "Denkart" als das Kontinuum, das über den zeitbedingten Ausdruck hinaus in seiner Person bis in die Gegenwart unverändert besteht. Diese Reflexion der veränderten Position durch das Schema der identischen Denkart und ihres zeitbedingten Ausdrucks vermag zwar zu e r klären, daß der Autor der Reden in seiner Denkart derselbe geblieben und nur die Zeit sich verändert habe, aber weder die Neuauflage der Reden noch der verändernde Eingriff ist dadurch gerechtfertigt. Um sie zu gewinnen, bedient sich Schleiermacher einer Argumentation, die nicht ganz ausgeglichen neben seiner Distanzierung von den Reden steht. Statt die zeitbedingten Reden dem Vergessen der Vergangenheit anheimfallen zu lassen, haben sie denn doch eine Bedeutung für Schleiermachers Gegenwart. Sie sind im Sinne der freien Geselligkeit "in den freien Gemeinbesitz Aller hingegeben" (Ρ IX). In der Verantwortung f ü r die zum Gemeinbesitz gewordenen Reden liegt f ü r Schleiermacher die Rechtfertigung nicht nur der Neuauflage, sondern auch des ändernden Eingriffs. Nicht die zeitgemäßere Darstellung seiner eigenen Denkart ist das Motiv zu diesem Eingriff, denn dann wäre "das Ganze so völlig umzubilden (gewesen), daß es wirklich ein anderes geworden wäre", sondern das Mißverständnis derjenigen Einzelheiten, die durch die veränderte Zeit betroffen sind. Aus Gründen der Hermeneutik 194 hat Schleiermacher in Verantwortung für die zum Gemeinbesitz gewordenen Reden diejenigen Einzelheiten geändert, "welche allzuleicht bei denen, die an die Sprache des heutigen Tages gewöhnt sind, das gestrige aber nicht kennen, Mißverständnisse verursachen könnten, zumal wo es auf das Verhältnis der Philosophie zur Religion ankam, und das Wesen der letzteren durch ihren Unterschied von der ersteren sollte bezeichnet werden" (Ρ X). Diese Formulierung nimmt durchaus die Unterscheidung zwischen Denkart und wechselndem Ausdruck auf: Die gestrige Sprache kann Anlaß zum Mißverständnis geben. Bemerkenswert ist diese Formulierung aber wegen der näheren Bezeichnung desjenigen, dessen sprachlicher Ausdruck so leicht mißzuverstehen ist. Denn sie entspricht genau demjenigen zentralen Punkt, der in der Sehelling-Rezension als Änderung gegenüber den Reden erkannt worden ist: das Verhältnis von Religion und Philosophie. Von dieser der zeitlichen Veränderung unterworfenen Bestimmung her zeigt sich die Bedeutung der Zueignung der Reden an den
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J u g e n d f r e u n d im vollen Licht. Diese Zueignung ist als der dem gebildeten Selbstverständnis entsprechende Ausdruck dieser V e r ä n d e r u n g anzusehen. Drei Hinweise sollen das verdeutlichen: a) Zunächst ist zu beachten, wie Schleiermacher das Verhältnis von Philosophie und Religion n ä h e r bestimmt: Analog zur Denkart sieht Schleiermacher die Veränderung nicht auf der Seite der Religion, sond e r n auf der der Philosophie und der d u r c h den Unterschied von der Philosophie bestimmten Wesens der Religion. Darin ist zweierlei enthalten: zum einen ist die E r f a s s u n g des Wesens der Religion von der Philosophie abhängig. Jedenfalls kann es zum Anlaß von Mißverständnissen werden, wenn die Bestimmung des Wesens der Religion nicht dem erreichten Stand der Philosophie e n t s p r i c h t . Zum anderen ist Abhängigkeit der Wesensbestimmung der Religion von der Philosophie so n ä her bestimmt, daß das Wesen der Religion durch den Unterschied von der Philosophie bestimmt wird. b ) Man kann in dieser Formulierung Schleiermachers trotz i h r e r Allgemeinheit eine verhältnismäßig genaue Angabe über die von ihm vorgenommenen Änderungen e r k e n n e n . Sie enthält die B e s c h r ä n k u n g auf die Wesensbestimmung der Religion. Im Blick auf die drei bei der Unt e r s u c h u n g der Reden unterschiedenen Zusammenhänge von Religion und Bildung^ , nämlich wie Religion f ü r einen Gebildeten ü b e r h a u p t zum Thema werden k a n n , wie Religion auf dem gebildeten Standpunkt e r f a ß t werden kann und wie es möglich ist, d u r c h Religion, d . h . d u r c h Kirche und Christentum zum Gebildeten zu werden, ist von der v e r ä n d e r t e n Wesensbestimmung der Religion vor allem der zweite b e t r o f f e n . Es gilt eine dem Fortschritt der Bildung entsprechende E r f a s s u n g des Wesens der Religion zu geben. c) Schleiermachers A u f f a s s u n g wäre sicher mißverstanden, wenn der Philosophie Zeitbedingtheit in dem Sinne zugeschrieben würde, daß sie sich wie eine Mode beliebig mit der Zeit ä n d e r t e . Dann wäre die von Schleiermacher vorgenommene Änderung ohne Sinn, weil sie morgen schon wieder als vergangene miß ver ständlich wäre. Vielmehr hat diese Änderung einen Sinn, wenn sie wirklich die hermeneutische Funktion erfüllt und an die Stelle des Miß verständlichen das auf Dauer Verständliche gesetzt wird. In der Tat hat Schleiermacher einen Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins festgestellt, insofern die zuvor n u r angestrebte Möglichkeit einer höchsten Wissenschaft realisiert worden istl96. Wenn Schleiermacher entsprechend dieser A u f f a s s u n g von der Philosophie das Wesen der Religion neu bestimmt, so t r ä g t er dem Fortschritt der Bild u n g der Zeit Rechnung. Zugleich ist ihm aber auch das Problem gestellt, das Verhältnis zwischen beiden A u f f a s s u n g e n , der B e r u f u n g auf die höchste Wissenschaft und der auf das gebildete Selbstverständnis zu klären.
- 213 Soviel ist aber der Zueignung zu entnehmen, daß die Preisgabe der alten Wesensbestimmung der Religion und der Rückzug auf die dahinterstehende Denkart gerade die Übereinstimmung dieser Denkart mit dem in der Auffassung von der Philosophie als höchster Wissenschaft dokumentierten Fortschritt der Bildung aufzeigen soll. Dann aber ergibt sich eine zeitliche Vorordnung: Gerade die zeitgebundenen Reden enthalten eine Denkart, die in ihrer Übereinstimmung mit der Auffassung der Philosophie bereits vor dem Eintreten dieses Fortschritts der Bildung diesen gewissermaßen vorwegnimmt. Das entspricht durchaus dem Selbstverständnis des Gebildeten, der sich als "prophetischer Bürger einer späteren Welt" (M 61) versteht. Das entspricht aber auch der Stellung, die die Religion in der Schelling-Rezension gegenüber der Philosophie einnimmt, nämlich ihre unmittelbare Offenbarung in der Welt der Erscheinungen zu sein. Die Verbindung zwischen beiden läßt sich leicht herstellen. Denn kommt der gebildeten Denkart ein zeitlicher Vorrang zu, dann bleibt die Frage, wie es zu dieser gebildeten Denkart kommt. Insofern kann Schleiermacher unverändert an der Intention der Reden festhalten, durch die Religionstheorie eine Antwort auf die Frage nach der Genese des gebildeten Selbstverständnisses zu geben. So kann sowohl die Zueignung selbst als auch die angekündigte Änderung von dem in der Schelling-Rezension eingenommenen Standpunkt Schleiermachers verstanden werden. Der MißVerständnissen vorbeugende Eingriff in die Religionstheorie ist notwendig, um zu zeigen, daß die Reden durchaus noch auf der Höhe der Bildung der Zeit stehen. Durch die Änderung wird jenes Verhältnis von Religion und Philosophie in die Reden eingetragen, das seinen poetischen Ausdruck darin findet, daß durch die Zueignung an den Jugendfreund der zeitliche Vorrang der durch Religion konstituierten gebildeten Denkart zum Ausdruck gebracht wird. Es ist allerdings zu fragen, ob diese Unterscheidung sowohl der Religion als auch der gebildeten Denkart von der Philosophie die Selbständigkeit der Religion gegenüber der Philosophie zu begründen vermag. 2. Die Veränderungen in der zweiten Rede Der Zueignung ist zu entnehmen, daß Schleiermacher vor allem dort Mißverständnisse befürchtet hat, wo das Wesen der Religion in ihrem Unterschied von der Philosophie bestimmt worden ist. Deshalb wird sich die Untersuchung auf die Wesensbestimmung der Religion konzentrieren. Die zweite Rede entwickelt diese Bestimmung im Zusammenhang einer Religionstheorie. Es scheint nicht sinnvoll zu sein, einzelne Änderungen unter Absehung von diesem Theorie Zusammenhang zu konstatieren. Vielmehr ist gerade die systematische Bedeutung dieser Änderungen für die Religionstheorie und weiter für das Verständnis des
- 214 Gebildetseins herauszuarbeiten. Um den gebildeten Verächtern einen Begriff von der Eigenständigkeit der Religion zu geben, um also eine Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt, der durch die Individualitätsanschauung gekennzeichnet ist, zu entwerfen, ist Schleiermacher 1799 von einer entsprechenden anthropologischen Konzeption ausgegangen. Das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm (R 41) erlaubt die Unterscheidung der beiden Seiten in diesem Verhältnis und ihre Beziehung auf den einen der beiden Pôle, nämlich den Menschen. Dem theoretischen und praktischen Verhalten des Menschen, d . h . der Seite in diesem Verhältnis, die vom Menschen ausgeht, steht die Konstitution dieses Verhältnisses für den Menschen gegenüber. Diese religiöse Seite, daß der Mensch sich seines Verhältnisses zum Universum bewußt wird, hat Schleiermacher als eine Wahrnehmung höherer Art beschrieben, die als Anschauung und Gefühl besteht. Konstitutiv für diese 'höhere' Wahrnehmung ist der Augenblick der ursprünglichen Vereinigung von Sinn und Gegenstand im Vollzug der Wahrnehmung, der als flüchtiger Moment selbst nicht darstellbar nur in seinen Momenten, in Anschauungen und Gefühlen verborgen, zum Ausdruck gebracht werden kann (R 75). Weiter führt Schleiermacher den gebildeten Verächtern diejenigen Anschauungen vor Augen, an denen sich die religiöse Wahrnehmung entzündet hat, zu denen er gerade auch die Anschauungen der gebildeten Verächter von der Menschheit und ihrer Geschichte zählt. Es kann dem von Schleiermacher festgestellten, fortgeschrittenen gebildeten Standpunkt nicht mehr genügen, wenn das Wesen der Religion durch ihren Unterschied von Metaphysik und Moral auf dem Boden der anthropologischen Konzeption bestimmt wird. Metaphysik und Moral haben vielmehr ihre Einheit in der höchsten Wissenschaft der Philosophie, so daß, wie die Zueignung ausdrücklich sagt, das Wesen der Religion durch ihren Unterschied von der Philosophie bestimmt werden muß. Auf den ersten Blick scheint Schleiermacher die hier möglichen Mißverständnisse durch eine einfache Ergänzung ausschließen zu können. Haben Metaphysik und Moral ihre Einheit in der Philosophie als höchster Wissenschaft, so gehören beide offenkundig auf die Seite des Wissens als der einen geistigen Tätigkeit, von der die Religion verschieden ist. Es bedarf dann nur der Ergänzung des Handelns als der anderen geistigen Tätigkeit, um die ursprüngliche Konstellation wiederherzustellen, innerhalb derer die Bestimmung des Wesens erfolgen kann. So fügt Schleiermacher zunächst bei der Widerlegung des gemeinen Begriffs der Religion neben der fälschlichen Identifikation der Religion mit der "Denkungsart" durch die gebildeten Verächter die fälschliche Identifikation mit der "Handlungsweise" ein (P 35). Die Argumentation zielt nun nicht auf die ursprüngliche Einheit der getrennten Momente des "Theoretischen und Praktischen" ab, mit denen die Religion jeweils in einem Zusammenhang steht ( e b d . ) , sondern auf jeder der beiden Seiten besteht ein Unterschied zwischen zwei Momenten, deren ursprüngliche Einheit durch die Religion repräsentiert wird.
- 215 Das Handeln zerfällt in die Momente des "Lebens" und der "Kunst". Unter Leben versteht Schleiermacher hier das sittliche Handeln, das durch Sittengesetz, Pflicht und Tugend bestimmt ist und die harmonische Einordnung und Unterordnung "unter die allgemeinen Ordnungen der Welt" beschreibt (P 36). Dem Vorrang des Allgemeinen im Leben steht im Künstler das Prinzip des Individuellen gegenüber* 9 ?. Der Künstler ist durch "Phantasie" und "Genie" ausgezeichnet, dessen feurige Kraft mit jener besonnenen "gar zu oft ins Gedränge gerate" (ebd.). Schleiermachers Argument resultiert aus dieser Beschreibung: "Hat "Frömmigkeit" in jedem der beiden entgegengesetzten Momente ihren Ort, was die gebildeten Verächter kaum bestreiten können, so kann sie unmöglich als Mischung, d.h. als Resultat der Vereinigung der beiden entgegengesetzten Momente verstanden werden. Dagegen läßt sie sich als "ursprüngliche Einheit beider" begreifen mit der Konsequenz, daß "Sittlichkeit und Genie in ihrer Vereinzelung nur die einseitigen Zerstörungen der Religion" wären (P 38). Diese Ergänzung der ersten Fassung der Reden ist in Analogie zu der dort im Blick auf Metaphysik und Moral vorgetragenen Argumentation entwickelt. Mit Rücksicht darauf, daß damit eine Doppelung gegeben ist, durch die die Religionsthematik verlagert wird, kann Schleiermacher an diesem Punkt die erste Fassung entsprechend übernehmen. Die Denkungsart zerfällt hier allerdings in die beiden realen Hauptwissenschaften der Physik und Ethik. Schleiermacher formuliert ihre Differenz in Anlehnung an die anthropologische Konzeption der ersten Auflage. Gemeinsam ist beiden die "Natur des Menschen und seine dadurch bestimmten Verhältnisse zum Universum". In der Physik wird dargestellt, was "dieses für ihn sein und wie er es finden muß", in der Ethik, "was er für dasselbe sein und darin tun soll" (P 3 9 ) 1 9 8 . Schleiermacher faßt seine Ausführungen der ersten Fassung der Reden in dem Argument zusammen (R 42f), daß der "Glaube" einerseits mit der Physik denselben Gegenstand habe, nämlich - und das ist eine bezeichnende Erläuterung der zuvor zitierten Formulierung - das "Verhältnis des Menschen zu Gott und zur Welt, wozu jener ihn gemacht hat, was diese ihm anhaben kann oder nicht" (P 39), daß er andererseits wie die Ethik auf seine Weise das gute vom schlechten Handeln unterscheide, daß er aber trotz der Zusammengehörigkeit mit beiden Bereichen nicht als eine Mischung von beiden gedacht werden dürfe, die in didaktischer Absicht der Aufklärung des Volkes zum Wissen dienen kann oder aber mit der "höchsten wiederhergestellten Einheit des Wissens" identisch ist (P 42). Nachdem Schleiermacher dem Duktus der zweiten Rede folgend die Unzulänglichkeiten und Widersprüchlichkeiten des falschen Begriffs vom Wesen der Religion, den die gebildeten Verächter haben können, aufgezeigt hat, daß Glaube eben nicht mit Wissenschaft und Frömmigkeit nicht mit Sittlichkeit verwechselt werden kann, weicht er der positiven Bestim-
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mung des Wesens der Religion in signifikanter Weise aus. Da er nicht von der anthropologischen Grundanschauung, vom Verhältnis des Menschen zum Universum ausgeht, können auch 'Anschauung' und 'Gefühl' nicht als hinreichende Bestimmungen der Religion erscheinen. Statt dieser positiven Bestimmungen nimmt er die Wendung wörtlich, mit der er diesen Abschnitt ursprünglich eingeleitet hat, daß er mit dem "schneidenden Gegensatz" der Religion gegenüber den anderen Vermögen im Gemüt beginnen wolle (R 50). Gemäß der durch die Ergänzung entstandenen Doppelung ergeben sich statt der einfachen Bestimmung der Religion als "Anschauung und Gefühl" vier verschiedene Bestimmungen der Religion durch ihren Gegensatz. Dabei zeigt sich, daß der Begriff der Anschauung gerade nicht die Differenz der Religion zu bezeichnen vermag, sondern eine weitere Bestimmung dazu notwendig ist. Das wird deutlich an der Veränderung, die Schleiermacher an der Definition des Wesens der Religion vorgenommen hat. Zwar bleibt die Wesensbestimmung der Religion als "Sinn (Empfindung) und Geschmack für Unendliche" unverändert, wobei 'Sinn' nach den Erläuterungen zur dritten Auflage das Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen, 'Geschmack' aber die Lust zu seiner Betätigung bezeichnet (P 134). Aber der Sinn dieser Wesensbestimmung bleibt nicht derselbe, wenn Schleiermacher dasjenige, worin Religion unterschieden wird, nun anders bestimmt. Statt "Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft" (R 52f), heißt es jetzt: "Wahre Wissenschaft ist vollendete Anschauung, wahre Praxis ist selbsterzeugte Bildung und Kunst, wahre Religion ist Empfindung und Geschmack für das Unendliche" (P 50f). In dieser Formulierung ist nicht nur die Ergänzung der zweiten Auflage durch den Rekurs auf die zweifache Handlungsweise aufgenommen, sondern auch die Einheit von Ethik und Physik in der Philosophie als höchster Wissenschaft berücksichtigt. Kommt aber der Begriff der Anschauung der 'wahren' Wissenschaft zu, so muß die Besonderheit der religiösen Wahrnehmung auf eine andere Weise zum Ausdruck gebracht werden. Dazu hebt Schleiermacher zum einen auf die bereits angesprochene Differenz zwischen den Gebildeten und den Frommen ab: Wenn die Gebildeten 'Gott' an die "Spitze ihrer Wissenschaft" stellen als den Grund alles Erkennens, so ist das nicht dasselbe, wie wenn die Frommen "Gott zu haben und von ihm zu wissen" glauben (P 46). Diese Fassung jener Entgegensetzung des Gottes der Philosophen gegen den Gott der Bibel wird näher bestimmt durch eine der Bestimmung der Religion in der Schelling-Rezension ähnliche Beschreibung, daß Religion es mit dem Verhältnis des einzelnen zum Absoluten zu tun habe. Während die Wissenschaft das "Wesen des Endlichen im Gegensatz gegen das andere Endliche" betrachtet, hat der Fromme "die unmittelbare Wahrnehmung von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige" (P 47). Die religiöse Wahrnehmung ist vor den
- 217 realen Wissenschaften, die es mit dem Endlichen im Gegensatz gegen anderes Endliches zu tun haben, dadurch ausgezeichnet, daß sie die unmittelbare Beziehung des Endlichen auf das Unendliche, das allgemeine Sein alles Endlichen, enthält. Auf dem Hintergrund der Ausführungen der Schelling-Rezension ist damit zugleich auch der Unterschied zur Philosophie als der idealen Darstellung des Urwissens bezeichnet, die erst zusammen mit den beiden realen Wissenschaften das Absolute adäquat darstellt. Von der ersten Fassung der Reden aus gesehen liegt diese Auszeichnung der religiösen Wahrnehmung auf derselben Linie, nur ist sie jetzt gemäß der fortgeschrittenen Bildung gegenüber dem philosophischen Gottesbegriff, dem Grund alles Erkennens, formuliert. Jedenfalls deutet das merkwürdig betonte "durch das Unendliche" bzw. Ewige auf eine analoge Differenz. So wie die religiöse Anschauung durch die Tätigkeit des Angeschauten auf den Anschauenden bestimmt ist, durch das Handeln des Universums (R 56), so ist hier nicht nur das Sein des Endlichen im Unendlichen, sondern auch seine Wahrnehmung durch das Unendliche verursacht. Für diese Deutung spricht auch die entsprechende Unterscheidung der Religion von der Sittenlehre. Die religiöse Anschauung ist nicht auf das einzelne Handeln und seinen Zusammenhang gerichtet, sondern sie sieht in allem menschlichen Handeln "das Handeln aus Gott, die Wirksamkeit Gottes in den Menschen" (P 47). Denn dafür muß es zu einem Wissen um die Wirksamkeit Gottes bereits gekommen sein. Die Religion ist aber nicht nur vom Wissen in seinen beiden Ausprägungen unterschieden, auch gegenüber dem Handeln ergeben sich unterscheidende Bestimmungen des Wesens der Religion. Von der genialen Einseitigkeit des Künstlers ist der Fromme aufgrund seiner Einsicht in den Zusammenhang der einander ergänzenden Individuen verschieden. Gegenüber der Selbstbewegung der Sittlichkeit ist die Frömmigkeit durch das Moment der Passivität ausgezeichnet: "sie erscheint auch als ein Hingeben, ein sich Bewegenlassen von dem Ganzen, welchem der Mensch entgegensteht" (P 48). In der "kindliche(n) Passivität" (R 50) und in der Polemik gegen die "armselige Einförmigkeit" des Menschenbildes der gebildeten Verächter (R 53f) sind diese Bestimmungen auch in der ersten Ausgabe der Reden nachweisbar. Der Unterschied der zweiten Fassung scheint aber gerade darin zu liegen, daß hier nicht Momente einer bestimmten Vorstellung, nämlich der religiösen Seite des Verhältnisses des Menschen zum Universum, aufgeführt werden, sondern diese Momente durch den Unterschied von den verschiedenen Elementen der Tätigkeiten des Geistes gewonnen werden. Damit ist aber gerade das, was diese verschiedenen Bestimmungen vereinigt, was die Religion zu einer selbständigen Geistestätigkeit macht, noch nicht zum Ausdruck gebracht. Wenn die fortgeschrittene Bildung der Verächter den Auf weis der Religion anhand des anthropologischen Grundmodells, des Verhältnisses des als Individuum vorgestellten Menschen zum Universum, nicht ohne die Gefahr des Mißverstehens, d . h . nicht mehr selbstverständlich, zuläßt,
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wenn es weiter ihnen gegenüber nicht hinreicht, das Wesen der Religion durch ihre Unterschiede vom realen Wissen und Handeln zu bestimmen, so muß Schleiermacher den gebildeten Verächtern einen ihrem Selbstverständnis entsprechenden Zugang zur Religion eröffnen, wenn anders die Reden die Eröffnung eines Verständnisses der Religion f ü r die gebildeten Verächter intendieren. An Stelle des Hinweises auf den gemeinsamen Gegenstand von Religion, Metaphysik und Moral (R 41) hat Schleiermacher die Bedingung angegeben, der jeder Aufweis - und auch sein eigener - vor den gebildeten Verächtern genügen muß ; daß nämlich "jeder jede Tätigkeit des Geistes nur insofern verstehen (kann), als er sie zugleich in sich selbst finden und anschauen kann" (P 35). Kriterium des Verstehens ist das, was die gebildeten Verächter f ü r sich selbst sind Um die Bedeutung dieser Behaftung der Gebildeten bei ihrem Selbstverständnis ins rechte Licht zu rücken, muß die Verschiedenheit dieses Zugangs zur Religion von dem der Philosophie berücksichtigt werden. Denn der Zueignung der Reden ließ sich ein Hinweis auf die Schelling-Rezension in der Angabe entnehmen, daß das Wesen der Religion durch ihren Unterschied von der Philosophie zu bestimmen ist. Eine erste nähere Erläuterung, wie diese Bestimmung vorgenommen wird, ist derjenigen Stelle in der zweiten Rede zu entnehmen, in der Schleiermacher auf die höchste Philosophie hinweist. Dient in ihrer ersten Fassung die aufgestellte Behauptung von der Nähe der gesuchten "höchsten Philosophie" zur Religion den ironischen Hinweis auf die Widersprüchlichkeit dieser Behauptung mit der Verachtung der Gebildeten, eine Widersprüchlichkeit, in die sich die Gebildeten selbst verwickeln, während der Redner selbst "keinen Platz besetzen (will), den (er) nicht behaupten kann" (R 47), so erfährt diese hier n u r unbestimmt durch ironische Negation gewonnene Differenz in der zweiten Auflage eine bestimmte Festlegung, so daß Schleiermacher dann in der dritten Auflage von 1821 ausdrücklich auf die Ironie dieser Stelle hinweisen muß und sie zugleich im Sinne seiner Argumentation gegen die Auffassung der Theologie als spekulative Wissenschaft erläutern kann (P 134)199. ¡ n ¿er zweiten Auflage beschreibt Schleiermacher diese widersprüchliche Identifizierung der gebildeten Verächter in signifikanter Weise: "Ihr könnt doch nicht glauben, daß die Religion diese höchste wiederhergestellte Einheit des Wissens sei, die Ihr bei denen am meisten finden und bestreiten wollt, die von der Wissenschaft weit genug entfernt sind" (P 42). Die Philosophie ist als höchste Wissenschaft in einer Weise bestimmt, die einen Unterschied in sich schließt. Ihre Bestimmung als 'wiederhergestellte Einheit' gibt zweierlei zu erkennen: Zum einen kommt darin zum Ausdruck, daß das, was nach der ersten Fassung erst als im Zustand des Anstrebens befindlich bezeichnet worden ist, offensichtlich als Ergebnis vorliegt, so daß die gesuchte Einheit des Wissens als hergestellte gefunden ist. Das läßt sich als Niederschlag der in der Schei-
- 219 ling-Rezension dokumentierten Auffassung von der Philosophie als höchster Wissenschaft verstehen. Zum anderen enthält diese Bestimmung ein Indiz für die dort getroffene Zuordnung von Religion und Philosophie, insofern der wiederhergestellten Einheit eine ursprüngliche Einheit vorausgesetzt ist, von der gilt, daß sie einer Wiederherstellung bedürftig und fähig ist. Diesem Verhältnis entspricht die Kennzeichnung der Religion als unmittelbare Offenbarung der Philosophie in der Welt der Erscheinungen. Wenn diese Entsprechung besteht, so bedeutet die Aussage, daß Religion nicht die wiederhergestellte Einheit des Wissens ist, zugleich, daß Religion die ursprüngliche Einheit ist. Bestätigt wird diese Deutung des Verhältnisses von Religion und Philosophie durch seine nähere Kennzeichnung, die Schleiermacher selbst in der zweiten Fassung der Reden gibt. Insofern es sowohl in der Religion als auch in der Philosophie um denselben 'Gegenstand', die absolute Einheit geht, unterscheiden sie sich in der Art, wie diese Einheit für den Menschen zum Gegenstand wird. In der Religion ist diese Einheit gegenwärtig als ursprüngliche und verlorene, in der Philosophie als wiederhergestellte. Damit ergibt sich zwischen Philosophie und Religion eine Abhängigkeit, weil für die wiederhergestellte Einheit ein Wissen um die verlorene ursprüngliche Einheit in Anspruch genommen ist. "Wenn der Mensch nicht in der unmittelbaren Einheit der Anschauung und des Gefühls Eins wird mit dem Universum, bleibt er in der abgeleiteten des Bewußtseins ewig getrennt von ihm" (P 52). Aber die unmittelbare Einheit mit dem Universum ist nur als verlorene und erinnerte gegenwärtig: "Und wenn sich erst als eines von beiden, als Anschauung oder Gefühl Euer Bewußtsein festgestellt hat, dann bleibt Euch, falls Ihr nicht ganz in dieser Trennung befangen die wahre Anschauung Eures Lebens im Einzelnen verloren habt, nichts anders übrig als das Wissen um die ursprüngliche Einheit beider Getrennten, um ihr gleiches Hervorgehn aus dem Grundverhältnis Eures Daseins" (P 56). Von der Festlegung dessen her, wodurch Religion ihrem Wesen nach von Philosophie unterschieden ist, ergibt sich das Verständnis dafür, wie Schleiermacher den gebildeten Verächtern den Zugang zur Religion eröffnen will. Er muß sie bei dem behaften, was in seinen Augen diese so getroffene Unterscheidung von Religion und Philosophie unumgänglich macht. Das aber ist gerade in dem durch Religion konstituierten gebildeten Selbstverständnis erfolgt. Deshalb ist es mehr als nur eine stilistische Änderung, wenn Schleiermacher in der zweiten Auflage nicht mehr vor den Augen der gebildeten Verächter eine Religionstheorie entwirft, sondern sie selbst in Anlehnung an Fichte^®" auf ihr gebildetes Selbstverständnis verweist und mit der Frage nach dessen Konstitution den Ort der Religion aufweist. Damit genügt er der von ihm angegebenen
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Bedingung, daß n u r das verstanden werden kann, was jeder "in sich selbst finden u n d anschauen k a n n " (P 35). So beginnt Schleiermacher den zentralen Abschnitt der Wesensbestimmung der Religion mit einer A u f f o r d e r u n g an die gebildeten Verächter: "Damit Ihr aber v e r s t e h t , wie ich es meine mit dieser Einheit der Wiss e n s c h a f t , der Religion und der Kunst und mit i h r e r Verschiedenheit zugleich: so v e r s u c h t mit mir hinabzusteigen in das innerste Heiligthum des Lebens . . . Ihr müßt e s v e r s t e h e n , Euch gleichsam vor Eurem Bewußtsein zu belauschen, oder wenigstens diesen Zustand f ü r Euch aus jenem wieder herzustellen. Es ist das Werden Eures Bewußtseins, was I h r bemerken sollt, nicht etwa sollt Ihr ü b e r ein schon gewordenes reflectieren" (P 53). Erinnert der Begriff des Lebens an den e r s t e n M o n o l o g a i , so macht diese E r i n n e r u n g zugleich die Differenz sichtbar: Die Richtung hat sich sozusagen umgekehrt. Ging es dort um die Darstellung der Erhebung des zu sich selbst redenden Geistes über das gewöhnliche, der Zeit verfallene, Leben zum höheren Leben, so zielt diese A u f f o r d e r u n g auf die Anschauung des Lebens als d a s , was jedem Bewußtsein vorausliegend nicht zum Gegenstand der Selbstreflexion werden k a n n , weil diese vom 'Gewordenen' ausgeht und dieses 'Werden' gerade nicht erblicken k a n n . So macht Schleiermacher mit der A u f f o r d e r u n g , das 'Werden' des Bewußtseins zu bemerken, gerade diejenige Frage zum Thema, die von seinem gebildeten Selbstverständnis aus d u r c h die Religionstheorie beantwortet wurde, nämlich die Frage nach der Konstitution der Individualitätsanschauung im gebildeten Selbstverständnis. Damit gewinnt er die dem Redn e r mit den Verächtern gemeinsame Basis, auf der e r die notwendige Funktion der Religion f ü r das gebildete Selbstverständnis sichtbar machen k a n n . Man kann daher sagen, daß an die Stelle der anthropologischen Konzeption in der e r s t e n Fassung der Reden in der zweiten der Begriff des Lebens getreten ist. Was diesen Begriff f ü r Schleiermacher auszeichnet, ist, daß er den Unterschied der ursprünglichen zur wiederhergestellten Einheit zu beschreiben erlaubt, indem gegenüber der nachträglichen Reflexion auf das ursprüngliche Erleben des Lebens r e k u r r i e r t wird. In dieser Weise hat Schleiermacher denjenigen Text der e r s t e n Fassung umgestaltet, in dem die Notwendigkeit der Religion f ü r Wissen und Handeln behauptet wird. Die lapidare Festlegung: "Spekulation und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener Ubermut" (R 52) wird durch die präzisere Beschreibung e r s e t z t : "Was ist alle Wissenschaft, als das Sein der Dinge in Euch, in Eurer Vernunft? was ist alle Kunst und Bildung, als Euer Sein in den Dingen, in ihrem Maße und i h r e r Gestalt? und wie kann beides in Euch zum Leben gedeihen, als n u r sofern die ewige Einheit der V e r n u n f t
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und Natur, sofern das allgemeine Sein alles Endlichen im Unendlichen unmittelbar in Euch lebt?" (P 51). Der Begriff des Lebens bezeichnet das, was vor dem Bewußtsein des Gebildeten liegt. Entscheidend ist, daß nicht nur f ü r Wissen und Handeln die Einheit von Wissen und Sein vorausgesetzt ist als Einheit von Vernunft und Natur bzw. als allgemeines Sein des Endlichen im Unendlichen, sondern daß diese Einheit selbst im Leben repräsentiert und gegenwärtig ist. Denn das ist die Voraussetzung dafür, daß überhaupt das allgemeine Sein alles Endlichen im Unendlichen wahrgenommen werden kann. Das zeigt schon die nähere Erläuterung der religiösen Wahrnehmung: Das allgemeine Sein "suchen und finden in Allem, was lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Thun und Leiden und das Leben selbst nur haben und kennen im unmittelbaren Gefühl als dieses Sein, das ist Religion" (P 47). Das 'Haben' des Lebens im unmittelbaren Gefühl ist Voraussetzung für das 'Suchen und Finden', auch wenn die religiöse Auszeichnung gerade darin besteht, daß das im Gefühl gehabte Leben als allgemeines Sein bestimmt ist, und darüber, wie es zu dieser allgemeinen Bestimmung kommt, hier nichts ausgesagt ist. Um das genauer zu verstehen, ist zu betrachten, wie denn nach Schleiermachers Auffassung die Gebildeten ihr Leben haben, so daß sie das Werden ihres Bewußtseins bemerken können. Schleiermacher versucht zunächst eine "Spur" der ursprünglichen Einheit im Getrennten auf zuweisen. Bei der Ausbildung der Vorstellung von einem Gegenstand tritt zwar die Wahrnehmung eines Erregt- und Bestimmtseins durch den Gegenstand ebenso zurück, wie umgekehrt bei der Selbstbetrachtung das Bild des Gegenstandes über die Wahrnehmung des in bestimmter Weise erregten Bewußtseins vergessen wird, aber in dem Dominieren des einen zeigt sich eine Zusammengehörigkeit beider, die aus einer ursprünglichen Einheit resultiert. Dieser Aufweis der "Spur" am Gegenstandsbewußtsein der Gebildeten nimmt jene Argumentation aus der ersten Fassung (R 72ff) auf, die die Einheit der beiden Bestimmungen der Religion, der Anschauung und des Gefühls, in dem flüchtigen Moment der Vereinigung des Individuums mit dem Universum entwickelt hat. In der zweiten Fassung nutzt Schleiermacher diese Argumentationsfigur umfassender, indem er durch sie den Begriff des Lebens erläutert. Einen Anhalt dafür hat er insofern, als sie dem Darstellungsverhältnis des Absoluten mit den Momenten der Einheit und des relativen Gegensatzes entspricht, das er im fortgeschrittenen Bewußtsein der Gebildeten voraussetzt. Schleiermacher geht von der Auffassung aus, die die Gebildeten ihrem Selbstverständnis nach vom Leben haben: "Sprecht doch, wenn Ihr es ganz im Allgemeinen und ganz u r s p r ü n g lich erwägt, was ist doch jeder Act Eures Lebens ohne Unterschied von anderen in sich selbst? Doch unmöglich etwas anderes als das Ganze auch ist, n u r als Act, als Moment" (54).
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Das Leben als Ganzes wird auf dem gebildeten Standpunkt als Bildungsprozeß des Individuums vorgestellt, der sich zugleich mit dem Bildungsprozeß des Ganzen, von dem das Individuum ein Teil ist, vollzieht. Durch diese Vorstellung wird der Begriff des Lebens erläutert, wenn Schleiermacher ihn in doppelter Weise, als "Werden eines Seins für sich und (als) ein Werden eines Seins im Ganzen" bestimmt. Ist das Leben als Ganzes durch den doppelten Bildungsprozeß gekennzeichnet, so hat jeder Moment des Lebens daran teil. Als Moment ist er durch ein doppeltes Streben bestimmt: er strebt zugleich "in das Ganze zurückzugehn" und "für sich zu bestehen". Organ dieses Strebens im einzelnen Lebenden sind einerseits die "Sinne" und andererseits die "Einheit des Bewußtseins", die als ein 'Mehr oder Weniger' empfunden wird (P 54). Von dieser doppelten Bestimmung des Lebens und jedes seiner Momente aus kann Schleiermacher die aufgewiesenen 'Spuren' der ursprünglichen Einheit im Gegenstandsbewußtsein auf dem Boden des gebildeten Selbstverständnisses einholen. Der flüchtige Moment der Vereinigung von Mensch und Universum liegt jedem Moment des Lebens voraus und konstituiert ihn: "Dieses . . . Einsgewordensein von Sinn und Gegenstand . . . ist jener Moment, den Ihr jedesmal erlebt, aber auch nicht erlebt, denn die Erscheinung Eures Lebens ist nur das Resultat seines beständigen Aufhörens und Wiederkehrens" (P 55). Die beiden einander entgegengesetzten Bestrebungen sind in jedem Lebensmoment zugleich beieinander. Ihr Zusammenhalt beruht darauf, daß sie, wie Anschauung und Gefühl, Resultat einer ursprünglichen und flüchtigen Einheit sind. Die damit vollzogene Ausweitving dessen, was in der ersten Fassung als Spezifikum der Religion entwickelt worden ist, auf das Leben überhaupt, wird durch eine textliche Änderung dokumentiert. Wird 1799 die hymnische Beschreibung, das Liegen am "Busen der unendlichen Welt", der Religion zugeordnet - "Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion" (R 75) - , so lautet 1806 die entsprechende Stelle: "So beschaffen ist die erste Empfängnis alles Lebendigen in Eurem Leben auf jedem Gebiet, also auch auf dem der Religion" (P 55). Hinter seinen Erscheinungen wird das Leben als eine Art einer in ihren Momenten pulsierenden Verbindung mit und Loslösung von dem Universum vorgestellt. Diese Vorstellung wäre eine leere Fiktion, wenn Schleiermacher nicht zugleich mit den Erscheinungen des Lebens das Erleben dieser ersten Empfängnis in bestimmter Weise in den Erscheinungen des Lebens bewahren kann, wenn nicht "ein Wissen um die ursprüngliche Einheit" (P 56), eine Erinnerung an das "erste Zusammentreten des allgemeinen Lebens mit einem besonderen" erhalten bliebe (P 55). Die "wahre Anschauung" des Lebens, wie sie im Bewußtsein als der einen Erscheinung des Lebens, als 'Für-sich-Sein' besteht, rauß diese Erinnerung an die ursprüngliche Einheit einschließen. Diese in Anlehnung an
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die erste Fassung der Reden, am Verhältnis von Anschauung und Gefühl, durchgeführte Argumentationsfigur kann nur dann als Erläuterung des Begriffs des Lebens gelten, wenn sie nicht nur auf die eine Funktion des Lebens anwendbar ist, sondern auch auf die bisher ausgesparte Einheit von Wissen und Handeln. Aus der Beziehung von Wissen und Handeln auf den so gefaßten Lebensbegriff und aus ihrer Bestimmung als Lebensfunktionen ergibt sich dann auf dem gebildeten Standpunkt der Aufweis der Selbständigkeit der Religion. Wissen und Handeln bilden einen relativen Gegensatz, durch dessen wechselseitige Beziehung das Leben in seiner zeitlichen Abfolge bestimmt ist. Beide repräsentieren in ihrer Gegenstandsbezogenheit nur die eine der beiden Bestimmungen des Lebens, nämlich das Streben, in das Ganze zurückzugehen (P 54), das "Einswerdenwollen mit dem Universum durch einen Gegenstand" (P 56). Im Blick auf diese Bestimmung spielt es keine Rolle, ob im Wissen die Gegenstände oder im Handeln die Individuen die "überwiegende Gewalt" haben ( e b d . ) . Entscheidend ist nur, daß sich das Leben im ständigen Wechsel von Wissen und Handeln vollzieht. Ein ruhiges Sein, in welchem beide aufgehoben wären, würde eben kein Leben, d.h. die begrenzte zeitliche Abfolge von Momenten, sondern dessen Ursprung und Ziel sein ( e b d . ) ; denn das Leben ist als Werden, als Bildungsprozeß bestimmt. Aber in jedem Lebensmoment muß dies ruhige Sein, das allgemeine Sein des Endlichen im Unendlichen, als Erinnerung an die ursprüngliche Einheit präsent sein. Daher kann Schleiermacher neben dem wissenschaftlichen und sittlichen Leben als drittes das religiöse Leben annehmen. Die Frage ist nur, wo es seinen Sitz hat. Da das auf das Universum gehende Streben durch Wissen und Handeln gleichermaßen repräsentiert wird, bleibt für die Religion die andere Bestimmung des Lebens, das Streben, für sich zu sein, dessen Organ die Empfindung der Einheit des Bewußtseins ist. In ihm ist zugleich die Erinnerung an die ursprüngliche Einheit der Erscheinungen des Lebens gewahrt. So wird von Schleiermacher unter Berücksichtigung der fortgeschrittenen Bildung der Verächter die Religion anders als 1799 nicht an der Individualitätsanschauung der Gebildeten, sondern an deren eigenem Bewußtsein im Gefühl auf gewiesen: "Euer Gefühl, insofern es Euer und des Universums gemeinschaftliches Sein und Leben auf die beschriebene Weise ausdrückt . . . dies ist Eure Frömmigkeit, und was einzeln als in diese Reihe gehörig hervortritt, das sind nicht Eure Erkenntnisse oder die Gegenstände Eurer Erkenntiß, auch nicht Eure Werke und Handlungen oder die verschiedenen Gebiete Eures Handelns, sondern lediglich Eure Empfindungen sind es, und die Einwirkungen oder Handlungsweisen des Universums, denen sie entsprechen." (P 57) Man wird bei diesem Begriff des Gefühls beides sehen müssen, die Differenz und die Ähnlichkeit, durch die er auf den 1799 eingeführten und hier dem Wissen untergeordneten Begriff bezogen ist. Mit der Unterord-
- 224 n u n g ist bereits die Differenz angezeigt. Sie ergibt sich von außen b e trachtet d a d u r c h , daß die Argumentationsfigur, in der der Gefühlsbegriff seinen Ort hat, auf die d u r c h die Ergänzung um den Bereich des Handelns gewonnene Gegenüberstellung von Wissen und Handeln zur Anwendung kommt. Genauer betrachtet ist die Differenz aber eine Folge davon, daß diese u r s p r ü n g l i c h d a s Wesen der Religion darstellende Figur auf den Begriff des Lebens ü b e r t r a g e n wird. Denn in der e r s t e n Fassung bezeichnet der Ausdruck 'Gefühl' nichts anderes als das eine der getrennten Momente, die a u s der flüchtigen Einheit hervorgegangen sind. "Dieselben Handlungen des Universums, durch welche es sich Euch im Endlichen o f f e n b a r t , bringen es auch in ein neues Verhältnis zu Eurem Gemüt und Eurem Zustand; indem Ihr e s anschaut, müßt Ihr notwendig von mancherlei Gefühlen e r g r i f f e n werden" (P 67). Diese sozusagen von außen, a u f g r u n d des Verhältnisses des Menschen zum Universum gewonnene Beschreibung erhält einen anderen Sinn, wenn sie auf die doppelte Bestimmung des Lebens angewendet wird, wie es vor dem Bewußtsein der Gebildeten e r s c h e i n t . Werden die beiden auf das Ganze und auf sich selbst gerichteten Bestrebungen d e s Lebens in eine Analogie zu Anschauung u n d Gefühl g e b r a c h t , dann muß auch im Get r e n n t e n seine u r s p r ü n g l i c h e Vereinigung als erinnerte r e p r ä s e n t i e r t sein, weil d a s Leben n u r in seinen g e t r e n n t e n Erscheinungen gegenwärtig ist. Der O r t , an dem diese E r i n n e r u n g vergegenwärtigt ist, kann nicht der aufs Ganze gerichtete Sinn, sondern n u r das Gefühl, die Einheit des Bewußtseins sein. Der Begriff des Gefühls erhält also d u r c h die Beziehung auf den Begriff des Lebens eine doppelte Funktion: er bezeichnet zum einen das eine der beiden g e t r e n n t e n Momente, die aus einer ursprünglichen Vereinigung hervorgegangen sind, und zum anderen zugleich das Wissen um diese ursprüngliche V e r e i n i g u n g ^ 2 . Darin aber, daß e r nicht n u r die Erinnerung bewahrt, sondern zugleich als das eine der beiden Produkte der T r e n n u n g ist, liegt die Ähnlichkeit mit dem 1799 e i n g e f ü h r t e n Gef ü h l s b e g r i f f . So wie die beiden Bestimmungen des Lebens nach dem Modell von Anschauung und Gefühl einander zugeordnet werden, so lassen sich dann auch die Funktionen des Lebens e n t s p r e c h e n d zuordnen. Für den Begriff des Gefühls als Lebensfunktion ist die Beziehung von Wissen und Handeln als das auf das Ganze gerichtete Streben ebenso konstitutiv wie die in ihm bewahrte E r i n n e r u n g an die ursprüngliche Einheit beider Momente. Auf diese konstitutive Beziehung stützt sich Schleiermacher, wenn er von der Bestimmtheit des Gefühls redet und sie von der E r f a s s u n g im Wissen als ihrem sekundären Abbild unterscheidet Indem Schleiermacher den Begriff des Lebens nach dem Modell der Vereinigung von Anschauung und Gefühl e r k l ä r t , e r g i b t sich eine weitere Folgerung. Das Modell beschreibt das, was jeden einzelnen Moment des
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Lebens ausmacht. Die Bestimmung dieser Momente ist aber so eingeführt worden, daß das, was f ü r das Leben im Ganzen gilt, auch auf jeden seiner einzelnen Momente zutreffen muß. Die einzelnen Lebensmomente sind Glieder im doppelten Werden des Lebens. Daher gehört es zur Erfassung des Lebens hinzu, daß die einzelnen Momente jeweils zu einem Ganzen integriert werden. Soll Religion ihrem Wesen nach als Gefühl bestimmt und als Leben vorgestellt werden, dann muß sie die Möglichkeit dieser Integration in sich haben: "Aus zwei Elementen besteht das ganze religiöse Leben; daß der Mensch sich hingebe dem Universum und sich erregen lasse von der Seite desselben, die es ihm eben zuwendet, und dann, daß er diese Berührung, die als solche und in ihrer Bestimmtheit ein einzelnes Gefühl ist, nach innen zu fortpflanze und in die innere Einheit seines Lebens und Seins aufnehme, und das religiöse Leben ist Nichts Anderes als die beständige Erneuerung dieses Verfahrens" (P 72). Mit dieser Beschreibung der Religion als Lebensvollzug, die durchaus dem entspricht, wie der Vollzug des Lebensprozesses des Gebildeten in der freien Geselligkeit vorzustellen ist, nimmt Schleiermacher in die Bestimmung des Wesens der Religion auf, was in der ersten Fassung erst in der fünften Rede unter der Vorstellung der Religionsindividuen expliziert wurde, während die zweite Rede auf die Darstellung des einzelnen als Gefühl und Anschauung beschränkt blieb. Darin zeigt sich die Leistung, die der Begriff des Lebens f ü r die Bestimmung des Wesens der Religion erbringt. Doch ist in einem weiteren Sinn die Bedeutung zu untersuchen, die die veränderte, auf dem Begriff des Lebens b e r u hende Religionstheorie für den gebildeten Standpunkt hat.
3. Leben und Bildung: Die Bedeutung der veränderten Bestimmung der Religion f ü r Schleiermachers Bildungsbegriff Geht man davon aus, daß die Religionstheorie in den Reden auf den gebildeten Standpunkt des Redners bezogen ist, dem es bei seinem Streit mit den Verächtern der Religion zugleich um das rechte Verständnis der gemeinsamen Bildung geht, so ist deutlich, daß der Änderung der Religionstheorie eine Änderung des gebildeten Standpunkts korrespondieren muß. Die Zueignung der Reden an den Jugendfreund hat gezeigt, daß Schleiermacher einen Fortschritt der Bildung konstatiert hat, der das Verhältnis von Religion und Philosophie betrifft. Es soll im folgenden versucht werden, die Bedeutung der veränderten Religionstheorie für Schleiermachers Auffassung des Gebildetseins zu bestimmen und sie auf das Verhältnis von Religion und Philosophie zu beziehen. Oberblickt man die Veränderungen, die Schleiermacher in der zweiten Rede vorgenommen hat, so ist festzuhalten, daß im Zentrum nicht die Bestimmung der Religion als Gefühl, auch nicht die Erweiterung der Ar-
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gumentation um den Bereich des Handelns, sondern die Einführung des Lebensbegriffs s t e h t ^ . Der Begriff des Lebens bezeichnet die Ebene, auf der Schleiermacher gegenüber den gebildeten Verächtern das Wesen der Religion auf zu weisen sucht. Dieser Begriff tritt damit in die Position ein, die 1799 das Verhältnis des Menschen zum Universum als gemeinsame Basis für Religion, Metapysik und Moral besetzt hat. Bezieht man diese Funktion auf den gebildeten Standpunkt, so läßt sich eine Differenz feststellen. Die anthropologische Konzeption von 1799 entspricht derjenigen Vorstellung vom Menschen, die die Gebildeten in ihrem Selbstverständnis von sich selbst haben, indem sie sich als Individuen verstehen. Die Lebensanschauung von 1806 entspricht der Individualitätsanschauung der Gebildeten in differenzierterer Form: Einmal insofern das Leben als doppeltes Werden gefaßt ist, das zugleich auf ein Für-sich-Sein und ein Sein-im-Ganzen gerichtet ist. Darüber hinaus hebt Schleiermacher gerade auf das ab, was den Gebildeten auszeichnet, daß er sich selbst als Individuum versteht, indem er mit dem Lebensbegriff die Wahrnehmung dieses Werdens zum vollendeten Individuum im Gefühl thematisiert. Diese Differenz wird sofort deutlich, wenn die entsprechende Wesensbestimmung der Religion herangezogen wird. Wird der Mensch als Individuum vorgestellt, so bezeichnet 'Religion' die Wahrnehmung seines Verhältnisses zum Universum durch ihn selbst, die die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, daß er sich selbst als Individuum und damit als Gebildeter betrachtet. Wird dagegen das Leben des Menschen betrachtet, so bezeichnet 'Religion' nicht den Vollzug einer Wahrnehmung, sondern das Bewußtsein einer vollzogenen Wahrnehmung. Dieses religiöse Bewußtsein ist notwendige Bedingung dafür, daß der Mensch in seinem Gefühl von sich sein ganzes Leben in diesem Moment gegenwärtig hat. Dieser Bestimmung der Religion als Gefühl liegt eine bestimmte Auffassung des Lebens zugrunde. Das Leben als Prozeß des Werdens gedacht besteht aus einzelnen Momenten, die nach dem Modell der Wahrnehmung vorgestellt werden, das Schleiermacher 1799 zunächst für die Bestimmung der Religion überhaupt herangezogen hat. Jeder Lebensmoment ist wie ein Wahrnehmungsakt durch die Verschmelzung von Sinn und Gegenstand und ihre Auflösung und ihren Zerfall in Anschauung und Gefühl ausgefüllt. Bilden das aus sich herausgehende Streben nach einem Sein-im-Ganzen und das in sich bleibende Für-sich-Sein die entsprechenden Produkte eines jeden 'Lebensaktes', so kann der gesamte Lebensvollzug dieses Momentes in dem das Für-sich-sein repräsentierenden Gefühl nur so enthalten sein, daß zugleich im Gefühl die Erinnerung an die ursprüngliche Vereinigung bewahrt ist, aus der das Gefühl und die andere Funktion des Wissens bzw. des Handelns als Produkt hervorgegangen ist. Daher ist das Gefühl religiös und die Religion als Gefühl bestimmt. Religion ist nicht nur die Bedingung der Möglichkeit für die gebildete Individualitätsanschauung, sondern sie ist konstitutiv für diejenige Wahrnehmung des Lebensvoll Zuges, die dem gebildeten Selbstverständnis entspricht. Denn die Selbst-
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bezüglichkeit im gebildeten Selbstverständnis findet in der Lebensauffassung durch die Präsenz des gesamten Lebensmomentes im Gefühl als der einen seiner Erscheinungen ihre entsprechende Darstellung. Das Selbst, auf das der Gebildete in seinem Selbstverständnis bezogen ist, ist durch die Individualitätsanschauung bezeichnet, d . h . der Gebildete sieht sich als Individuum unter Individuen, als Glied des Ganzen. Das Leben, das im Gefühl erfahren wird, zeigt sich als Moment im Prozeß des werdenden Für-sich-Seins und Seins-im-Ganzen. Die in dieser Differenz sichtbare Parallelität gibt zu erkennen, daß die Argumentationsfigur, der Schleiermacher in der zweiten Rede gegenüber den Verächtern der Religion folgt, nur wenig von der Veränderung betroffen wird. An die Stelle der Darstellung der Religion als ein Vorgang 'höherer' Wahrnehmung, dessen konstitutive Funktion f ü r das Selbstverständnis des Menschen nur ihrer Möglichkeit nach durch den Kontext dieser Darstellung, nicht aber an ihr selbst, zum Ausdruck kommt, ist eine Bestimmung getreten, die ebenfalls nach dem Modell der einzelnen Wahrnehmung die Religion erklärt durch das, was durch sie konstituiert ist. Durch Religion ist der Lebende im Gefühl sich des ganzen momentanen Lebensaktes bewußt. In beiden Fällen aber behaftet der Redner die Verächter bei ihrer gebildeten Individualitätsanschauung und weist an ihr auf, was Religion ihrem Wesen nach ist. Um so deutlicher macht die nahezu unveränderte Funktion der Religion f ü r das gebildete Selbstverständnis die Korrelation zwischen der veränderten Bestimmung der Religion und dem veränderten Verständnis der Bildung. Deshalb ist zu untersuchen, was es f ü r den gebildeten Standpunkt bedeutet, wenn er durch diese Lebensauffassung dargestellt wird. Innerhalb der Argumentation der zweiten Rede besteht die durch den Lebensbegriff herbeigeführte Änderung darin, daß nicht von außen die Funktion der Religion f ü r den als Individuum vorgestellten Menschen angegeben wird, sondern Religion zugleich mit der Erfassung des Lebens durch den Lebenden thematisiert ist. Diese Selbsterfassung des Lebenden zeigt zunächst eine veränderte Struktur des Bildungsbegriffs darin an, daß die Selbstbeziehung nicht mehr als hinreichendes Merkmal des Gebildeten gilt, sondern dies Merkmal bereits allen Menschen in ihrem Lebensvollzug zukommt. Das kommt in der zweiten Fassung zum Ausdruck, wenn der Redner die allgemeine Auffassung des Lebens, die f ü r alle Menschen zutrifft, dadurch einführt, daß er die gebildeten Verächter auf sich selbst verweist, auf das Werden ihres Bewußtseins zu merken (P 53). Die auf diese Art sich zeigende Veränderung bedeutet eine solche Umwandlung des durch den Bildungsbegriff bezeichneten Zusammenhanges, daß von seiner Aufhebung gesprochen werden kann205# Das ist im folgenden zu erläutern. Schleiermachers in den Frühschriften dokumentiertes Bildungsverständnis ist in seiner Eigentümlichkeit durch die Individualitätsanschauung
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gekennzeichnet. Gebildet ist derjenige, der im freien Umgang mit anderen Gebildeten die vollendete Bildung seiner Individualität in einem Bildungsprozeß anstrebt, der zugleich dem Bildungsbprozeß des Ganzen angehört. Notwendige Voraussetzung dafür ist, daß der Gebildete sich als Individuum unter Individuen versteht. Beide Aspekte sind durch ein Kausalität s Verhältnis verknüpft. Das Selbstverständnis als Individuum ist Voraussetzung für den Bildungsprozeß des Gebildeten. Die Frage nach der Konstitution dieses Selbstverständnisses ist für den Bildungsprozeß äußerlich. Auf dieser Doppelheit der Aspekte beruht nicht nur die Trennung der ethischen von der religiösen Seite, sondern auch die Möglichkeit, die Konstitutionsfrage durch eine Religionstheorie zu lösen, in der das Wesen der Religion nach dem Modell der auf den Menschen als Individuum bezogenen Wahrnehmung bestimmt wird. Durch die Einführung des Lebensbegriffs ergibt sich eine signifikante Verschiebung. Indem das Werden des Individuums als Lebensprozeß und nicht als an das gebildete Selbstverständnis gebundener Bildungsprozeß gefaßt wird, ist auch die Konstitution der Individualitätsanschauung mit in diesen Lebensprozeß einbezogen. Das Leben der Individuen überhaupt vollzieht sich in der Weise des doppelten Werdens zu einem Für-sich-Sein und einem Sein-im-Ganzen. Dieser Einbeziehung entspricht auf der anderen Seite die Selbsterfassung des Lebenden, indem der Lebensprozeß des Individuums von ihm in seinem das Für-sich-Sein repräsentierenden Gefühl erfaßt ist. Der Begriff des Gefühls gibt den Ort an, an dem das Leben im Lebensprozeß selbst sich für den Lebenden als Leben zeigt. Denn dieser Begriff bezeichnet im Modell der einzelnen Wahrnehmung dasjenige Bewußtsein, das der Wahrnehmende unter Absehung vom Inhalt der Wahrnehmung hat. Dabei ist im Gefühl das Moment, von dem abgesehen ist, in der Weise enthalten, daß derjenige, der sich im Gefühl als Wahrnehmender bewußt ist, auf den vorgängigen Vollzug der Wahrnehmung bezogen ist. Ist man im Gefühl nicht nur einer einzelnen Wahrnehmung, sondern seines Lebens sich bewußt, so ist in ihm darüber hinaus der Zusammenhang der Lebensmomente im Ganzen des Lebens erfaßt. Indem in dem Begriff des Lebens die beiden Aspekte der gebildeten Individualitätsanschauung in einer Vorstellung auf eine bestimmte Weise miteinander verknüpft werden, die als Umkehrung des Verhältnisses zwischen beiden verstanden werden kann, wenn nicht die Konstitution dem Bildungsprozeß, sondern der Lebensprozeß seiner Erfassung vorausgeht, so bleibt davon das Verhältnis des Redners zu den Verächtern und der Gebildeten zu den Ungebildeten nicht unberührt. Denn wenn das Leben in dieser Weise im religiösen Gefühl durch den Lebenden erfaßt ist, dann muß die Bildung der Gebildeten in anderer Weise zum Ausdruck gebracht werden206 oder anders ausgedrückt: Liegen Religion und das als Gefühl bestimmte Selbstverständnis auf einer Ebene, dann kann nicht Bildung durch Gefühl erfaßt sein, wenn nicht der Fromme, d.i. der religiöse Mensch, zugleich als Gebildeter gedacht wird. Sowohl 1799 als auch 1806 #
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insistiert Schleiermacher aber gerade auf dieser Unterscheidung (P 42). Um aber zu sehen, wie Schleiermacher das, was die Gebildeten auszeichnet, nach der zweiten Fassung der Reden positiv gefaßt hat, ist die Veränderung im Verhältnis der Gebildeten untereinander, des Redners zu den Verächtern der Religion, des selbstbildenden Individuums zu den weltbildenden Künstlern zu betrachten. Es zeigte sich in Schleiermachers Bildungsbegriff eine gewisse Abstraktheit, die als Folge der fehlenden Verknüpfung der beiden Aspekte in der negativen Bezogenheit der Gebildeten auf den gemeinen Standpunkt und der fehlenden individuellen Charakteristik des gebildeten Standpunkts zum Ausdruck kam. Diese Abstraktheit steht auch hinter dem Streit des Redners mit den Verächtern der Religion und der Selbstdarstellung des Gebildeten im Monolog in Abgrenzung vom weltbildenden Künstler 7 . Vor allem diesem gegenüber weist der von Schleiermacher vertretene gebildete Standpunkt eine Grenze auf, insofern er sich ihm gegenüber nur um die Anerkennung seines Standpunkts als seines eigentümlichen, um die Anerkennung seiner individuellen Herkunft als Gebildeter durch Religion und Christentum, bzw. um die Anerkennung seiner aus der Individualitätsanschauung sich ergebenden Selbstbildung durch die weltbildenden Künstler bemüht. Die Darstellungsform der Rede und des Monologs bringt die Übereinstimmung des Standpunkts (gebildete Individualitätsanschauung) und seiner Darstellung (individuellen Selbstdarstellung) zum Ausdruck. Aber trotz dieser positiven Wahrnehmung bleibt es eine Beschränktheit, die im Blick auf die Weltbildung einen wichtigen Bereich menschlichen Daseins außer sich hat. Von hier aus fällt sofort ins Auge, daß Schleiermacher mit dem Begriff des Lebens das, was er 1799 noch als fremde Eigentümlichkeit von sich augeschlossen sah, in die gebildete Lebensauffassung integriert hat. Das als Gefühl bestimmte Selbstverständnis ist als das eine Resultat des momentanen Lebensaktes auf den korrelativen Aspekt bezogen, der in Wissen und Handeln die Weltbildung repräsentiert. Das kann auch so formuliert werden, daß Schleiermacher mit der Partikularisierung des Selbstverständnisses als Gefühl gerade seine als individuelle Partikularität verstandene Begrenztheit überwindet. Damit entzieht Schleiermacher der Kontroverse des Redners mit den gebildeten Verächtern insoweit den Boden, als er durch den Lebensbegriff eine Auffassung vertritt, die zumindest von ihrer Anlage her beide Seiten des Disputes umfaßt. Daß Schleiermacher mit dem Lebensbegriff die Möglichkeit gefunden hat, die gemeinsame Grundlage der beiden streitenden Positionen darzustellen, zeigt die gegenüber 1799 abweichende direkte Anrede der Verächter, mit der er sie auf das Werden ihres eigenen Bewußtseins hinweist. In dieser Möglichkeit kann eine Widerspiegelung des von Schleiermacher konstatierten Fortschritts der Bildung gesehen werden. Denn die Möglichkeit der unmißverständlichen Darstellung des Verhältnisses von Religion und Philosophie beruht nach Schleiermachers Meinung nicht auf einer Veränderung der Religion oder
- 230 seiner Denkart. Ist Schleiermachers Auffassung auch nur annähernd getroffen, dann wird man nicht umhin können, in diesem ändernden Eingriff die Aufhebung der Konzeption der Reden selbst zu sehen. Implizit hat Schleiermacher tatsächlich seine Meinung, daß die Reden an eine bestimmte Zeit gebunden sind und ihre ganze Anlage nicht mehr paßt, mit diesem Eingriff realisiert. Ist die Bildung der Zeit in der Weise fortgeschritten, daß eine Darstellung der gebildeten Individualitätsanschauung durch den Begriff des Lebens möglich ist, dann verlieren die Reden ihren Adressaten. Die Position der Verächter wird durch einen Standpunkt ersetzt, auf dem das Selbstverständnis des Menschen notwendig mit Religion verbunden ist, wenn das Selbstverständnis als Gefühl bestimmt ist, in welchem der momentane Lebensakt erfaßt ist. Aber auch die Form der Reden verliert ihren Sinn, wenn die Funktion der Religion innerhalb der gemeinsamen Lebensauffassung aufgewiesen wird und nicht an der Individualitätsanschauung, die als individuelle Selbstdarstellung in der freien Geselligkeit mit anderen individuellen Eigentümlichkeiten vorgebracht wird. Aber der gebildete Standpunkt ist in des Wortes doppeltem Sinn 'aufgehoben'. Die Individualitätsanschauung des Gebildeten ist durch die Lebensanschauung in ihrer ursprünglichen Gestalt negiert, zugleich aber auch im individuellen Lebensprozeß bewahrt. Ebenso ist die ursprüngliche Auszeichnung des Gebildeten, sein Selbstverständnis als Individuum, negiert, indem das Leben im Gefühl von jedem Lebenden überhaupt erfaßt wird, und zugleich ist die Bildung der Gebildeten darin bewahrt, daß sie das, was jeder Lebende im Gefühl erfaßt, auch als diese Lebensanschauung darzustellen vermögen. Diese Differenz zwischen dem Bewußtsein des Lebens im Gefühl und der Darstellung des Lebens auf dem gebildeten Standpunkt ist systematisch begründet. Sie ergibt sich nicht nur innerhalb der Argumentation der zweiten Rede, die darauf abzielt, die Religion ihrem Wesen nach den gebildeten Verächtern aufzuweisen. Wenn das Bewußtsein des Lebens dem Lebenden im Gefühl präsent ist, und das Selbstverständnis als Individuum nicht hinreicht, die Bildung der Gebildeten zu bezeichnen, dann liegt es nahe, diese Bildung in dem Vermögen zur Darstellung dieser Lebensanschauung zu suchen. Diese Differenz ergibt sich auch, wenn man die Wesensbestimmung der Religion als Gefühl damit verbindet, daß Schleiermacher die Religion von der Bildung abhebt. Das als Gefühl bestimmte Selbstverständnis, das Religion notwendig einschließt, kann dann nicht Kennzeichen der Bildung dessen sein, der in seinem Wissen sich über die Frommen erhoben weiß. Wie dieses Verhältnis und die Bildung des Gebildeten näher gefaßt ist, zeigt sich bereits in der Darstellung der gebildeten Lebensanschauung. Zwar hat Schleiermacher durch den Lebensbegriff die Beschränktheit der gebildeten Individualitätsanschauung überwunden und die Beziehung des Gebildeten zur Welt integriert, aber diese Integration ist so ausgefallen, daß beide Seiten in ihrer Differenz in der Einheit des momentanen Lebensaktes enthalten sind. Dem das Für-sich-Sein repräsentierenden Gefühl stehen das das Sein-
- 231 im-Ganzen repräsentierende Wissen und Handeln gegenüber. Beide sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. Indem die Erinner u n g an den gemeinsamen Ursprung der beiden Momente im Gefühl lokalisiert ist, steht die Religion ihrem Wesen nach gleichfalls Wissen und Handeln gegenüber # In dieser Gegenüberstellung besteht die vielbeachtete und vielkritisierte Veränderung der Religionstheorie gegenüber ihrer ersten Fassung. Während 1799 das Wesen der Religion als ein Akt 'höherer' Wahrnehmung alle Momente des Wahrnehmungsmodells umfaßte, ist zwar der Gefühlsbegriff durch seine religiöse Bestimmung gemäß der Erfassung des momentanen Lebensaktes im Gefühl komplexer gefaßt, die Bestimmung der Religion als Gefühl hat aber den Aspekt der Anschauung außerhalb ihrer selbst. Das bedeutet, daß die Darstellung der Religion durch die religiösen Anschauungen nicht mehr zum Wesen der Religion selbst gehört, sondern Darstellungen des religiös bestimmten Bewußtseins sind. Diese Veränderung beruht auf dem unterschiedlichen Verständnis der Bildung. Auf dem Boden der gebildeten Individualitätsanschauung findet die Frage nach dem, was das gebildete Selbstverständnis als Individuum konstituiert, ihre Antwort in einer Theorie, in der 'Religion' nach dem Modell eines Wahrnehmungsaktes bestimmt wird. Auf dem Boden der gebildeten Lebensanschauung findet die Frage, was im momentanen Lebensakt das Gefühl als Selbsterfassung des Lebenden konstituiert, ihre Antwort in einer Theorie, in der Religion im Gefühl die konstitutive Erinnerung an die u r sprüngliche Einheit des Lebenden mit dem enthält, worauf er bezogen ist. Religion enthält also in dem, was sie repräsentiert, eine Bestimmtheit des Lebenden durch etwas, das nicht er selbst ist; aber Religion als Gefühl bestimmt, kann dieses Bestimmtsein nicht zur Anschauung bringen, sondern dieser Aspekt wird im momentanen Lebensakt durch Wissen und Handeln repräsentiert. Daraus ergibt sich, daß im religiösen Gefühl eine Bestimmtheit des Lebens im jeweiligen Moment enthalten ist, aber das Bestimmende, durch das das Leben bestimmt ist, nicht im religiösen Gefühl vorgestellt werden kann, sondern dem Bereich des Wissens und Handelns angehört. Von dieser Differenz in der Erscheinung des momentanen Lebensaktes als religiöses Gefühl und Wissen bzw. Handeln her läßt sich das, was die Bildung der Gebildeten ausmacht, näher bestimmen. Die Gebildeten werden von Schleiermacher auf ihr Wissen um das Leben und den momentanen Lebensakt angesprochen, nicht nur auf ihr Bewußtsein im Gefühl; vielmehr ist das Bewußtsein in seinem Werden gerade der Gegenstand des Wissens. Das zeigt sich deutlich, wenn Schleiermacher die 'Spuren' der ursprünglichen Vereinigung im Bewußtsein der Gebildeten identifiziert: "Doch wie gesagt, dies sind nur Spuren, und Ihr könnt sie kaum verstehen, wenn Ihr nicht auf den ersten Anfang jenes Bewußtseins zurückgehen wollt. Und solltes Ihr dies nicht können? Sprecht
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doch, wenn Ihr es ganz im Allgemeinen und ganz ursprünglich erwägt, was ist doch jeder Act Eures Lebens ohne Unterschied von andern in sich selbst?" (P 54). Identifiziert werden die Spuren, indem der momentane Lebensakt im Allgemeinen dargestellt wird. So ergibt sich, daß Schleiermacher in der zweiten Fassung der Reden die Bildung der Gebildeten aufgrund der die Lebensanschauung kennzeichnenden Differenz von Gefühl und Wissen bzw. Handeln bestimmt. Das gebildete Selbstverständnis schließt über das Bewußtsein im Gefühl hinaus seine Erfassung und Darstellung im Medium des Allgemeinen, d.h. im Wissen ein. Insofern hat sich an der Funktion der Religionstheorie für den gebildeten Standpunkt nichts geändert. Und doch enthält die Differenz zwischen einem 'unmittelbaren' Selbstbewußtsein als Gefühl und dem reflektierten Selbstbewußtsein als Wissen ein gegenüber der ersten Fassung der Reden verschärftes Problem in sich. Dies Problem wird sichtbar, wenn man die für Schleiermachers Bildungsbegriff und seine Religionstheorie von 1799 wichtige Frage nach der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses stellt. Wie kommen die Gebildeten zu ihrer Bildung, d.h. zu der Erfassung des momentanen Lebensaktes im Wissen? In der ersten Fassung ließ die Berufung auf die Individualität des Redens die allgemeine Antwort auf diese Frage gewissermaßen offen: Wie immer andere zu ihrer Bildung gekommen sein mögen, der Redner zeigt die Möglichkeit seiner eigenen Genese auf, indem er eine Religions- und Christentumstheorie auf dem gebildeten Standpunkt entwirft. In der zweiten Fassung der Reden ist dieses Verhältnis definitiv festgelegt. Jeder, der religiös ist, erlebt sich als Lebender im Gefühl. Damit entsteht das Problem, wie diese Aussagen in ihrer Allgemeinheit zu begründen sind. Denn offenbar stellt gerade nicht jeder, der Religion hat und sich selbst im Gefühl empfindet, seine Empfindung auf diese Weise dar. Was zeichnet die von Schleiermacher als gemeinsam hingestellte Lebensauffassung auf dem gebildeten Standpunkt aus? Daß Schleiermacher auf dies Problem aufmerksam geworden ist, läßt sich daraus entnehmen, daß er in Abweichung von der ersten Fassung die Gebildeten auf den eigenen Lebensvollzug verweist. "Es ist das Werden Eures Bewußtseins, was Ihr bemerken sollt, nicht etwa sollt Ihr über ein schon gewordenes reflectiren" (P 53). Aber diese Lösung ist nicht hinreichend, weil für den Aufweis, daß die gebildeten Verächter ein religiös qualifiziertes, d.h. die Erinnerung an den flüchtigen Moment bewahrendes Gefühl bzw. Bewußtsein haben müssen, wenn sie ihr Leben in dieser Weise auffassen, bereits das Wissen um diese Lebensauffassung in Anspruch genommen ist. Das ist nicht unbedingt ein Einwand gegen Schleiermachers Konzeption, dann nämlich, wenn man dies Problem auf das bezieht, was bereits über die Bildung der Gebildeten und den Fortschritt der Bildung der Zeit ausgemacht werden konnte. Besteht der Fortschritt nach der in seiner Schelling-Rezension dokumentierten Auffas-
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sung Schleiermachers in dem Fortschritt der Wissenschaft, daß alle Wissenschaft aus der Philosophie als der höchsten Wissenschaft zu begründen ist, und besteht die Bildung der Gebildeten in der Fähigkeit, das Leben, das jeder Mensch in seinem Gefühl erlebt, auf allgemeine Weise darzustellen, so ist auch die in der Allgemeinheit des Wissens dargestellte Lebensauffassung im System des Wissens begründet. Der Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins bedeutet zugleich einen Fortschritt in der Bildung der Gebildeten. Des Redners Verweisung der Gebildeten auf ihren eigenen Lebensvollzug und seine Spuren hat dann nicht begründende Funktion, sondern die Funktion einer Ortsbezeichnung, wo denn das, was als gemeinsame Lebensanschauung dargestellt wird, von ihnen selbst wahrgenommen werden kann. Dabei wird vom Redner vorausgesetzt, daß die Lebensanschauung mit der jeweils eigenen Lebenserfahrung identifiziert werden kann. Indem aber der Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins als Fortschritt der Bildung verstanden wird, wird dieser in einem systematischen Zusammenhang thematisiert, der nicht mit dem Deduktionszusammenhang des Wissens identisch ist. Das zeigt sich schon darin, daß die Begründung des Systems aller Erkenntnisse durch die Philosophie als höchste Wissenschaft als ein Ereignis in der Zeit reflektiert wird, wie die 'Zueignung' der Reden deutlich erkennen läßt. Schleiermacher erfaßt die seiner Meinung nach gelungene Begründung des Wissens als neue Stufe in dem Prozeß der Geschichte des Bewußtseins. In dieser geschichtlichen Perspektive wird gerade nicht das Problem der Selbstbegründung des Wissens thematisch, sondern die geschichtlich-zeitliche Bedingtheit einer bestimmten Lösung dieses Problems. Sofern Schleiermacher mit seiner Religionstheorie die geschichtlichen Zusammenhänge in bestimmter Weise (Mittler) beschreibt, kann man sagen, daß sich die Funktion de* Religionstheorie f ü r die Lösung der Frage nach der Konstitution der Bildung der Gebildeten nicht verändert hat. Nur ihrer inhaltlichen Bestimmung nach wird sie dem veränderten Selbstverständnis der Gebildeten angepaßt. Wenn im Wissen der Philosophie die höchste Einheit des Absoluten erfaßt ist, dann muß, wenn die Religionstheorie die Konstitution der Bildung erklären können soll, diese Einheit bereits in der Religion gegenwärtig sein und zwar so, daß sie von der Einheit im philosophischen Wissen unterschieden werden kann. Diese Bedingung wird durch die Darstellung des momentanen Lebensaktes erfüllt, indem die beiden Produkte des momentanen Lebensaktes einander entgegengesetzt werden. Dadurch, daß Religion als Gefühl bestimmt wird, ergibt sich mit der Gegenüberstellung zum Wissen ein Verhältnis, das jene Unterscheidung erlaubt. Indem die Begründung alles Wissens durch die Philosophie als Fortschritt der Bildung der Zeit reflektiert wird, läßt sich der Ort der Philosophie innerhalb des Modells der Religionstheorie beschreiben. Philosophie ist Wissen, d.h. sie beruht auf der Tätigkeit des Wissens als einer der Le-
- 234 bensfunktionen, und zwar derjenigen, die neben dem Handeln dem Gefühl gegenüber steht und das Sein-im-Ganzen repräsentiert. Daraus ergibt sich dann die Stellung, die nach den Aussagen des Redners die Philosophie gegenüber der Religion einnimmt. Zwar ist Wissen mit dem Gefühl gleichursprünglich auf die in der Religion repräsentierte Einheit bezogen. Aber das ist die Beschreibung des einzelnen Lebensmomentes. Die Begründung des Wissens durch die Philosophie ist durch viele einzelne Wissensakte und deren Zusammenhang vermittelt. Von hier aus wird verständlich, daß Schleiermacher die Religion als unmittelbare Offenbarung der Philosophie in der Welt der Erscheinungen bestimmt. Denn mit der Religion ist im einzelnen Lebensmoment des Menschen als Gefühl das präsent, was als Grund alles Wissens durch die Lebensfunktion des Wissens erst erkannt wird. Daher kann der Redner der ursprünglichen Einheit der Religion die wiederhergestellte Einheit der höchsten Wissenschaft gegenüberstellen (P 46.52). Wenn es zutrifft, daß Schleiermacher das Verhältnis von Philosophie und Religion in dieser Weise verstanden hat, wenn er Religion ihrem Wesen nach durch den Unterschied von der Philosophie bestimmt, dann läßt sich der genannte Einwand von neuem erheben. Die Darstellung der Lebensanschauung, durch die dies Verhältnis beschrieben wird, ist selbst aus der Lebensfunktion des Wissens hervorgegangen. Sie erfüllt aber die vermittelnde Funktion zwischen der unmittelbaren Lebenserfahrung des Menschen und der Darstellung des Lebensaktes im Wissen. Denn Schleiermachers Argumentation gegenüber den Gebildeten beruht darauf, daß sie ihre unmittelbare Lebenserfahrung nach diesem Modell identifizieren können. Dafür ist eine Instanz in Anspruch genommen, die die beiden gegenüberstehenden Lebensfunktionen des Gefühls und des Wissens aufeinander zu beziehen vermag, die die Übereinstimmung zwischen dem, was im Gefühl empfunden wird, und der Darstellung des momentanen Lebensaktes im Wissen feststellen kann. Diese Instanz, die die Korrelation zwischen Gefühl und Wissen bzw. Handeln vollzieht, wird aber nur vorausgesetzt. Darin ist dann die Beschreibung des Lebensaktes durchaus adäquat, daß diese Korrelation auf einer vorgängigen Einheit des Lebensaktes beruht, die in der Religion als Erinnerung an den gemeinsamen Ursprung diese Bezogenheit der beiden Funktionen garantiert. Aber die Religion hat selbst ihren Ort im Gefühl, das dem Wissen bzw. Handeln gegenübersteht. Daher kann man im Blick auf Schleiermachers ursprünglichen Bildungsbegriff festhalten, daß er dem Fortschritt der Bildung seiner Zeit Rechnung getragen hat, indem er das gebildete Selbstverständnis neu gefaßt hat, daß er aber zugleich die Darstellung der Lebensanschauung im Medium des Allgemeinen in derselben Weise als Bildung der Gebildeten begriffen hat wie zuvor in der ersten Fassung der Reden. Zwar ist die Schranke individueller Partikularität in der Selb st dar Stellung des Gebildeten überwunden, aber die Abstraktheit dieses Bildungsbegriffs kommt in der veränderten Gestalt wiederum zum Tragen. Die Darstellung der im Gefühl gemachten Lebenserfahrung durch
- 235 das Wissen bleibt ebenso auf diese Erfahrung bezogen wie die Gebildeten auf den gemeinen Standpunkt. Die Abstraktheit zeigt sich darin, daß in diesem Wissen in gleicher Weise wie bei der Selbstdarstellung des Gebildeten von dem abgesehen wird, was jedes Individuum wie jeden Moment des Lebens in seiner Besonderheit kennzeichnet, und die gebildete Individualitätsanschauung überhaupt bzw. jeder Akt des Lebens "ohne Unterschied von andern" (P 54) dargestellt wird. Für diese Betrachtung des Verhältnisses von Philosophie und Religion ist mit der Identifizierung der Religion als Gefühl im Wissen diejenige Möglichkeit der Beziehung der beiden Produkte des Lebensaktes in Anspruch genommen, die Schleiermacher selbst bei der Bestimmung des Wesens der Religion durch ihren Unterschied von der Philosophie in Anspruch genommen hat. Diese Beziehung ist zu unterscheiden von der Korrelation, die zwischen beiden Momenten besteht. Jeder Akt des Wissens bzw. Handelns läßt sich einem bestimmten momentanen Gefühl zuordnen. Denn Gefühl und Wissen bzw. Handeln sind als Produkte desselben Lebensaktes gleichursprünglich. Ein anderes Verhältnis ergibt sich aber, wenn die Beziehungen betrachtet werden, die sich ergeben, wenn nach Schleiermachers Worten die Lebensfunktionen einander "zum Gegenstand" werden. Auf eine von diesen Beziehungen hebt Schleiermacher ausdrücklich ab, um den Gebildeten die Differenz der entwickelten Religionstheorie gegenüber der gelebten Religion vor Augen zu führen: "Auf diese Art könnt Ihr als Fühlende Euch selbst Gegenstand werden und Euer Gefühl betrachten. Ja auch so könnt Ihr als Fühlende Euch Gegenstand werden, daß Ihr auf ihn bildend wirkt und ihm rtiehr und mehr Euer inneres Dasein eindrückt" (P 58). Diese Beziehung des Wissens und Handelns auf das Gefühl ist als 'Reflexion' zu beschreiben. Innerhalb des Wahrnehmungsmodells bezeichnet sie diejenige Beziehung, die entsteht, wenn das Wissen bzw. Handeln nicht auf einen beliebigen Gegenstand gerichtet ist, sondern auf das im Gefühl gegebene Selbstverständnis. Am Rande sei vermerkt, daß Schleiermacher im Blick auf das Handeln die ursprüngliche Vorstellung des Bildungsprozesses aufgreift, der durch das gebildete Selbstverständnis als Individuum konstituiert ist. Nur kann in dem Zusammenhang der Darstellung des Lebensaktes die Berufung auf ein vom Gefühl unterschiedenes "inneres Dasein" kaum befriedigen, es sei denn, man sieht in ihm ein Indiz für die vorausgesetzte, Wissen und Gefühl identifizierende Instanz. Daß aber die Reflexion auf das eigene Gefühl diesem gegenüber sekundär ist, macht Schleiermacher den Gebildeten unmißverständlich klar: "Aber vergeßt nur nicht, daß dies eigentlich die wissenschaftliche Behandlung der Religion ist, das Wissen um sie, nicht sie selbst, und daß die Beschreibung für die Frömmigkeit unmöglich in gleichem Range stehen kann mit dem beschriebenen Gefühl selbst" (P 58).
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Gegenüber der Beziehung der nachträglichen Reflexion nimmt diejenige Beziehung eine andere Stellung ein, die sich ergibt, wenn Wissen und Handeln zum Gegenstand des religiösen Gefühls werden. Schleiermacher ist auf sie eingegangen, um in erster Linie die religiöse Betrachtung von der wissenschaftlichen abzuheben (P 46ff). Dabei werden in der an dem Wahrnehmungsmodell orientierten Sprache endliches Wissen und Handeln als aus dem Handeln des Unendlichen hervorgehend aufgefaßt, d . h . an ihnen und durch sie vollzieht sich jene ursprüngliche Vereinigung von Sinn und Gegenstand, die dann im religiös bestimmten Gefühl repräsentiert ist. Für das religiöse Gefühl werden Wissen und Handeln nur auf dem Wege der ursprünglichen Einheit und ihrer Repräsentanz im Gefühl zum Gegenstand, also geradezu in gegenläufiger Weise, wie das Gefühl in der Reflexion zum Gegenstand für Wissen und Handeln wird. Dem Gefälle zwischen diesen beiden Beziehungen entspricht eine weitere Beziehung, die Schleiermacher in diesem Zusammenhang zwar nicht thematisiert, die aber für den weiteren Argumentationszusammenhang der Reden ebenso eine notwendige Voraussetzung ist, wie für Schleiermachers Entwurf der Theologie. Wenn das religiös bestimmte Gefühl, das das Fürsich-Sein repräsentiert, nicht nur ein Konstrukt der Religionstheorie auf dem gebildeten, d . h . wissenschaftlichen Standpunkt ist, sondern eine Lebensfunktion in jedem Moment des Lebens eines jeden Menschen, die in jedem Moment neu und anders bestimmt sein kann (P 72), dann muß die Lebensfunktion des Gefühls nicht nur von dem einzelnen Menschen empfunden werden, sondern auch nach außen zum Ausdruck gebracht werden, um anderen mitgeteilt zu werden. Schleiermacher hat die Darstellung der Gefühle im Zusammenhang seiner Güterlehre damit begründet, daß das ethische Subjekt als Einheit von Vernunft und Natur in seinem Für-sich-Sein als einzelnes wegen der Einheit der Vernunft in allen Menschen auf die Ergänzung seiner eigentümlichen Erregtheit durch die anderen Menschen angewiesen ist und deshalb die Äußerung des Gefühls und die Wahrnehmung solcher Äußerungen notwendig ist209. Diese 'Offenbarung' der Gefühle, die Schleiermacher in erster Linie durch 'Gebärden' erfolgen sieht, ist für die Argumentation der Reden in Anspruch genommen, damit überhaupt 'Religion', ihrem Wesen nach als Gefühl bestimmt, ihre Funktion in der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt im Blick auf die Theorie des Mittlers, der Kirche und des Christentums erfüllen kann. Diese Beziehung ist von der reflexiven Thematisierung des Gefühls im Wissen dadurch unterschieden, daß nicht das Gefühl im Allgemeinen dargestellt, sondern gerade das Gefühl in seiner jeweiligen Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht wird. Auf dieser Beziehung zwischen den beiden Produkten im momentanen Lebensakt, die als Äußerung des bestimmten Gefühls eine adäquate Darstellung des Gefühls im Wissen ausschließt, beruht die Möglichkeit, Theologie als eine gegenüber dem philosophisch begründeten Wissen selbständige Wissenschaft zu konstituieren.
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IV. Bildung und Theologie: Die "Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811) Die Untersuchung der zweiten Auflage der Reden hat ergeben, daß die veränderte Wesensbestimmung der Religion auf ein verändertes Verständnis der Bildung der Gebildeten zurückzuführen ist. Hat Schleiermacher den Fortschritt der Wissenschaft, den er in seiner Schelling-Rezension festgestellt hat, als einen Fortschritt der Bildung der Zeit verstanden, so fällt von hier aus ein Licht auf die Entstehung seines Theologiebegriffs. Auf dem Boden der Reden, in denen auf der Selbständigkeit der Religion gegenüber dem Wissen insistiert wird, ist zunächst nicht unmittelbar evident, wie ein Begriff der Theologie als Wissenschaft zu gewinnen ist. Denn dazu muß die Religion, die ihrem Wesen nach vom Wissen unterschieden ist, wieder zum Gegenstand des Wissens werden. Geht man dagegen von Schleier mache r s Bestimmung der Theologie als positive Wissenschaft aus und zieht zur näheren Erläuterung ihrer Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise den Begriff der Kirche heran, den Schleiermacher in den ethischen Lehnsätzen der Glaubenslehre aufgestellt hat, so steht man immer schon auf dem Boden der Differenz von Theologie und Philosophie, die das Kernproblem der Schleiermacher-Interpretation210 bildet. Demgegenüber wird im folgenden der Versuch gemacht, das problematische Verhältnis von Theologie und Philosophie auf dem Hintergrund der Konzeption der Reden, d . h . auf dem Boden des gebildeten Standpunktes zu bestimmen. Dabei kommt der zweiten Fassung der Reden insofern eine Schlüsselstellung zu, als in ihr das Verhältnis von Religion und Philosophie im Sinne der Beziehung von Religion und Bildung gedeutet worden ist. Es wird daher zunächst durch eine Rekonstruktion des Argumentationszusammenhanges der Reden auf dem Boden des veränderten Bildungsverständnisses die Konstitution des Begriffs der Theologie als positive Wissenschaft beschrieben. Daran schließt sich die Darstellung des inneren Zusammenhanges der theologischen Disziplinen und ihrer Einleitung auf dem Hintergrund der theologischen Enzyklopädie an.
1. Die positive Wissenschaft der Theologie auf dem Hintergrund der Reden von 1806 Daß Schleiermacher Theologie als positive Wissenschaft durch die Beziehung auf die kirchenleitende Praxis bestimmt, soll im folgenden als eine durchaus fragwürdige Lösung eines Problems auf gewiesen werden, das mit der Intention der Reden, der Religion "eine eigene Provinz im Gemüte" (R 37) zuzuweisen, gegeben ist. Der Versuch, in der dem gebildeten Selbstverständnis entsprechenden Darstellungsform der Reden
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vor den gebildeten Verächtern der Religion ihre Selbständigkeit gegenüber Metaphysik u n d Moral auf zuweisen, bedeutet zunächst den Verzicht auf eine Apologie von Religion und Christentum mit den Mitteln der Theologie, d . h . Verzicht auf Theologie als Wissenschaft. Als Redner hat Schleiermacher die Schranken seines Standes hinter sich gelassen, um "als Mensch . . . von den heiligen Mysterien der Menschheit" (R 5) zu den Gebildeten zu r e d e n . Wird Religion von Metaphysik und Moral u n terschieden, so können die "Systeme der Theologie" nicht dazu dienen, daß die gebildeten Verächter in ihnen die Religion finden, "weil sie nicht da ist" (R 26): "Ein System von Anschauungen, könnt Ihr Euch selbst etwas Wunderlicheres denken? Lassen sich Ansichten, u n d gar Ansichten des Unendlichen in ein System bringen?" (R 58f). Aber trotz dieser Polemik gegen die Systeme metaphysischer Theologie ist die Religion ihrem Wesen nach nicht völlig systemlos. Kommt der Religion eine Bedeut u n g f ü r die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses zu, so ist der in der zweiten Rede e i n g e f ü h r t e Begriff der Religion als einzelner Wahrnehmungsakt "höherer A r t " nicht hinreichend bestimmt. Vielmehr ist es f ü r den Aufweis einer Genesis zum Gebildeten durch Religion u n umgänglich, einerseits den nicht pädagogisch aufzufassenden Vollzug der Vermittlung von Religion d u r c h einen Kirchenbegriff zu e r f a s s e n , der an dem Ideal der freien Geselligkeit orientiert ist, andererseits muß die Religion, die von den Individuen im freien Umgang miteinander d a r gestellt wird, i h r e r S t r u k t u r nach dieser Darstellungsweise e n t s p r e c h e n : Die Religion wird in Gestalt von Religionsindividuen dargestellt, die d u r c h eine zur Zentralanschauung erhobenen einzelnen Anschauung des Unendlichen im Endlichen organisiert ist (R 260). Die Polemik des Redn e r s richtet sich n u r gegen Systeme, die von außen, von Metaphysik und Moral, an die Religion h e r a n g e b r a c h t werden (R 248ff). Was den Reden als implizite und beiläufige Stellungnahme zur Theologie als Wissenschaft zu entnehmen ist, hat in der Schelling-Rezension von 1804 bereits deutlichere Konturen. Schleiermacher k r i t i s i e r t , daß Schelling die Theologie zu den realen Wissenschaften zählt, und stellt statt dessen die Religion der Philosophie und Kunst zur Seite. Diese A b g r e n zung bedeutet zunächst n u r , daß Theologie keine Wissenschaft ist, die d u r c h Philosophie als höchste Wissenschaft konstituiert i s t . Ein Hinweis, wie Theologie dann ü b e r h a u p t als Wissenschaft möglich sei, ergibt sich a u s dem zweiten Punkt der Kritik an Schellings System. Schleiermacher kritisiert die Abhängigkeit der positiven Wissenschaften vom Staat als dem d u r c h Handeln objektiv gewordenen Wissen. Die positiven Wissenschaften sind nicht Theorien "einer f ü r ihn ( s c . den Staat) u n entbehrlichen, empirischen Praxis" ( B r . IV, 582). Aber diese Ents c h r ä n k u n g reicht noch nicht hin, um die Theorie einer unentbehrlichen Praxis als positive Wissenschaft zu konstituieren. Denn dazu ist die weitere Abgrenzung von der Ethik unumgänglich, die Schleiermacher als dritten Punkt der Kritik an Schelling mit der realen Wissenschaft der Geschichte identifiziert.
- 239 In seinen "Gelegentlichen Gedanken über die Universitäten in deutschem Sinn" (1808)211 h a t Schleiermacher die positiven Fakultäten auf das Bedürfnis zurückgeführt, "eine unentbehrliche Praxis durch Theorie, durch Tradition von Kenntnissen sicher zu fundieren" (PS II, 111). Diese Vorstellung von einer Theorie, die für eine Praxis, d . h . für menschliches Handeln ausgebildet wird, hat bereits Schleiermachers Versuch über das gesellige Betragen und seine Kritik der Sittenlehre bestimmt. Anders als die Theorie des geselligen Betragens wurden die bisherigen Theorien sittlichen Handelns ausdrücklich dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit unterworfen. Diese Konstitution bestimmter wissenschaftlicher Theorien bleibt unter den Bedingungen des unvollendeten Wissens bestehen, auch wenn die Ethik selbst als reale Wissenschaft aus der höchsten Wissenschaft deduziert werden kann. Die sichere Fundierung einer unentbehrlichen Praxis ist aber nur durch eine Theorie möglich, die dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügt und damit ihren Ort an der Universität haben kann. In diesem Sinne versteht Schleiermacher die theologische Fakultät als universitäre Instanz für diejenige wissenschaftliche Theorie, die in der Kirche als Theorie der kirchlichen Praxis entstanden ist: "Die theologische ( s c . Fakultät) hat sich in der Kirche gebildet, um die Weisheit der Väter zu erhalten, um, was schon früher geschehen war, Wahrheit und Irrtum zu sondern, nicht für die Zukunft verloren gehen lassen, um der weiteren Fortbildung der Lehre und der Kirche eine geschichtliche Basis, eine sichere, bestimmte Richtung und einen gemeinsamen Geist zu geben" (PS II, 111). Die Abgrenzung gegenüber der spekulativen Theologie ist deutlich. Nicht ein besonderes Wissen, sondern eine bestimmte Praxis konstituiert Theologie als eine Theorie, die den Bedingungen der Wissenschaft genügt. Aber was die bestimmte Praxis in ihrer Bestimmtheit bestimmt, ist damit noch nicht festgelegt. Das zeigt die Einführung des Begriffs der Theologie in der "Kurzen Darstellung"212, in der Schleiermacher die Positivität der Theologie zunächst durch die Beziehung auf "eine bestimmte Religion" (§1/1811) definiert. In der zweiten Auflage von 1830 faßt er diesen Ausdruck präziser als "Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d . h . eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins" (§ 1). Um allen spekulativen MißVerständnissen vorzubeugen, fügt Schleiermacher darüber hinaus eine Erläuterung des Begriffs der positiven Wissenschaft an: "Eine positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe e r forderlich sind" (§ l z ) .
- 240 Damit wiederholt Schleiermacher nur jene Abgrenzung, die er bereits in der Schelling-Rezension vollzogen hat, indem er die Theologie aus dem Zyklus realer Wissenschaften ausgeschlossen hat, bleibt aber eine Auskunft über das, was die unentbehrliche Praxis bestimmt, über die bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins, schuldig, an der gerade das spekulative MißVerständnis entstehen konnte. Nicht allein die kirchenleitende Praxis konstituiert die Theologie: als ihre Bedingung gilt ferner, daß die "bestimmte Glaubens weise . . . sich mehr durch Vorstellungen, als durch symbolische Handlungen mitteilt" (§ 2)213. Diese merkwürdig doppelseitige Bestimmung der Theologie als positive Wissenschaft, deren Abgrenzung nur gegenüber der spekulativen Theologie deutlich ist, deren positive Bestimmung zugleich in der Beziehung auf eine unentbehrliche Praxis als auch in der Beziehung auf eine bestimmte Ausprägung des Gottesbewußtseins besteht, soll mittels einer Rekonstruktion des Argumentationszusammenhanges der Reden auf dem Boden des veränderten Bildungsbegriffs erläutert w e r d e n ^ 1 4 Kann mit Schleiermacher von der Vorstellung ausgegangen werden, daß die positive Wissenschaft der Theologie eine solche Theorie einer unentbehrlichen Praxis ist, die den Kriterien der Wissenschaft zu genügen vermag, so weist schon diese Vorstellung ihrer Struktur nach eine Ähnlichkeit mit dem Konzept der Reden auf, insofern der Redner versucht, eine Darstellung von Religion und Christentum zu geben, die dem gebildeten Standpunkt entspricht. Die zweite Fassung der Reden zeigt, daß der Ausgangspunkt für Schleiermachers Eingriffe in die ursprüngliche Fassung der Reden in dem veränderten Bildungsverständnis zu sehen ist, das er in der Schelling-Rezension zum Ausdruck gebracht hat. Man wird Schleiermachers Interesse am System Schellings aber nicht davon ablösen können, daß er 1804 im Begriff stand, mit der theologischen Professur ein Amt zu übernehmen, in welchem er die Theologie als Wissenschaft an der Universität zu vertreten hatte - zumal dann nicht, wenn dies Interesse im Sinne des gebildeten Selbstverständnisses auf den Autor selbst zu beziehen ist^lS Die Kritik des Theologiebegriffs Schellings und die entsprechend abweichende Zuordnung von Religion, Philosophie und Kunst erhalten in der zweiten Auflage der Reden insofern eine deutlichere Gestalt, als sie auf die Darstellung des einzelnen Lebensaktes mit der Entgegensetzung von Wissen bzw. Handeln und dem religiösen Gefühl bezogen wird. Auf dem Boden dieser Anschauung des Lebens ergibt sich die Differenz zwischen der durch Religion im Gefühl repräsentierten Einheit von Subjekt und Objekt in jedem Moment des Lebens und jener absoluten Identität, die als Grund des Wissens gedacht wird. Indem das Verhältnis von Religion und Philosophie durch die Unterscheidung von Gefühl und Wissen im einzelnen Moment des Lebens bestimmt wird, ist es zugleich auf den gebildeten Standpunkt bezogen. Besteht nun die Bildung der Gebildeten darin, demjenigen, was jeder Mensch nicht nur ist, sondern auch in sei-
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nem Gefühl von sich empfindet, allgemeine Darstellung zu geben, so muti diese Darstellung auch auf das Leben des Gebildeten anwendbar sein. Was die Gebildeten über den gemeinen Standpunkt erhebt, muß anhand ihrer eigenen Lebensanschauung identifiziert werden können. Die Bildung der Gebildeten beruht nach der gebildeten Lebensanschauung auf der Funktion des Wissens und besteht in der systematischen Gestalt des Wissens. Die Bildung des Wissens hat mit dem in Schleiermachers Augen gelungenen Entwurf der Philosophie als höchster Wissenschaft und als Grund des Systems alles Wissens eine Stufe erreicht, die auch eine allgemeine, d . h . im Wissen begründete Darstellung der gebildeten Lebensanschauung zu geben erlaubt. Mit der Darstellung des momentanen Lebensaktes wird diejenige Voraussetzung der Philosophie expliziert, aus der sie als Produkt des Bildungsprozesses des Wissens als einer der Lebensfunktionen menschlicher Individuen hervorgegangen ist. Im Blick darauf ist immer noch jene programmatische Bemerkung zutreffend, die Schleiermacher über seine Monologen gemacht hat, es sei ihm darum gegangen, den philosophischen Standpunkt ins Leben zu ü b e r t r a g e n e s . Indem aber das gebildete Selbstverständnis in der Beschreibung des einzelnen Lebensaktes einer allgemeinen Darstellung fähig ist und die Bildung des Wissens eine solche Gestalt erlangt hat, die diese Darstellung als Explikation ihrer eigenen Verankerung im Leben erlaubt, muß nicht nur die Wesensbestimmung der Religion, sondern es müssen auch die weiteren Ausführungen der Reden dem gebildeten Standpunkt in seiner veränderten Gestalt entsprechen. Das bedeutet, die Darstellung von Religion und Christentum müssen in der zweiten Ausgabe der Reden dem Kriterium der Wissenschaft (allgemeine Darstellung) genügen, wenn sie noch dem gebildeten Selbstverständnis in seiner veränderten Gestalt entsprechen sollen Die veränderte Fassung des gebildeten Standpunkts zieht im Zusammenhang der Reden hauptsächlich drei Änderungen nach sich, ohne daß Schleiermacher - wie ihre späteren Auflagen dokumentieren - ihren Argumentationszusammenhang hat auflösen müssen. Zum einen muß die Zuordnung von Religion und Bildung entsprechend der gegenüber Schelling geltend gemachten Differenz von Religion und Philosophie bestimmt werden. Gegenüber der Philosophie als höchster Wissenschaft hat die Religion ihren Ort in dem aller Erkenntnis vorausliegenden, auch im Erkennen sich vollziehenden Leben der Individuen. Die dem philosophischen Standpunkt entsprechende Darstellung des Lebensvollzugs erfolgt im Schema des einzelnen Wahrnehmungsaktes und führt zur Bestimmung der Religion als Gefühl, sofern diese Darstellung den Anspruch erhebt, darzustellen, was jedes Individuum im Gefühl von seinem Leben empfindet. Denn dann muß im Gefühl eines jeden Momentes im Leben eines Individuums die den Lebensakt als Wahrnehmungsakt konstituierende Vereinigung von Subjekt und Objekt präsent sein. Die Abstraktheit des Bildungsbegriffs bleibt aber auch mit der Gegenüberstellung von Gefühl und Wissen durch die Unterscheidung von Allgemeinem und Individuel-
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lem erhalten. Die allgemeine Darstellung der gebildeten Lebensanschauung erfaßt nur, "was . . . jeder Act Eures Lebens ohne Unterschied von andern in sich selbst" ist (P 54). Sie sieht gerade ab von dem, was den einzelnen Moment in seiner Besonderheit bestimmt, und faßt ihn als Moment des individuellen Lebensprozesses, dessen Ziel doppelt, als Seinim-Ganzen und als Für-sich-Sein, bestimmt ist. Darauf, daß die Religion als Gefühl bestimmt und damit der Seite der individuellen Besonderheit zugeordnet und der aufs Ganze gerichteten Seite des Wissens und Handelns entgegengesetzt wird, beruht die Möglichkeit, daß trotz der veränderten Bestimmung der Religion ihre Darstellung in den Reden aufs Ganze gesehen nicht verändert zu werden braucht. Denn Schleiermacher kann die Religion nur dann ohne einschneidende Änderungen der Reden als Gefühl bestimmen, wenn dieser Begriff eine an die religiösen Individuen als Mittler gebundene Darstellungsform der Religion zuläßt. Die Äußerung von Gefühlen als Darstellung von Religion aber ist an die Individualität dessen gebunden, der sich selbst und sein Leben in der Abfolge der Lebensmomente im Gefühl empfindet. Wie in der ersten Fassung der Reden kann Religion auch jetzt auf dem gebildeten Standpunkt unter Absehen von dem, was die Religion im einzelnen Fall bestimmt, nach dem Schema der Individualitätsanschauung dargestellt werden. Zum anderen wird die dem gebildeten Standpunkt entsprechende Darstellungsform von Religion und Christentum, d . h . die Darstellungsform der Reden als Ausdrucksweise eines Gebildeten, der die seinem gebildeten Selbstverständnis als Individuum entsprechende Darstellung der Konstitution zum Gebildeten durch Religion und Christentum in freiem geselligen Umgang mit den gebildeten Verächtern gibt, vom veränderten Bildungsverständnis betroffen. Das hat, sieht man von der Einbeziehung der Adressaten der Reden in den Aufweis der Religion im Lebensakt ab 2 * 8 , keine sichtbaren Konsequenzen f ü r die Gestalt der Reden selbst. Nur hat sich der Sinn dieser Darstellungsform verändert und die Darstellung von Religion und Christentum einen dem Verständnis der Bildung als Wissen entsprechenden Darstellungsmodus erhalten. Was 1799 als individuelle Selbstdarstellung stilisiert werden konnte, findet 1806 seinen Ausdruck im Medium des Allgemeinen. Die Darstellung von Religion und Christentum muß jetzt den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erfüllen. Das ist f ü r die Religion durch ihre Wesensbestimmung als Gefühl im Zusammenhang der Lebensanschauung erreicht. Das muß aber auch f ü r die Darstellung des Christentums gelten. Deshalb hat Schleiermacher schließlich zum dritten dem veränderten Bildungsverständnis dadurch Rechnung getragen, daß die Darstellung des Christentums mit der modifizierten Wesensbestimmung der Religion ausgeglichen wird, so daß eine den wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung des Christentums möglich wird. Denn wird jede Erscheinung von Religion überhaupt als Äußerung eines religiösen Gefühls erfaßt, so ist davon der Begriff der positiven Religion berührt,
- 243 unter dem das Christentum in der fünften Rede dargestellt worden ist. Durch den Begriff der positiven Religion ist das Christentum als ein Religionsindividuum gefaßt, das durch eine aus freier Willkür zur Zentralanschauung erhobenen einzelnen religiösen Anschauung bestimmt ist (R 259f). Die Vorstellung, daß auf eine bestimmte Anschauung des Universums alle anderen religiösen Anschauungen bezogen werden, erlaubt die gegenüber dem Begriff der Kirche als dem Ort der Vermittlung selbständige Darstellung des Christentums in seinem eigentümlichen Wesen. Durch die Wesensbestimmung der Religion als Gefühl ist auch diese Erfassung der positiven Religion ausgeschlossen. Schleiermacher muß das, was die Positivität der einzelnen Religionen ausmacht, in einer dem das Für-sich-Sein des Individuums repräsentierenden Begriff des Gefühls entsprechenden Weise darstellen. Das bedeutet, er muß dem Rechnung tragen, daß alle Religionen auf Gefühlsäußerungen von Individuen beruhen, und kann nicht länger auf überindividuelle Anschauungen des Universums rekurrieren. Die Positivität der Religionen, die eine Bestimmtheit bedeutet, die immer mehr als ein einzelnes Individuum umfaßt, läßt sich dann nur über die Vorstellung der religiösen Gemeinschaft gewinnen, an der die einzelnen religiösen Individuen teilhaben. Schleiermacher greift eine Vorstellung auf, die er bereits in seiner Theorie des geselligen Betragens von 1799 entwickelt hat: Jede Gemeinschaft, an der das einzelne Individuum teilhat, ist durch die begrenzte Anzahl der Teilnehmer immer schon beschränkt und der Gebildete soll sich in seinem Betragen an diese Schranken halten^l^ An die Stelle der Zentralanschauung der positiven Religion tritt die gemeinsame "Empfindungsweise" (P 278) einer begrenzten Gemeinschaft religiöser Individuen. Deutlich läßt sich diese Veränderung an dem Begriff des Religionsindividuums zeigen: Statt der klaren Aussage: "Daß ichs kurz sage, ein Individuum der Religion . . . kann nicht anders zustande gebracht werden als dadurch, daß irgend eine einzelne Anschauung des Universums aus freier Willkür zum Zentralpunkt der ganzen Religion gemacht und alles darin auf sie bezogen wird" (R 259f), hat Schleiermacher 1806 viel weniger klar formuliert: "Demnach bleibt, daß ichs kurz sage, kein andrer Weg übrig, wie ein Individuum der Religion kann zu Stande gebracht worden sein, als dadurch, daß irgend eines von den großen Verhältnissen der Menschheit im Universum auf eine Art, welche wenn man nur auf die Idee der Religion sieht als reine Willkür erscheint; sieht man aber auf die Eigentümlichkeit der Bekenner, vielmehr die reinste Notwendigkeit in sich trägt und der natürliche Ausdruck ihres Wesens selbst ist, daß auf eine solche Art zum Mittelpunkt der gesamten Religion gemacht, und alle übrigen auf dieses bezogen werden" (P 256). Was immer unter den "großen Verhältnissen der Menschheit im Universum" zu verstehen sein mag, entscheidend ist, daß Schleiermacher die Willkürlichkeit der Zentralanschauung jetzt durch die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der Bekenner bestimmt. Gegenüber der allgemeinen Idee
- 244 der Religion ist die Berufung auf die Eigentümlichkeit der Bekenner als unableitbar und willkürlich anzusehen, zugleich aber bedeutet diese gemeinschaftliche Eigentümlichkeit für jeden einzelnen von ihnen den "natürlichen Ausdruck" seines gemeinschaftlichen Wesens. Diese Bestimmung des Begriffs des Religionsindividuums verändert auch den Zusammenhang zwischen den beiden letzten Reden, und zwar in zweifacher Weise: Zum einen tritt an die Stelle einer bestimmten Anschauung, die als Zentralanschauung eine bestimmte Religion konstituiert, die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit von Individuen, die nicht einfach als den Individuen vorgegebene gedacht werden kann, sondern die den an der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit teilhabenden Individuen bewußt sein, und zwar so bewußt sein muß, daß sie für die verschiedenen Individualitäten der teilhabenden Individuen offen ist. Nun ist aber nicht nur die positive Gestalt einer Religion über die Gemeinschaft ihrer Bekenner bestimmbar, sondern zum anderen ist auch die gemeinschaftliche Gestalt der Religion als eine bestimmte Eigentümlichkeit bestimmt. Der Gegensatz zwischen der Einheit der Kirche und der Vielzahl der Religionen (R 241) wird entsprechend komplexer gefaßt, indem berücksichtigt wird, daß "die Gemeinschaft ihrer Natur nach begrenzt ist" (P 242). Dem kann im einzelnen hier nicht nachgegangen w e r d e n 2 2 0 . Die veränderte Bestimmung des Wesens des Christentums auf dem gebildeten Standpunkt führt zur Konstitution der Theologie als Theorie einer unentbehrlichen Praxis und als positive Wissenschaft. Hat in der Entfaltung der Religionstheorie auf dem gebildeten Standpunkt der Kirchenbegriff in der vierten Rede die Funktion, eine Beschreibung derjenigen Gemeinschaft zu geben, innerhalb der des Redners Genese zum Gebildeten erfolgt ist, so wird mit dem modifizierten Begriff des Religionsindividuums die Eigentümlichkeit der christlichen Gemeinschaft als zusätzliche Bedingung eingeführt. Zwar vollzieht sich die Vermittlung der Religion durch die Selbstdarstellung der religiösen Individuen, wenn diese als Meister einem anderen als Schüler zum Mittler werden. Aber diese Vermittlung vollzieht sich immer nur innerhalb einer bestimmten religiösen Gemeinschaft, die durch eine bestimmte Eigentümlichkeit ausgezeichnet ist. Wenn also die Genese zum Gebildeten nicht nur innerhalb der vermittelnden Anstalt der sichtbaren Kirche und durch die christliche Zentralanschauung organisierte Darstellung der Religion erfolgt ist, sondern innerhalb der christlichen Kirche, so ist für die Darstellung des Christentums auf dem gebildeten Standpunkt eine solche Beschreibung notwendig, die sich an der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit der christlichen Gemeinschaft orientiert. Denn von dieser muß der Redner zeigen können, daß sie so beschaffen ist, daß sie den gebildeten Standpunkt möglich macht. Hängt also nach der veränderten Fassung der Reden die Konstitution zum Gebildeten mit der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit der Christen zusammen, so ist für die gelungene Konstitution vorausgesetzt, daß innerhalb der christlichen Kirche die gemeinschaftliche Eigentümlich-
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keit der Christen erkannt ist und der Vermittlungsprozeß zwischen den religiösen Individuen sich so vollzieht, daß diese gemeinschaftliche Eigentümlichkeit dabei vermittelt wird. Es ergibt sich demnach innerhalb der christlichen Kirche als einer dem Umfang nach beschränkten Gestalt religiöser Geselligkeit die Aufgabe, die Beschränktheit dieser Gemeinschaft in ihrer Eigentümlichkeit zu erfassen und als das bestimmende Prinzip dieser Gemeinschaft im religiösen Vermittlungsprozeß zur Geltung zu bringen. Sofern der religiöse Vermittlungsprozeß überhaupt und der den gebildeten Standpunkt ermöglichende in der christlichen Kirche nur unter der Bedingung erfolgen kann, daß zugleich mit den religiösen Äußerungen und durch sie die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit vermittelt wird, ist f ü r die Konstitution des Gebildeten vorausgesetzt, daß innerhalb der christlichen Kirche die besondere Aufgabe einer christlichen Erziehung erfüllt wird, d . h . die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die die christliche Kirche in ihrem Wesen bestimmende Eigentümlichkeit allen Gliedern der christlichen Kirche vermittelt wird. - Schleiermacher hat die Vorstellung einer Tätigkeit, durch die die Vermittlung innerhalb überindividueller Prozesse von einzelnen Individuen an einzelne Individuen sich vollzieht, in seiner pädagogischen Theorie entwickelt221. Aber im Unterschied zu der allgemeinen Vorstellung von der Einwirkung der älteren auf die jüngere Generation 222 ¡ s t ^ie unentbehrliche Praxis der christlichen Kirche von demjenigen Prozeß unterschieden, in welchem sich die Vermittlung von Religion über die Äußerung religiöser Gefühle in freiem geselligem Umgang vollzieht. Zwar muß die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der christlichen Kirche so beschaffen sein, daß sie der Möglichkeit einer freien religiösen Geselligkeit nicht widerspricht, aber als gemeinschaftliche Eigentümlichkeit ist sie von der des einzelnen religiösen Individuums unterschieden, so daß ihre Bewahrung durch eine besondere Tätigkeit erfolgt, die Schleiermacher nicht unzutreffend als 'Kirchenleitung' (KD § 3), und im Blick auf die Disziplin der praktischen Theologie näher als 'Seelenleitung' (KD § 263) beschrieben hat. Indem Schleiermacher aber dieser Tätigkeit der Kirchenleitung eine Theorie zuordnet und diese als Theologie bestimmt, ergibt sich eine Zweideutigkeit im Theoriebegriff. Denn als Theorie einer bestimmten Praxis legt sich in Analogie zur pädagogischen Theorie, die es mit der vermittelnden Tätigkeit zwischen den Generationen zu tun hat, ein bloß 'technisches Vers t ä n d n i s ' 2 2 3 d e r Theologie nahe. Dabei ist aber übersehen, daß anders als die pädagogische Einwirkung die Tätigkeit der Kirchenleitung nicht in ihrer Beziehung auf den in der spekulativen Ethik und der empirischen Geschichtskunde erfaßten Gegenstand wahrgenommen w i r d 224 Vielmehr ist es gerade die Aufgabe der theologischen Theorie, das Wesen der christlichen Kirche als gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der Christen zu erfassen, nicht aber, es als durch eine andere Wissenschaft e r faßt zu ü b e r n e h m e n _ Theologie ist nicht einfach die Theorie einer vorgegebenen Praxis, sondern ist mit dieser Praxis gleichursprünglich, weil es ohne die Erfassung der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit der Christen eine Kirchenleitung nicht geben kann.
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Schleiermacher hat bei der Einführung des Begriffs der Theologie als positive Wissenschaft in seiner theologischen Enzyklopädie dieser Seite des Begriffs der Theologie durchaus Gewicht beigemessen. Denn gerade im Unterschied zu der angefügten Definition der positiven Wissenschaft (KD § lz) hat er die Theologie durch die Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise bestimmt (KD § 1), die unter zwei Bedingungen eine eigene Theologie ausbildet: Zum einen muß sie sich "mehr durch Vorstellungen als durch symbolische Handlungen" (KD § 2) mitteilen. Zum anderen muß die bestimmte Glaubensweise "geschichtliche Bedeutung und Selbständigkeit" ( e b d . ) gewonnen haben. Schleiermacher bezeichnet damit den Übergang von einer fließenden zu einer begrenzten Gemeinschaft, der darauf beruht, daß die Glieder der Gemeinschaft sich ihrer gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit bewußt geworden sind und ihren Umgang miteinander so gestalten, daß in ihm die Eigentümlichkeit der Gemeinschaft nach innen und nach außen zum Ausdruck kommt. Sofern das Interesse, das sich auf die Eigentümlichkeit der Gemeinschaft richtet, von dem Eigeninteresse der einzelnen Glieder zu unterscheiden ist, ergibt sich innerhalb dieser Gemeinschaft ein Gegensatz zwischen denjenigen, die als einfache Glieder der Gemeinschaft deren Eigentümlichkeit nur implizit in ihren Äußerungen darstellen und solchen, die die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit ausdrücklich machen unter Zurückstellung oder unter Absehen von ihrer individuellen Eigentümlichkeit. Schleiermacher hat diesen Übergang in seiner Ethik von 1812 beschrieben: "Der Hordenzustand der Religion, gewöhnlich der patriarchalische genannt, geht in den organisierten Zustand, den der Kirche, auch nur über durch Erwachung eines Gegensatzes, nemlich des zwischen Kler u s und Laien, die sich verhalten theils wie Gelehrte und Publikum, theils wie Obrigkeit und U n t e r t h a n e n . " 2 2 6 Beide Bedingungen hängen so zusammen, daß nur dort, wo in der religiösen Kommunikation die im Medium der Sprache vermittelten Vorstellungen dominieren, ein Übergang in den organisierten Zustand der abgegrenzten und abgrenzbaren Kirche möglich ist, in welchem Theologie und Kirchenleitung notwendig sind. Dieser Zusammenhang macht deutlich, daß der Begriff der Theologie an die veränderte Wesensbestimmung der Religion als Gefühl anknüpft, indem die durch Vorstellungen und symbolische Handlungen erfolgenden Äußerungen religiöser Gefühle den Gegenstand der theologischen Theorie bilden. Aber aus der Wesensbestimmung der Religion als Gefühl ist andererseits das Überwiegen der religiösen Vorstellungen als konstitutive Bedingung f ü r Theologie und Kirchenleitung nicht abzuleiten. Natürlich läßt sich diese Bedingung aus dem Interesse an der Begründung von Theologie als Wissenschaft verstehen. Aber darüber hinaus ist gerade auf dem Hintergrund der zweiten Fassung der Reden in dem Vorrang der Vorstellungen insofern eine Folge der veränderten Wesensbe-
- 247 Stimmung der Religion als Gefühl zu sehen, als dadurch die Funktion der Zentralanschauung in dem Begriff der positiven Religion ersetzt wird. Zum Begriff der Theologie als positiver Wissenschaft kommt es aufgrund des Zusammenhanges, der zwischen der Erfassung der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit und der Praxis der Kirchenleitung besteht. Zwar ist die Erfassung der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit notwendige Voraussetzung für die Kirchenleitung, aber diese Erfassung erfolgt zugleich auch nur um der Kirchenleitung willen. Da Theologie aber de facto immer in dem Zustand einer religiösen Gemeinschaft getrieben wird, in dem bereits die Praxis der Kirchenleitung vollzogen wird, kann sie die Funktion der Theorie dieser Praxis erfüllen. Daher bestimmt Schleiermacher die positive Wissenschaft der Theologie als Theorie einer unentbehrlichen Praxis: "Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d.h. eine christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist" (KD § 5). Trifft es zu, daß der Kirchenbegriff, durch den Schleier m acher Theologie als Theorie der Praxis der Kirchenleitung begründet, wenn er dort Religion ihrem Wesen nach als Gefühl bestimmt, so läßt sich der Zusammenhang zwischen Theologie und dem gebildeten Standpunkt folgendermaßen beschreiben. Soll in den Reden die Darstellung von Religion und Christentum dem gebildeten Standpunkt entsprechen, weil durch sie die Genese zum Gebildeten erfolgt ist, dann wird man von der zweiten Fassung der Reden sagen müssen, daß die dem gebildeten, d.h. wissenschaftlichen Standpunkt gemäße Darstellung des Christentums diejenige ist, die durch die positive Wissenschaft der Theologie geschieht. Darin ist aber zugleich enthalten, daß derjenige, der als Mensch von den Mysterien der Menschheit reden will, seinen Standort innerhalb der christlichen Kirche als Theologe eingenommen hat 2 27, Denn wie der Auf weis der Religion vor den Gebildeten mittels des Hinweises auf den Vollzug ihres eigenen Bewußtseins erfolgt, durch die die Genese zum Gebildeten sich vollzogen hat, nicht mehr durch eine unmittelbare Darstellung ihrer Zentralanschauung und dessen, der sie zuerst gehabt hat, möglich. Vielmehr kann das Wesen des Christentums nur in der Weise zur Darstellung gebracht werden, wie es durch die Theologie innerhalb der christlichen Kirche erfaßt wird. Dabei entspricht die Wahrnehmung der theologischen Aufgabe durchaus dem, was den Gebildeten auszeichnet. Besteht die Bildung der Gebildeten darin, dem, was jedes Individuum im Gefühl seines Lebens empfindet, allgemeine Darstellung zu geben, so wird in der Theologie die Aufgabe wahrgenommen, das, was die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der Christen ausmacht, zu erfassen und im Prozeß der religiösen Kommunikation innerhalb der christlichen Kirche zu erhalten. Als Theologe nimmt der gebildete Redner die Funktion der Kirchenleitung wahr, d.h. aber gegenüber den christlichen Laien eine Funktion, die dem gebildeten Selbstverständnis gemäß ist. "Denn der christliche Glaube an
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und f ü r sich bedarf eines solchen (sc. theologischen) Apparates nicht, weder zu seiner Wirksamkeit in der einzelnen Seele, noch auch in den Verhältnissen des geselligen Familienlebens" (KD § 5z). Gegenüber den Gebildeten aber kann der Redner seine Absicht nur so ausführen, daß er zugleich die Aufgabe des Theologen wahrnimmt. Er kann diese Aufgabe auch nur als Gebildeter, d . h . dem gebildeten Standpunkt gemäß ausf ü h r e n . Für ihn ist die als Theorie der unentbehrlichen Praxis der Kirchenleitung bestimmte Theologie nur so möglich, daß sie dem Kriterium der Wissenschaft zu genügen vermag. Schließlich ist eine weitere Beziehung zwischen Christentum und Bildung zu berücksichtigen. Was von der christlichen Zentralanschauung gefordert war, daß sie dem gebildeten Selbstverständnis entsprechen muß, wenn der Redner innerhalb des Christentums zum Gebildeten geworden sein soll, muß auch f ü r das Wesen des Christentums gelten. Die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der Christen muß so beschaffen sein, daß sie die Genese zum Gebildeten zu erklären vermag. Auf dem Boden des modifizierten Bildungsverständnisses der zweiten Fassung der Reden bedeutet das, daß das Wesen des Christentums der gebildeten Lebensanschauung entsprechen und einer wissenschaftlichen Darstellung fähig sein muß. Wird der Gebildete zum Theologen, dann kann er die Theorie der kirchenleitenden Praxis nicht anders als sicher fundieren, d . h . als Wissenschaft treiben, weil das Christentum seinem Wesen nach nur in einer der Wissenschaft gemäßen Theorie seine Darstellung finden kann. Erkennt man die Bedeutung, die das Wesen des Christentums in den Reden f ü r das gebildete Selbstverständnis hat, so wird man Schleiermachers Begriff der Theologie als positiver Wissenschaft als einen Lösungsversuch auf dem Boden der modifizierten Religionstheorie und des neuen Verständnisses der Bildung der Gebildeten ansehen können, der durchaus nicht unproblematisch ist. Von der zweiten Fassung der Reden her ergibt sich f ü r Schleiermacher ein Dilemma: Auf der einen Seite verlangt das neue Bildungsverständnis eine wissenschaftliche Darstellung des Christentums, auf der anderen Seite macht gerade die diesem Bildungsverständnis angemessene Wesensbestimmung der Religion eine direkte Erfassung der christlichen Zentralanschauung unmöglich. Schleiermacher entwickelt eine im Kontext seiner Wesensbestimmung der Religion konsequente Lösung, indem das Wesen des Christentums über den Begriff der Kirche als beschränkter religiöser Gemeinschaft gewonnen wird. Aber das hat zur Folge, daß die wissenschaftliche Darstellung des Wesens des Christentums nur als Theorie der kirchenleitenden Praxis möglich ist. Im Begriff der Theologie als positiver Wissenschaft ist die Beziehung auf das Wesen des Christentums abgeblendet und kann nur indirekt erschlossen werden, wenn man z.B. fragt, welche Bedingung muß erfüllt sein, damit Theologie als positive Wissenschaft möglich ist. Denn dann wird deutlich, daß das Gewicht nicht auf der vorgegebenen kirchenleitenden Praxis liegt, sondern alles von der Erfassung des die
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christliche Kirche bestimmenden Prinzips, des Wesens des Christentums, abhängt. Dies Prinzip muß so beschaffen sein, daß der Vollzug von Religion im Gefühlsleben der Individuen möglich ist. Es ist hier nicht der Ort, auf die sich daraus ergebenden Konsequenzen im Blick auf die Christologie und den Begriff der Erlösung im Zusammenhang der fünften Rede e i n z u g e h e n 2 2 8 . Da Schleiermacher den Begriff der Theologie mittels des Begriffs der christlichen Kirche konstituiert, ergibt sich die Differenz zwischen dem Kommunikationsprozeß religiöser Gefühle und der Erfassung und Bestimmung seiner Eigentümlichkeit, so daß gerade nicht der Zusammenhang zwischen der gemeinschaftlichen und der besonderen Eigentümlichkeit des einzelnen Christen die Theologie ihrem Begriff nach konstituiert. Darin entspricht der Theologiebegriff Schleiermachers durchaus der Struktur seines Bildungsbegriffs, der zufolge Bildung immer eine Beziehung auf etwas enthält, von dem im Zustand der Bildung gerade abstrahiert worden ist. Der Versuch, Schleiermachers Begriff der Theologie als positiver Wissenschaft auf dem Hintergrund der Reden zu interpretieren, erfolgte in der Absicht zu zeigen, daß die Reden keineswegs in einem so gewaltigen Gegensatz gegenüber der später von Schleiermacher vertretenen Theologie zu sehen sind, wie das im Anschluß an Strauß, Baur und Dilthey häufig geschieht229. vielmehr läßt sich deutlich machen, daß unter dem Eindruck des Fortschritts der wissenschaftlichen Bildung Schleiermacher an den Reden so weitreichende Eingriffe vorgenommen hat, ohne allerdings den Gesamt Zusammenhang der Reden aufzuheben, daß in ihnen der modifizierte Religionsbegriff eine Änderung der Darstellung der Kirche als vermittelnder Anstalt und des Christentums als positiver Religion nach sich zieht. Im Kontext der Reden wird durch die Beziehung auf das Verständnis der Bildung verständlich, daß Schleiermachers Theologie als positive Wissenschaft durch die Beziehung auf die Praxis der Kirchenleitung definiert ist. Zugleich ist aber auch deutlich, daß in diesem Begriff der Theologie eine Entsprechung zwischen dem Wesen des Christentums, dem Begriff der Religion und dem gebildeten Standpunkt der Wissenschaft vorausgesetzt ist, die in der Definition des Theologiebegriffs nicht zum Ausdruck kommt, sondern die erst in seiner enzyklopädischen Entfaltung als theologisches System sichtbar wird. Es wird weiter zu zeigen sein, daß der Argumentationsgang der Reden innerhalb des theologischen Systems erneut zur Darstellung gebracht worden ist. 2. Das System der theologischen Disziplinen Wenn man von dem Zusammenhang ausgehen kann, wie er anhand der Reden von 1806 rekonstruiert worden ist, daß für den Gebildeten nur eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Darstellung des Christentums möglich ist, und daß diese Darstellung nur so erfolgen kann, daß der Redner zum Theologen wird, so stellt sich im Blick auf den Begriff der
- 250 Theologie die Frage, wie die wissenschaftliche Gestalt der Theorie der kirchenleitenden Praxis begründet ist. Eine Antwort wird im folgenden in der Weise versucht werden, daß von einer Beobachtung ausgegangen wird, die an den Beginn von Schleiermachers Lehrtätigkeit in Halle und damit zeitlich in die Nähe zur Schelling-Rezension zurückführt. An diese Beobachtung wird sich eine Vermutung anschließen, die ein Licht auf den Praxisbezug von Schleiermachers Theologie wirft. Führt man sich vor Augen, daß Schleiermachers Schelling-Rezension einer Schrift gewidmet ist, die ihrem Titel nach weniger die ausgeführte Darstellung eines Systems sein wollte, als vielmehr die "Methode des akademischen S t u d i u m s " 2 3 0 z u ihrem Gegenstand hat, und berücksichtigt man Schleiermachers Kritik am Theologiebegriff Schellings, so ist in der Ankündigung von Schleiermachers ersten theologischen Vorlesungen ein gewisser Zusammenhang mit Schellings Schrift nicht zu verkennen. Für sèin erstes Semester an der Universität Halle hat Schleiermacher zum einen eine theologische Einführungsvorlesung als "Encyklopädie und Methodologie" angekündigt, die er zu einer ständigen Veranstaltung machen wollte, damit ''die theologischen Ankömmlinge jedesmal eine solche Einleitung hören können"231. Aus dieser Vorlesung ist die 1811 zuerst veröffentlichte theologische Enzyklopädie hervorgegangen, deren Titel noch diesen Kontext zu erkennen gibt: "Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender V o r l e s u n g e n " 2 3 2. Die Ankündigung der einleitenden Vorlesung enthält gerade jene Stichworte, die Schleiermacher in seiner Rezension als das "Wesentliche" der Schellingschen Schrift hervorgehoben hat, nämlich die "Methode des akademischen Studiums" und das "System aller Erkenntnisse und ihres Zusammenhanges"233 Daher liegt die Vermutung nahe, daß Schleiermacher aufgrund der Kritik am Theologiebegriff Schellings eine entsprechende Vorlesung für das theologische Studium hat entwerfen können. Denn zweifellos traf auf die theologische Fakultät zu, was Schelling im Blick auf die ganze Universität zur Begründung seiner Vorlesungen festgestellt hat: "Es ist also notwendig, daß auf Universitäten öffentlicher allgemeiner Unterricht über den Zweck, die Art, das Ganze und die besonderen Gegenstände des akademischen Studiums ertheilt werde . . . Der besonderen Bildung zu einem einzelnen Fach muß also die Erkenntnis des organischen Ganzen der Wissenschaften v o r a n g e h e n "23 4 #
Läßt sich die als Einführung ins theologische Studium konzipierte Enzyklopädie als Übertragung der Vorstellung eines Systems alles Wissens auf die Theologie verstehen, so wird damit zugleich die Ankündigung der zweiten Vorlesung Schleiermachers erläutert. Nach Schleiermachers Ansicht ist es die Aufgabe der Philosophie, ein System der Erkenntnisse aufzustellen "und die Art, wie sie dabei sich selbst wenigstens genügt, und nach ihren eigenen Grundsätzen etwas mit ihnen und mit sich selbst übereinstimmendes zustande bringt, ist gleichsam die äußere Probe ihrer inneren Wahrheit und Haltbarkeit" ( B r . I V , 581). Bei der Übertragung
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auf die Theologie muß diese Funktion der Philosophie durch eine entsprechende Disziplin wahrgenommen werden, die sich durchaus als "Haupt- und Fundamentallehre des theologischen Systems" bezeichnen läßt. Dabei kann Schleiermacher an jene zeitgenössischen Bemühungen anknüpfen, die die Lehre von der Schrift als dem Erkenntnisprinzip der Theologie zu sichern suchen^ö. Daß er aber noch während des Semesters zu der Überzeugung gekommen ist, daß eine Grundlegung des theologischen Systems in dieser Gestalt nicht möglich ist, hängt wohl damit zusammen, daß aufgrund der die Anwendung der Systemvorstellung auf die Theologie ermöglichenden Differenz von Religion und Wissen gerade die Erfassung des Fundaments der Theologie durch eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin problematisch ist. Denn es besteht die Gefahr, daß die für das theologische System konstitutive Differenz zu dem durch die Philosophie begründeten System aller Erkenntnisse durch eine theologische Fundamentallehre nicht hinreichend deutlich gemacht werden kann. Jedenfalls läßt sich als Ergebnis dieses Versuchs nur der Zerfall der Fundamentaldis zip lin feststellen, wenn Schleiermacher resümiert, daß diese Vorlesving "doch die Keime théils eines größeren kritischen Collegiums über die Dogmatik, theils manches exegetische" enthalten h a b e 2 3 6 . Mit dem Scheitern einer Fundamentallehre als grundlegender Disziplin eines Systems der theologischen Disziplinen entsteht die Notwendigkeit, die Einheit des Systems in anderer Weise zu fassen, wenn eine theologische Enzyklopädie möglich sein soll. Schleiermacher greift dabei ein Argument auf, das er gegen Schelling geltend gemacht hat. Wie der absolute Zentralpunkt keine Darstellung durch eine besondere reale Wissenschaft (Theologie) findet, sondern das Absolute so zur Darstellung kommt, daß die beiden entgegengesetzten realen Wissenschaften auf die Philosophie bezogen sind, kann entsprechend auch die Einheit der theologischen Disziplinen durch die Beziehung auf einen Repräsentanten ihrer Einheit zum Ausdruck gebracht werden. Von der zweiten Ausgabe der Reden her kann dieser Repräsentant als der kirchenleitende Theologe identifiziert werden. Zwar ist Theologie als Theorie der Praxis der Kirchenleitung definiert, aber diese Praxis wird immer nur von einzelnen 'gebildeten' religiösen Individuen ausgeübt. Soll durch die Beziehung auf ein bestimmtes Handeln dem spekulativen Mißverständnis dèr Theologie vorgebeugt werden, so garantiert gerade die Bestimmtheit der Praxis die Selbständigkeit der Theologie gegenüber der Ethik. Die Einheit, auf die das System der theologischen Disziplinen zu beziehen ist, muß beide Aspekte des Theologiebe-· griffs gleichermaßen enthalten. In der "Kurzen Darstellung" hat Schleiermacher diesen Einheitspunkt der theologischen Disziplinen durch die Idee des Kirchenfürsten bezeichnet (KD §§ 7-13). Die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse in der Theologie haben ihre Einheit nicht in einem Prinzip, sondern in dem "Willen, bei der Leitung der Kirche wirksam zu sein" (KD § 7). Dadurch ist Theologie als positive Wissenschaft ausgewiesen. Denn das, was Gegenstand der theolo-
- 252 gischen Disziplinen ist, ist durch den Willen zur Kirchenleitung mit der bestimmten Praxis vermittelt, als deren Theorie Theologie bezeichnet wird. Aber indem Theologie ihre Einheit nicht in der kirchenleitenden Praxis, sondern in dem Willen zu ihr hat, ist bereits eine Bestimmung des Willens vorausgesetzt, die Schleiermacher als "inneren Beruf" bezeichnet (KD § 13). Er hat konsequent die nähere Bestimmung des Willens zur Kirchenleitung als "Interesse am Christentum" beschrieben. Daß das Interesse am Christentum sich in der kirchenleitenden Tätigkeit äußert, entspricht dem Verhältnis, das zwischen der Erfassung der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit der Christen und der Praxis der Kirchenleitung besteht. Der durch das Interesse am Christentum bestimmte Wille kann eine leitende Tätigkeit in der christlichen Kirche nur ausüben, wenn er die nötigen Kenntnisse über die christliche Kirche und die kirchenleitende Tätigkeit besitzt. Die Idee des Kirchenfürsten ( § 9 ) vereinigt in sich in vollkommener Weise "religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist", und zwar als "Gleichgewicht von Theorie und Praxis". Diese Formulierung macht noch einmal den Zusammenhang deutlich, der zwischen dem, worauf das religiöse Interesse gerichtet ist, nämlich dem Wesen des Christentums, und dessen Erfassung durch einen wissenschaftlichen Geist besteht. Beides richtet sich auf etwas, was von dem Leben der Religion in den einzelnen Gliedern der christlichen Kirche und ihrem Umgang verschieden ist. Das religiöse Interesse fällt gerade nicht mit der gelebten Religion zusammen, sondern richtet sich auf die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der Christen und deren der Wissenschaft gemäße Darstellung. Das zeichnet gerade den Theologen aus. Was in der Idee auf vollkommene Weise vereinigt ist, tritt nur so in Erscheinung, daß zwischen den Momenten ein Verhältnis der Unvollkommenheit, d . h . ein Verhältnis, in dem zwar alle Momente enthalten sind, aber ein Moment über das andere dominiert (KD § 10). Der Theologe ist im Unterschied zum Kleriker als derjenige definiert, bei dem die Theorie über die Praxis der Kirchenleitung dominiert, wenn auch in ihm ein Bewußtsein der Einheit von Theorie und Praxis vorhanden sein muß237. Die auf den ersten Blick ein wenig überraschende Konstruktion, daß die Einheit der Theologie durch denjenigen repräsentiert wird, dessen Interesse am Christentum sich im Willen zur Kirchenleitung äußert, daß - anders ausgedrückt - das Christentum seinem Wesen nach durch die kirchenleitenden Theologen verkörpert wird, obwohl es in der christlichen Kirche gerade um die Realisierung des freien geselligen Umgangs der frommen Individuen miteinander durch die freie Äußerung ihrer r e ligiösen Gefühle geht, läßt sich wiederum auf dem Hintergrund der zweiten Fassung der Reden verständlich machen. In ihr erhält die Darstellung des Christentums auf dem gebildeten Standpunkt eine andere Gestalt. Die christliche Zentralanschauung wird nicht auf ihren Träger zurückgeführt, sondern das eigentümliche Wesen des Christentums ist auf die Kirche als der Gemeinschaft der Christen bezogen. Dabei erhält diejenige Abstraktion, die das Bildungsverständnis von 1806 kennzeichnet,
- 253 eine Entsprechung in diesem Kirchenbegriff. Wie das Verhältnis von Religion und Philosophie durch das Verhältnis von Leben und Bildung, das seinen Ausdruck in der Unterscheidung von religiösem Gefühl und Wissen bzw. Handeln gefunden hat, interpretiert worden ist, so wird das Verhältnis von Religion und Theologie entsprechend bestimmt. Während sich in der Kirche der religiöse Kommunikationsprozeß frommer Individuen vollzieht, hat es die Theologie nur mit ihrer Gemeinsamkeit, mit der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit zu tun. Gerade die Abstraktion von der individuellen Eigentümlichkeit gewährleistet die freie Kommunikation der religiösen Individuen. Indem von der Eigentümlichkeit individueller Religion abgesehen wird, entsteht f ü r die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit eine bestimmte Vorstellung, in der der Begriff des Religionsindividuums, das durch eine Zentralanschauung konstituiert ist, aufgehoben ist. Die Differenz dieser Vorstellung liegt darin, daß die Individualitätsanschauung auf die christliche Kirche angewendet wird. Die Kirche als die Religion vermittelnde Anstalt wird 1806 bestimmter gefaßt, indem sie denjenigen Zustand einer religiösen Gemeinschaft bezeichnet, der eingetreten ist, wenn die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit als solche erkannt und damit nicht nur die besondere Aufgabe der Darstellung dieser Eigentümlichkeit gestellt, sondern zugleich auch diese Gemeinschaft ihrer "geschichtlichen Bedeutung und Selbständigkeit" bewußt geworden ist (KD § 2). Die christliche Kirche wird "als ein besonderes geschichtliches Ganzes" vorgestellt (KD § 79), das sich "fortschreitend entwickelt" und sich über "Sprach- und Βildungsgebiete" (KD § 4) verbreitet. Sofern die christliche Kirche als ein geschichtliches Individuum vorgestellt wird, ist eine Instanz vorausgesetzt, in der sie sich als Religion vermittelnde Anstalt verkörpert. Der Theologe nimmt innerhalb der christlichen Kirche als geschichtlichen Individuums die Funktion wahr, die im Leben des einzelnen Menschen das durch Religion bestimmte Gefühl ausfüllt, nur daß bei den kirchenleitenden Theologen von deren individueller Besonderheit abgesehen wird. Seiner Ethik folgend hat Schleiermacher die christliche Kirche als moralische Person vorgestellt. Ist der Begriff der Person dadurch definiert, daß ein persönliches Dasein sich von anderen unterscheidet und andere neben sich setzt238 ; s o w ird diese Funktion in der christlichen Kirche durch die kirchenleitenden Theologen erfüllt. Indem Schleiermacher aber Theologie durch den ethisch gefaßten Begriff der christlichen Kirche konstituiert als Theorie der kirchenleitenden Praxis, wird dieser Begriff der Theologie durch die implizite Beziehung auf dasjenige ausgezeichnet, von dem durch diesen Kirchenbegriff gerade abstrahiert worden ist. Denn es ist nicht nur von der Eigentümlichkeit individueller Religion abgesehen, sondern auch von dem, was durch die vermittelnde Anstalt der Kirche den religiösen Individuen vermittelt wird, so daß sie zu Christen geworden sind. Ebenso wird nicht explizit, wodurch die Selbständigkeit der Theologie als Wissenschaft gegenüber
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der Ethik begründet ist, oder - anders formuliert - inwiefern die Theorie einer bestimmten Praxis überhaupt fähig ist, eine selbständige Wissenschaft zu bilden. Wenn vom Kontext der Reden her die impliziten Beziehungen des Kirchen- und Theologiebegriffs deutlich gemacht werden können, so läßt sich auch der Gewinn angeben, den Schleiermacher mit dieser Konstruktion gegenüber der ersten Fassung der Reden macht. Man wird ihn darin sehen müssen, daß an die Stelle der Explikation der vorgegebenen christlichen Zentralanschauung, auf die alle anderen religiösen Anschauungen zu beziehen sind, die nicht entgültig beantwortbare Frage nach dem Wesen des Christentums getreten ist. Denn das Wesen der christlichen Kirche ist nicht an sich irgendwo gegeben, sondern als gemeinschaftliche Eigentümlichkeit kann es immer nur aus seiner Realisierung in der christlichen Gemeinschaft erkannt werden. Die christliche Kirche hat aber als geschichtliches Individuum erst an ihrem Ende ihre definitive Gestalt erreicht. Daher ist das Wesen des Christentums nicht von der Frage nach ihm, von seiner Erfassung und Darstellung ablösbar, die zugleich selbst als Moment in dem Realisierungsprozeß der christlichen Kirche wirksam wird. Gegenüber der verbreiteten Bevorzugung der Urauflage der Reden wird man die Transformation der gebildeten Darstellung des Christentums in eine christliche Theologie, die als Christentumstheorie bezeichnet werden kann, als Differenzierung und Präzisierung ansehen müssen, die keineswegs nur als ein Schleiermacher durch seine Lebensumstände aufgenötigte Anpassung der "originalen Konzeptionen" an Theologie und Kirche beschrieben werden k a n n 9 . Da Schleiermacher einen bestimmten Begriff von wissenschaftlicher Theorie gehabt hat, den er zuerst in seiner Kritik der Sittenlehre zur Anwendung gebracht hat, so ist deutlich, daß er zwar durch die Bestimmung der Theologie als Theorie der kirchenleitenden Praxis die Differenz zum durch Philosophie begründeten System des Wissens bezeichnen kann, daß es f ü r ihn aber nicht ohne Schwierigkeiten ist, die nach dem Wesen des Christentums fragende Theologie als Wissenschaft im strengen Sinn zu bestimmen. Das zeigt die Rekonstruktion des Argumentationszusammenhanges, durch den Schleiermacher in seiner Enzyklopädie die innere Gliederung der Theologie in ihre Disziplinen gewinnt. Da das System der theologischen Disziplinen nicht durch eine Fundamentallehre begründet wird, sondern Theologie ihre Einheit in dem inneren Beruf des Theologen, in seinem Willen zur Kirchenleitung findet, fällt der einleitenden Enzyklopädie selbst die Funktion der fundamentalen Disziplin zu. Nur die Darstellung des Ganzen als System vermag die Einheit der Theologie zu repräsentieren. "Daher ist, die Grundzüge aller theologischen Disziplinen inne zu haben, die Bedingung, unter welcher auch nur eine einzelne derselben in theologischem Sinn und Geist kann behandelt werden" (KD § 16).
- 255 Denn die verschiedenen Disziplinen werden zu einem Ganzen, in welchem jeder ein "eigentümlicher Werth" zukommt, durch die Beziehung auf den gemeinsamen Zweck zusammengeschlossen (§ 18). Dieser Zweck ist zwar als Kirchenleitung bestimmt, aber dafür ist ein Wissen um die christliche Kirche bereits vorausgesetzt. Von einem Wissen um die christliche Kirche kann aber nicht die Rede sein, wenn das Wesen des Christentums im Verhältnis zu anderen Formen religiöser Gemeinschaften und das Wesen der Frömmigkeit im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten des menschlichen Geistes nur als empirische Zufälligkeit aufgefaßt wird (§ 21). Daher ist einerseits der Nachweis durch die Ethik zu führen, daß das "Bestehen solcher Vereine ein für die Entwicklung des menschlichen Geistes notwendiges Element" darstellt. Für das Wesen des Christentums selbst darf ein solcher Nachweis nicht geführt werden können, wenn nicht der Begriff der Theologie als positive Wissenschaft aufgehoben werden soll. Die damit gegebene Unbestimmtheit sucht Schleiermacher durch ein doppeltes kritisches Verfahren aufzuheben. Auf der einen Seite wird durch die kritische Disziplin der Religionswissenschaft der Begriff der frommen Gemeinschaft auf das "Eigentümliche der geschichtlich gegebenen Glaubensgenossenschaften" bezogen (§ 23). Das "kritische" Verfahren hat in dem Wissenschaftssystem Schleiermachers, wie er es in der Einleitung seiner Ethik entwickelt hat, seinen Ort zwischen den spekulativen und empirischen Wissenschaften. Im Unterschied zum technischen Verfahren, das es mit der praktischen Realisierung der spekulativen Ideen im empirisch Gegebenen zu tun hat, stellt das kritische Verfahren die Darstellung des Allgemeinen im Mannigfaltigen fest und liefert die Würdigung des Mannigfaltigen als Erscheinung des A l l g e m e i n e n 2 4 0 _ D Eigentümliche der geschichtlich gegebenen Glaubensweise ist aber nicht einfach empirisch wahrzunehmen, sondern befindet sich selbst in einem Prozeß des Werdens, d.h. es kann nur als ein Gewordenes aufgefaßt werden. Daher ist die an die Ethik anknüpfende, Spekulatives und Empirisches verbindende Religionsphilosophie nicht die hinreichende Voraussetzung, um die Aufgabe der Theologie zu erfüllen, sondern auf der Seite des Empirischen ist sie einer Ergänzung bedürftig, die gleichfalls durch ein kritisches Verfahren erfolgt. Das eigentümliche Wesen des Christentums kann auch nur kritisch erhoben werden, indem die Geschichtsprinzipien der Ethik auf das geschichtlich Gegebene bezogen werden, so daß geprüft werden kann, "was in der Entwicklung des Christentums reiner Ausdruck seiner Idee ist und was hingegen als Abweichung hievon, mithin als Krankheitszustand, angesehen werden muß" (KD § 35). Die Frage nach dem Wesen des Christentums kann von Schleiermachers System der Wissenschaften her nur durch ein doppeltes kritisches Verfahren bestimmt werden, das seinen Ort in der Disziplin der philosophischen Theologie hat: a
s
"Alles, was dazu gehört, um von diesen (sc. ethischen und religionsphilosophischen) Grundlagen aus sowohl das Wesen des Christentums,
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wodurch es eine eigentümliche Glaubensweise ist, zur Darstellung zu bringen, als auch die Form der christlichen Gemeinschaft und zugleich die Art, wie beides sich wieder teilt und differentiiert, dieses alles zusammen bildet den Teil der christlichen Theologie, welchen wir die philosophische Theologie nennen" (KD § 24). Die beiden kritischen Verfahren ergänzen sich in der Weise, daß durch sie die Idee der christlichen Kirche dargestellt wird. Als bestimmte Glaubensweise kann das Wesen des Christentums nur dann in der Religionsphilosophie und Ethik wahrgenommen werden, wenn es zugleich als Wesen der christlichen Kirche aus ihren Erscheinungen erhoben wird. Die Einheit der philosophischen Theologie findet nur in der Beziehung, die zwischen beiden kritischen Verfahren besteht, ihren Ausdruck. Zugleich ist sie als kritische Disziplin in doppelter Weise bezogen, indem sie einerseits auf die reale Wissenschaft der Ethik bezogen ist, - insofern ist diese Disziplin philosophisch - , andererseits auf ein in der Empirie Gegebenes, das als ein geschichtliches Ganzes begriffen werden muß. Zur Theologie gehört diese Disziplin insofern, als sie für die Erfassung des Wesens des Christentums nach seiner empirischen Seite auf die Disziplin der historischen Theologie angewiesen ist (§ 26). Voraussetzung dafür ist aber wiederum, daß das, was historisch wahrgenommen wird, als Erscheinung einer bestimmten Glaubensgemeinschaft identifiziert werden kann. Daher ist umgekehrt auch die historische Theologie auf die philosophische angewiesen, in der die Vorstellung eines besonderen geschichtlichen Ganzen ihren Ort hat. "Die philosophische Theologie setzt zwar den Stoff der historischen als bekannt voraus, begründet aber selbst erst die eigentlich geschichtliche Anschauung des Christentums" (§ 65). Denn wie für das kritische Verfahren der Religionsphilosophie das Wesen des Christentums als empirisch Gegebenes vorausgesetzt ist, ist auch bei dem zweiten kritischen Verfahren die christliche Kirche als eine gegebene Größe in Anspruch genommen, aber als eine solche Erscheinung, auf die die Begriffe der Ethik als Geschichtswissenschaft angewendet werden k ö n n e n 2 4 1 . Das Wesen des Christentums kann nur über seine Realisierungen in der christlichen Kirche gewonnen werden, aber nur dann, wenn die christliche Kirche als ein selbständiges geschichtliches Ganzes begriffen worden ist. Als ein solches Ganzes ist die christliche Kirche dadurch definiert, daß die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der Christen durch Theologie und Kirchenleitung bewahrt und gefördert wird, d . h . die Kirche sich "sowohl extensiv als auch intensiv zusammenhaltend und anbildend" (§ 25) verhält. Daher sind nicht nur philosophische und historische Theologie gegenseitig aufeinander bezogen, sondern indem die historische Theologie für die Erfassung ihres Gegenstandes auf die philosophische bezogen ist, ist sie zugleich aufgrund der Definition ihres Gegenstandes auf die praktische Theologie als technisches Wissen der Kirchenleitung bezogen.
- 257 Überblickt man den Zusammenhang der Disziplinen, der die Einheit der Theologie repräsentiert, so fällt die Strukturgleichheit ins Auge, die diese Konstruktion mit der Darstellung des Lebensmomentes verbindet. Schleiermacher war sich des Konstruktionscharakters seiner Enzyklopädie wohl bewußt, denn er hat anläßlich ihrer Veröffentlichung die Befürchtung geäußert, daß seine Kritiker darin theologische "Gespenster" monieren würden, d.h. Disziplinen, die es nie gegeben habe und nie geben werde, und daß er den Beweis nur durch die Tat führen k ö n n e 2 4 2 . Das Prinzip dieser Konstruktion liegt in der Vorstellung der christlichen Kirche als einem besonderen geschichtlichen Ganzen. Wie der Gebildete die allgemeine Beschreibung dessen zu geben vermag, was der einzelne Mensch im Gefühl des Lebens empfindet, so gibt der Theologe eine Darstellung des in der Theologie erfaßten Lebens der christlichen Kirche. Da die Theologie als Theorie der kirchlichen Praxis ihre Funktion innerhalb der Kirche erfüllt, lassen sich die Disziplinen den Lebensfunktionen entsprechend zuordnen. Der im religiös bestimmten Gefühl enthaltenen Selbstbeziehung entspricht die Beziehung der historischen Theologie auf die christliche Kirche. Denn durch sie ist die christliche Kirche sich sozusagen jedes Momentes ihres Lebens bewußt. Demgegenüber entsprechen die philosophische und die praktische Theologie den das Sein im Ganzen repräsentierenden Funktionen des Wissens und Handelns. Die philosophische Theologie hat es nicht nur mit der Erfassung des eigentümlichen Wesens des Christentums, sondern auch mit dessen Einordnung "als notwendiges Element für die Entwicklung des menschlichen Geistes" zu tun (§ 22), während die praktische Theologie die Praxis der Kirchenleitung nicht nur als eine nach innen gerichtete, sondern gerade im Blick auf die Vermittlungsfunktion der Kirche nach außen gerichtete Tätigkeit erfaßt (§ 4.25). Wird die christliche Kirche als ein Lebensprozeß vorgestellt, so ist der Gegenstand der Theologie vollständig erfaßt, wenn er in der historischen Theologie wahrgenommen, in der philosophischen Theologie begriffen und in der praktischen hinsichtlich seiner weiteren Realisierung reflektiert wird^ß. Läßt sich der Begriff der Theologie und seine Entfaltung in Schleiermachers theologischer Enzyklopädie von der Vorstellung der christlichen Kirche als einem geschichtlichen Individuum aus interpretieren, so kann auf dem Hintergrund des Argumentationszusammenhanges der Reden der Ort dieser Konstruktion näher bezeichnet werden. In den Reden hat der Begriff der Kirche die Funktion, die Institution zu erfassen, in der eine dem Wesen der Religion adäquate Vermittlung stattfinden kann. Diese Funktion erfüllt auch der Begriff der christlichen Kirche, der der veränderten Wesensbestimmung der Religion entspricht. Indem die christliche Kirche als ein selbständiges geschichtliches Individuum vorgestellt wird, wird von der Funktion, die durch die Kirche und ihre Leitung erfüllt wird, abgesehen und nur die Institution als solche betrachtet. Die Beziehung auf das religiöse Leben der Individuen ist nur im Moment der
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Gemeinschaft enthalten, das für den Begriff der Kirche konstitutiv ist. Ebenso ist auch in der Frage nach dem Wesen des Christentums die Beziehung zwischen der Eigentümlichkeit des Christentums und dem religiösen Leben der Christen nur implizit enthalten. Schließlich beruht in der theologischen Enzyklopädie die Konstitution der Theologie als Wissenschaft zuletzt nicht auf der christlichen Kirche als einer individuellen Glaubensgemeinschaft und der Theorie der kirchenleitenden Praxis, sondern auf dem Interesse der wissenschaftlichen Bildung, daß diese Theorie dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügen soll. Dies Interesse kommt zum Ausdruck, wenn Schleiermacher die Schellingsche Konzeption des akademischen Studiums auf die Theologie überträgt. Das System der theologischen Disziplinen läßt sich als eine der Darstellung des individuellen Lebens analoge Beschreibung eines geschichtlichen Individuums auf dem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung fassen. Da die Wissenschaft der Theologie auf die christliche Kirche als geschichtliches Individuum bezogen ist, ist sie von dem philosophischen System des Wissens unterschieden. Dieser Unterschied entspricht dem Verhältnis, das nach dem Bildungsverständnis von 1806 zwischen dem Leben und seiner wissenschaftlichen Darstellung besteht. Eben durch dies Verhältnis ist auch die Beziehung zwischen Religion und Theologie zu fassen. Die Kirche als Glaubensgemeinschaft ist dadurch konstituiert, daß von der individuellen Eigentümlichkeit der religiösen Individuen abgesehen wird, um die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit zu erfassen und darzustellen. Sofern es in den Reden um die Genese des Gebildeten durch Religion und Christentum geht, läßt sich behaupten, daß auf dem Boden des Bildungsverständnisses von 1806 die Konzeption der Theologie in Schleiermachers Enzyklopädie die adäquate Vermittlung zwischen der als Gefühl bestimmten Religion und dem durch Wissenschaft bestimmten Standpunkt des Gebildeten darstellt. Die Abstraktion von dem religiösen Leben der Individuen erfüllt die Funktion, die den individuellen religiösen Gefühlsäußerungen adäquate Form der Vermittlung von Religion zu erfassen, die nicht als eine durch Menschen vollziehbare vermittelnde Tätigkeit vorgestellt wird, sondern als eine religiöse Gefühlsäußerung eines Individuums, durch die andere angeregt werden können. So kann man sagen, daß in Schleiermachers Konzeption der Theologie in der "Kurzen Darstellung" die ursprüngliche Intention der Reden, die Genese zum Gebildeten, der sich als Individuum versteht, durch Religion und Christentum aufzuzeigen, darin festgehalten ist, daß die Theologie auf die Kirche als Ganzes bezogen und von dem religiösen Leben der Individuen in der Kirche abgesehen i s t Z u g l e i c h bleibt aber auch das Problem des Bildungsbegriffs erhalten, daß Schleiermacher durch die Modifikation des Bildungsverständnisses die Einheit des gebildeten Individuums, das sich seiner selbst bewußt ist, nur als Verhältnis zweier Momente darzustellen vermag, ohne daß das Verhältnis als die Beziehung zwischen beiden Momenten explizit gemacht wird. Von dieser Problematik aus ist einsichtig, daß Schleiermacher Theologie nicht als Wissenschaft des Absoluten, schon
- 259 gar nicht im Sinn von Schellings Konzeption von 1803, fassen kann, sondern sie von der Philosophie unterscheidet und sie als positive Wissenschaft bestimmt, die nach heutigem Sprachgebrauch weniger als Theorie der kirchenleitenden Praxis, denn als Theorie des Christentums zu bezeichnen ist, wenn dabei die Unterscheidung zwischen Religion und Theologie berücksichtigt w i r d 245.
3. Die theologische Rezeption der Religionstheorie in der philosophischen Theologie Es ist versucht worden, in den Reden über die Religion eine systematische Konzeption auf zuweisen, die expliziten und impliziten Abänderungen ihrer Durchführung aufgrund eines veränderten Bildungsverständnisses herauszuarbeiten und den in der Enzyklopädie aufgestellten und entfalteten Begriff der Theologie in diesen Kontext ein zubeziehen. Daraus ergab sich die These, daß der in der Enzyklopädie entwickelte Begriff der Theologie von dem Standpunkt der wissenschaftlichen Bildung aus entworfen worden ist, die durch den in der Schelling-Rezension dokumentierten Wissenschaftsbegriff bestimmt ist, daß die Beziehung auf das religiöse Leben der Christen nicht explizit gemacht, sondern nur implizit vorausgesetzt ist, obgleich es f ü r den Begriff der christlichen Kirche konstitutive Bedeutung hat. Diese These erhält eine Bestätigung, wenn gezeigt werden kann, daß innerhalb der Theologie diese implizite Voraussetzung selbst explizit gemacht worden ist. Dieser Nachweis soll durch eine Interpretation der Glaubenslehre erbracht werden. Da die Glaubenslehre als Darstellung der dogmatischen T h e o l o g i e ihren Ort innerhalb des theologischen Systems hat, ist zuvor zu betrachten, warum f ü r die dogmatische Theologie diese Voraussetzung explizit gemacht werden muß und welches der systematische Ort dieser Explikation ist. Der Ort, den die dogmatische Theologie innerhalb von Schleiermachers theologischem System einnimmt, ist dadurch bezeichnet, daß die Dogmatik kein Teil der philosophischen Theologie, sondern ein Teil der historischen Theologie ist. In der Negation kommt die Abgrenzung zum Ausdruck, die in Schleiermachers Theologiebegriff enthalten ist, indem die Einheit der Theologie nicht durch eine Fundamentaldisziplin repräsentiert wird, aus der die verschiedenen Disziplinen sich ableiten lassen. Vielmehr ist das System der theologischen Disziplinen auf die christliche Kirche als geschichtliches Individuum bezogen, innerhalb derer die Theologie die Aufgabe ihrer Enthaltung und Ausbreitung erfüllt. Im Blick auf diese Aufgabe der Theologie hat die Dogmatik ihren Ort in der historischen Theologie und erfüllt die wichtige Funktion der Darstellung der "jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre" (§ 195). Sie ist die "Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre" (GL § 19). Ihr
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kommt zusammen mit der kirchlichen Statistik als der "Kenntnis des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Teilen der christlichen Kirche" (KD § 195) eine Schlüsselfunktion innerhalb des theologischen Systems zu. Denn die "geschichtliche Kenntnis vom gegenwärtigen Zustande des Christentums" stellt als d r i t t e r Teil der historischen Theologie die Verbindung zwischen der philosphischen und der praktischen Theologie d a r . Darin hat Schleiermacher das Charakteristikum der historischen Theologie gesehen, wenn er ihre Funktion als "Begründung der p r a k t i s c h e n " und "Bewährung der philosophischen Theologie" (KD § 27) b e s c h r e i b t . Aber diese Schlüsselstellung macht zugleich deutlich, daß die Dogmatik als Teil der historischen Theologie ebenso auf die philosophische bezogen ist, wie diese das Ergebnis der historischen Theologie voraussetzen muß, indem in der Apologetik " f ü r das eigentümliche Wesen des Christentums eine Formel aufgestellt" wird (§ 44). Diese Abhängigkeit der als Teil der historischen Theologie bestimmten Dogmatik bestimmt die Einleitung der Glaubenslehre. Schleiermacher hat die Einleitung der Glaubenslehre, deren Zweck es ist, "die dem Werke selbst zum Grunde liegende E r k l ä r u n g der Dogmatik aufzustellen" und "die in demselben befolgte Methode und Anordnung zu bevorworten" (GL § 1), nicht ausdrücklich als philosophische Theologie entwickelt. Es ist daher unumgänglich, den Ort der Sätze, die in der Einleitung aufgestellt werden, zu identifizieren, zumal Schleiermacher die Sätze, die der Definition der Dogmatik vorangehen, ausdrücklich als Lehnsätze verschiedenen Wissenschaften zuweist, so daß zunächst nicht der Eindruck einer fortschreitenden Argumentation e n t s t e h t . Doch löst sich dieser Anschein schon auf, wenn die E n t s t e h u n g dieser Anordnung beachtet wird. Im zweiten Sendschreiben an Herrn Dr. Lücke berichtet Schleiermacher, daß die Kritiker ihn zu einer "bedeutenden Umstellung" in der Einleitung veranlaßt haben, indem sie den "Unterschied zwischen der Einleitung und dem Werke selbst nicht scharf genug gefaßt" hab e n ^ 7 , Daß die Einleitung der Glaubenslehre mit einer vollständigen Definition der Dogmatik beginnt, habe dem Mißverständnis Vorschub geleis t e t , daß damit nach dem gewöhnlichen Verständnis die Dogmatik selbst b e g i n n e ^ . um diesem Mißverständnis zu b e g e g n e n , beabsichtige er in der zweiten Auflage, der Definition der Dogmatik alles das voranzuschicken, was zur näheren Bestimmung der darin vorkommenden Ausdrücke gehört und dabei durch Überschriften zu zeigen, wo diejenigen Sätze, die der Konstitution des Begriffs der Dogmatik vorangehen müssen, eigentlich ihre Heimat haben. "Ob sie ( s c . die Einleitung) mir deshalb besser gefallen wird, weiß ich noch nicht. Wenn ja, dann vorzüglich deshalb, weil so, wie dies auch eigentlich f ü r die Einleitung g e h ö r t , der Zusammenhang dieser besonderen theologischen Disziplin (! ) mit denjenigen allgemeinen Wissenschaften, an welche sie sich ihrer wissenschaftlichen Form wegen vorzüglich zu halten h a t , unmittelbar h e r v o r g e t r e t e n wird" (SA 165).
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Daß es sich in der Einleitung der Glaubenslehre um eine besondere "theologische Disziplin" handelt, die auf allgemeine Wissenschaften bezogen, d . h . nicht jeweils mit diesen identisch (GL § 2 Zusatz 1/1, 14) ist, daß also ein Zusammenhang zwischen den Lehnsätzen besteht, der dargestellt wird, ist bereits der Ankündigung der dogmatischen Theologie für den Sommer 1811 zu entnehmen: "Dogmatische Theologie nebst vorausgeschickten philosophischen Untersuchungen über die christliche Religio n " ^ . Eine Erläuterung dieser Ankündigung findet sich in einer brieflichen Äußerung Schleiermachers über diese Vorlesung: "Die Einleitung war ganz neu, indem ich alles hierher gehörige aus der philosophischen Theologie hier beigebracht h a b e " ^ . Schleiermacher hat also selbst in Übereinstimmung mit seinem System der theologischen Disziplinen die Einleitung der philosophischen Theologie zugeordnet. Allerdings und bezeichnender Weise hat er darauf verzichtet, die Erklärung der Dogmatik aus seiner Enzyklopädie einfach zu übernehmen, weil wegen ihrer aphoristischen Gestalt Erläuterungen notwendig wären. "Daher wird dieser Teil der Einleitung seinen Weg unabhängig gehen; und nur wie die Entwicklung stufenweise fortschreitet, wird der Leser auf die betreffenden Stellen jener kurzen Darstellung verwiesen werden" (GL §§ 1, 1/1, 9). Schleiermacher hat seine Enzyklopädie im Unterschied zur materiellen, "die von dem Hauptinhalt der einzelnen Disziplinen einen kurzen Abriß geben, mit der Darstellung ihrer Organisation aber es weniger genau nehmen" (KD § 20z) muß, als formal charakterisiert, weil es dem Begriff der Theologie entsprechend darauf ankommt, eine "richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Teile der Theologie unter sich und dem eigentümlichen Wert eines jeden für den gemeinsamen Zweck" zu geben (KD § 18). Demnach zeigt sich der "unabhängige Weg", den Schleiermacher in der Einleitung der Glaubenslehre einschlägt, als eine über die formale Beschreibung der philosophischen Theologie hinausgehende 'materiale* Ausführung. Durch die Umstellung der Einleitung in der zweiten Auflage der Glaubenslehre (1830) ist allerdings der Zusammenhang der philosophischen Theologie auseinander gerissen worden. Zwischen den beiden Abteilungen dieser Disziplin, der Apologetik und Polemik (KD § 39f), steht jetzt der Abschnitt über das Verhältnis der Dogmatik zur christlichen Frömmigkeit, der die ursprünglich am Anfang stehende Erklärung des Begriffs der Dogmatik enthält (GL § 19). Die Polemik bildet jetzt unter dem Titel "Von der Aussonderung des dogmatischen Stoffs" (GL § 21-26) den ersten Abschnitt des methodischen Teils der Einleitung. Die Apologetik dagegen findet eine der Aufstellung des ethischen Begriffs der Kirche und der religionsphilosophischen Begriffe gleichgestellte Darstellung in der Gestalt von Lehnsätzen. Dadurch wird entgegen der Intention dieser Änderung, die ja die Zugehörigkeit der Einleitung zu einer eigenständigen theologischen Disziplin herausstellen soll, das Verständnis der Einleitung als Durchführung der philosophischen Theologie nahezu
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verstellt. Denn die apologetischen Lehnsätze verweisen in Analogie zu den ethischen und religionsphilosophischen auf eine andere wissenschaftliche Disziplin, der sie angehören (GL § 2, 3/1, 13). Die Apologetik ist aber Teil der philosophischen Theologie, deren Aufgabe durch die stufenweise Entwicklung in der Einleitung der Glaubenslehre gelöst wird. So verweisen die apologetischen Lehn sätze nicht nur auf eine von der Dogmatik unterschiedene Disziplin, deren Sätze mit anderen zusammengestellt und angewendet werden (I, 20), sondern zugleich auf diejenige Disziplin der Theologie, die in der Einleitung insgesamt zur Darstellung kommt. Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, wie Schleiermacher die allgemeine Aussage, daß das, "was der Erklärung einer Wissenschaft vorangeht, nicht zur Wissenschaft selbst gehören kann" (I, 9) verstanden wissen will. Die Lehnsätze stehen zwar außerhalb der dogmatischen Theologie, aber nicht außerhalb der Theologie überhaupt, sondern haben ihren Ort in der philosophischen Theologie, d . h . dort wo durch kritisches Verfahren das Wesen des Christentums als eigentümliche Glaubensweise und die Form der christlichen Gemeinschaft dargestellt werden. Dafür müssen von der philosophischen Theologie ethische und religionsphilosophische Begriffe vorausgesetzt werden, "um von diesen Grundlagen aus" (KD § 24) diese Darstellung leisten zu können. Lehnsätze aus Ethik und Religionsphilosophie gehören also bereits in die philosophische Theologie, damit diese ihre kritische Aufgabe als Apologetik und Polemik erfüllen kann. Entscheidend ist Schleiermachers Hinweis auf die aphoristische und formale Gestalt der Enzyklopädie. In ihm läßt sich ein Indiz für die implizite Abstraktion der enzyklopädischen Darstellung der Theologie sehen, über die Schleiermacher durch eine "stufenweise" Entwicklung in der Einleitung der Glaubenslehre hinausgehen will. Über die Vorstellung der christlichen Kirche als geschichtliches Individuum hinauszugehen bedeutet, sie als Gemeinschaft von Individuen zu betrachten und die individuelle Eigentümlichkeit als ihre Voraussetzung explizit zu machen. Damit überschreitet Schleiermacher selbst die Abstraktheit seines in der Enzyklopädie entfalteten Theologiebegriffs auf den Zusammenhang hin, den er zuerst in den Reden entwickelt hat, wenn er Religion und Christentum als Voraussetzung für das gebildete Selbstverständnis als Individuum aufweisen will251. Die Frage, warum Schleiermacher über die Ebene gemeinschaftlicher Eigentümlichkeit hinausgeht und eine theologische Darstellung individueller Frömmigkeit und christlichen Glaubens gibt, läßt sich von der Aufgabe dogmatischer Theologie her beantworten. Um eine Darstellung der geltenden Lehre zu geben, hat die dogmatische Theologie nicht nur die Kontinuität der Lehrsätze mit der im Kanon fixierten Darstellung des Urchristentums (KD §§ 87, 104, 209) und den im Symbol repräsentierten eigentümlichen Charakter der gegenwärtigen Periode der christlichen Kirche zu garantieren und das Zusammenstimmen der einzelnen Lehrsätze
- 263 untereinander zu gewährleisten (KD § 213), sondern darüber hinaus hat sie auch die Entstehung der dogmatischen Sätze zu reflektieren. Das gilt nicht nur im Blick darauf, daß eine dogmatische Behandlung der Lehre nicht möglich ist "ohne eigne Überzeugung" (KD § 196) bzw. "ohne eigenen Glauben" an das, was jemand in der dogmatischen Theologie vorträgt (GL § 19, 1/1, 119). Das gilt ebenso im Blick auf die Rückführung der dogmatischen Sätze als christliche Glaubenssätze (GL § 16) auf Auffassungen von frommen Gemütszuständen (GL § 15). Wenn die Darstellung der zu einem Zeitpunkt geltenden Lehre auf die Äußerung religiöser Gefühle und Darstellung frommer Gemütszustände bezogen ist, dann muß diese vorausgesetzte Beziehimg in der Weise explizit gemacht werden, daß gezeigt wird, wie die Äußerungen von frommen Gemütszuständen beschaffen sein müssen, damit ihre Darstellung durch dogmatische Theologie in einem Lehrsystem möglich ist. Es läßt sich von der Aufgabe der dogmatischen Theologie her eine Frage formulieren, die der entspricht, durch die in den Reden an die gebildeten Verächter nach der Genese des Gebildeten gefragt worden ist. Da christliche Theologie zum christlichen Glauben ein dem gebildeten Standpunkt entsprechendes Verhältnis einnimmt und für die dogmatische Theologie diese Voraussetzung explizit darzustellen ist, fällt der philosophischen Theologie die Aufgabe zu, eine solche Darstellung des christlichen Glaubens zu geben, durch die die wissenschaftliche Darstellung als seine adäquate Darstellung aufgewiesen wird. Daher kann die These aufgestellt werden, daß in der Einleitung der Glaubenslehre eine Rezeption des Argumentations Zusammenhanges der Reden vorliegt, die dem fortgeschrittenen gebildeten Selb st Verständnis entspricht und innerhalb des theologischen Systems durch die philosophische Theologie erfolgt. Im Blick auf die Einleitung der Glaubenslehre trifft dann zu, daß sie wie die Reden nicht einfach eine Deduktion darstellt, so als würde der christliche Glaube aus etwas anderem abgeleitet, sondern daß sie auf dem 'gebildeten Standpunkt' der christlichen Theologie erfolgt und deren konstitutive Voraussetzungen explizit macht. Für diese These kann die briefliche Äußerung Schleiermachers an seinen Jugendfreund Brinckmann angeführt werden, in der er auf die Zueignung der Reden anspielt: ""Eine Dogmatik, die ich mich endlich überwunden habe zu schreiben . . . wird Dir zeigen, daß ich seit den Reden über die Religion noch ganz derselbe bin, und in diesen hast Du ja doch auch den Alten wieder erkannt. Dasselbe geistige Verständnis des Christentums in derselben Eintracht mit der Spekulation und eben so von aller Unterwerfung unter den Buchstaben befreit, soll hier, aber in der strengsten Schulgerechtigkeit, auftreten" (Meisner II, 290f). Das geistige Verständnis des Christentums bezeichnet die von der Unterwerfung unter den Buchstaben freie Darstellung des Christentums
- 264 als Religion auf den gebildeten S t a n d p u n k t , der die Eintracht mit der Spekulation gewährleistet.
V. Das Wesen der Frömmigkeit u n d das Wesen des Christentums in den Lehnsätzen der Glaubenslehre Nachdem Schleiermachers Begriff der Theologie in einen Zusammenhang mit dem modifizierten ΒildungsVerständnis gebracht und die Zugehörigkeit der Einleitung der Glaubenslehre zur philosophischen Theologie a u f gezeigt werden konnte, deren A u s f ü h r u n g als Rezeption des Argumentationszusammenhanges der Reden innerhalb des theologischen Systems, d . h . auf dem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung, zu verstehen ist, können abschließend die Lehnsätze der Glaubenslehre als d u r c h g e f ü h r te Neufassung des Zusammenhanges von Religion und Christentum auf dem modifizierten gebildeten Standpunkt betrachtet werden. Auf dem Hintergrund der zweiten Fassung der Reden ist das Augenmerk vor allem auf zwei Komplexe zu richten, die d u r c h folgende Stichworte gekennzeichnet werden können. Schleiermacher hat einerseits in den ethischen Lehnsätzen Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit b e stimmt. Er ist damit ü b e r die in der zweiten Auflage der Reden eingef ü h r t e Bestimmung der Religion als Gefühl hinausgegangen und hat eine komplexere Theorie des Gefühls geliefert, die durch den Begriff d e s "unmittelbaren Selbstbewußtseins" bezeichnet werden k a n n . A n d e r e r seits hat sowohl nach den impliziten Folgen des v e r ä n d e r t e n Bildungsv e r s t ä n d n i s s e s in den Reden von 1806 als auch nach dem Theologiebegriff der Enzyklopädie der Begriff der christlichen Kirche eine Schlüsselfunktion inne. Ihr t r ä g t Schleiermacher Rechnung, indem er die "Erk l ä r u n g der christlichen Kirche" gewinnen will (GL § 2). Da er aber b e reits im folgenden Leitsatz ü b e r den Kirchenbegriff der Enzyklopädie hinausgeht, indem er die "Frömmigkeit" als "Basis aller kirchlichen Gemeinschaften" thematisiert (GL § 3), ist auf dem Hintergrund der Reden die christliche Kirche in i h r e r Funktion als vermittelnde Anstalt des christlichen Glaubens zu b e t r a c h t e n . Diese Funktion kann durch den Begriff der Erlösung bezeichnet werden, d e r zugleich die Christologie der Glaubenslehre c h a r a k t e r i s i e r t . Auf den Zusammenhang dieser beiden Komplexe wird sich die folgende Darstellung konzentrieren.
1. Frömmigkeit als inneres Leben des Individuums Wie sehr Schleiermacher sich in der zweiten Auflage der Glaubenslehre bemüht h a t , die Übereinstimmung ihrer Einleitung mit seiner theologischen Enzyklopädie herauszustellen, zeigt sich nicht n u r in der ausdrücklichen Feststellung, daß die Erklärung der Dogmatik d u r c h die Verständigung
- 265 ü b e r den Begriff der christlichen Kirche erreicht werden soll (GL § 2), sowie in den der Gliederung der philosophischen Theologie entsprechenden Überschriften, sondern auch d u r c h die Anordnung der drei mal vier Lehns ä t z e 2 5 2 , deren Verbindung jeweils durch den Begriff der Kirche h e r g e stellt wird. So beginnen die ethischen Lehnsätze mit der Frömmigkeit als "Basis aller kirchlicher Gemeinschaften" ( § 3 ) , um den ethischen Begriff der Kirche als begrenzte fromme Gemeinschaft zu gewinnen ( § 6 ) . An diesen allgemeinen Begriff der Kirche schließt sich die religionsphilosophische Typologie an, die auf der höchsten Stufe der Religion zu dem Begriff einer bestimmten, d . h . d u r c h ein eigentümliches Wesen a u s gezeichneten Kirche f ü h r t , die ihren U r s p r u n g einem bestimmten Individuum v e r d a n k t (§ 10,1). Der Begriff der d u r c h Jesus von Nazareth vollb r a c h t e n Erlösung (§ 11) bezeichnet in den apologetischen Lehnsätzen das eigentümliche Wesen des Christentums, in denen schließlich der Glaube an J e s u s als den Erlöser zum Kriterium der Zugehörigkeit zur christlichen Kirche (§ 14) erhoben wird. Die Darstellung dieses Glaubens f ü h r t zur Aufstellung einer Glaubenslehre (GL §§ 15-19). Überblickt man das Argumentationsgefälle der am Begriff der christlichen Kirche orientierten Lehnsätze, so zeigt sich der innere Argumentationsfaden als eine fortschreitende Bestimmung der Frömmigkeit des C h r i s t e n . In den ethischen Lehnsätzen wird erst d u r c h den letzten Paragraphen (GL § 6) die Ebene der frommen Gemeinschaft e r r e i c h t , während in den anderen das fromme Leben im individuellen Subjekt beschrieben wird. Die religionsphilosophischen Lehnsätze erreichen ihr Ziel, indem sie vom Begriff der frommen Gemeinschaft wieder auf die Ebene individueller Frömmigkeit zur ü c k k e h r e n , insofern es auf der Stufe der monotheistischen Religionen um das Verhältnis der frommen Gemeinschaft zu dem Individuum geht, von dem "der Impuls" zur Gemeinschaft ausgegangen ist (I, 64). Beide Aspekte, das fromme Leben der Individuen ü b e r h a u p t und der individuelle U r s p r u n g der frommen Gemeinschaften auf der höchsten Stufe, werden in den apologetischen Lehnsätzen über den christlichen Glauben v e r einigt, indem die Beziehung des frommen Individuums zur christlichen Kirche durch den Glauben an den Urheber des Christentums, an J e s u s als den Erlöser, bestimmt wird253. Die Ortsbestimmung f ü r das Phänomen der Frömmigkeit, mit der Schleiermacher die Verständigung ü b e r den Begriff der christlichen Kirche b e ginnt, läßt die Nähe zu der modifizierten Gestalt der Reden von 1806 e r k e n n e n . So wird nicht n u r wie die Religion in der zweiten Rede die Frömmigkeit "rein f ü r sich b e t r a c h t e t " (GL § 3) und im Gegenüber zu Wissen und Handeln dem Gefühl zugeordnet, sondern es wird auch das Verhältnis dieser drei Momente durch den Begriff des Lebens bestimmt (I, 18). Die Parallelität der Argumentationsfolge macht die Unterschiede umso deutlicher sichtbar. Daß Schleiermacher den Titelbegriff seiner Reden aufgegeben und in der Glaubenslehre den Begriff der Religion d u r c h den der Frömmigkeit e r s e t z t h a t , wird als eine Konsequenz sich verstehen
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lassen, die er aus der veränderten Wesensbestimmung der Religion gezogen hat. Als Gefühl ist Religion dem Moment des Für-sich-seins zugeordnet, während alle religiösen Erscheinungen nur als Äußerungen des religiösen Gefühls aufgefaßt werden, so daß die Religion auf der höchsten Stufe menschlichen Selbstbewußtseins, d . h . auf dem gebildeten Standpunkt, durch den Begriff der Frömmigkeit eindeutiger bezeichnet ist (GL § 6 z D i e s e begriffliche Präzisierung hängt auch damit zusammen, daß Frömmigkeit als eine Bestimmtheit des Gefühls definiert und der B e griff des Gefühls durch den Ausdruck 'unmittelbares Selbstbewußtsein' erläutert wird. Schon die Untersuchung der zweiten Fassung der Reden hat eine gegenüber der ersten Fassung erweiterte Bedeutung des Gefühlsbegriffs aufgezeigt. Durch Religion wird im Gefühl die Erinnerung an die jeden Lebensmoment konstituierende Einheit von Sinn und Gegenstand bewahrt. Dadurch entsteht im Begriff des Gefühls eine Selbstbeziehung, weil erst aufgrund der Erinnerung an die Entstehung das Gefühl, der Repräsentant des Für-sich-seins, als das erscheint, was es ist, nämlich als eins der beiden Produkte, die aus der ursprünglichen Einheit hervorgegangen sind. Unabhängig davon, wie Schleiermacher den B e griff des unmittelbaren Selbstbewußtseins in seiner Dialektik eingeführt hat255 1 kann von der zweiten Fassung der Reden her festgestellt werden, daß er die dort enthaltenen Implikationen seiner Bestimmung der Religion als Gefühl jetzt explizit gemacht hat. Die beiden Termini, die den Begriff der Frömmigkeit bestimmen, erläutern sich gegenseitig: Der Terminus 'Gefühl' wird durch den des Selbstbewußtseins dahingehend präzisiert, daß bewußtlose Zustände nicht darunter zu begreifen sind. Der Terminus 'Selbstbewußtsein' wird, wie seine nähere Bestimmung 'unmittelbar' anzeigt, durch den des Gefühls so präzisiert, daß jede Vermittlung durch eine gegenständliche Vorstellung von sich selbst ausgeschlossen ist. Trotzdem ist dieses Selbstbewußtsein nicht einfach begleitend, d . h . daß es nur durch das jeweilige Denken oder Wollen vermittelt erfaßt werden kann, sondern das unvermittelte Selbstbewußtsein=Gefühl ist eine eigenständige Größe. Die jedem "zugemutete" Erfahrung, auf die Schleiermacher verweist, besteht einerseits darin, daß es Momente gibt, in denen alles Denken und Wollen "hinter einem irgendwie bestimmten Selbstbewußtsein" zurücktritt, und dieses andererseits während verschiedener Akte des Denkens und Wollens fortdauern kann. Als Beispiele für diese Erfahrung des unmittelbaren Selbstbewußtseins nennt Schleiermacher Freude und Leid. Die so durch den Appell an die Erfahrung gewonnene eigenständige Basis der Kirche ist in ihrer terminologischen Bestimmung mit Schwierigkeiten belastet. Auf der einen Seite läßt der Terminus 'Selbstbewußtsein', der den des Gefühls auf die bewußten Zustände beschränkt, keine andere Deutung zu, als daß dasjenige, das in den bewußten Zuständen bewußt sein soll, nichts anderes als das Bewußtsein selbst ist. Es bleibt daher unklar, wie von dem immer sich durch sich selbst vermittelnden
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Selbstbewußtsein ein unmittelbares unterschieden werden und welchen Sinn die Behauptung der Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins haben kann. Auf der anderen Seite ist jedes Gefühl und gerade das bewußte bestimmt durch etwas anderes als das Gefühl selbst. Zweifellos ist das irgendwie bestimmte Gefühl zu unterscheiden von einem einfachen Gegenstandsbewußtsein und dem ihm entsprechenden G e f ü h l ^ ß . Dj e Bestimmtheit des Gefühls kann nicht als Vorstellung von einem Gegenstand ausgebildet werden. Aber dennoch bleibt das Gefühl durch das, was es irgendwie bestimmt, vermittelt und kann nur in dem Sinne u n mittelbar genannt werden, als es nicht durch eine Vorstellung vermittelt ist. Am deutlichsten kommt diese Schwierigkeit zum Ausdruck in der Formulierung von dem "irgendwie bestimmten Selbstbewußtsein". Denn sie enthält beide Momente. Um einem gegenständlichen Mißverständnis der Bestimmtheit des Gefühls vorzubeugen, ist es als Selbstbewußtsein gefaßt, das gegen ein intellektualistisches MißVerständnis als "irgendwie bestimmt" und "unmittelbar" gedacht werden soll. Ohngeachtet dieser inneren Schwierigkeit, die der Terminus 'unmittelbares Selbstbewußtsein' enthält, ergibt sich daraus, daß Frömmigkeit als Bestimmtheit des Gefühls gefaßt wird, f ü r Schleiermacher die Möglichkeit, über die Punktualisierung in der Wesensbestimmung der Religion als Gefühl, d . h . ihre Beziehung auf den einzelnen Lebensmoment, hinauszugehen und die ursprünglich durch den Begriff des Universums bezeichnete Totalität, die in der Religion wahrgenommen wird, deutlicher zum Ausdruck zu b r i n g e n ^ 5 7 D u r c h Religion wird nicht nur die Einheit des einzelnen Lebensmomentes im Gefühl repräsentiert, sondern es muß in ihr auch dasjenige, mit dem das einzelne Leben in jedem Moment vereinigt worden ist, enthalten sein. Schleiermacher spielt, indem er die Definition des Gefühls durch H.Steffens anführt, auf seine ursprüngliche Konzeption der Religion an: "Was wir hier Gefühl nennen, ist die unmittelbare Gegenwart des ganzen, ungeteilten, sowohl sinnlichen als auch geistigen Daseins, der Einheit der Person und ihrer sinnlichen und geistigen Welt" (GL § 3,2/1,17). Als Bestimmtheit des Gefühls läßt sich über die funktionale Bestimmung der Religion als "Wissen um die ursprüngliche Einheit der beiden Getrennten" (P 56) hinaus eine inhaltliche Bestimmung der Religion, die erfahrene Gegenwart der Totalität unterscheiden. Diese Differenzierung ermöglicht Schleiermacher, Frömmigkeit nicht nur als Gefühl, sondern als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zu bestimmen. Doch bevor diese Definition des Wesens der Frömmigkeit untersucht werden soll, ist zunächst die psychologische Grundlegung des Verhältnisses von Gefühl, Wissen und Handeln zu betrachten. Die Bedeutung des Lebensbegriffs f ü r die Religionstheorie ist an der zweiten Fassung der Reden bereits untersucht w o r d e n ^ 5 8 Seine Einfüh-
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r u n g hängt auf der einen Seite mit dem v e r ä n d e r t e n Bildungsverständnis zusammen, das eine Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie notwendig macht; a n d e r e r s e i t s wird d u r c h ihn die Bestimmung der Religion als Gefühl im Gegenüber zu Wissen und Handeln b e g r ü n d e t . Von dieser Konzeption aus leuchtet nicht n u r der Rückgriff auf "Geliehenes aus der S e e l e n l e h r e " ein, sondern von ihr her lassen sich auch die A u s f ü h r u n g e n Schleiermachers i n t e r p r e t i e r e n . Als Thema dieser Ausf ü h r u n g e n zeigt sich dann der Begriff des Lebens, nicht der des Subjekts^®". Das 'Leben' wird definiert als "Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten des Subjektes" (§ 3 , 3 ) . Das als T r ä g e r des Lebens erfaßte Subjekt ist dadurch k o n s t i t u i e r t , daß es aus seiner Umwelt a u s gegrenzt und auf sie bezogen ist, und zwar ist e s so konstituiert, daß das Ausgegrenztsein zugleich Bezogensein und Bezogensein zugleich Ausgegrenztsein ist. Kann das lebendige Bewußtsein des Subjekts als sein Ausgegrenztsein genommen werden, so kann sein Bezogensein als Rezeptivität und Spontaneität gegenüber dem, was es nicht ist, bestimmt werd e n . Während das Tun als Spontaneität mit dem Aussichheraustreten identifiziert werden k a n n , b e r u h t auch das Wissen, das als E r k a n n t h a ben auf Rezeptivität zurückgeht, auf einem A u s s i c h h e r a u s t r e t e n , insof e r n das Erkannthaben aus der erkennenden Tätigkeit des Subjekts h e r vorgegangen i s t . Ist damit die eine Seite des Subjekts in seinem Lebensvollzug e r f a ß t , so wird im 'Fühlen' die andere Seite, d a s 'Insichbleiben', repräsentiert: "Das Fühlen hingegen ist nicht n u r in seiner Dauer als Bewegtwordensein ein Insichbleiben, sondern e s wird auch als Bewegtwerden nicht von dem Subjekt bewirkt, sondern kommt n u r in dem Subjekt zustande, und ist also, indem e s ganz und gar der Empfänglichkeit angehört, auch gänzlich ein Insichbleiben: und insofern steht es allein jenen beiden, dem Wissen und dem Tun g e g e n ü b e r " (1,18). Entscheidend ist, daß Schleiermacher nicht von dem Begriff des Subjekts, sondern vom empirisch-individuellen Subjekt in seinem Lebensvollzug ausgeht und eine psychologische Beschreibung dieses Lebensvollzuges gibt. Er geht ü b e r den Begriff des Subjektes hinaus, indem er d u r c h den Begriff des Lebens die Subjekt-Objekt-Einheit zu e r f a s s e n sucht, die f ü r das Aussichheraustreten-Können des Subjekts v o r a u s g e setzt i s t . Das Leben des Subjektes vollzieht sich nicht n u r durch seine Tätigkeiten, die auf die Einheit des Subjektes z u r ü c k g e f ü h r t werden können, sondern diese Einheit selbst ist ein Lebensvollzug und stellt sich dar als 'inneres Leben', als 'Insichbleiben', als 'Bewegtwerden', das nicht auf die Einheit des Subjekts z u r ü c k g e f ü h r t werden k a n n , sondern n u r "in dem Subjekt zustande kommt" (1,18). Der Begriff des Lebens bezeichnet den "Wechsel" zwischen diesen beiden selbständigen Momenten, aus denen der Lebensvollzug des individuellen Subjekts b e s t e h t . Dieser Begriff des Lebens erschließt den folgenden Aufweis Schleiermac h e r s , daß Frömmigkeit ihren Ort n u r im Gefühl haben k a n n . Wenn näm-
- 269 lieh die Einheit des Subjekts als Insichbleiben und als Lebensvoll zug des Fühlens gefaßt wird, dann kann die Einheit des Subjekts nicht noch einmal als weiteres Moment davon abgehoben werden, sondern die Einheit des Lebensvollzuges "ist das Wesen des Subjekts selbst, welches sich in jenen einander gegenübertretenden Formen" (1,18) kundgibt. Die Einheit wird nicht als solche thematisch, sondern wird nach der schon in der Schelling-Rezension enthaltenen Figur durch das Verhältnis von Einheit und relativem Gegensatz dargestellt. Daher ist "jeder wirkliche Moment des Lebens seinem Gesamtgehalte nach ein Zusammengesetztes" aus jenen unterschiedenen Momenten im Lebensvollzug, in welchem jeweils eine Seite dominiert, während die anderen als "Spuren oder Keime" in ihm enthalten sind (1,18). Auf der Basis dieser psychologischen Grundlegung entwickelt Schleiermacher seine These, daß Frömmigkeit eine Bestimmtheit des Gefühls sei, d . h . daß sie dem Insichb leiben des lebenden Subjekts zuzuordnen ist, daß sie zwar nicht von Wissen und Tun abgesondert werden könne, aber weder als ein Wissen, noch als ein Tun, noch als ein aus beiden oder aus allen drei Momenten gemischter Zustand aufgefaßt werden könne (§ 3,4). Das apagogische Verfahren (1,17), das Schleiermacher anwendet, geht aus von Wissen und Tun als verschieden ausgerichteten Tätigkeiten des Subjektes. Wenn die Einheit des Subjekts in den Momenten, die durch verschieden ausgerichtete Tätigkeiten ausgefüllt sind, gewahrt werden soll, dann müssen beide durch einen Übergang vermittelt sein, der im Subjekt selbst vollzogen werden kann261. Den Ort dieses Überganges bezeichnet Schleiermacher als Gefühl, bzw. als unmittelbares Selbstbewußtsein. Er ist unmittelbar, weil die Einheit der verschieden bestimmten Lebensmomente nicht durch deren Bestimmtheit vermittelt sein kann. Unmittelbar bedeutet aber nicht, daß das Selbstbewußtsein des Subjekts von den Tätigkeiten abgelöst werden kann, deren Übergang es vermittelt. Vielmehr sind in jedem Moment des individuellen Lebens alle drei Momente enthalten, von denen jeweils eines dominiert. Aufgrund des Dominanzverhältnisses kann Schleiermacher die Auffassung abweisen, daß "die Frömmigkeit ein Zustand sei, in welchem Wissen, Fühlen und Tun verbunden ist" (§ 3,5/1,22). Denn damit wird nur der allgemeine Zustand in jedem Moment des individuellen Lebens beschrieben. Seine besondere Qualität gewinnt jeder Augenblick des Lebens erst durch die Dominanz eines der drei Momente. 'Frömmigkeit' bezeichnet dann den Zustand, der durch die Dominanz des Gefühls, d . h . des inneren Lebens, bestimmt ist. Es ist bereits auf die über die Reden von 1806 hinausgehende Bestimmung der Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit und ihre Bedeutung im Blick auf die Wahrnehmung der Totalität hingewiesen worden^62 Schleiermacher selbst diese Differenz gesehen hat, zeigt die Erläuterung in der dritten Ausgabe der Reden von 1821, in der er die Bestimmung der Religion als Gefühl (1806) mit der Bestimmung der Frömmigkeit in der Glaubenslehre durch den Hinweis auszugleichen sucht, ß
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- 270 daß bei der Einwirkung zwischen einzelnen Dingen als solchen und ihrer Einwirkung als Teil des Ganzen differenziert werden müsse (P 136). Diese Differenzierung ergibt sich d a r a u s , daß Schleiermacher in der Glaubenslehre die subjektive Seite des Lebens, das im Gefühl r e p r ä s e n tierte Moment des F ü r - s i c h - s e i n s , präziser bestimmt als Insichbleiben und die darin enthaltene Selb st be ziehung als unmittelbares Selbstbewußtsein ausdrücklich macht. Denn soll das Gefühl das wirkliche Selbstbewußtsein des individuellen Subjekts sein, d . h . das "wirkliche Bewußtsein", das das individuelle Subjekt von sich als lebendem Wesen hat, so muß dieses Bewußtsein diejenige S t r u k t u r haben, die die psychologische Beschreibung des Lebensvollzuges des Subjekts ergeben h a t . Ist das Leben des Subjekts durch den Wechsel von Insichbleiben und Aussichheraustreten bestimmt, so kann nicht das isolierte, sich selbst gleiche Subjekt den Gegenstand des Selbstbewußtseins bilden, sondern es muß auch die wechselnde Bestimmtheit seiner Beziehung auf anderes mit enthalten sein. Das Bewußtsein, das das individuelle Subjekt von sich selbst h a t , weist eine "Duplizität" auf, die Schleiermacher näher bezeichnet als "Sichselbstsetzen" und "Sichselbstnichtsogesetzthaben", als "Sein" und "Irgendwiegewordensein" u n d als "Sein des Subjektes f ü r sich" und "Zusammensein mit anderem" (GL § 4,1/1,24). Der Vergleich mit den Bestimmungen a u s der zweiten Rede von 1806 zeigt eine E n t s p r e c h u n g zur gebildeten Lebensanschauung und macht deutlich, daß diese hier als integraler Bestandteil des 'Gefühls' e r s c h e i n t . Auf diesem Hintergrund ist es z u t r e f f e n d , wenn Schleiermacher seine Analyse des Selbstbewußtseins als "höchste Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins" (GL § 5) bezeichnet. Das als Selbstbewußtsein explizierte Gefühl ist dann als eine Darstellung des gebildeten Selb st Verständnisses zu v e r stehen, so daß die über die Reden von 1806 hinausgehende Bestimmung der Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit sich als dem Anspruch der wissenschaftlichen Bildung adäquat erweist # Indem das Subjekt sich seiner selbst als 'Fürsichsein' und als 'Zusammensein mit anderem' bewußt i s t , sich nicht n u r als ein 'Sein' sondern auch als ein 'Irgendwiegewordensein' anschaut, ist in Anlehnung an die Terminologie Fichtes dieses Selbstbewußtsein nicht hinreichend als 'Sichselbstsetzen' bestimmt. Dadurch wäre wie in der psychologischen Beschreibung n u r die eine Seite des Lebens e r f a ß t , die Einheit des individuellen Subjekts unmittelbar vorausgesetzt, und davon abgesehen, daß sie selbst e r s t im Lebensvollzug konstituiert ist. Die Einheit des individuellen Lebens ist im Selbstbewußtsein e r s t e r f a ß t , wenn neben dem 'Sichselbstsetzen' auch das'Sichselbstnichtsogesetzthaben' erkannt ist und gesehen wird, daß die Einheit des Fürsichseins zugleich die Einheit des Fürsichseins u n d des Zusammenseins mit anderem r e p r ä s e n t i e r t . Daß Schleiermacher auch diese "Analyse des Selbstbewußtseins" (1,24) an dem Modell der Wahrnehmung, in welchem der Begriff d e s Gefühls seinen Ort hat, orientiert, zeigt sich darin, daß er auch hier die beiden u n t e r -
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schiedenen Seiten des Lebens durch die Begriffe der Spontaneität und Rezeptivität charakterisiert. So wird ohngeachtet der Erläuterung des Gefühlsbegriffs durch den des Selbstbewußtseins das 'Fühlen' als 'reine Empfänglichkeit' (1,18) bezeichnet. Ebenso ergibt sich f ü r die 'Duplizität' des Selbstbewußtseins unter diesem Blickwinkel die Vorordnung der "irgendwie getroffenen Empfänglichkeit" (1,25). Denn jede Spontaneität oder Selbsttätigkeit des individuellen Subjekts beruht darauf, daß dieses sich seines Zusammenseins mit anderem bewußt geworden ist, so daß seine "unbestimmte Agilität Gestalt und Farbe" erhält (1,24). Allerdings erlaubt die Bestimmung des Gefühls als Selbstbewußtsein eine Differenzierung im Gefühlsbegriff selbst, indem nach dem Wahrnehmungsmodell zwischen der ursprünglichen Bedeutung des Gefühls als des subjektiven Eindrucks, den eine bestimmte Wahrnehmung hinterläßt, und der Bedeutung, die dem Gefühlsbegriff als Bestimmung der Religion zukommt, indem in ihm das Wissen um die vollzogene Wahrnehmung enthalten ist, unterschieden wird. Wird Wissen und Handeln auf die Einheit des Subjekts bezogen und als 'Aussichheraustreten' verstanden, dem das 'Insichbleiben' als 'Bewegtwerden' im Subjekt gegenübersteht, so ist entsprechend auch im wirklichen Selbstbewußtsein zwischen Gefühlen zu unterscheiden, die auf die Einheit des Bewußtseins bezogen sind und dem Gefühl, das das 'Irgendwiegewordensein' repräsentiert Indem das in beiden Richtungen des Bezogenseins mitgesetzte andere als eines und dasselbe identifiziert wird, muß sich das Selbstbewußtsein als in Wechselwirkung mit dem mitgesetzten anderen stehend begreifen. Und wie das unmittelbare Selbstbewußtsein die Gesamtheit der Gefühlsmomente zur Einheit des Selbstbewußtseins vereint, so muß es auch das in dem Gefühl mitgesetzte andere als Einheit einer Gesamtheit, d . h . als Welt setzen. Die èinheitsstiftende Funktion des Selbstbewußtseins konstituiert zugleich mit der Einheit der Gefühlsmomente des lebendigen Subjektes das gesamte Außer-sich als Welt. Schleiermacher kann die Konstruktion des wirklichen Selbstbewußtseins in der Definition zusammenfassen: "Demnach ist unser Selbstbewußtsein als Bewußtsein unseres Seins in der Welt oder unseres Zusammenseins mit der Welt eine Reihe von geteiltem Freiheitsgefühl und Abhängigkeitsgefühl" (GL § 4,2/1,26). Nachdem Schleiermacher das Selbstbewußtsein als Bewußtsein seines Seins in der Welt definiert hat, ergibt sich, daß das schlechthinnige Freiheitsgefühl, das als eine aus sich herausgehende Selbständigkeit immer auf einen gegebenen Gegenstand gerichtet ist, im zeitlichen Sein keinen Ort haben kann. Aber ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl ist möglich, sofern es nicht auf ein einzelnes Moment, das immer die Wechselseitigkeit zwischen Subjekt und gegebenem Gegenstand enthält, bezogen ist, sondern als ein die Gesamtheit solcher Momente umfassendes Bewußtsein betrachtet wird.
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"Allein eben das unsere gesamte Selbständigkeit, also auch, weil diese niemals Null ist, unser ganzes Dasein begleitende, schlechthinnige Freiheit verneinende Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit; denn es ist das Bewußtsein, das unsere ganze Selbständigkeit ebenso von anderwärts her ist, wie dasjenige ganz von uns her sein müßte, in Bezug worauf wir ein schlechthinniges Freiheitsgefühl haben sollten. Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich" (GL § 4,3). Nachdem schon für das einzelne Moment des Selbstbewußtseins kein schlechthinniges Freiheitsgefühl angenommen werden kann, und das mitgesetzte Andere in seiner Gesamtheit als die außer dem Selbstbewußtsein seiende Welt gesetzt ist, kann auch das seine Momente in sich zusammenfassende Selbstbewußtsein nicht als schlechthin frei bestimmt werden, weil das mitgesetzte andere der Welt nicht durch es hervorgebracht wird. Gilt aber nur die Alternative zwischen den beiden Richtungen des Bezogenseins, so kann aus der Negation des schlechthinnigen Freiheitsgefühls auf die Bestimmung des unmittelbaren Selbstbewußtseins als schlechthinnigem Abhängigkeitsgefühl geschlossen w e r d e n ^ ^ Bezieht man diese Bestimmung des "sich selbst gleichen Wesens der Frömmigkeit" auf die Konzeption der zweiten Rede von 1806, so zeigt sich, daß Schleiermacher in der Weise eine Differenzierung vorgenommen hat, daß er nicht nur auf dem gebildeten Standpunkt das "Werden des Bewußtseins" mit der gebildeten Lebensauffassung identifiziert, sondern daß er diese Identifikation als "Analyse des Selbstbewußtseins", d . h . als Explikation des gebildeten Selbstbewußtseins vollzieht. Insofern in die Darstellung des Wesens der Frömmigkeit mit dem schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl und Gottesbewußtsein als der höchsten Stufe des menschlichen Selbstbewußtseins der gebildete Standpunkt selbst einbezogen ist, Frömmigkeit also nicht nur für die Gebildeten, sondern im gebildeten Selbstbewußtsein aufgewiesen wird, ergibt sich eine Differenzierung des Gefühlsbegriffs, die in der Unterscheidung von Gott und Welt zum Ausdruck kommt. Wird die Einheit des Gefühls in der Folge der Lebensmomente als Selbstbewußtsein bestimmt, dann muß davon jene Einheit unterschieden werden, die als ursprüngliche Einheit jedes Lebensmomentes durch Religion bzw. Frömmigkeit repräsentiert ist. Damit entsteht die Schwierigkeit, wie die Einheit der beiden unterschiedenen Momente als Selbstbewußtsein zur Darstellung gebracht werden kann. Schleiermachers Lösung besteht darin, daß er in Konsequnz seiner gegenüber Schelling geltend gemachten Kritik nicht die Einheit beider Momente an sich zu bestimmen versucht, sondern ihre Beziehung durch einen Gegensatz erfaßt. Daher überträgt er die Bestimmungen der Rezeptivität und Spontaneität, durch die die Beziehungen der Einheit des Fürsichseins zu dem anderen, mit dem es zusammen ist, bezeichnet werden, auf die unterschiedenen Momente im Subjekt bzw. im Selbstbewußtsein selbst. Wird im 'Insichbleiben' des Subjekts das 'Sich selbstsetzen 1 der Spontaneität zugeordnet, so kann das
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'Irgendwiegewordensein', die durch Frömmigkeit repräsentierte ursprüngliche Einheit von Sinn und Gegenstand, die für die Wechselwirkung des Subjekts mit dem mitgesetzten anderen in Anspruch genommen ist, nur der Rezeptivität zugeordnet werden. Nur ist die Zuordnung des Gegensatzes von Spontaneität und Rezeptivität eine andere, ob sie als relatives Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl auf die Wechselwirkung zwischen Subjekt und dem mitgesetzten Anderen bezogen ist, oder ob sie das Verhältnis der ursprünglichen zur gewordenen Einheit im Selbstbewußtsein bezeichnet. Zwar kann Schleiermacher dadurch, daß er die Lebenseinheit des individuellen Subjekts durch das Verhältnis der unterschiedenen Momente als "Duplizität" faßt, die Zusammengehörigkeit der Momente zum Ausdruck bringen, d . h . daß er das unmittelbare Selbstbewußtsein nicht betrachten kann, ohne seine Beziehung auf anderes zu berücksichtigen, daß er das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit nicht betrachten kann, ohne das relative Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl zu berücksichtigen. Aber da die Präsenz der ursprünglichen Einheit im Selbstbewußtsein durch Rezeptivität als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit aufgrund einer Argumentation ex negativo bestimmt ist, kann das in dem Ausdruck 'Abhängigkeit' mitgesetzte andere nur uneigentlich bezeichnet werden. Diese bereits in der Wesensbestimmung der Religion als Gefühl im Gegenüber zu Wissen und Handeln enthaltende Konsequenz 2 ^ zeigt sich an der Einführung des Gottesbegriffs. Nachdem Frömmigkeit als eine Bestimmtheit des Gefühls eingeführt und als Abhängigkeitsgefühl bestimmt ist, das als Einheit der entgegengesetzten Richtungen des Bezogenseins auch die Ermöglichung des relativen Freiheitsgefühls darstellt, bleibt noch das "Woher" des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls und des "irgendwie bestimmten Selbstbewußtseins" (§ 3,4) zu bestimmen. Aufgrund des bisher Entwickelten kann Schleiermacher zwei Auffassungen ausschließen: Die Welt als die der Einheit der den selbstbewußten Momenten entsprechende Gesamtheit des mitgesetzten anderen kann wegen des in dieser Relation enthaltenen Freiheitsgefühls nicht das Woher der Abhängigkeit bezeichnen. Stattdessen ist das im reinen Abhängigkeitsgefühl mitgesetzte 'Woher' durch den traditionellen Ausdruck 'Gott' zu benennen. Dabei ist aber wegen der Entgegensetzung von Wissen und Gefühl dieser Ausdruck nicht auf ein ursprüngliches Wissen zurückzuführen, wenn auch nicht ausgeschlossen ist, daß auch das Wissen, das sich seiner selbst vergewissert, zu einer entsprechenden Behauptung kommt, wie sie Schleiermacher in seiner Dialektik aufgestellt hat 2 °^. Aber das Wissen kann nicht die Frömmigkeit und das im Abhängigkeitsgefühl mitgesetzte andere bedingen. Einem solchen Mißverständnis vorzubeugen, gegen das sich Schleiermacher in seinem ersten Sendschreiben an Lücke gewehrt h a t ^ , hat er den Ausdruck 'Gott' präzis als "ursprünglichste Reflexion" und "ursprünglichste Vorstellung" des frommen Bewußtseins bezeichnet. Die mit dem Ausdruck 'Gott' bezeichnete Vorstellung muß von derselben Unmittelbarkeit sein wie das Abhängigkeitsgefühl. Dennoch besteht eine Differenz, die
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in der einfachen Gleichsetzung "daß wir uns unser selbst als schlechthin abhängig, oder . . . als in Beziehung mit Gott bewußt sind" (GL § 4) nicht zum Ausdruck kommt. Das Bewußtsein der Abhängigkeit kann Schleiermacher durch seine Analyse des Selbstbewußtseins erschließen. Auch das 'Woher' der Abhängigkeit ist darin impliziert. Die Vorstellung und Benennung dieses 'Woher' beruht dagegen auf der Spontaneität des sich abhängig wissenden Selbstbewußtseins. Da Schleiermacher Gott als absolute Einheit nicht als Gegenstand des Denkens, sondern nur im Modus einer Voraussetzung thematisiert, da er die Einheit des lebenden Subjekts nur als Beziehung seiner Momente erfassen kann, ergibt sich entsprechend der Zuordnung von Rezeptivität und Spontaneität, daß die durch den Ausdruck 'Gott' bezeichnete Vorstellung zugleich die ursprüngliche Darstellung des frommen Selbstbewußtseins ist. 'Gott' bezeichnet dasjenige, "worauf wir unser Sosein zurückschieben" (1,30) als das, was für das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit das Mitbestimmende ist. Erst indem das benannt ist, worauf das Sosein zurückgeschoben werden kann, ist das Mitbestimmende als unterschieden vom Gefühl der Abhängigkeit gesetzt. Das spontane Element besteht also in der Ausbildung einer Vorstellung für das Woher der schlechthinnigen Abhängigkeit und in der Identifizierung des Gottesbewußtseins mit dem Abhängigkeitsbewußtsein. Schleiermacher hat offenbar diese Differenz markieren wollen, als er nicht die einfache Identität aufgestellt, sondern den Zusatz eingeschoben hat, "was dasselbe sagen will". Daß das Gottesbewußtsein, d . h . die Ausbildung einer Gottesvorstellung erst das Abhängigkeitsgefühl als Selbstbewußtsein vollendet, indem es der Rezeptivität die diese nicht aufhebende Spontaneität zur Seite stellt und so erst die vollständige Darstellung des Selbstbewußtseins ist, formuliert Schleiermacher ausdrücklich: "Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl wird nur ein klares Selbstbewußtsein, indem zugleich diese Vorstellung (sc. von Gott) wird" (§ 4 , 4 ) . Trotz der Identität von Abhängigkeitsgefühl und Gottesbewußtsein bleibt ein Gefälle zwischen den beiden Gliedern der Identität. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, das Moment der Rezeptivität, hat eine notwendige Priorität, der gegenüber erst das Gottesbewußtsein ausgebildet werden kann. Dem rezeptiven Moment des Abhängigkeitsgefühls gegenüber bleibt auch die spontane Darstellung nachträglich, in welcher sich das Selbstbewußtsein erst als Selbstbewußtsein erweist. Diese Differenz zwischen der ursprünglichen Konstitution des Selbstbewußtseins und seiner Vollendung als Gottesbewußtsein macht Schleiermacher fruchtbar für die Darstellung der Frömmigkeit. Denn sie erlaubt ihm bei gleicher Verfaßtheit der Subjekte und dem damit verbundenen Selbstbewußtsein (Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit) einen individuell differierenden Bewußtseinszustand anzunehmen. Erst der höchste Bewußtseinszustand, das sich durch die Darstellung des Abhängigkeitsgefühls als Gottesbewußtsein vollendende Selbstbewußtsein, ermöglicht eine Identifikation der Frömmigkeit und ihrer sittlichen Organisation. Schleiermacher entwickelt diese Argumentation im Blick auf eine "ursprüngliche Offenbarung":
- 275 "Wenn man von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen redet, so wird immer dieses damit gemeint sein, daß dem Menschen mit der allem endlichen Sein nicht minder als ihm anhaftenden Abhängigkeit auch das zum Gottesbewußtsein werdende unmittelbare Selbstbewußtsein derselben gegeben ist. In welchem Maß nun während des zeitlichen Verlaufs einer Persönlichkeit dieses wirklich vorkommt, in eben dem schreiben wir dem Einzelnen Frömmigkeit zu" (GL § 4 , 4 ) . Das Bewußtsein der schlechthinnigen Abhängigkeit ist erst zutreffend als Selbstbewußtsein bestimmt, wenn es zum Gottesbewußtsein geworden ist. Aber damit es sich als Gottesbewußtsein begreifen kann, muß es sich als das Selbstbewußtsein begriffen haben, das sich seiner selbst als abhängig bewußt ist, weil nur dann es sich als in Beziehung mit Gott stehend verstehen kann. Mit dem Abhängigkeitsgefühl wird von Schleiermacher also gerade versucht, die Beziehung des individuellen Subjekts in seinem Lebensvollzug zu etwas darzustellen, das ihm so vorausgesetzt ist, daß es nicht ein Gesetztes ist. Dieser Voraussetzungscharakter zeigt sich auch daran, daß auch'das im Gottesbewußtsein sich darstellende Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit nicht ohne sein Bezogensein auf das andere Moment im Selbstbewußtsein thematisiert werden kann. Ebenso wie die Einheit des lebendigen Subjekts nur im erfüllten Lebensmoment besteht, kann auch die Einheit des Selbstbewußtseins nur als Zusammenhang der analysierten Momente begriffen werden. Das Abhängigkeits- bzw. Gottesbewußtsein besteht nur zusammen mit dem relativen Freiheits- und Abhängigkeitsgefühl. Schleiermacher entwickelt diese differenzierte Einheit als Resultat der individuellen Entwicklung, die nach dem Drei-Stufen-Schema dargestellt wird, das bereits in den Frühschriften eingeführt worden ist269. Sie findet in den Entwicklungsstufen der Frömmigkeit ihre gattungsgeschichtliche Entsprechung. Die erste Stufe der menschlichen Entwicklung, die zu einem klaren Selbstbewußtsein führen soll, ist durch das Fehlen eben dieses Selbstbewußtseins bestimmt. Ist das klare Selbstbewußtsein die spezifische Eigentümlichkeit menschlichen Lebens, so rückt die erste Stufe, in der das geistige Wesen des Menschen sich entwickeln soll, in eine Verwandtschaft zum tierischen Zustand, der vom vor sprachlichen Bewußtsein der Kinder dadurch unterschieden ist, daß in ihm nicht der Keim zum geistigen Leben ruht. In diesem Zustand, der nicht als Bewußtlosigkeit qualifiziert werden kann, fehlt, worauf die Sprachlosigkeit deutet, einerseits die Erkenntnis, die das Woher einer Erregung als von dieser unterschieden sétzt, und andererseits das Selbstbewußtsein, das die unterschiedenen Momente zur Einheit des Lebens verbindet. Als ein Bewußtsein, das weder sich noch bestimmte Gegenstände zu unterscheiden vermag, kann Schleiermacher diesen Zustand als 'verworren' charakterisieren. Dabei wird angenommen, daß es sich um Bewußtsein handelt, ohne daß deutlich wird, in welchem Sinne hier von 'Bewußtsein' die Rede sein kann.
- 276 Die zweite Stufe der Entwicklung ist e r r e i c h t , wenn in dem erwachten Bewußtsein der Unterschied zwischen Anschauung und Gefühl, zwischen dem subjektiven und einem objektiven Moment h e r v o r t r i t t . Dieses Gegenstandsbewußtsein entwickelt sich im Zuge der einzelnen E r f a h r u n g e n , die das Subjekt macht, und schließt die Gesamtheit der Wahrnehmungen und die e n t s p r e c h e n d e n Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins in sich. Diesem Gebiet der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt ordnet Schleiermacher auch die der Selbstwahrnehmung korrespondierenden Gefühle, die "selbstischen" Gefühle zu, insofern auch sie auf das Selbst als ein bestimmtes einzelnes gehen. Davon ist schließlich die d r i t te S t u f e , das Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit, unterschieden, weil es als Selbstbewußtsein nicht das Bewußtsein von sich selbst als einem bestimmten einzelnen, sondern "als einzelnem, endlichen Sein ü b e r haupt" ist (§ 5,1/1,32). Darin ist "alles, dem sich das Subjekt auf der mittleren Stufe entgegensetzte, als mit ihm identisch zusammengefaßt" ( e b d . ) . Das Gebiet des sinnlichen Bewußtseins besteht durch die Wechselwirkung von einzelnen. Daß aber etwas mit anderem in Beziehung s t e h t , ist dem Etwas als solchem gleichgültig. Der Unterschied zwischen Rezeptivität und Spontaneität, auf dem die Wechselwirkung b e r u h t , ist n u r in dem Bewußtsein, das den Unterschied macht. Das u n t e r s c h e i d e n de Bewußtsein geht nicht darin a u f , das unterschiedene Bewußtsein der Wechselwirkung zu sein. Diesen Sachverhalt b e g r e i f t Schleiermacher aber nicht als Einheit des sich von sich unterscheidenden Selbstbewußtseins, sondern als eine Beziehung, die zwischen den unterschiedenen Momenten b e s t e h t . Diese Intention wird in der Ablehnung des absoluten Freiheitsgefühls deutlich. Schleiermacher gibt zu, daß auch in dem schlechthinnigen Freiheitsgefühl der Gegensatz zwischen bestimmten einzelnen a u f g e hoben ist. Aber er macht geltend, "daß ein solches Subjekt nie mit a n dern gleichartigen in irgendeiner Beziehung stehen kann, sondern alles, was ihm gegeben i s t , darf n u r als empfänglicher Stoff gegeben sein" (§ 5,2/1,33). Wird die Einheit des Selbstbewußtseins als absolutes Freiheitsgefühl b e g r i f f e n , so läßt sie f ü r Schleiermacher wohl den Unterschied zwischen dem absolut Tätigen und dem empfänglichen Stoff, nicht aber die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt zu. Da es wegen dieser E n t gegensetzung kein Bewußtsein absoluter Freiheit geben kann - ein solches Bewußtsein muß f ü r seine absolute Freiheit empfänglich s e i n ? 0 - , und folglich auch kein Ubergang von einem absoluten Freiheitsgefühl zum Bewußtsein der durch Objekte bedingten Freiheit, so muß umgekehrt das Moment der Bedingtheit als Endlichkeit des Selbstbewußtseins schlechthin zur Bestimmung des unterscheidenden Selbstbewußtseins herangezogen werden. Indem aber die Einheit des wirklichen Selbstbewußtseins n u r u n t e r Voraussetzung seiner endlichen Bestimmtheit b e griffen werden kann, wird das Begreifen dieser Einheit a u f g e g e b e n . Sie kann n u r als vorausgesetzte in Anspruch genommen werden, die ihr e r selbst gewahr wird, wenn sie ihre Bestimmtheit zur Darstellung bringt und in der Darstellung der konstituierenden Rezeptivität der eigenen Spontaneität Geltung v e r s c h a f f t . 2
- 277 Während es bei der Bestimmung des 'sich selbst gleichen Wesens' der Frömmigkeit darum geht, die höchste Stufe des menschlichen Bewußtseins vom Gegenstandsbewußtsein abzuheben, so liegt die Aufgabe d e s Entwicklungsschemas, die sich folgerichtig a u s der Wesensbestimmung der Frömmigkeit e r g i b t , darin, daß das Zusammensein der u n t e r s c h i e denen Momente im Selbstbewußtsein d u r c h die Verbindung der höchsten u n d mittleren Stufe der Entwicklung dargestellt wird. Das Leben des einzelnen Subjekts vollzieht sich in der Abfolge seiner Momente und schließt die Veränderung des Subjektes ein. Dessen Selbstbewußtsein wäre nicht das Selbstbewußtsein eines lebenden Wesens, wenn e s n u r d u r c h das sich immer gleichbleibende höhere Selbstbewußtsein, d u r c h das Gottesbewußtsein, bestimmt i s t . Durch das Zusammensein mit dem sinnlichen Bewußtsein ist auch das höhere Bewußtsein als Bewußtsein in einem Veränderlichen selbst d u r c h die Veränderung bestimmt. Aber im Sinne des Zusammenseins ist es durch diese Bestimmung nicht a u f gehoben, sondern seine Präsenz in einem Veränderlichen läßt sich als dessen inneres Leben beschreiben. Durch das Zusammensein von höherem und sinnlichem Selbstbewußtsein ist ein Verhältnis konstituiert, das in den einzelnen Lebensmomenten verschieden bestimmt sein kann, je nachdem das eine oder das andere Moment dominiert. Da das höhere Selbstbewußtsein die ursprüngliche Einheit r e p r ä s e n t i e r t , während das sinnliche f ü r die V e r ä n d e r u n g s t e h t , die im Wechsel der verschiedenen Bestimmtheiten durch anderes e n t s t e h t , so ergibt sich einmal, daß das Überwiegen d e s höheren Bewußtseins im einzelnen Lebensmoment als Leb e n s s t e i g e r u n g von dem Subjekt als f ü r - s i c h - w e r d e n d e Einheit e r f a h r e n wird. Dagegen bedeutet die Dominanz des sinnlichen Bewußtseins eine Hemmung des Lebens f ü r das Subjekt, ohne daß damit die Einheit seines Lebens als Folge seiner Momente aufgehoben wird. Es ergibt sich zum a n d e r e n , daß es durch den Wechsel im inneren Leben, d . h . durch den Wechsel von Lebenshemmung u n d -Steigerung eine vollkommen selbstbewußte L e b e n s f ü h r u n g nicht gibt, daß sie aber vom Subjekt um seines Fürsichseins willen angestrebt w i r d ^ l . Dem a n g e s t r e b t e n Zustand der Seligkeit als "unveränderlicher Gleichheit des Lebens" (1,38) n ä h e r t sich das Selbstbewußtsein in der Weise an, daß das fromme Gefühl im inneren Leben allmählich ein dauerndes Ubergewicht ü b e r das sinnliohe e r langt. Damit ist f ü r die Wesensbestimmung der Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ein e n t s p r e c h e n d e s Dominanzverhältnis zu dem e r reicht, das in der psychologischen B e t r a c h t u n g zwischen Fühlen, Wissen und Tun aufgestellt worden ist. Angesichts dieser Verdoppelung stellt sich die Frage, ob nicht bereits das Gefühl als Repräsentant der lebendigen Einheit des Subjekts hinreichend bestimmt ist, so daß sich die Entwicklung d e s s t r u k t u r i e r t e n Gefühlsbegriffs e r ü b r i g e n würde. In der Tat läßt sich, wie die Reden von 1806 zeigen, Religion als Repräsentant der ursprünglichen Einheit durch den Begriff des Gefühls e r f a s s e n . Aber
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diese einfache Darstellung bleibt ihm selbst äußerlich. Es ist die Darstellung für die Gebildeten, sie ist nicht für das religiöse Individuum selbst. Soll das religiöse Gefühl aber zugleich Selbstbewußtsein des religiösen Individuums sein, so muß im Gefühl die psychologische Struktur des lebendigen Subjekts selbst enthalten sein. Aus der um des Selbstbewußtseins willen notwendigen Verdoppelung folgt weiter der Vorrang der Frömmigkeit im inneren Leben. Die Einheit des Subjekts ist im Selbstbewußtsein erst dann zugleich mit seiner Bezogenheit auf anderes erfaßt, wenn die zugrundeliegende ursprüngliche Vereinigung adäquat in der Frömmigkeit repräsentiert ist, indem sie im inneren Leben dominiert. Wie das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit das sinnlich bestimmte Gefühl bestimmen muß, um die Einheit des Subjekts als besonderes Individuum zur Geltung zu bringen, so muß dann auch das fromme Leben über das Aussichheraustreten des Subjekts, über seine Beziehung zu anderem, die es im Wissen und Handeln wahrnimmt, dominieren, wenn die besondere Individualität dieses Subjekts voll zur Wirkung kommen soll. Da Schleiermacher in der Glaubenslehre über die Reden hinausgeht, indem er nicht das Wesen der Religion für die Gebildeten aufweist, sondern Frömmigkeit als integralen Lebensvollzug des einzelnen selbstbewußten Subjekts nachweist, kann er sich nun nicht mit dem Hinweis auf das gesellige Wesen des Menschen begnügen, um den Begriff der christlichen Kirche zu gewinnen, sondern muß diesen ebenfalls in der Analyse des Selbstbewußtseins verankern. Die Eigenständigkeit dieser Konstruktion wird auch in einem Vergleich mit der Güterlehre erkennbar. In dieser werden durch die Differenzierung der Tätigkeit der vorausgesetzten Einheit von Vernunft und Natur auf die Natur die wesentlichen Momente des sittlichen Handelns des Menschen entwickelt. Die verschiedenen Gebiete des sittlichen Handelns, zu denen der Bereich der Erregung und des Gefühls gehört272> sind gleichermaßen wesentlich, weil sie aus dem für das Handeln der Vernunft auf die Natur vorausgesetzten Wesen des Menschen als Einheit von Vernunft und Natur abgeleitet werden. Dagegen wird in den ethischen Lehnsätzen der Glaubenslehre das vorausgesetzte Wesen des Menschen rekonstruiert als Selbstbewußtsein des lebendigen Subjekts. Daraus ergibt sich erst die Einsicht in die konstitutive Bedeutung der Frömmigkeit für das lebendige Subjekt, die über die partikulare B e deutung des Gefühls in der Güterlehre als ein Bereich neben anderen hinausgeht. Schleiermacher macht damit eine Beziehung explizit, die in der Konstruktion der sittlichen Welt enthalten ist. Denn die vorausgesetzte Einheit von Vernunft und Natur im Menschen kommt in dem Bereich des individuellen Symbolisierens zur Selbst-Darstellung. Insofern ist dieser Bereich auch in der Güterlehre bereits ausgezeichnet. Aber erst in den Lehnsätzen der philosophischen Theologie kann Schleiermacher diese Auszeichnung produktiv zur Geltung bringen. Als wesentliches Element ist das fromme Selbstbewußtsein nicht aus dem vorausgesetzten Wesen des Menschen abgeleitet, sondern als notwendiges Moment
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des selbstbewußten Subjekts aufgewiesen. Das Ergebnis stellt Schleiermacher am Anfang des folgenden Abschnitts fest: "Wenn das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, wie es sich als Gottesbewußtsein ausspricht, die höchste Stufe des unmittelbaren Selb st bewußtseins ist: so ist es auch ein der menschlichen Natur wesentliches Element" (GL § 6,1/1,41). Die Eigenständigkeit der Aufstellung des Begriffs der christlichen Kirche zeigt sich auch daran, daß Schleiermacher den Gattungsbegriff nicht in dem Sinne aufgreift, in dem er ihn in der allgemeinen Einleitung der Ethik eingeführt hat, sondern in dem Sinn, wie er ihn in seiner späteren Akademie-Abhandlung "Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz" (1825) eingeführt und in der "Über den Begriff des höchsten Gutes" (1827) verwendet hat^·*. Im Unterschied zum abstrakten Naturgesetz, das seine einzelnen Anwendungsfälle außer sich hat, soll der Gattungsbegriff diese als seine Erscheinungen einschließen, aus denen er näherungsweise erkannt werden kann: "Wahre Gattungsbegriffe nun sollen der vollständige Ausdruck sein f ü r alles, was eine bestimmte Lebensform konstituiert an sich und in ihrer Differenz von andern verwandten, und zwar so, daß sie in ihrem Zusammenhange, den wir auf dem besten Wege sind immer vollkommener zu begreifen, das Naturgesetz des individuellen Lebens auf unserem ganzen Weltkörper ausdrücken" (SA 110). Dieser f ü r alle Stufen der Organisation der Natur geltende Gattungsbegriff findet in der Menschheit seinen vollkommenen Ausdruck, weil im Unterschied zu den Stufen der Vegetation (Belebung) und der Animalisation (Beseelung) auf der Stufe der Menschheit das allgemeine Moment der Gattung mit dem einen Prinzip der Begeistung zusammenfällt (SA U l f ) . "So gebührt (es) nun auch dem mit dem Eintreten des Prinzips der Begeistung entstehenden menschlichen Geschlecht die vollkommenste Gattung zu sein, d . h . das Eine in allen, nämlich jenes Prinzip selbst, muß auf das Vollkommenste in allen dasselbe und aus allem andern auf das Vollkommenste ausgeschlossen, dann aber auch jedes Einzelwesen von allen andern auf das bestimmteste geschieden und verschieden und also das Eine selbige in jedem einzelnen ein Eigentümliches geworden sein" (WW 111,2,464). Die Vollkommenheit der menschlichen Gattung beruht also darauf, daß das allgemeine Moment, das "an sich" der Gattung, als das eine geistige Prinzip bestimmt in allen Gliedern dieser Gattung zur Erscheinung kommt. Daher stehen der Gattung auf der Stufe des Menschen nicht Arten gegenüber, die in Einzelwesen zerfallen, sondern die unterschiedenen Arten und die Einzelwesen sind identisch: als Individuum repräsentieren sie die Einheit des Gattungsprinzips und sind zugleich als 'Arten' einer
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Gattung voneinander unterschieden, wie sie als Einzelwesen voneinander verschieden sind274. Die menschlichen Individuen als Gattungswesen haben das allgemeine Moment des einen geistigen Prinzips in sich. Aber als Moment der Einheit in den verschiedenen Individuen ist die Gattung als identisches Moment auf das individuelle Moment bezogen. Ist aber die Gattung als bezogenes Moment in den Individuen gegeben, dann kann die vorausgesetzte Gattung n u r d u r c h den Zusammenhang der u n t e r schiedenen Individuen, d . h . d u r c h die Verschiedenheit vermittelt, e r kannt werden. Das den Individuen inhärente Gattungsbewußtsein findet "seine Befriedigung n u r in dem Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit und in dem Aufnehmen der Tatsachen anderer P e r sönlichkeit in die eigene" (§ 6,2/1,42). - Diese Kommunikationsgemeinschaft der Individuen gilt f ü r alle Bereiche des menschlichen Wesens, auch f ü r das Gefühl als das innere Leben des Subjekts. Denn als ein eigenständiges Moment im lebendigen Subjekt muß es über das Bestimmen von Wissen und Tun hinaus selbst ein Äußeres werden "durch Gesichtsa u s d r u c k , Gebärde, Ton und mittelbar durch das Wort" ( e b d . ) . Diese Äußerung des Gefühls, die a u s dem inneren Leben, d . h . aus dem Bezogensein des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit auf das sinnlich bestimmte, hervorgegangen ist, wird von anderen Individuen wahrgenommen. Es e r r e g t "in anderen zunächst nur die Vorstellung von dem Gemütszustand des Äußernden". Aber als Vorstellung ist die Gefühlsä u ß e r u n g noch nicht adäquat e r f a ß t . Das ist e r s t der Fall, wenn die e r regende Gefühlsäußerung d u r c h das Gefühl des e r r e g t e n Individuums "in lebendiger Nachbildung" reproduziert wird. Das selbstbewußte Subjekt steht als Individuum immer schon in einer Gemeinschaft mit anderen Individuen und also auch in einer Gemeinschaft des Gefühls, durch die seine eigenen Gefühle angeregt und bestimmt sind. Dies Eingebettetsein in eine Gemeinschaft gilt f ü r das Gefühl ü b e r h a u p t und auch f ü r das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl, wofür Schleiermacher auf das E r lebnis der B e k e h r u n g r e k u r r i e r t . - Es kann daher in dem Argumentationsgang der ethischen Lehnsätze nicht ü b e r r a s c h e n , daß Schleiermacher das Selbstbewußtsein des Subjekts in seinem Lebensvollzug nicht n u r d u r c h Frömmigkeit, sondern auch als Gattungsbewußtsein bestimmt sieht. Das Hinzukommen des Gattungsbewußtseins ist daran zu e r k e n n e n , daß von der Bestimmung des Wissens und T u n s d u r c h das Gefühl als deren a n d e re Seite die Selbstdarstellung des bestimmten Selbstbewußtseins abgehoben wird, die aber n u r durch "Worte" (Wissen) und "Gebärden" ( T u n ) vermittelt werden k a n n . Darüber hinaus ist diese Selbstdarstellung zu unterscheiden von dem Gottesbewußtsein, zu welchem sich das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ausbildet, d . h . in welchem es sich u r sprünglich darstellt. Es ist aber nicht zu v e r k e n n e n , daß n u r die durch das Abhängigkeitsgefühl r e p r ä s e n t i e r t e Einheit des Selbstbewußtseins eine Bestimmung d u r c h die Gemeinschaft, ein Erregt werden durch den Gefühlsausdruck eines anderen Individuums zuläßt. - Mit dem Gattungsbewußtsein b r i n g t Schleiermacher auch ein Bezogensein des Subjekts
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zur Geltung. Aber anders als das Bezogensein des Individuums auf das mitgesetzte andere, aus dem Schleiermacher das Gefühl der Empfänglichkeit entwickelt (§ 3,3), ist dieses Bezogensein nicht auf das endliche Sein überhaupt, sondern auf die menschlichen Individuen gerichtet. Nicht die Endlichkeit, sondern die Einzelheit wird durch das Gattungsbewußtsein repräsentiert. Es ist sich im Gattungsbewußtsein als Individuum unter Individuen bewußt; es ist darin seiner selbst als Einzelwesen bewußt. Das Gefühl als Selbstbewußtsein, das den Übergang von Wissen und Handeln vermittelt, bringt die Einheit des Individuums darin zur Geltung. Und das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit repräsentiert die Einheit des Lebens im Selbstbewußtsein f ü r das Subjekt. Die Einheit seines eigenen Lebens, die alle Lebensmomente in dem einzelnen Subjekt vereinigt, die sein Für-sich-Sein ausmacht, wird erst durch das Gattungsbewußtsein als Moment des Selbstbewußtseins des einzelnen Individuums expliziert. Denn das Für-sich-Sein muß für das Subjekt selbst sein, d . h . diesem bewußt sein. Auf der Stufe der Menschheit ist das einheitsstiftende Prinzip der Begeistung zugleich Gattungsmerkmal, so daß die menschliche Gattung aus Einzelwesen besteht, aus Individuen, denen das einheitsstiftende Prinzip des Geistes inhärent ist. Das als Einheit des Prinzips bestimmte Gattungsmerkmal konstituiert die Individuen als Einzelwesen. Im Geist besteht ihre Einheit als Einzelwesen f ü r sie selbst. Das lebendige Subjekt, das seine Einheit als Selbstbewußtsein und schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl zur Geltung bringt, erweist sich darin als Glied der menschlichen Gattung, als menschliches Individuum. Das Selbstbewußtsein des lebendigen Subjekts ist zugleich Gattungsbewußtsein. Insofern Schleiermacher das Individualitätsbewußtsein durch das Gattungsbewußtsein definiert, gewinnt er die Möglichkeit, eine Vermittlung von frommen Gemütszuständen darzustellen, indem er die in den Reden 1799 entwickelte Konzeption der Mittlerschaft aufgreift. Denn anders als beim Abhängigkeitsgefühl, ist das 'Woher' des Gattungsbewußtseins seiner Möglichkeit nach mit der Gemeinschaft der Individuen bestimmbar. Da nämlich das Erregende selbst ein Individuum ist, dessen Gefühlsausdruck die Einheit des Selbstbewußtseins zur Darstellung bringt, so drückt das erregte Individuum in der Reproduktion des fremden Gefühlsausdrucks sein eigenes Gefühl aus und macht damit die eigene Einheit als Einzelwesen geltend. "Was aber das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl insonderheit bet r i f f t , so wird jeder wissen, daß es auf demselben Wege durch die mitteilende und erregende Kraft der Äußerung zuerst in ihm ist geweckt worden" (§ 6,2/1,43). Der Anfang des inneren Lebens geht auf ein Angeregt-werden durch ein anderes Individuum zurück. Indem einem lebendigen Subjekt die Darstellung der Einheit eines Individuums begegnet und ihn als Darstellung seines inneren Lebens erregt, hat sein eigenes inneres Leben angefangen. Das Hervortreten des höheren Selbstbewußtseins an dem sinnlich bestimm-
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ten Selbstbewußtsein (§ 5,3), das Hervortreten des Gefühls in und neben den Tätigkeiten des Subjekts ( § 3 ) findet hier seine letzte Bestimmung. Da es nicht als absolutes Freiheitsgefühl gedacht wird, kann Schleiermacher über seinen Anfang nichts anderes aussagen, als was dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit entspricht, daß nämlich das innere Leben zugleich mit seinem Erregtwerden durch ein anderes inneres Leben beginnt. Die Gemeinschaft, in die das individuelle Subjekt eintritt, ist begründet in dem "Heraustreten aus den Schranken der eigenen Persönlichkeit und in dem Aufnehmen der Tatsachen der anderen Persönlichkeiten in die eigene" (GL 6,2/1,42).
2. Das Wesen des Christentums: die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung Die Interpretation der ethischen Lehnsätze auf dem Hintergrund der zweiten Fassung der Reden hat im Blick auf das fromme Individuum deutlich werden lassen, welche Intention sich mit der Bestimmung des Wesens der Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit verbindet. Die über den Religionsbegriff von 1806 hinausgehende Analyse des Selbstbewußtseins des individuellen Subjekts stellt die ihrem Ort innerhalb der Theologie angemessene Bestimmung insofern dar, als auf dem wissenschaftlichen Standpunkt der Theologie nur die nähere Bestimmung der Religion im Gefühl der höchsten Stufe menschlichen Selbstbewußtseins entsprechen kann. Daher kann behauptet werden, daß die Glaubenslehre durchaus auf demjenigen Bildungsverständnis basiert, das bereits in den Reden von 1806 als Grund zu ihrer Modifikation gegenüber der ursprünglichen Fassung von 1799 zu erkennen ist. Die Analyse des Selbstbewußtseins hat für die Bestimmung des Wesens der christlichen Kirche zwei wichtige Voraussetzungen entfaltet. Zum einen hat das Zusammensein des höheren Selbstbewußtseins mit dem sinnlichen den Wechsel von Lebenserhöhung und -hemmung ergeben, so daß das fromme Leben durch eine Unstetigkeit gekennzeichnet ist, die es um der Einheit des sich schlechthin abhängig fühlenden individuellen Subjekts zu überwinden gilt (GL § 5,4). Dabei bleibt die Frage offen, wie eine Überwindung möglich ist. Eine Voraussetzung dafür ergibt sich zum anderen aus der Beschreibung des individuellen Selbstbewußtseins als Gattungsbewußtsein. Denn damit wird die Voraussetzung expliziert, daß die inneren Gemütszustände insofern kommunizierbar sind, d.h. mitgeteilt und verstanden werden können, als der Ausdruck eines Gefühls von einem anderen dann als Gefühlsäußerung verstanden ist, wenn er ihn in sich selbst zu reproduzieren vermag. Das trifft in besonderer Weise auf die Äußerung desjenigen inneren Zustandes zu, der durch das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt ist. Denn durch die Vorstellung der Gefühlsmitteilung wird verständlich, wie es zur Ausbreitung der höchsten Stufe menschlichen Selbstbewußtseins kommen kann. Bevor aber die volle Be-
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deutung dieser Voraussetzungen für das Wesen des Christentums erkannt werden kann, muß gezeigt werden, daß die Bestimmung des eigentümlichen Wesens der christlichen Kirche diesen Voraussetzungen entspricht. Schleiermacher hat aus der im Gattungsbewußtsein mitgesetzten Gemeinschaftsfähigkeit des inneren Lebens den - auch seiner Enzyklopädie zugrundeliegenden - Begriff der Kirche abgeleitet: "Jede solche relativ abgeschlossene fromme Gemeinschaft, welche einen innerhalb bestimmter Grenzen sich immer erneuernden Umlauf des frommen Selbstbewußtseins und eine innerhalb derselben geordnete und gegliederte Fortpflanzung der frommen Erregungen bildet, so daß irgendwie zu bestimmter Anerkennung gebracht werden kann, welcher Einzelne dazugehört und welcher nicht, bezeichnen wir durch den Ausdruck Kirche" (§ 6,4/1,45). An dieser Definition ist bemerkenswert, daß die universale Gemeinschaft des Gefühls vorausgesetzt bleibt und der Begriff der Kirche von vornherein eine Mehrzahl von relativ abgeschlossenen Gemeinschaften umfaßt, deren Grenzen durch geschichtliche, d . h . nicht ableitbare Bedingungen gegeben sind (Sprache, Sitte). Auf diese relativ abgeschlossenen frommen Gemeinschaften findet der Begriff der Kirche aber nur dann Anwendung, wenn in ihnen ein Bewußtsein dieser Besonderheit vorhanden ist, das im Unterschied zur zufällig begrenzten Anhäufung frommer Äußerungen erst die Erneuerung und Fortpflanzung der besonderen Gestalt gemeinschaftlicher Frömmigkeit erlaubt. Erst wenn ein solches Bewußtsein gemeinschaftlicher Identität ausgebildet ist, ist es möglich, über die Zugehörigkeit der einzelnen zu einer frommen Gemeinschaft zu entscheiden 275 _ An diesen ethischen Begriff der Kirche knüpfen die religionsphilosophischen Lehnsätze an, in denen Schleiermacher mittels einer Typologie die Eigentümlichkeit des gemeinschaftlichen Bewußtseins bestimmt. Zur Aufstellung der religionsphilosophischen Kategorien kann er an die Analyse des Selbstbewußtseins anknüpfen, weil der Typus der gemeinschaftlichen Frömmigkeit der Frömmigkeit der ihr angehörenden Individuen insoweit entsprechen muß, daß in ihm individuelle Frömmigkeit möglich ist. Schleiermacher unterscheidet die kirchlichen Gemeinschaften nach Stufen und Arten. Während unter Arten bestimmte geschichtliche Erscheinungen derselben Stufe zu verstehen sind (z.B. hellenischer und indischer Polytheismus), werden die Stufen nach der "Beschaffenheit der ihr zum Grunde liegenden frommen Gemütszustände" unteschieden, "je nachdem sie sich im bewußten Gegensatz mit den Bewegungen des sinnlichen Selbstbewußtseins zur Klarheit herausarbeiten" (§ 7,1/1,48). Die Stufen der frommen Gemeinschaften beziehen sich also auf den Entwicklungsstand des inneren Lebens ihrer Glieder. Als Kriterium der drei dem Entwicklungsschema folgenden Stufen dient das Gottesbewußtsein. Es ist der unmittelbare Ausdruck des Bewußtseins schlechthinniger Abhängigkeit^'®. Da das Abhängigkeitsgefühl sich aus
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dem sinnlich bestimmten Gefühl entwickelt (GL § 5,1), können die verschiedenen Gottesvorstellungen als Indikatoren für den jeweiligen Stand der Entwicklung angesehen werden. Ihre Vollendung findet diese Entwicklung im Monotheismus; denn er ist allein dem höchst entwickelten Selbstbewußtsein, dem Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit angemessen. Erst im Monotheismus wird das Woher der Abhängigkeit nicht mehr als ein mannigfaltiges Sinnliches vorgestellt, das von anderem sinnlich Gegebenen unterschieden ist. Der Einheit des Selbstbewußtseins des Individuums. die im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit zum Ausdruck kommt, entspricht die Einheit des 'Woher' der Abhängigkeit. Von den drei Religionen, die Schleiermacher unter den Begriff des Monotheismus rechnet, erfüllt allein das Christentum den universalen Geltungsanspruch, der mit dem monotheistischen Gott als dem Woher schlechthinniger Abhängigkeit und zugleich als dem Grund des Zusammenseins alles Endlichen in der Welt intendiert ist. Im Judentum steht der Universalität des Montheismus die Beschränkung auf die Nachkommen Abrahams entgegen, die Schleiermacher als Verwandtschaft mit dem Götzendienst auslegt. Im Islam sieht er den Monotheismus "durch seinen leidenschaftlichen Charakter und den starken sinnlichen Gehalt seiner Vorstellungen" getrübt, die der sinnlichen Bestimmtheit der polytheistischen Stufe verwandt ist. Sofern das Christentum von beiden Abweichungen frei ist, kann es als die reinste Art des Monotheismus behauptet werden (§ 8,4/1,56). Aber trotz dieser Unvollkommenheiten gehören Judentum und Islam neben dem Christentum der monotheistischen Stufe an. Daher ist es notwendig, über die Bezeichnung der Stufe hinaus auch eine Klassifikation für die verschiedenen Arten zu entwickeln. Da auch für die verschiedenen Arten des Monotheismus das höchst entwickelte Gottesbewußtsein vorauszusetzen ist, kann Schleiermacher zu seiner Bestimmung auf die Analyle des Selbstbewußtseins zurückgreifen. Der Wechsel im inneren Leben des individuellen Subjekts ergibt sich aus der Beziehung des höheren Selbstbewußtseins auf das sinnliche. Aus ihr läßt sich eine Unterscheidung gewinnen, wenn ebenso wie für das individuelle Subjekt eine Beziehung des inneren Lebens auf das äußere auch für die kirchliche Gemeinschaft eine Beziehung zur Welt aufgewiesen wird. Der Weltbezug ist durch Wechselwirkung, durch Rezeptivität bestimmt. Beide stehen in einem relativen Gegensatz zueinander, der ein fließendes 'Mehr oder Minder' darstellt, so daß nur ein Unterschied gemacht werden kann, daß nämlich in einigen Momenten die Spontaneität und in anderen die Rezeptivität überwiegt. Wird diese Differenz im Aus-sich-heraus-Treten auf das Gottesbewußtsein bezogen, so ergibt sich die Unterscheidung von teleologischer und ästhetischer Frömmigkeit. Im Blick auf die Darstellung der individuellen Frömmigkeit muß auffallen, daß Schleiermacher diese Differenz erst auf der Ebene der gemeinschaftlichen Frömmigkeit trifft. Diese Ebene ist als Gattungsbewußtsein im individuellen Selbstbewußtsein präsent. Da das Gottesbewußtsein nur im
- 285 inneren Leben des individuellen Subjekts auftritt und nur durch die Wechselbeziehung, in der das Subjekt steht, auf die Welt bezogen ist, ergibt sich erst mit der Unterscheidung des Individuums von der Gattung durch das Gattungsbewußtsein die Möglichkeit, einen überindividuellen Weltbezug zu thematisieren und die Stellung des einzelnen Individuums in ihm zu bestimmen. Die Unterscheidung von ästhetischer und teleologischer Frömmigkeit kann sich daher an der ethischen Unterscheidung des symbolisierenden und organisierenden H a n d e l n s 2 7 7 der Vernunft auf die Natur orientieren. In der teleologischen Frömmigkeit wird das auf Objekte gerichtete Handeln zurückbezogen auf das Gottesbewußtsein. Aufgrund des Gattungsbewußtseins ist es möglich, die einzelne, aus dem individuellen Subjekt hervorgehende Tätigkeit als Teil einer Gesamttätigkeit aufzufassen. Diese Gesamttätigkeit wird auf Gott in der Weise zurückgeführt, daß sie "im Bild eines Reiches Gottes" vorgestellt werden kann (GL § 9,2/63). In der teleologischen Frömmigkeit bedeutet jeder Moment, der nicht dazu übergeht, einen "werktätigen Beitrag zur Förderung des Reiches Gottes" zu leisten (1,61), eine Hemmung des frommen L e b e n s ^ . i n der ästhetischen Frömmigkeit wird in dem Handeln eine Darstellung des Täters gesehen. Aufgrund der Unterscheidung zwischen Individuum und Gattung ergibt sich, daß jedes Aussichheraustreten des Subjekts als eigentümliche Darstellung der Gattung erscheint. Wird sie auf das Gottesbewußtsein bezogen, so gilt sie als die Darstellung der "geordneten Einwirkung aller Dinge auf das Subjekt" (1,62) und findet ihren Ausdruck im Bild von der "Schönheit der Seele "279. Die aus der ethischen Entwicklung des frommen Lebens abgeleiteten religionsphilosophischen Kategorien wendet Schleiermacher zunächst nicht auf der Stufe des Monotheismus an, für die sie allein gültig sein können, weil sie ein vollendetes Abhängigkeitsgefühl voraussetzen, das nur auf der Stufe des Monotheismus gegeben ist. Vielmehr dienen diese Kategorien dazu, das Verhältnis von Christentum und hellenischem Polytheismus zu bestimmen, das in der damaligen Zeit deutlicher herausgearbeitet worden war, als das Verhältnis zum I s l a m ^ 8 0 . Schleiermachers nicht sofort durchsichtige Darstellung läßt auch erkennen, daß seine Konstruktion an diesem Verhältnis orientiert ist. Die Identifikation der ästhetischen Frömmigkeit auf der Stufe des Monotheismus mit dem durch Fatalismus gekennzeichneten Islam ist weniger deutlich. Es ist nicht sofort einsichtig, wie dieses Merkmal mit der Schönheit der Seele zusammenstimmt. Mit dem Christentum rechnet Schleiermacher auch das Judentum zur teleologischen Frömmigkeit, das aber hinter dem Christentum zurückbleibt, weil in ihm die Frömmigkeit nicht direkt zur Tätigkeit übergeht, sondern erst durch den gebietenden Willen Gottes vermittelt ist (§ 9,2/63). Diese abgrenzende Bestimmung wirft wiederum ein Licht auf die Einführung des Gottesbewußtseins als unmittelbare Reflexion des Abhängigkeitsgefühls (§ 4,4), die eine unmittelbare Gott-Welt-Beziehung abgesehen von der Vermittlung durch das Selbstbewußtsein nicht zuläßt.
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Ebenso wichtig f ü r das Erfassen des eigentümlichen Wesens des Christentums ist die nähere Bestimmung der kirchlichen Gemeinschaft durch die Stufen des Selbstbewußtseins. Aus der Definition des ethischen Begriffs der Kirche (§ 6,5) ergeben sich zwei Kriterien: a) die äußere Abgeschlossenheit, die jede Kirche "als ein von einem bestimmten Anfang ausgehendes Geschichtsstetiges" auszeichnet, b) die innere Eigentümlichkeit, d . h . die "eigentümliche Ausprägung des allen bestimmten frommen Gemeinschaften Gemeinsamen" (§ 10). Da die äußere Abgeschlossenheit abhängig ist vom Bewußtsein der Eigentümlichkeit der Gemeinschaft, dieses aber nur vorhanden ist, wenn die fromme Gemeinschaft geschichtlich hervorgetreten ist, so daß der geschichtliche Anfang f ü r die fromme Gemeinschaft konstitutiv ist, hängt die eigentümliche Einheit der Gemeinschaft an der einheitsstiftenden Funktion ihres Anfangs. Im Unterschied zur ethischen Konstruktion des Kirchenbegriffs, die von der unbestimmten fließenden Gemeinschaft über die Familie und den Familienverband zur bestimmten Gemeinschaft übergeht (§ 6,4), ist mit der religionsphilosophischen Kategorie des Monotheismus eine Gestaltung der Frömmigkeit bezeichnet, die ihre bestimmte Eigentümlichkeit als Einheit nur einem Anfänger, d . h . der Darstellung des inneren Lebens eines Individuums verdankt. Während auf den vormonotheistischen Stufen, auf denen das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl noch nicht vollständig hervorgetreten ist, die äußere und innere Einheit schwanken kann, werden die drei monotheistischen Gemeinschaften auf einen Stifter zurückgeführt, der ihre Identität verbürgt. Dieser Anfang bestimmter Kirchen durch ein einzelnes Individuum macht es unmöglich, ihre Verschiedenheit durch eine äußere Zufälligkeit (Trennung durch Raum und Zeit) zu erklären (§ 10,1/1,65), ebenso aber auch ihre Verschiedenheit auf eine zum gemeinschaftlichen Kern (Monotheismus) hinzutretende Äußerlichkeit zu reduzieren (§ 10,2/ 1,66). Vielmehr kann Schleiermacher diese Verschiedenheit als die Differenz individueller Darstellungen des gemeinschaftlichen Monotheismus begreifen. Daraus ergibt sich einerseits das kritische Verfahren, daß diese Unterschiede nur näherungsweise aus den verschiedenen Erscheinungen bestimmt werden können. Andererseits kann aber auch festgehalten werden, daß das in allen individuellen Gestalten Gemeinsame, das Gottesbewußtsein, das sowohl ihren Anfang durch ein Individuum als auch ihre gemeinsame Identität begründet, "an irgendeiner Beziehung des Selbstbewußtseins auf so vorzügliche Weise haftet, daß es sich mit allen andern Bestimmtheiten des Selbstbewußtseins nur vermittelst jenes einigen kann, so daß dieser Beziehung alle anderen untergeordnet sind, und sie allen andern ihre Farbe und ihren Ton mitteilt" (§ 10.3/I.68) 2 8 1 . Die Verschiedenheit der bestimmten Kirchen muß, da die Gleichheit des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls und des Gottesbewußtseins vorausgesetzt ist (§ 5,4/1,36) über die Differenzierung von teleologischer und ästhetischer Frömmigkeit hinaus auf eine Bestimmung des sinnlichen
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Selbstbewußtseins zurückgehen. Ihre Qualifikation als Begründung der Eigentümlichkeit eines gemeinschaftlichen frommen Lebens erlangt sie dadurch, daß alle anderen frommen Momente auf diese Bestimmtheit bezogen sind und damit selbst durch die Eigentümlichkeit geprägt erscheinen. Durch die religionsphilosophischen Lehnsätze hat Schleiermacher den ethischen Begriff der Kirche als bestimmter Gemeinschaft von frommen Individuen im Blick auf die christliche Kirche in der Weise entfaltet, daß auch auf der Seite der frommen Gemeinschaft die Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgabe gegeben ist, die im modifizierten Argumentationszusammenhang der Reden von 1806 für den Begriff der christlichen Kirche als der die Religion vermittelnden Anstalt gestellt war. In den apologetischen Lehnsätzen wird schließlich der Zusammenhang zwischen der Analyse des frommen Selbstbewußtseins und der Analyse der frommen Gemeinschaft so explizit, daß das Christentum seinem Wesen nach diejenige Gestalt von frommer Gemeinschaft darstellt, innerhalb der die höchste Stufe menschlichen Bewußtseins möglich ist. Diese Explikation erfolgt mit Hilfe des Begriffs der Erlösung. Soweit dieser Zusammenhang der Lehnsätze zutreffend erfaßt ist, erweist er sich als Ausführung des Programms, das Schleiermacher in seiner Enzyklopädie für die philosophische Theologie angegeben hat, daß sie von den ethischen und religionsphilosophischen Grundlagen aus sowohl das Wesen des Christentums als auch die Form der christlichen Gemeinschaft darzustellen habe (KD § 24). Die Verbindung von individueller und gemeinschaftlicher Frömmigkeit beruht darauf, daß einerseits das fromme Leben des Individuums durch eine Unstetigkeit gekennzeichnet ist, die ihren Grund im sinnlichen Selbstbewußtsein hat (GL § 5,4), daß andererseits die frommen Gemeinschaften auf der monotheistischen Stufe je eine solche gemeinschaftliche Eigentümlichkeit ausbilden, die einen Weltbezug einschließen muß und auf einen Stifter zurückzuführen ist. Sie bildet die "Grundtatsache", mit der alles andere zusammenhängt (I, 75). Soll das Christentum die Gestalt gemeinschaftlicher Frömmigkeit darstellen, in der die in den Lehnsätzen vollzogene Analyse des individuellen Selbstbewußtseins möglich ist, so muß der Begriff der Kirche als begrenzter Gemeinschaft in dem Sinn auf Universalität hin überschritten werden, daß gerade das eigentümliche Wesen des Christentums universaler Ausbreitung fähig ist, d . h . eine Zugehörigkeit zum Christentum für alle Menschen möglich ist. Schleiermacher knüpft deshalb an die Analyse des frommen Selbstbewußtseins an und führt den das Christentum seinem Wesen nach charakterisierenden Begriff der Erlösung als Beschreibung eines Lebensvollzuges ein. Erlösung bedeutet "einen Ubergang aus einem schlechten Zustande, der als Gebundensein vorgestellt wird, in einen bessern, und dies ist die passive Seite desselben; dann aber auch die dazu von einem andern geleistete Hülfe, und dies ist die aktive Seite desselben" (S 11,2/1,76).
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'Erlösung' bezeichnet also eine bestimmte Verknüpfung von zwei verschiedenen qualifizierten aufeinander folgenden Lebens zuständen. Der Übergang in den folgenden besseren Lebenszustand ist dem lebendigen Subjekt nicht aus sich selbst heraus möglich - insofern befindet es sich in einem Zustand der Gebundenheit - , sondern nur durch die Hilfe eines anderen - insofern ist das lebendige Subjekt als Individuum in einer Gemeinschaft aufgefaßt. Bei einem solchen Ubergang zwischen zwei aufein anderfolgenden Lebensmomenten läßt sich eine rezeptive und eine fremde spontane Seite unterscheiden. Der Übergang des lebendigen Subjekts gelingt nur mittels eines fremden Impulses. Bei dieser Beschreibung ist es gleichgültig, ob es sich um die Wiederherstellung eines früheren Zustandes handelt oder nicht; vorausgesetzt ist nur, daß das lebendige Subjekt zum Übergang in den besseren Zustand in der Lage ist, d . h . daß es die Fähigkeit besitzt, die fremde Hilfe als Hilfe zur Besserung zu erkennen und anzunehmen. Durch die Übertragung dieses Begriffs auf das innere Leben erhält dieser Begriff bildliche Qualität, weil er als Begriff nur uneigentlich zu bezeichnen vermag, was der eigentümlichen Individualität des frommen Subjekts angehört. Der Zustand der Gebundenheit ist im inneren Leben als eine Hemmung der "Lebendigkeit des höheren Selbstbewußtseins" vorzustellen, d . h . daß die Einheit des Selbstbewußtseins nicht oder nur eingeschränkt zur Geltung gebracht werden kann. Gänzlich fehlen kann aber die Einheit des Selbstbewußtseins nicht. Denn dann kann einerseits der Zustand der Hemmung nicht empfunden werden, und andererseits würde der Begriff der Erlösung gesprengt, weil für den durch ihn bezeichneten Übergang eine "Umschaffung" angenommen werden müßte. Der Zustand der Gebundenheit ist daher "als eine nicht vorhandene Leichtigkeit zu bezeichnen, das Gottesbewußtsein in den Zusammenhang der wirklichen Lebensmomente einzuführen und darin festzuhalten" (§ 1 1 , 2 / 7 7 ) . Das individuelle Subjekt befindet sich in zweifacher Weise in einem Zustand der Gebundenheit. Zum einen besteht sie solange, als im inneren Leben Momente auftreten, in denen das sinnliche Bewußtsein überwiegt, d . h . eine Unstetigkeit im inneren Leben vorhanden ist. Zum anderen ist auch dann, wenn das höhere Selbstbewußtsein dominiert, ein Zustand der Gebundenheit möglich, weil dieses zunächst nur das innere Leben, d . h . das Verhältnis zwischen dem höheren und dem sinnlichen Selbstbewußtsein betrifft, nicht aber das Verhältnis zwischen dem inneren und äußeren Leben des Subjekts, das sein Leben nur so lebt, daß es in einer Wechselbeziehung zur Welt steht. Dieses Verhältnis übt solange einen hemmenden Einfluß aus, als die individuelle Frömmigkeit das Aussichheraustreten des Subjekts nicht als Moment der Gesamttätigkeit zu bestimmen vermag. So befindet sich das fromme Individuum in einem Zustand der Erlösungsbedürftigkeit, weil es sich seiner Individualität nur über die Gemeinschaft mit anderen versichern kann. Es ist auf die fromme Gemeinschaft angewiesen, um sich seiner Stellung in der Welt zu vergewissern.
- 289 Die Geltung der kirchlichen Gemeinschaften auf der monotheistischen Stufe bemißt sich daran, inwieweit sie die Gebundenheit des Individuums überwinden und seine Erlösungsbedürftigkeit befriedigen können. Eine erlösende Wirkung wohnt ihnen allen inne, sofern sie die höchste Stufe menschlichen Selbstbewußtseins, das Gottesbewußtsein repräsentieren. In Gestalt von Büß- und Reinigungsriten bleibt die Erlösung aber ebenso partikular, wie diejenigen Gemeinschaften beschränkt sind, die die Erlösung durch Lehre und Kultregeln darstellen und vermitteln, weil beides nur in bestimmter, d.h. begrenzter Gestalt aufgestellt werden kann. Steht Erlösung nicht im Mittelpunkt des gemeinschaftlichen frommen Lebens, dann ist sie eine einzelne Erregung unter anderen. In diesem Sinne sind die Büß- und Reinigungsriten aufzufassen. Der Zustand der Erlösungsbedürftigkeit ist nicht die durchgehende Bestimmung des frommen Lebens, sondern er ist auf bestimmte Situationen beschränkt, die lehrmäßig erfaßt und durch Anordnung bestimmter gemeinschaftlicher Tätigkeiten (Riten) aufgehoben wird. Damit hat Schleiermacher den fließenden Unterschied zwischen den monotheistischen frommen Gemeinschaften in einen beziehungsweisen Gegensatz überführt, der eine Entgegensetzung erlaubt (vgl. § 11,2/77). Die gemeinschaftsgrün dende Tätigkeit besteht einerseits überwiegend in dem "Stiften der Gemeinschaft auf bestimmte Lehre und unter bestimmter Form" (§ 11,4/80). Im Unterschied zu dieser die Glieder der Gemeinschaft verpflichtenden Setzung beruht andererseits die Gemeinschaft auf der "erlösenden Tätigkeit" ihres Anfängers. Der Gegensatz ist nicht ausschließend, weil die auf die Setzung einer bestimmten Lehre und einer bestimmten Form gegründete Gemeinschaft die Erlösung als Moment einschließt, wie auch die auf der Erlösung beruhende Gemeinschaft zu einer bestimmten Gestalt und lehrmäßigen Darstellung kommt. - Aber der beziehungsweise Gegensatz enthält eine weitere Differenz. Während die setzende Tätigkeit der Stifter unmittelbar auf die frommen Gemeinschaften gerichtet ist, für die das fromme Leben ihrer Glieder vorausgesetzt ist, greift die erlösende Tätigkeit direkt in das fromme Leben der einzelnen ein, so daß die Bildung einer besonderen Gemeinschaft erst als Folge dieser Einwirkung aufzufassen ist. Daraus folgt dann die Universalität des Christentums gegenüber den anderen beiden partikularen Gestalten monotheistischer Frömmigkeit. Denn die Setzung einer bestimmten Lehre und Form ist allemal beschränkt; nur die Individuen können Glieder dieser frommen Gemeinschaft sein, auf die diese Bestimmungen zutreffen bzw. die diese Bestimmungen anerkennen. Da erlösende Tätigkeit aber auf den allgemeinen, in jedem frommen Leben vorkommenden Zustand der Erlösungsbedürftigkeit bezogen ist (§ 11,2), schließt die Gemeinschaft potentiell die gesamte menschliche Gattung ein und ist nur aktuell auf den erreichten Stand der erlösenden Einwirkung beschränkt. Die von Schleiermacher herausgestellten Unterschiede resultieren daraus, ob die Erlösung die Gestalt der frommen Gemeinschaft oder ob die durch ihren Stifter festgelegte Gestalt der Gemeinschaft die Erlösung als ein
- 290 ein Moment innerhalb der gemeinschaftlichen Frömmigkeit bestimmt. Indem aber nur im ersten Fall ein Moment der Allgemeinheit, des Identischen in aller Frömmigkeit zum Konstitutivum einer besonderen geschichtlichen Erscheinung gemacht wird, kann Schleiermacher das Christentum über die anderen Gestalten des Monotheismus erheben. Das geschieht zwar nicht ausdrücklich, vielmehr ist Schleiermacher an der die Andersheit des anderen tolerierenden Bestimmung der Verschiedenheit interessiert. Dem entspricht auch die Ebene der wissenschaftlichen Argumentation, die durch die Apologetik auf die geschichtliche Einzelheit neben anderen festgelegt ist. Aber die durchgeführte Bestimmung der Verschiedenheit kann weder den konstruktiven Charakter der Unterscheidung noch die qualitative Differenz der so unterschiedenen Formen verbergen. Das gemeinschaftliche Wesen aller Frömmigkeit ist der durch den bildlichen Ausdruck der Erlösung bezeichnete Übergang von einem Zustand des frommen Lebens, in welchem die wechselnde Bestimmtheit des Weltbezuges über das unmittelbare Selbstbewußtsein dominiert, in einen Zustand der Erlösung, in welchem das einheitsstiftende Moment im Selbstbewußtsein allen Wechsel bestimmt. Das bedeutet, daß durch das Moment innerer Einheit des Subjekts, d.h. durch sein Gottesbewußtsein zugleich auch die Einheit der wechselnden Weltbeziehung repräsentiert wird. Diesen Übergang vermag nun das einzelne individuelle Subjekt nicht selbst zu leisten, sondern es kann ihn nur so vollziehen, daß eine von außen kommende erlösende Einwirkung von ihm aufgenommen wird. Durch die Aufnahme einer erlösenden Einwirkung kann das fromme Subjekt in den Zustand der Erlösung versetzt werden. Es bleibt m.E. unklar, wie denn dieser Übergang, der doch für das fromme Selbstbewußtsein von entscheidender Bedeutung ist, zum Moment unter anderen herabgesetzt werden kann, indem es auf bestimmte Situationen beschränkt und durch bestimmte Riten der frommen Gemeinschaft vollzogen wird. Die Gebundenheit des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls wird nur in bestimmten Situationen bewußt, die durch eine entsprechende Tätigkeit in der Gemeinschaft aufgehoben werden kann. Diese Partikularität der Erlösung widerspricht aber den Bestimmungen, unter denen sie eingeführt worden ist. Denn die Tatsache des frommen Lebens als 'Mehr oder Minder' hat Schleiermacher insgesamt mit dem Zustand der Erlösungsbedürftigkeit (§ l l , 2 / I , 7 7 f ) identifiziert. Daß Schleiermacher auf die Büß- und Reinigungsriten zurückgegriffen hat, ist allerdings auf dem Hintergrund seiner Religionsphilosophie verständlich. Einerseits muß wegen der Allgemeinheit, mit der der Erlösungsbegriff eingeführt ist, die Erlösung in allen voll entwickelten Gestalten gemeinschaftlicher Frömmigkeit aufweisbar sein. Andererseits soll aber die Erlösung gerade das Christentum in seiner Eigentümlichkeit im Unterschied zu allen anderen frommen Gemeinschaften auszeichnen. Beide Bedingungen werden erfüllt, indem Schleiermacher einen festen Gegensatz unter der Bestimmung der Erlösung in dem Gebiet des fließenden Lebens da-
- 291 durch aufstellt, daß er die Erlösung der bestimmten Lehre und Form entgegensetzt (vgl. §§ 9 , 1 ; 1 1 , 2 ) . Das allgemein vorkommende Moment der Erlösung wird zum bestimmenden Moment erhoben. Das ist aber nur möglich, wenn ein entgegengesetztes bestimmtes Moment gegeben ist. Dies Moment wird von Schleiermacher nebenbei als die bestimmte Lehre und Gestalt der Gemeinschaft eingeführt. Auch wenn Schleiermacher diese Konstruktion nicht ausdrücklich macht, ist doch eine Parallele zu ziehen. Das gemeinschaftliche fromme Leben besteht aus den Momenten der Erlösung und der bestimmten Lehre und Gestalt. Lehre und Gestalt der Gemeinschaft bilden die Ausdrucksmedien des inneren Lebens, sie beruhen auf der Darstellung, d . h . der Spontaneität ihrer Glieder. Dagegen ist für Erlösung die Rezeptivität des einzelnen Gliedes der Gemeinschaft konstitutiv. Insofern kann dann behauptet werden, daß, wird das Wesen des Christentums als Erlösung bestimmt, das Christentum die der allgemeinen Darstellung des frommen Lebens adäquate fromme Gemeinschaft ist. Denn das in allen individuellen Subjekten vorhandene Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, das ihre Einheit im Selbstbewußtsein repräsentiert, wird erst durch die erlösende Einwirkung zum dominierenden Lebensprinzip über die Weltbeziehung erhoben. Andere Gemeinschaftsformen, in denen Erlösung nur das untergeordnete Moment ist, müssen notwendig die Allgemeinheit dieser Erhebung verfehlen und können in dieser Hinsicht nur als Vorformen angesehen werden. Der Bestimmung seines Wesens zufolge befriedigt also nur das Christentum das fromme Selbstbewußtsein, indem es durch die erlösende Einwirkung dieses aus dem Zustand der Gebundenheit befreit. Diese inhaltliche Bestimmung ist aber nur dann die Bestimmung einer geschichtlich individuellen Gestalt einer frommen Gemeinschaft, wenn sie für deren geschichtliches Hervortreten entwickelt werden kann. Durch die Aufnahme einer erlösenden Einwirkung kann das einzelne fromme Subjekt in den Zustand der Erlösung versetzt werden. Da die Einwirkung auf das fromme Leben bezogen ist, kann die erlösende Einwirkung nur im Medium frommer Kommunikation ihren Ort haben (§ 6 ) . Es kann sich also nicht um die Wirkung eines Objekts auf das Subjekt, sondern nur um die durch die Darstellung des inneren Lebens eines andern Subjekts vermittelte Einwirkung handeln. Die erlösende Einwirkung ist somit als erlösende Tätigkeit eines andern Individuums zu bestimmen. Die partiell e r lösenden Handlungen sind in dieser Beziehung als durch die Gemeinschaft bestimmte Handlungen anzusehen, die nur auf das gemeinschaftliche Moment und noch nicht auf die Individualität des Handelnden zurückgeführt werden. Die erlösende Tätigkeit als Darstellung des inneren Lebens eines anderen Individuums hat aber nur dann eine erlösende Wirkung, wenn das andere Individuum selbst erlöst ist, d . h . in ihm das scMechthinnige Anhängigkeitsgefühl als sein einheitsstiftendes Lebensprinzip seinen Weltbezug dominiert. Soll nun das eigentümliche Wesen einer frommen Gemeinschaft in der "Mitteilung und Verbreitung jener e r lösenden Tätigkeit" (§ 11,4/1,80) bestehen, so verlangt ihre Geschieht-
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lichkeit einen Anfang, durch den die erlösende Tätigkeit zuerst auf getreten ist. Die geschichtliche Gemeinschaft, die durch Erlösung gekennzeichnet ist, muß sich auf ein individuelles Subjekt als ihren Anfänger beziehen, das sich in der erlösenden Tätigkeit als erlöst darstellt, ohne durch ein anderes Individuum erlöst worden zu s e i n 283 _ ¡ n diesem ist das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als das schlechthin beherrschende Lebensprinzip ursprünglich. Sofern von ihm allein alle erlösende Tätigkeit ausgeht, ist er als Erlöser zu bestimmen. Ist also die fromme Gemeinschaft des Christentums sich ihres geschichtlichen Anfangs durch Christus, d.h. durch den Menschen Jesus von Nazareth bewußt, so ist er für sie der Erlöser. Indem er sich als erlöst darstellt, d.h. sein inneres, im Zustand der Erlösung befindliches Leben zum Ausdruck bringt, und dadurch die erlösende Tätigkeit von ihm ausgeht, die die christliche Gemeinschaft konstituiert, kann gesagt werden, "daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung" ( § 1 1 Leitsatz). Die Bedeutung der Erlösung für das fromme Selbstbewußtsein schließt den Weltbezug des frommen Individuums ein. Das Gottesbewußtsein garantiert seine Einheit als Subjekt, d.h. sein inneres Leben, ebenso wie mittels der Einheit des Subjekts die Einheit der Welt, zu der das einzelne Subjekt in einer Wechselbeziehung steht. Das Gottesbewußtsein des einzelnen bleibt aber solange unvollendet, als nur von der Einheit des Subjekts, nicht aber von seiner Einzelheit als Individuum ausgegangen wird, d . h . davon, daß das Individuum Glied seiner Gattung ist. Nachdem durch das Gattungsbewußtsein die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums eingeführt worden ist, muß diese in das innere Leben einbezogen werden. Das geschieht, indem in der ästhetischen und teleologischen Frömmigkeit der individuelle Weltbezug auf den Weltbezug der durch das Gottesbewußtsein erfaßten Einheit der Gattung bezogen wird. Die teleologische Gestalt des Christentums findet ihren Ausdruck darin, daß es als eine fromme Gemeinschaft beschrieben wird, die ihre Einheit in der von Jesus ausgehenden erlösenden Einwirkung hat. Auf die christologische Problematik dieses Rückschlußverfahrens von der Erlösung auf den Erlöser kann hier nur hingewiesen werden 284 # wird auf der einen Seite durch den Gedanken der monotheistischen Glaubensgemeinschaften der Ursprung als durch ein frommes Individuum gesetzt, so ergibt sich auf der anderen Seite aus dem Gedanken der Erlösung, daß dieses Subjekt nicht nur nicht selbst durch Vermittlung einer Gemeinschaft erlöst ist, sondern daß auch seine Individualität sich auf die erlösende Tätigkeit reduziert. Die doketische Gefahr wäre gebannt, wenn sich zeigen ließe, daß die von dem Erlöser ausgehende Wirkung darauf beruht, daß er als vollkommenes frommes Subjekt in der steten Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins ein der menschlichen Gattung gemäßes Leben in der Wechselbeziehung zur Welt stehend geführt hat285.
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Im individuellen Selbstbewußtsein findet die geschehene Erlösung ihren Ausdruck im "Glauben an Jesus als den Erlöser" (GL § 14). Erlösung bedeutet f ü r das einzelne Subjekt die Herrschaft des einheitsstiftenden Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit (§ 5,4). Da die erlösende Einwirkung nur von Christus, dem Erlöser, ausgeht und durch die christlich fromme Gemeinschaft vermittelt wird, muß das einzelne Subjekt, wenn es über seine Zugehörigkeit frei entscheiden soll, nicht nur ein Bewußtsein von dem Zustand der Gebundenheit haben, sondern muß sich dessen gewiß sein, daß "durch die Einwirkung Christi der Zustand der Erlösungsbedürftigkeit aufgehoben" wird (§ 14,1/94). Diese vorangehende Gewißheit wird durch den Ausdruck "Glaube an Christus" bezeichnet. Mit dem Begriff der Gewißheit bezeichnet Schleiermacher den im Subjekt repräsentierten Grund der Weltbeziehung. Das objektive Bewußtsein, d . h . das bestimmte Wissen wird von der Gewißheit begleitet, die dem bestimmten Wissen auch schon vorangehen muß, daß das Wissen f ü r seinen bestimmten Gegenstand offen und durch ihn bestimmbar ist. Es ist nicht zufällig, wenn Schleiermacher das als unmittelbare Reflexion des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls eingeführte Gottesbewußtsein durch den Gedanken der Gewißheit interpretiert. Es ist "die Gewißheit über das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als solches, d . h . als durch ein außer uns gesetztes Wesen bedingt und unser Verhältnis zu demselben ausdrückend" (§ 14,1/1,95). Indem das Bewußtsein der Erlösung als Glaube an Jesus als den Erlöser bestimmt wird, schließt sich der Argumentationsgang der Lehnsätze. Die Zugehörigkeit zur christlichen Kirche wird ihrer Definition entsprechend als Beziehung des einzelnen zu ihrer 'Grundtatsache' eben dort festgemacht, wo die Argumentation ihren Ausgang genommen hat, in der Analyse des frommen Selbstbewußtseins. Damit hat Schleiermacher den Argumentationszusammenhang der Reden in "schulgerechter Weise", d . h . dem Charakter der Theologie als Wissenschaft angemessen, dargestellt. Diese Differenz zwischen den Reden und der Glaubenslehre hat sich vor allem in drei Punkten gezeigt: Zum einen in der Bestimmung des Gefühlsbegriffs durch den des unmittelbaren Selbstbewußtseins, so daß Frömmigkeit aufgrund einer Analyse des individuellen Selbstbewußtseins bestimmt worden ist. Diese Beziehung auf das Selbstbewußtsein bestimmt auch die beiden anderen Punkte: Zum anderen ist die Gemeinschaftsbezogenheit des Individuums als Gattungsbewußtsein eingeführt worden. Und schließlich ist die christliche Kirche als diejenige fromme Gemeinschaft, in der das fromme Selbstbewußtsein möglich ist, dadurch charakterisiert, daß sie ihr Wesen in der durch Jesus vollbrachten Erlösung hat, so daß die frommen Individuen durch den Glauben an ihn als den Erlöser zugleich an der christlichen Kirche Anteil haben und ihrer Abhängigkeit im Bewußtsein ihrer Erlösungsbedürftigkeit gegenwärtig sind. Dürch diesen Argumentationsgang hat Schleiermacher eine Erklärung des Begriffs der Dogmatik erreicht. Denn sind die Individuen durch den Glauben an
- 294 den Erlöser auf die Mitteilung seines Gottesbewußtseins bezogen, so findet die vielfältige Darstellung dieses Glaubens ihre adäquate Darstellung in einem wissenschaftlichen System, das die dogmatische Theologie aufzustellen hat.
SCHLUSS Die dem zweiten Teil der Untersuchung zugrundeliegende Frage nach den Änderungen, die den Übergang von den 'romantischen' Frühschriften zu Schleiermachers 'systematischem' Werk zu erklären vermögen, hat anhand der betrachteten Texte eine Antwort gefunden: trotz der beobachteten Modifikation hat Schleiermacher an der durch den Bildungsbegriff be- i zeichneten Konzeption festgehalten. Die in ihrer zeitlichen Abfolge untersuchten Texte lassen im Rückblick einen Arbeitsprozeß erkennen, dem Schleiermacher seine Konzeption von der Schelling-Rezension bis hin zur Glaubenslehre unterzogen hat. Beobachten läßt sich dieser Prozeß an jenem Argumentations Zusammenhang, den Schleiermacher in den Reden in Gestalt einer Religions- bzw. Christentumstheorie auf dem gebildeten Standpunkt entwickelt hat. Die Frage nach der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum bezeichnet den inneren Argumentationsgang der Reden, die in der Abfolge ihrer Themen eine Antwort geben, die dem Standpunkt des gebildeten Individuums gemäß ist. Dieser Argumentationsgang liegt in Schleiermachers späterem Werk zweifach in modifizierter Gestalt vor, so daß der Vergleich die Erfassung dieser Modifikation möglich macht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß beide nicht nur Stadien dieses Arbeitsprozesses darstellen, sondern daß die Reden neben der Glaubenslehre ihren Platz behalten, wie ihre dritte und vierte Auflage parallel der Veröffentlichung der Glaubenslehre zeigt. Der Vergleich der verschiedenen Fassungen dieses Argumentationsganges kann sich an der veränderten Bestimmung des Bildungsbegriffs orientieren, weil dieser den systematischen Zusammenhang der Argumentation konstituiert. Die veränderte Bestimmung des gebildeten Selbstverständnisses läßt sich an der Konstitution der Ethik beobachten. Schleiermachers erstes wissenschaftliches Werk, die Kritik der Sittenlehre (1803), stellt den Versuch dar, auf dem gebildeten Standpunkt, d . h . unter dem Bewußtsein der eigenen Individualität durch eine Kritik der bisherigen Sittenlehre Ethik als Wissenschaft zu konstituieren. Diese Kritik, die anhand der bisherigen ethischen Entwürfe die Entwicklung des sittlichen Bewußtseins bis zur Ausbildung der ethischen Theorie, deren wissenschaftliche Gestalt dem Standpunkt gebildeter Individualität entspricht, beschreibt, beruht auf der bereits in den Reden enthaltenen Voraussetzung, daß eine befriedigende Deduktion der Ethik als Wissenschaft durch eine Wissenschaftslehre bis dahin nicht gelungen ist. Die Schelling-Rezension (1804) dokumentiert, daß sich Schleiermachers Beurteilung der wissenschaftlichen Situation verändert hat. Die Anerkennung, die er im Gegensatz zu Fichtes und auch Schellings vorheriger Philosophie Schellings Vorlesungen über die Methode des akademi-
- 296 sehen Studiums zuteil werden läßt, hat für die Ethik die Konsequenz, daß sie in dem Entwurf Schleiermachers, soweit er in der Kritik an Schellings System des Wissens zu erkennen ist, mit der einen der beiden realen Wissenschaften identifiziert und als Wissenschaft der Geschichte durch die höchste Wissenschaft konstituiert wird. In seinen späteren ethischen Entwürfen ist Schleiermacher diesem Ansatz gefolgt. Ist die Kritik der Sittenlehre auf dem gebildeten Standpunkt konzipiert, für den Ethik eine solche Theorie des gesamten menschlichen Handelns darstellt, die die dem Individualitätsbewußtsein entsprechende systematische Gestalt einer Wissenschaft haben muß, wenn der Gebildete sein Handeln sittlich bestimmen und beurteilen können soll, so signalisiert die Konstitution der Ethik als Wissenschaft durch die Deduktion von der höchsten Wissenschaft eine Änderung des gebildeten Selbstverständnisses. Denn wenn nicht der gebildete Standpunkt vollständig aufgegeben worden ist - gerade die Kritik an Schellings Entwurf im Blick auf den Religionsbegriff und die Identifikation der Ethik mit der Wissenschaft der Geschichte spricht dagegen - , so kann offenbar die Begründung der Ethik im System des Wissens dieselbe Funktion erfüllen, die zuvor durch den Rekurs auf das entwickelte sittliche Bewußtsein erfüllt worden ist. Sittliches und wissenschaftliches Bewußtsein fallen nicht mehr auseinander, sondern repräsentieren dieselbe Stufe in der Geschichte menschlichen Bewußtseins. Das Bedürfnis des gebildeten Individuums nach sittlichem, d . h . seiner Individualität angemessenem Handeln kann durch Wissen befriedigt werden. Diese Konzeption ist aber daran gebunden, daß das System der Erkenntnisse so begründet wird, daß diese Bestimmung individuellen Handelns durch die ethische Theorie möglich ist. Die Punkte, auf die sich Schleiermachers Kritik am Entwurf Schellings richtet, lassen erkennen, daß Schleiermacher einem philosophischen Ansatz folgt, der über Schellings System der Erkenntnisse hinausgeht. Schleiermacher legt zwei systematische Prinzipien zugrunde. Zum einen schließt er jede Repräsentanz des Absoluten durch besondere Indifferenzpunkte im Endlichen und ihre Erfassung im Wissen aus. Das bedeutet den Verzicht auf Theologie als reale Wissenschaft und auf die besondere Qualifizierung des Staates und der Kunst gegenüber allem anderen Endlichen. Schleiermacher ü b e r f ü h r t die drei Pole des Schellingschen Typus der Philosophie in ein zweipoliges Schema. Das Absolute findet seine Darstellung in der Beziehung von Indifferenzpunkt und relativem Gegensatz. Dieser Ausschluß ist die Bedingung dafür, daß Schleiermacher zum anderen zwischen der Darstellung des Absoluten im Ganzen und im einzelnen Endlichen zu unterscheiden vermag. Während das Wissen nur als Ganzes das Absolute darstellen kann, haben es Religion und Kunst mit seiner Darstellung im einzelnen Endlichen zu tun. Religion ist die in der Welt der Erscheinungen sich unmittelbar offenbarende Philosophie. Von dieser Zuordnung von Religion und Philosophie, die sowohl die Selbständigkeit der Religion gegenüber dem Wissen festzuhalten als auch dem
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anerkannten Fortschritt der Wissenschaft gerecht zu werden sucht, ist die erste Modifikation des Argumentationsganges der Reden in ihrer zweiten Ausgabe (1806) bestimmt. Die Anerkennung der philosophischen Begründung des Systems der Erkenntnisse bedeutet insofern eine Änderung für den gebildeten Standpunkt, als Schleiermacher jetzt nur dann als Gebildeter vor den gebildeten Verächtern erscheinen kann, wenn er dem philosophisch begründeten System Rechnung trägt und seine Darstellung von Religion und Christentum diesen Anspruch wissenschaftlicher Bildung zu erfüllen vermag. Bereits die Schelling-Rezension stellt eine erste Lösung dar, weil Schleiermacher zwar Schellings Auffassung von Theologie und Christentum kritisiert, er selbst aber auch von dem inneren Typus der Philosophie aus ein System entwirft, in welchem Religion einen von der Philosophie aus bestimmten Ort hat. Im Unterschied zu Schelling sucht Schleiermacher nicht die Theologie ins System des Wissens zu integrieren, sondern die Selbständigkeit der Religion dadurch zu wahren, daß er ihr Priorität gegenüber der Philosophie zuschreibt. Religion als sich unmittelbar offenbarende Philosophie gibt eine Antwort auf die Frage nach der Konstitution der Philosophie und läßt ebenso wie die Ablehnung einer besonderen Darstellung des Absoluten im Endlichen und der Orientierung der Religion am einzelnen Endlichen den Standpunkt gebildeter Individualität erkennen. Für den Argumentationsgang der Reden bedeutet aber dieser Standpunkt wissenschaftlicher Bildung, abgesehen von der Aufgabe der poetischen Darstellungsform der Reden, eine Neubestimmung von Religion und Christentum. Denn die Frage nach der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses verlangt eine dem gebildeten Standpunkt entsprechende Antwort. Im Blick auf den Begriff der Religion geht Schleiermacher über die Bestimmung der Schelling-Rezension hinaus. Religion wird nicht mehr als ein Wahrnehmungsvorgang höherer Art beschrieben, der die dem Denken und Handeln gegenüberstehende Seite des menschlichen Individuums repräsentiert. Auf dem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung kann nicht einfach von der Individualitätsanschauung ausgegangen werden, sondern das Individuum muß so zum Thema werden, daß es als konstitutive Voraussetzung für das philosophische System erkennbar wird. Schleiermacher nimmt dafür den Begriff des Lebens auf, der den Lebensvollzug des menschlichen Individuums als Folge von Wahrnehmungsakten höherer Art beschreibt, Anschauung und Gefühl als die beiden Produkte, die aus der Vereinigung von Sinn und Gegenstand hervorgehen, werden in jedem Lebensmoment durch das Für-sich-Sein und das Sein-im-Ganzen repräsentiert. Die Lebensfunktionen des Wissens und Handelns werden dem Sein-imGanzen, die des Fühlens dem Für-sich-Sein zugeordnet. Wird das individuelle Leben auf dem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung in dieser Weise beschrieben, so muß daran aufgezeigt werden, was Religion ihrem Wesen nach ist. Religion muß in ihrer konstitutiven Funktion nicht nur am Individuum, sondern sie muß für das Individuum in seinem Lebensvollzug aufgewiesen werden. Da jeder Augenblick des Lebens durch zwei
- 298 Momente repräsentiert wird, muß ihre Zusammengehörigkeit im Lebensvollzug selbst zum Ausdruck kommen. Religion wird als Gefühl bestimmt, weil sie im Fühlen des Für-sich-Seins die Erinnerung an die ursprüngliche Vereinigung wach hält, aus der beide Momente des Lebens hervorgegangen sind. Das durch Religion bestimmte Gefühl ist daher nicht nur das eine Moment im Lebensvollzug, sondern zugleich das Bewußtsein dieses Vollzuges. Der veränderten Bestimmung des Wesens der Religion auf dem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung muß im Argumentationsgang der Reden auch die Darstellung des Christentums entsprechen. Wird Religion als Gefühl bestimmt, dann sind alle Erscheinungen der Religion Äußerungen von Gefühlen. Das Wesen des Christentums kann nicht mehr durch eine Zentralanschauung bezeichnet werden, Christus nicht als Träger dieser Anschauung bestimmt werden. Der Begriff des Religionsindividuums als einer bestimmten überindividuellen Gestalt von Religion muß neu gefaßt werden. Indem Schleiermacher die Vorstellung einer in bestimmter Weise begrenzten Gemeinschaft aufgreift, modifiziert er auch den Kirchenbegriff der vierten Rede. Kirche ist nicht nur vermittelnde Anstalt, durch die Individuen zur Bildung ihrer Religion kommen, sondern sie ist jetzt eine Anstalt, die eine bestimmte Eigentümlichkeit in diesem Vermittlungsprozeß vermittelt. Die dem Begriff der Religion als Gefühl entsprechende Bestimmung des Wesens des Christentums enthält implizit die Konstitution der Theologie als Wissenschaft, die Schleiermacher in seiner theologischen Enzyklopädie (1811) entfaltet h a t . Da das Wesen des Christentums nicht durch eine Zentralanschauung bezeichnet werden kann, sondern das Christentum in der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit der Christen zum Ausdruck kommt, ist zur Bestimmung des gemeinschaftlichen Wesens eine Theorie erforderlich, durch die die Gemeinschaft der christlichen Kirche erhalten und verbreitet werden kann. Schleiermacher hat die Theologie als eine Theorie beschrieben, durch die das kirchenleitende Handeln bestimmt wird, d . h . diejenige Tätigkeit, durch die die christliche Kirche als geschichtliches Individuum sich erhält. In Analogie zum sittlich-handelnden Individuum wird diese Aufgabe durch den kirchenleitenden Theologen wahrgenommen, d . h . durch Individuen, deren Interesse an der Darstellung der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit in den Gefühlsäußerungen über dem an der individuellen Eigentümlichkeit überwiegt. - Dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügt die theologische Theorie, insofern Schleiermacher sie als positive Wissenschaft darstellt. Dieser Anspruch ist zum einen mit dem Begriff der Kirche erhoben, weil die Kirche durch das Wissen um die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit definiert ist, das im wissenschaftlichen System seine angemessene Darstellungsform hat. Dieser Anspruch ist zum anderen auf dem Standpunkt wissenschaftlicher Bildung gegeben, auf dem die theologische Theorie zur Bestimmung des Wesens des Christentums konstituiert worden ist. Allerdings ist im
- 299 Blick auf den Argumentationsgang der Reden die Abstraktheit deutlich, die den Theologiebegriff der "Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" auszeichnet. Theologie ist vom System des Wissens aus erfaßt. In ihr hat Schleiermacher versucht, vom philosophisch begründeten System des Wissens aus die Wissenschaft der Theologie zu beschreiben. Er hat dabei von dem religiösen Leben in der Kirche und der Funktion der Religion für das einzelne Individuum abgesehen. Auf dem Boden des Begriffs der Theologie als positive Wissenschaft stellt sich die Einleitung der Glaubenslehre als die zweite Modifikation des Argumentationsganges der Reden dar. Der bestimmte Gesichtspunkt dieser Modifikation ist darin zu sehen, daß Gefühl als unmittelbares Selbstbewußtsein und Frömmigkeit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit bestimmt wird, das die höchste Stufe menschlichen Selbstbewußtseins repräsentiert. Dieser Gesichtspunkt ergibt sich für die philosophische Theologie, die für die Einleitung der Dogmatik den Ort innerhalb des Systems der theologischen Disziplinen bezeichnet, aus demselben Zusammenhang, der die Konstitution des Theologiebegriffs hat erklären können. Die Reden sind auf dem gebildeten Standpunkt konzipiert. Sie geben eine dem gebildeten Selbst Verständnis angemessene Beschreibung der durch Religion und im Christentum erfolgten Konstitution des Gebildeten. Kann Bildung in der ersten Fassung der Reden durch das Selbstverständnis als Individuum definiert werden, so ist diese Definition für die zweite Fassung der Reden nicht mehr hinreichend. Die Anerkennung des philosophischen Systems, die in dem von Schelling abweichenden Systementwurf Schleiermachers zum Ausdruck gekommen ist, bedeutet, daß das gebildete Selbstverständnis eine Darstellung im Wissen finden kann. Diese Möglichkeit, die in der Zuordnung von Religion und Philosophie als Darstellungen des Absoluten sichtbar ist, zeichnet jetzt die Gebildeten aus. Demgegenüber ist der gemeine Standpunkt dadurch bestimmt, daß zwar auch dort ein Selbstverständnis vorhanden ist, daß ihm aber die Klarheit fehlt, die in der Darstellung im Wissen sich ausdrückt. Diesen Standpunkt hat Schleiermacher in den Reden von 1806 durch den Gefühlsbegriff als Moment des individuellen Lebensvollzuges bezeichnet. Die veränderte Bestimmung des Wesens der Religion und des Wesens des Christentums führt zur Konstitution der Theologie als Wissenschaft. Denn das Wesen den Christentums kann nur durch eine besondere Theorie dargestellt werden, die die gemeinschaftliche Eigentümlichkeit der in der Kirche vereinigten Christen zu erfassen vermag. Hier ergibt sich nun aber eine Differenzierung. Im Argumentationsgang der Reden wird das Christentum als diejenige Gestalt von Religion thematisiert, die die Konstitution des gebildeten Standpunkts zu erklären vermag. Das Christentum wird nur in seiner Funktion für die Bildung der Gebildeten betrachtet. Wenn diese Bildung aber in der Fähigkeit zur Darstellung im Wissen besteht, dann muß nicht nur das Christentum selbst
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diese Möglichkeit in sich in Gestalt der Theologie entwickelt haben, sondern es muß darüber hinaus als gebildete Gestalt der Religion diese Darstellung im Wissen leisten. Das Christentum findet seine adäquate theologische Darstellung, wenn nicht wie in den Reden vom Standpunkt des gewöhnlichen Lebens, sondern vom gebildeten Standpunkt, der höchsten Stufe menschlichen Selbstbewußtseins ausgegangen wird. Um die Konstitution des christlichen Glaubens als Voraussetzung f ü r seine dogmatische Darstellung zu erfassen, d . h . nicht auf der Ebene der Kirche als Organisation der gemeinschaftlichen Frömmigkeit, sondern auf der Ebene der individuellen, christlich bestimmten Frömmigkeit, rezipiert Schleiermacher den Argumentationsgang der Reden, der ja auf den Standpunkt gebildeter Individualität bezogen ist. Diese Rezeption erfolgt aber unter der Modifikation, daß der christliche Glaube an der Darstellung des gebildeten Individuums aufgewiesen wird. Daraus, daß nun der Argumentationsgang der Reden nicht nur auf den gebildeten Standpunkt bezogen, sondern dieser Standpunkt in ihm selbst zur Darstellung gebracht wird, ergibt sich, daß Schleiermacher den Begriff des Gefühls als unmittelbares Selbstbewußtsein bestimmt. Denn der Begriff des Selbstbewußtseins bezeichnet exakt das gebildete Selbstverständnis, das die Fähigkeit zur klaren Darstellung im Wissen besitzt. Die Schwierigkeiten, die mit der Bestimmung seiner Unmittelbarkeit verbunden sind, beruhen darauf, daß hier nicht die Selbstbeziehung an sich selbst gedacht wird, sondern nur die durch die Modifikation des Argumentationsganges der Reden entstandene Selbstbeziehung bezeichnet wird. Das unmittelbare Selbstbewußtsein stellt die gebildete Gestalt des Gefühls als das eines Momentes im individuellen Lebensvollzug dar. Insofern denkt Schleiermacher das Selbstbewußtsein als Gefühl und unterscheidet es als unmittelbares vom reflektierten des Ich. Auf der anderen Seite wird aber der Argumentationsgang der Reden durch die Bestimmung des Gefühls als Selbstbewußtsein einer Veränderung unterworfen. Das zeigt sich in den ethischen Lehnsätzen der Glaubenslehre darin, daß die psychologische Analyse des individuellen Lebens ( § 3 ) nicht wie in den Reden für den gebildeten Standpunkt durchgeführt, sondern im lebendigen Subjekt selbst, in seinem Selbstbewußtsein aufgewiesen wird (§ 4). Erst die Analyse dieses Selbstbewußtseins f ü h r t zu der Bestimmung der Frömmigkeit, der gebildeten Gestalt der Religion, als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit. Auf ihr beruht dann die Zuordnung von höherem und sinnlichem Bewußtsein ( § 5 ) . Das zeigt sich weiter darin, daß die Gemeinschaftsbezogenheit der Individuen nicht wie in der Ethik für den Standpunkt wissenschaftlicher Bildung aufgezeigt wird, sondern daß er aus der Analyse des unmittelbaren Selbstbewußtseins als darin enthaltenes Gattungsbewußtsein entwickelt und dadurch der Begriff der Kirche begründet wird ( § 6 ) . Eine weitere Auswirkung in den religions-
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philosophischen Lehnsätzen besteht darin, daß die Stellung des Individuums im ethischen Weltprozeß durch die teleologische Frömmigkeit im individuellen Selbstbewußtsein begründet wird ( § 9 ) . Das f ü h r t schließlich dazu, daß die im Christen erfolgte Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses im Selbstbewußtsein durch die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung beschrieben wird (§ 11). Uberblickt man den in dieser Weise rekonstruierten Arbeitsprozeß, den Schleiermacher am Argumentationsgang der Reden vorgenommen hat, so wird sich folgendes festhalten lassen: Schleiermacher ist derjenigen Konzeption, mit der er in den Reden an die Öffentlichkeit getreten ist, in weit höherem Maße treu geblieben, als die seit Strauß und Dilthey übliche Entgegensetzung des frühen und späten Schleichermacher vermuten läßt. Damit werden nicht die Differenzen geleugnet, die zu dieser Entgegensetzung geführt haben. Nur lassen sie sich als modifizierte und differenzierte Ausarbeitung eines Themas beschreiben. Die vorliegende Arbeit hat versucht, dies Thema durch den Bildungsbegriff zu bezeichnen. Der Begriff der Bildung umfaßt den Gedanken der Individualität, der häufig zur Charakterisierung von Schleiermachers philosophischem Bemühen herangezogen wird. Im Verlauf dieser Arbeit haben sich Hinweise ergeben, daß Schleiermacher auch im Zuge seiner Systembildung diesen Gedanken nicht nur in dem polaren Gegensatz des Identischen und Individuellen zur Geltung gebracht hat. Darüber hinaus umfaßt der Begriff der Bildung jene dem Begriff des Selbstbewußtseins ähnliche Figur, daß das menschliche Individuum sich seiner Individualität bewußt ist. Daß er sich selbst als Individuum versteht, zeichnet den Gebildeten aus. Durch diese Fassung des Bildungsbegriffs, die auf seiner Identifikation mit dem Individualitätsbewußtsein beruht, kann nicht nur das Thema der Religion, sondern auch das ihrer geschichtlichen Vermittlung erschlossen und der Zusammenhang mit dem Individualitätsgedanken h e r gestellt werden. Denn die Frage nach der Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses verlangt eine Antwort, die sowohl dem Gedanken der Individualität als auch der Differenz zwischen den Gebildeten und den Ungebildeten entspricht. Schleiermacher hat diese Antwort zu geben versucht, indem er die Konstitution nicht nur durch die Religion im einzelnen Individuum, sondern auch durch Kirche und Christentum in ihrer vermittelnden Funktion f ü r die Gebildeten erklärt hat. In der Nachrede zur zweiten Ausgabe der Reden von 1806 hat Schleiermacher seine Intention deutlich formuliert: "Und dann war ich sicher, Ihr würde selbst finden, was auch ich Euch gern zeigen wollte, daß Ihr in eben der Gestalt der Religion, welche Ihr so oft verachtet, im Christentum, mit Eurem ganzen Wissen, Thun und Sein so eingewurzelt seid, daß Ihr gar nicht heraus könnt, und daß Ihr vergeblich versucht, Euch seine Zerstörung vorzustellen, ohne zugleich die Vernichtung dessen, was Euch das Liebste und Hei-
- 302 ligste in der Welt ist, Eurer gesammten Bildung und Art des Daseins, ja Eurer Kunst und Wissenschaft mit zu beschließen" (P 300f). Hat man diesen Zusammenhang vor Augen, dann läßt sich nicht ohne weiteres jene in der dialektischen Theologie aufgekommene Entgegensetzung von Bildung und christlichem Glauben auf Schleiermacher b e z i e h e n 2 8 6 . Schleiermacher hat gerade Bildung als Individualitätsbewußtsein im Christentum begründet gesehen und das Christentum als gebildete Gestalt der Religion verstanden. Die Frage, ob Schleiermacher das Christentum sachgemäß verstanden und dargestellt hat, wird sich jedenfalls nicht auf dem Boden der Reden beantworten lassen, sofern eine Differenz zwischen den Reden und den Lehnsätzen der Glaubenslehre besteht. Dennoch wird die durch den Bildungsbegriff bezeichnete Konzeption Schleiermachers nicht ohne Kritik bestehen können. Sie setzt bereits mit Untersuchungsansatz dieser Arbeit ein, insofern mit dem Bildungsbegriff eine Konzeption bezeichnet wird, die Schleiermacher gerade nicht explizit gemacht hat. Vor allem im Blick auf die poetische Darstellungsform der Frühschriften ist diese Differenz deutlich. Einen Anhalt hat diese Kritik aber insofern an Schleiermacher selbst, als er ja nicht nur durch äußere Gründe zur Modifizierung und Differenzierung seines ursprünglichen Entwurfes genötigt worden ist. Ein zentraler Punkt der Kritik an ihm besteht in der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt in den Reden und Monologen. Zwar tritt Schleiermacher der Form nach als ein Individuum unter anderen Individuen auf und unterwirft sich selbst damit dem Gedanken der Individualität. Der Autor stellt sich selbst als Gebildeten dar, d.h. als jemand, der sich seiner Individualität bewußt ist. Aber das, was er in diesen beiden Schriften darstellt, erweist sich gerade nicht als individuelle SelbstdarStellung, sondern als Darstellung des gebildeten Standpunkts überhaupt. Mit dieser Diskrepanz hängt die Abstraktheit des Bildungsbegriffs und die nicht ausgedrückte Einheit seiner Momente zusammen. Für den Bildungsprozeß des Individuums ist das gebildete Selb st Verständnis konstitutive Voraussetzung. Aber Konstitution und Bildungsprozeß werden nicht miteinander vermittelt. Religion tritt als die andere Seite des Verhältnisses des Individuums zum Universum der Metaphysik und Moral gegenüber. Die zweite Fassung der Reden stellt insofern eine Lösung für diese Schwierigkeit bereit, als sie sich nicht mehr auf der Ebene individueller Kommunikation, sondern im Medium des Wissens bewegt. Der Begriff des Lebens bezeichnet das menschliche Individuum durch zwei Bestimmungen: als Fürsich-Sein und als Sein-im-Ganzen. Im Gefühl, das das Moment des Fürsich-Seins repräsentiert, kommt die Selbstbeziehung, die im gebildeten Selbstverständnis enthalten ist, implizit zur Darstellung. Aber sie stellt als Gefühl nur das eine Moment im Lebensvollzug dar, dessen Einheit durch Religion im Gefühl präsent ist und der im Wissen diese allgemeine Darstellung findet. Dadurch ist der Gebildete ausgezeichnet, daß er sei-
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nem im Gefühl empfundenen Lebensvollzug diese allgemeine Darstellung zu geben vermag. Damit wird zwar die einseitige Bindung des Bildungsprozesses an das gebildete Selbstverständnis aufgehoben, weil jedes · menschliche Individuum sich seines individuellen Leben svoli zugs im Gefühl bewußt ist. Aber statt dessen ergibt sich die Differenz zwischen der allgemeinen Lebensanschauung in der gebildeten Darstellung und der individuellen Lebenserfahrung im Gefühl. Insofern bleibt auch in dieser Fassung die Abstraktheit des Bildungsbegriffs erhalten. Es wird von jeder individuellen Besonderheit abgesehen zugunsten der allgemeinen Darstellung des Lebensvollzuges. Diese Abstraktheit zeigt sich deutlich im Begriff der Theologie. Ist Theologie durch die Beziehung auf die christliche Kirche konstituiert, so ist gerade von dem Kommunikationszusammenhang der Christen als religiösen Individuen abgesehen zugunsten ihrer gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit. Aber auch dasjenige, was als Wesen des Christentums das einheitsstiftende Prinzip der christlichen Kirche darstellt, die durch Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung, beruht letztlich auf der Abstraktion von jeder individuellen Besonderheit zugunsten der Realisierung des allgemeinen Gedankens der Individualität. Unter diesem Blickwinkel reduziert sich f ü r Schleiermacher Geschichte auf die Vermittlung des allgemeinen Prinzips der Individualität durch Selbstmitteilung von Individuen, wobei deren individuelle Besonderheit f ü r diese Vermittlung keinerlei Bedeutung hat. Was Gadamer im Blick auf Schleiermachers Hermeneutik festgestellt hat, daß sie im Unterschied zu Hegel nicht Integration, sondern Rekonstruktion bedeutet, hat seinen Grund in dieser Abstraktheit des Bildungsbegriffs 28 7. Während in dem Argumentationsgang der Reden die Differenz zwischen den Ungebildeten und den Gebildeten aufrechterhalten wird, indem die im Christentum erfolgte Konstitution des Gebildeten von der allgemeinen Religion der menschlichen Individuen abgehoben wird, wird in den Lehnsätzen der Glaubenslehre diese Differenz eingezogen. Das durch das Christentum konstituierte gebildete Selb st Verständnis wird der Darstellung des christlichen Glaubens selbst zugrundegelegt. Damit stellt sich das Problem in verschärfter Gestalt. Denn jetzt wird die im Gefühl implizierte Selbstbeziéhung als Selbstbewußtsein explizit. In dem als unmittelbares Selbstbewußtsein bestimmten Gefühl findet das gebildete Selbstverständnis als Individuum seine Darstellung. Im unmittelbaren Selbstbewußtsein ist sich das individuelle Subjekt seines Lebens bewußt. Es hat seine individuelle Besonderheit in der Folge der Lebensmomente nicht nur im Gefühl, sondern ist sich dieser Besonderheit als Individualität bewußt. Das gebildete Individuum hat die Identifikation seines individuellen Lebensgefühls mit der allgemeinen Darstellung individuellen Lebens vollaogen. Aber es hat sie so vollzogen, daß dieser Vollzug selbst noch als Lebensvollzug begriffen wird. Insofern ist das Selbstbewußtsein unmittelbar, d . h . nicht durch die Tätigkeit des Wissens vermittelt. Das
- 304 unmittelbare Selbstbewußtsein hat daher bei Schleiermacher eine Gestalt, die gerade nicht die Identität der Selbstbeziehung enthält, sondern die vielmehr jener Figur entspricht, die er gegenüber Schelling seinem philosophischen System zugrunde gelegt hat. Die Einheit des Absoluten wird durch die Beziehung von Indifferenzpunkt und polarem Gegensatz dargestellt. Dem entspricht die Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses in der Glaubenslehre, indem die Einheit des individuellen Subjekts als unmittelbares Selbstbewußtsein auf die nach außen gerichteten Tätigkeiten des Wissens und Handelns bezogen ist und auch das Selbstbewußtsein diese Struktur auf weist. Die Einheit des Selbstbewußtseins ist auf das Gegenstandsbewußtsein der relativen Freiheit und Abhängigkeit bezogen und dadurch von der Einheit des Absoluten unterschieden. Aber auch diese Unterscheidung ist auf die Einheit des Absoluten bezogen. Das zeigt Schleiermachers Schluß von der Negation des Gefühls schlechthinniger Freiheit auf das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl. Auch wenn Schleiermacher die NichtObjektivierung und Unbegreiflichkeit Gottes festzuhalten gesucht hat, im Bewußtsein der Begrenztheit und Endlichkeit menschlicher Individualität, hat er doch für den allgemeinen Gedanken der Individualität den Gottesgedanken in Anspruch nehmen müssen. Aber trotz dieser Kritik wird man dieser Konzeption Schleiermachers eine Bedeutung in der gegenwärtigen Diskussion nicht absprechen können. Denn seine Schwäche bildet insofern zugleich auch seine Stärke, als das Thema der Freiheit des Individuums und des Pluralismus in seinem Entwurf eine antizipierte, in ihrer Klarheit fragwürdige Darstellung gefunden hat. Der Bildungsbegriff bezeichnet den Versuch, auf dem Boden individueller Verschiedenheit die Realisierungsbedingungen für das Individualitätsbewußtsein anzugeben. Indem aber im gebildeten Selbstverständnis die Freiheit anderer Individuen anerkannt ist und damit der Boden für Dialog und plurale Mannigfaltigkeit gelegt ist, bleibt das Problem bestehen, daß die individuelle Freiheit für alle Individuen de facto vorausgesetzt ist, auch wenn diese Voraussetzung selbst als individuelle Position sich darstellt und daß aufgrund dieser Darstellung gerade von der Wahrnehmung der individuellen Besonderheiten abgesehen wird. In der Durchführung des Individualitätsgedankens weist der Entwurf Schleiermachers Züge auf, die an gegenwärtige Emanzipationstheorien erinnern. Das gilt nicht nur von der Vorstellung der freien Geselligkeit, die den Gedanken des herrschaftsfreien Diskurses oder der unbeschränkten Kommunikationsgemeinschaft vorwegzunehmen s c h e i n t D a s gilt auch für die Thematisierung ihrer Realisierung. Denn das bestimmt Schleiermachers Stellung in der Geschichte des Bildungsbegriffs, daß er eine Konzeption der Vermittlung des Individualitätsbewußtseins entworfen hat, die dem Ziel individueller Freiheit nicht widerspricht. Er hat 'Bildung' nicht als pädagogische Tätigkeit, als Bilden im Sinne von 'formare' verstanden, sondern 'Bildung' an das einzelne Individuum ge-
- 305 bunden, das seinen Bildungsprozeß in der Kommunikationsgemeinschaft der freien Geselligkeit vollzieht. Insofern ist 'Bildung' für ihn immer 'Selbstbildung', aber sie ist nur möglich im Umgang mit anderen. An diesem Ideal ist Schleiermacher auch dann noch orientiert, wenn er in seiner Pädagogik die Vermittlungstätigkeit zwischen den Generationen entwickelt, die für den kontinuierlichen Fortgang des ethischen Weltprozesses unumgänglich ist. Denn Träger dieses Weltprozesses sind die handelnden Individuen, so daß die pädagogische Tätigkeit den individuellen Bildungsprozeß nicht aufheben darf. Am deutlichsten aber zeigt sich dieser Bildungsgedanke in Schleiermachers Darstellung des Christentums. Besteht die Bedeutung des Christentums für Schleiermacher darin, daß in ihm die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses realisiert werden kann, so bildet im Christentum der Individualitätsgedanke selbst den Inhalt der Vermittlung. Diese Vermittlung muß so gedacht werden, daß sie dem Gedanken der Individualität nicht widerspricht und die Freiheit dessen, dem diese Vermittlung gilt, nicht aufhebt. Die Bedeutung von Schleiermachers Entwurf erschöpft sich nicht in dem Gedanken der Individualität. Vielmehr wird sie darin zu sehen sein, daß er mit dem Bildungsbegriff das Individualitätsbewußtsein thematisiert hat. Damit hat er das "Problem der Konstitution von Freiheit"2*^ gerade nicht auf dem Wege der reinen Erfassung des Selbstbewußtseins zu lösen v e r s u c h t 29 0_ vielmehr hat er - trotz aller Fragwürdigkeit seiner Lösung - das Problem menschlicher Freiheit am Ort des einzelnen Individuums thematisiert. Indem er Religion und Christentum in ihrer Funktion für die Konstitution des gebildeten Selbstverständnisses als Individuum aufgewiesen hat, sind sie in ihrer Bedeutung für das neuzeitliche Bewußtsein in einer Weise dargestellt worden, die gegenwärtige Bemühungen antizipiert291. Auch wenn Schleiermachers Lösung des Problems der Konstitution individueller Freiheit in der Abstraktheit des Individualitätsgedankens ihre Schranke hat, indem er das fromme Gefühl als "Aussage über ein unmittelbares Existentialverhältnis"2®2 versteht und damit das Andere, auf das das Individuum bezogen ist, nicht als Anderes in die Konstitution des Individualitätsbewußtseins einbeziehen kann und ihm damit ein tieferes Verständnis der Offenbarungsgeschichte verschlossen bleibt293, wird man in der durch den Bildungsbegriff bezeichneten Konzeption das "zentrale Problem der Theologie unter den Bedingungen der Neuzeit"294 z u m Thema erhoben sehen müssen.
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ANMERKUNGEN Zu S.9-10: 1 Die Unterscheidung zwischen Klarheit und Deutlichkeit von Anschauungen und Begriffen ist geeignet, die Verschwommenheit des Themas zu bezeichnen. Vgl. H.Wagner, Art. 'Bildung', Handbuch philosophischer Grundbegriffe, 1973, Bd.I, 199: "Klar ist ein Begriff, wenn er ausreichend bestimmt ist, um den Gegenstand von allen übrigen Gegenständen zu unterscheiden... Deutlich ist ein Begriff, wenn alle in ihm enthaltenen Stücke, welche zusammen den Begriff des betreffenden Gegenstandes ausmachen, f ü r sich erfaßt sind. " 2 Ebeling, Frömmigkeit und Bildung, 83. 3 Wie wenig Schleiermachers Sprachgebrauch von 'Bildung, Bilden' die Annahme eines systematisch reflektierten Begriffs nahelegt, läßt bereits ein grober Überblick erkennen. Während in den Monologen die Selbstbildung des Menschen, sein inneres Bilden als höheres Leben aufgrund des Schauens und des Sinnes f ü r andere Menschen reichlich Ausdruck findet, wird in den Reden mehr die Wirkung von außer- bzw. übermenschlichen Kräften bezeichnet (R 86, 142, 173) als das Handeln des Menschen. In der Systematik der Güterlehre dient dieser Ausdruck als Wechselbezeichnung f ü r die Tätigkeit des Organisierens, d . h . des Organbildens durch die Vernunft f ü r das Handeln der Vernunft auf die bloße Natur. Anders wird der Ausdruck in der Pädagogik verwendet. Während der Ausdruck zur Bezeichnung der pädagogischen Tätigkeit im allgemeinen Teil, in welchem die Maximen entwickelt werden, die f ü r den gesamten Erziehungsprozeß gelten (PS I, 65) kaum anzutreffen ist (nur aaO 14), weist der besondere Teil, in welchem die drei Bildungsstufen und die entsprechenden Bildungsanstalten, sowie die Einrichtung der Bildung in ihnen dargestellt werden, eine reiche Verwendung auf, die einen besonderen pädagogischen Terminus vermuten läßt. Ober die Bedeutung der "Bildung zur Religion" (R 138) s . u . 4 H.Fiege, Schleiermachers Begriff der Bildung, Hamburg 1935. 5 B.Laist, Das Problem der Abhängigkeit, Köln 1964. U.Wintsch, Religiosität und Bildung. Zürich 1967 6 M.Landmann, Philosophische Anthropologie, 1969, 40. 7 H.Plessner, Art. 'Anthropologie', Philosophisch, RGG3 I, 413f. 8 Landmann, aaO 37. 9 A.Flitner, Art. 'Bildung', RGG3 I, 1277; G.Dohmen, Bildung und Schule I, 15; R.Mühlbauer, Der Begriff 'Bildung' in der Gegenwartspädagogik, 1965, 327; E.Weber, Der Erziehungs- und Bildungsbegriff im 20. Jahrhundert, 1969, 148. Einen guten Uberblick über die Entwicklung des Bildungsbegriffs bieten E.Lichtenstein, Art. 'Bildung', Historisches Wörterbuch der
- 307 Zu S. 10-16: Philosophie, 1971, I, 921-937, und R.Vierhaus, Art. 'Bildung', Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland I, 508-551. 10 Th.Ballauf, Philosophische Begründungen der Pädagogik, 1966. 11 Th.Ballauf, Systematische Pädagogik, 2.Aufl., 1966, 40f. 12 W.Klafki u . a . ( H g . ) , Funkkolleg 'Erziehungswissenschaft', 1970. 13 H.Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 5. Aufl., 1961, 130ff. 14 K.Schaller, K.H.Schäfer ( H g . ) , Bildung und Kultur, Repetitorium moderner Bildungstheorien I, 1968. 15 J.Derbolav, Problem und Aufgabe einer pädagogischen Anthropologie im Rahmen der Erziehungswissenschaft, zit. nach Schaller, aaO 22f. 16 Ähnlich Ballauf, s . o . S . U . 17 E.Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, IV, 205. 18 Dohmen, aaO I, 8. 19 H.A.Korff, Der Geist der Goethezeit, 1974; vgl. W.Rössler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland, 1961, 7f. 20 Laist, aaO 16. 21 Laist, aaO 17. 22 H.G.Gadamer, Wahrheit und Methode (WuM), 7. 23 Vgl. Dohmen, aaO I, 21ff. 24 Grimm'sches Wörterbuch, zit. nach Schaarschmidt, 26. 25 F.Paulsen, Art. 'Bildung', Encyklopädie des modernen Erziehungswesens in Deutschland, 7f. 26 I.Schaarschmidt, Der Bedeutungswandel der Worte 'Bilden' und 'Bildung' in der Literaturepoche von Gottsched bis Herder, Diss, phil. Königsberg 1931, Neudruck: Kleine Pädagogische Texte 33, 1965. 27 Schaarschmidt, aaO 39ff, 54; Dohmen, aaO I, 22, 216. 27a Vgl. auch Rössler, aaO 6, der deutlich die "Erziehungsanschauungen der zeitgenössischen Philosophen, Dichter und Schriftsteller" von den pädagogischen Intentionen der Träger des neu entstehenden Erziehungswesens abhebt: "Wenn das klassische Bildungsideal verlangt, daß alles, was das Leben an Erfahrungen und Forderungen an den Menschen heranträgt, letztlich unter dem Gesichtspunkt zu bewerten sei, was es zu seiner Selbstwerdung beitrage, so betrachten die zeitgenössischen Erzieher den Menschen als ein Wesen, das nur in der Gemeinschaft mit anderen, in bewußter Kontinuität mit der Geschichte und in bewußter Bindung an die allgemein anerkannten Normen in der rechten Weise Mensch zu sein vermöge."
- 308 Zu S . 17-27: 28 Gadamer, WuM 8. 28a s . o . Anm. 3. 29 Gadamer, Nachwort zu Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1967, 163. 30 J.W.Goethe, Wilhelm Meister, Hamburger Ausgabe VII, 422. 31 G.W.F.Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v . J.Hoffmeister (PhB 114), 26. 32 E.L.Stahl, zit. nach Dohmen, aaO I, 23. 33 W.Pannenberg, Was ist Wahrheit? (1962), in: Grundfragen systematischer Theologie, 1967, 202-222. 34 T.Rendtorff, Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie 2, 1966, 51-72, abgedruckt in: Theorie des Christentums, 1972, 116-139. 34a Vgl. Schleiermachers Erklärung des mißlichen Zustandes der Religion durch die Bindung der Kirche an den Staat (R 192ff) und seine ausdrückliche Abweisung der Klage über den Religionsverfall (R 4). 35 Vgl. die Unterscheidung zwischen theoretischer Bildung und unglücklichem Bewußtsein, die Hegel in der Gymnasialrede von 1809 macht (Hegel, Werke Bd. 16). Für den Zusammenhang der Bildungsthematik mit der Geistphilosophie Hegels vgl. F.Nicolin, Hegels Bildungstheorie. Grundlinien geisteswissenschaftlicher Pädagogik in seiner Philosophie, 1955. 36 Vgl. Hegels Ausführungen über das Verhältnis von allgemeiner und sittlicher Bildung in der Gymnasialrede von 1811, in der er neben der unmittelbaren sittlichen Belehrung und der mittelbaren durch formelle Bildung die Schule als Institution in das substanzielle Element eingliedert, in welchem der Mensch lebt. Zu den Gymnasialreden Hegels vgl. K.Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 2. Aufl. 1950, 315-320. 37 Gadamer, WuM 32. 38 J.Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 3. Aufl. 1968, 68. 39 Habermas, aaO 32f. 40 M.Mendelssohn, Über die Frage: was heißt aufklären?, Berlinische Monatsschrift 4 (1784), 193f (Ges.Sehr., B d . 3 , 1844, 399). 41 Habermas, aaO 22f. 42 Goethe, aaO 290ff. 43 T.Rendtorff, Kirche und Theologie, 1966, 27-61. 44 Rendtorff, aaO 41. 45 B r . I V , 55. 46 F.Schlegel, Minor, 216. 47 Die Aufgabe, für Schleiermachers Pädagogik die zugrundeliegende Bildungstheorie zu erheben, hat sich zuerst H.Fiege (aaO) gestellt. Ebenso wie Fiege hat auch Th.Ballauf "die Grundstruktur der Bil-
- 309 Zu S . 27: dung bei Schleiermacher" (Philosophische Begründung 197-204) im Zusammenhang des Verhältnisses von Mensch und Welt zu bestimmen versucht. Anders als Fiege, der die Welt als Kultur von den dem Menschen innewohnenden Bewußtseinsgesetzlichkeiten versteht und der Bildung als 'Beseelung' faßt, hat Ballauf das Verhältnis von Person und Welt durch den Prozeß der Oszillation beschrieben, der für die Bildung der Persönlichkeit grundlegend ist. B.Laist hat versucht, das für die Bildung der Person konstitutive Bezogensein auf das Andere als "Problem der Abhängigkeit in Schleiermachers Anthropologie und Bildungslehre" aufzuweisen und das "realanthropologische Element" in Schleiermachers Denken gegenüber idealanthropologischen und theologischen Interpretationen herauszuarbeiten. Die drei pädagogischen Untersuchungen sind aufgrund ihres Ansatzes vergleichbar. Um den für die Pädagogik relevanten Bildungsprozeß des Individuums zu erfassen, werden die vorausliegenden anthropologischen Bestimmungen aufgesucht und aus ihnen eine Theorie der Bildung rekonstruiert. Die thematische Begrenzung des Ansatzes impliziert bereits seine Schwäche. Denn Schleiermachers anthropologische Aussagen werden auf einen Theoriezusammenhang von hoher Allgemeinheit bezogen, so daß gerade der eigentümliche Charakter der Schleiermacherschen Theoriebildung nicht in den Blick kommt. 48 Wenn das für den Prozeß der Bildung konstitutive Verhältnis von Mensch und Welt, von Ich und Anderem als inneres Prinzip und Kriterium des Schleiermacherschen Denkens verstanden wird, so hat das Folgen für die Beurteilung seiner Theologie. Werden nämlich die verschiedenen Bewußtseinsgestalten als Darstellungen der anthropologischen Grundbefindlichkeit entschlüsselt (Wintsch), so entfällt die Möglichkeit einer positiven Würdigung der Theologie. Im Blick auf die zentrale Bedeutung der Anthropologie bei Schleiermacher, ergeben sich zwei entgegengesetzte Beurteilungen seiner Theologie. Wird Theologie als Verschlüsselung der Anthropologie aufgefaßt, so wird sich diese Auffassung auf eine Interpretation der Religion in den Reden stützen wollen. Wird dagegen die Theologie Schleiermachers als Anthropologisierung des christlichen Glaubens verstanden, so wird diese Behauptung sich an der Darstellung der Glaubenslehre halten. Die erste Auffassung ist zuletzt von U.Wintsch (aaO) vertreten worden, der in den Reden ein "anthropologicum" und eben kein "theologikum" sehen will, insofern in ihnen das "geistige In-der-Welt-Sein" des Menschen durch Religiosität bezeichnet ist. Die entgegengesetzte Auffassung ist von W.Eckey in dem publizierten Teil seiner Dissertation "Der christliche Glaube und die Bildung bei F.Schleiermacher" (1959) vertreten worden. Eckey sieht in Schleiermacher den Vertreter des "sieghaften Selbstbewußtseins des Protestantismus im
- 310 Zu S.27: 19. Jahrhundert, Hüter und Träger säkularer Modernität zu sein". Insofern die apriorische Konstruktion des Menschen seine Fraglichkeit verstellt, hat Schleiermacher in seiner Theologie die Lehre von der Schöpfung, der Sünde, von Christus und von der Kirche nur verkürzt entfaltet. Während diese beiden in ihrer Intention entgegengesetzten Arbeiten zum Bildungsbegriff bei Schleiermacher darin übereinstimmen, daß Theologie und Bildung nicht miteinander vereinbar sind, weil entweder die Theologie der anthropologischen Grundstruktur oder die menschliche Bildung der im Glauben offenbaren Krisis alles Menschlichen nicht adäquat zu sein scheint, stellt G. Ebeling in seinem Festvortrag zur 200. Wiederkehr von Schleiermachers Geburtstag heraus, daß gerade die Vereinigung dieses Unvereinbaren als Lebensthema Schleiermachers zu verstehen ist. Die "Beziehung von Frömmigkeit und Bildung" hat in Schleiermachers Leben dreifache Ausprägung erhalten, die Ebeling als Konflikt, Apologie und Polarität bezeichnet. Ausgangspunkt ist der in Barby zutage getretene typische Konflikt zwischen der "Enge der Frömmigkeit und der Weite der Bildung" (70). Damit ist eine ähnliche Situation skizziert, wie sie von Goethe für Wilhelm Meister entworfen worden ist, und hier wie dort kommt es zum Bruch mit der als zu eng erkannten Lebenswelt. Aber Bildung bedeutet bei Ebeling nicht den Bildungsprozeß der Persönlichkeit, sondern die Bildung der Zeit, die dem mit sich selbst beschäftigten Leben gegenübertritt. Daher können beide Lebensgestalten als innere und äußere Bildung auf den einzelnen Menschen bezogen werden, der gegenüber der Bildung der Zeit eine Apologie für die verkannte Tiefenbedingung wahrer Menschenbildung unternehmen kann. Aber auch in Schleiermachers Apologie des inneren Lebens bleibt die Beschränkung gegenüber der Weite der Bildung bestehen, so daß sich als theologische Aufgabe ergibt, was Schleiermacher in der Glaubenslehre durchgeführt hat, nämlich Frömmigkeit und Bildung als "Polarität in sich auszutragen" (79). Der Zwiespalt zwischen christlicher Frömmigkeit und der Bildung der Zeit und seine Erhaltung in einer Polarität durch eine verantwortende Theologie ist nicht nur Auslegung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, dem "Kernproblem der Schleiermacher-Interpretation", sondern ist zugleich auch eine Gestalt des seit Reformation und Aufklärung entwickelten Selbstverständnisses der Theologie. Als Ergebnis dieses Überblicks über Arbeiten zum Thema der Bildung bei Schleiermacher kann festgehalten werden, daß in ihnen verschiedene, vom Standpunkt der jeweiligen Untersuchung abhängige Aspekte von Bildung behandelt worden sind, daß aber, was Schleiermacher als die Gebildeten bezeichnet, bisher nicht
- 311 Zu S.27-29: untersucht worden ist, sieht man von dem historischen Hinweis auf die preußische Reformbürokratie bei Y.Spiegel, Theologie der bürgerlichen Gesellschaft, 1968, 233ff und der beiläufigen Anmerkung bei Rendtorff, aaO 135 ab. 49 Diese Differenz ist schon von D.F.Strauß, Schleiermacher und Daub in ihrer Bedeutung für die Theologie unserer Zeit, in: d e r s . , Charakteristiken und Kritiken, 1839, 3-242, von F . C h r . Baur, Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. v. E.Zeller, 2. Aufl. 1877, und von W.Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. I, 1870 beobachtet und sehr unterschiedlich gedeutet worden. 50 Dilthey hat diese wichtigen Zeugnisse aus dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts seinem Leben Schleiermachers als Anhang beigegeben. Die Bedeutung dieser "Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" zeigt sich nicht nur an der Schleiermacher-Biographie Diltheys, von der man sagen kann, daß sie ein neues Verständnis Schleiermachers eröffnet hat, indem sie gegen das herrschende, noch auf der persönlichen Wirkung Schleiermachers beruhende Verständnis die biographische Erschließung der ganzen Bedeutung Schleiermachers unternahm. Sie bezog vor allem die romantische Zeit Schleiermachers ein, die neben den Denkmalen auch durch die von Jonas und Dilthey herausgegebene Briefsammlung dokumentiert ist, und verstand Schleiermacher von hier aus. Damit hat Dilthey die Unterscheidung zwischen dem frühen und dem späten Schleiermacher überboten, wie sie von Strauß und Baur vorgenommen worden ist. Denn der biographische Ansatz intendiert die Kontinuität in den verschiedenen Lebensphasen. Daher kann man sagen, daß die Wirkungsgeschichte dieser Biographie den bekannten Satz aus ihrem Vorwort bewahrheitet hat: "Die Philosophie Kants kann völlig verstanden werden ohne nähere Beschäftigung mit seiner Person und seinem Leben; Schleiermachers Bedeutung, seine Weltansicht und seine Werke bedürfen zu ihrem gründlichen Verständnis biographischer Darstellung" (LSchl. I, XXXIII). Die Berücksichtigung der Entwicklung Schleiermachers hat sich durchgesetzt. Das zeigen nicht zuletzt noch die neueren Arbeiten, die sich kritisch auf Diltheys Biographie beziehen: E.Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, 1974, 15ff; E.H.U.Quapp, Christus im Leben Schleiermachers, 1972, 314ff. Diese Untersuchungen müssen sich auf jene Dokumente stützen, die in den Denkmalen veröffentlicht worden sind. Es ist daher nur zu bedauern, daß dieser Anhang schon in der von Mulert herausgegebenen zweiten Ausgabe von Diltheys Leben Schleiermachers 1922 fortgelassen
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Zu S.29-30: worden ist und auch in der kritischen dritten Ausgabe von Redeker (1970), die verdienstvoller Weise die von Mulert in die 2. Auflage eingearbeiteten Änderungen gegenüber der ersten Ausgabe im Text sichtbar gemacht hat, trotz der Ankündigung (LSchl. I, XXIX) nicht wieder aufgenommen worden ist. 51 Unter der Voraussetzung der Unvereinbarkeit von Gegenwartsbewußtsein und christlich-kirchlicher Tradition sind beide Wertungen vorgenommen worden. Schon von Strauß (aaO) und Baur (aaO) sind die Reden gegenüber der Glaubenslehre vorgezogen worden, weil - wie Strauß prägnant formuliert - der Autor "sich mit seinem Empfinden und Denken noch keineswegs bestimmt in der christlichen Religion und Kirche angesiedelt habe" (Strauß, aaO 23). Obwohl diese Meinung sich nur auf die dritte Ausgabe der Reden von 1821 bezieht, die den wenig veränderten Text der zweiten Auflage von 1806 mit ergänzenden Erläuterungen versehen hat, um die Übereinstimmung zwischen den Reden und der Glaubenslehre von 1821 zu dokumentieren, d . h . daß diese Meinung gar nicht der einschneidenden Änderungen der zweiten Ausgabe von 1806 ansichtig geworden ist und sie sich folglich auch nicht auf den Romantiker, sondern auf den bereits amtierenden Theologen und Prediger bezieht, hat sich diese Wertung im Kontext der Schleiermacher-Biographie Diltheys durchgesetzt. Das um so mehr, als auch in Diltheys Verständnis Schleiermachers ein Wandel stattgefunden hat, der sich zwischen er ersten Auflage der Biographie 1870 und der zweiten von 1922 beobachten läßt. Nach dieser besteht die Bedeutung Schleiermachers weniger in seinem "reformatorischen sittlichen Beruf" (LSchl. I, XL) als vielmehr darin, daß "er der pantheistischen Mystik in der Kirche Raum und Geltung verschafft habe" (aaO 549). Die Neuausgabe der Reden in ihrer ursprünglichen Gestalt von 1799 durch R.Otto 1899 stellte gerade in der damaligen Diskussion um den Religionsbegriff die Bedeutung von Schleiermachers Reden neu heraus und setzten sie deutlich gegenüber der Glaubenslehre ab (vgl. Otto's Einführung zu seiner Neuausgabe, 14f). Die Wirkung dieser Ausgabe läßt sich an W.Herrmanns Stellungnahme zu Schleiermacher ablesen, der nach 1900 den jungen Schleiermacher von seiner Kritik ausnimmt (vgl. P.Fischer-Appelt, Metaphysik im Horizont der Theologie W.Herrmanns, 1965, 74 Anm. 40). Auf dem Hintergrund dieser verbreiteten Auffassung von der r e ligiösen Bedeutung der Reden im Unterschied zur Glaubenslehre, trotz des Protestes, den O.Ritsehl, Schleiermachers Stellung zum Christentum in seinen Reden über die Religion: Ein Beitrag zur Ehrenrettung Schleiermachers, 1888 vorgebracht hat (vgl. P. Seifert, Die Theologie des jungen Schleiermacher, 1960, 12ff),
- 313 Zu S.30-31: ist die Umkehrung der Wertung Schleiermachers durch die dialektische Theologie auf dem Boden einer theozentrischen Theologie durchaus verständlich. Das beherrschende Stichwort dieser Kontroverse hat wohl die veränderte zweite Auflage von Diltheys Leben Schleiermachers 1922 gegeben, das dann von E.Brunner in den Titel seiner Abrechnung mit Schleiermachers Theologie und ihren damaligen Auswirkungen aufgenommen worden ist : Die Mystik und das Wort, 1924. Nicht nur in dieser polemischen Gestalt, sondern auch in der ausgewogeneren Würdigung Schleiermachers durch K.Barth (vgl. schon die Rezension des Brunnerschen Buches ZZ 1924, 49-64, vor allem aber in: Die protestantische Theologie im 19. J h . , 1946, 279-424 und schließlich im Nachwort zur Schleiermacherauswahl 1968) steht das theologische Werk unter einer Kritik, die in ihm die Gefahr einer nicht ihrer Sache gemäßen Theologie sieht, als deren Repräsentant die Reden gelten können (vgl. die Arbeit von Eckey). 52 Vgl. Herms, aaO 172. 53 Diese von Dilthey offenbar übersehene, erst von H.Nohl wiederentdeckte und 1913 veröffentlichte Abhandlung Schleiermachers (Werke, Bd. 1, 1-31) ist zuerst im Jan./Feb.-Heft des "Berliner Archiv der Zeit und des Geschmacks" 1799 anonym erschienen. Nohl hat sie aufgrund der Tagebuchnotizen als Arbeit Schleiermachers identifizieren können. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Abhandlung auf eine Weiterführung angelegt war, die dann offenbar nicht mehr erfolgt ist, so daß nur auf diese Fortsetzung Diltheys Anmerkung (Br.1,203) zutrifft, daß die in dem Brief an H.Herz vom 10. März 1799 erwähnte Arbeit Schleiermachers im "Archiv" nicht aufzufinden sei, läßt sich diese Äußerung Schleiermachers nicht allein auf die Fortsetzung, sondern auch auf den Teil beziehen, in dem die Grundlegung erfolgt ist. Sie lautet: "Was ich sagen werde, wird sehr aus meiner Überzeugung kommen und ihm (sc. dem Herausgeber) gewiß unangenehm sein" (Br.1,203). So kann diese Abhandlung durchaus als Darstellung von Schleiermachers Überzeugung verstanden werden. Die Bedeutung dieser Abhandlung für Schleiermachers spätere Ethik und ihr Verhältnis zur Romantik ist von E.Neubauer, Die Begriffe der Individualität und Gemeinschaft im Denken des jungen Schleiermacher, Diss. Frankfurt 1920, ThStKr 95, 1923/24, 1-77 untersucht worden. Auf ihren Zusammenhang mit der vierten Rede hat Rendtorff, aaO 134, hingewiesen. "Die Bedeutung der Geselligkeit in Schleiermachers Leben und Schriften" ist Gegenstand der Dissertation von H.Töllner (1927). Y.Spiegel (aaO 23ff) hat auf das Verhältnis von Geselligkeit und Bildung hinge-
- 314 Zu S . 3 1 : wiesen, den Begriff der Bildung auf den sozialgeschichtlichen Kontext bezogen (237ff), ohne aber die innere Struktur dieses Begriffs herauszustellen. 54 In seiner Biographie hat Dilthey sich ganz auf den individuellen Aspekt in den Vorarbeiten für einen "Essay über die gute Lebensart" beschränken und den gesellschaftlich politischen Aspekt der "anderen Romantik" (so der Titel einer Dokumentation, hg. v . H.Schanze, Frankfurt 1967, die vor allem Texte von Schleiermachers Freund F.Schlegel enthält) nicht genügend deutlich machen können. Der Hinweis auf die "Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleiermacher", den S.Eck in seiner Abhandlung (1908) gegeben hat, indem er gegen das ethische Verständnis Schleiermachers, das Diltheys Biographie von 1870 bestimmt hat, auf die Bedeutung der Herrnhuter Jahre aufmerksam gemacht hat (eine Kritik, die Dilthey für die Neuausgabe berücksichtigt hat), führt im Blick auf die gesellige Natur der Individuen nicht weiter, weil Schleiermacher in einem Brief an seine in Gnadenfrei lebende Schwester gerade die Differenz zwischen dem geselligen Leben in der Gemeine und in der Welt Berlins herausgestellt hat ( B r . I,208 = M.I, 137). 55 Die implizite politische Theorie in Schleiermachers Verständnis der gebildeten Geselligkeit hat R.Strunk, Die politische Ekklesiologie im Zeitalter der Revolution, 1971, 54-100 herausgearbeitet. Im Anschluß an die Analyse von Novalis' Essay, Die Christenheit oder Europa, der erst 1826, d . h . in der Zeit der Restauration, erschienen ist und daher eine andere Wirkung gehabt hat, als an dem geschichtlichen Ort seiner Entstehung, nämlich im Anschluß an Schleiermachers Reden 1799 - Novalis spielt auf Schleiermacher an, wenn er die Aufklärer zu "einem Bruder" führen will, "der soll mit euch reden" - , hat Strunk u . a . diese politischen Implikationen an dem Zusammenhang zwischen Schleiermachers Kritik an der französischen Revolution und seiner Theorie der Kirche in den Reden verdeutlichen können. Schleiermachers Kritik richtet sich nicht auf eine bestimmte politische Praxis, sondern darauf, daß das, was als Wesen der Revolution erkannt worden ist, überhaupt politisch realisiert werden sollte (Strunk, aaO 56). Das Reich der Freiheit kann in den Schranken der bürgerlichen Arbeitswelt keinen Ort haben, sondern nur jenseits von ihr, wo eine ungehinderte Geselligkeit stattfinden kann. Die Kritik der politischen Gestalt der Revolution und ihre religiöse Fassung zielen nicht einfach auf eine Verinnerlichung der Freiheit in der "romantischen Subjektivität" (Strunk 65), sondern auf eine von allen Schranken freie Geselligkeit von Individuen, wie sie in der wahren Kirche realisiert wird. Ergänzen lassen sich die Beobachtungen Strunks durch den Hin-
- 315 Zu S.31-34: weis auf F.Schlegels 1796 erschienene Schrift, die durch Kants Abhandlung "Zum ewigen Frieden" veranlaßt gleichfalls den Versuch einer Theorie darstellt: "Versuch über den Begriff des Republikanismus" (1796, in: Die andere Romantik, 39-58). Im Unterschied zu Schleiermacher hat Schlegel den Begriff der Geselligkeit mit dem republikanisch verfaßten Staat identifiziert: "Eine jede menschliche Gesellschaft, deren Zweck Gemeinschaft der Menschheit ist (die Zweck an sich, oder deren Zweck menschliche Gesellschaft ist) heißt Staat" (aaO 44). Daraus, daß die menschlichen Individuen im "Verhältnis des gegenseitigen natürlichen Einflusses" stehen, ergibt sich die Modifikation des reinen praktischen Imperativs: "Der Satz: das Ich soll sein; lautet in dieser besonderen Bestimmung: Gemeinschaft der Menschheit soll sein, oder das Ich soll mitgeteilt werden" ( e b d . ) . Gerade diese Parallele läßt die Differenz Schleiermachers zu Schlegel deutlich werden, eine Differenz, der sich Schlegel offenbar erst im Laufe des Jahres 1798 bewußt geworden ist, wenn er zu der Auffassung kommt, daß Schleiermachers "Apologie der Humanität gegen die Philosophie nicht eigentlich in meine (sc. Schlegels) Ansichten gehört" ( B r . I I I , 8 7 , vgl. 79). 56 Herms hat Schleiermachers erste größere wissenschaftliche Publikation, die Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, als "Schlüsselwerk der Arbeitsperiode" der Reden und Monologen charakterisiert, in der die von Schleiermacher erworbenen Einsichten eine erste Darstellung als System erlangt haben (Herms, aaO 168). Er hat gegen das Diltheysche Schema der Abfolge von anschaulicher Darstellung der systemlos mystischen Weltansicht und ihrer systematischen Ausarbeitung geltend gemacht, daß Reden, Monologen und die Kritik der Sittenlehre demselben "wissenschaftlichen Arbeitszusammenhang" angehören. Daß aber die Kritik der Sittenlehre den "Schlüssel zur Erfassung des systematischen Zusammenhangs des Ganzen" darstellen soll (aaO 168 Anm.), ist doch angesichts des kritischen Charakters dieses Werks zu bezweifeln, zumal wenn Herms selbst nur einige "indirekte Andeutungen" für die zentrale Theorie des unmittelbaren Selbstbewußtseins in ihm findet (aaO 180). 57 Vgl. Habermas, aaO 47. 58 S . o . Anm. 40: "Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens, Wirkungen des Fleisses und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern" (Mendelssohn) . 59 Herms, aaO 98-112. 60 ThgB lOf. 61 In dieser Argumentation Schleiermachers gegen den Virtuosen der Geselligkeit wird der von Gadamer skizzierte Wandel in der Auf-
- 316 Zu S.34-39:
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fassung des humanistischen Erbes deutlich (WuM 1-39). Wichtig ist dabei vor allem der Begriff des Gefühls, der eine Nähe zum unmittelbaren Realitätsbewußtsein Jacobis erkennen läßt und damit einen Hinweis auf die Herkunft der späteren Bestimmung der Religion als Gefühl gibt (vgl. Herms, aaO 121-153). Indem Schleiermacher aber auf die theoretische Explikation des im Gefühl erschlossenen Ganzen und der Bestimmung des einzelnen in ihm abhebt, zeigt sich bereits jene Kritik an Jacobi, die Schleiermacher 1818 in dem bekannten Brief an Jacobi über die Harmonie von Dogmatik und Philosophie formuliert hat (SA 116ff). Vgl. die berühmte Schrift Spaldings, Gedanken über die Bestimmung des Menschen (1748), die noch Fichte zu seiner, von Schleiermacher im Athenäum Bd. 3 (1800) rezensierten Abhandlung "Die Bestimmung des Menschen" (1800), WW II, 164ff) angeregt hat. Hier kommt das in Schlegels Versuch über den Republikanismus enthaltene Vermögen der Mitteilung zum Tragen (vgl. Anm. 55). Um Mißverständnissen zuvorzukommen, wird hier und im folgenden der zentrale Begriff der Subjekt-Philosophie, der Begriff des Selbstbewußtseins, vermieden, weil Schleiermacher - wie noch sein späterer Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins zeigt nicht im Anschluß an Fichte die Frage nach der Konstitution des Selbstbewußtseins gestellt hat, sondern vom empirisch-individuellen Selbstbewußtsein ausgegangen ist und seine Lösung im Horizont der Individualitätsanschauung gesucht hat. Unabhängig von der Frage, inwiefern im Rahmen der Individualitätsanschauung die Aporien der Selbstbewußtseinsthematik aufgewiesen werden können (vgl. dazu F.Wagner, Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, 1974), wird im folgenden von der Individualitätsanschauung ausgegangen werden und der Ausdruck "Selbstverständnis des Gebildeten" gebraucht werden, um die reflexive Beziehung des Gebildeten auf sich als Individuum zum Ausdruck zu bringen. Vgl. Habermas, aaO 38ff: Kaffeehäuser, Salons, Sprach- und Tischgesellschaften bilden die Institutionen der Öffentlichkeit. Spiegel ist bei seiner Identifikation des liberalen Gesellschaftsmodells in Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens eine bezeichnende Ungenauigkeit unterlaufen. Er behauptet, daß Schleiermacher das "System der Wechselwirkung" als "freies Spiel der Kräfte" bezeichnet habe (aaO 25). Nun findet sich zwar in Schleiermachers Ausführungen die Formulierung vom "freien Spiel der Kräfte", aber eben nicht im Sinne des Liberalismus, sondern sie bezieht sich auf die Kräfte des individuellen Vermögens (ThgB 4). Spiegel unterschlägt hier und in seiner gesamten Argumentation
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Zu S.39-42: aufgrund seines Interesses an der Identifizierung von Schleiermachers philosophischer und theologischer Theoriebildung mit den Strukturen eines liberalen Gesellschaftsmodells gerade die Differenz, die Schleiermacher zwischen dem Ideal der freien Geselligkeit und ihrer Realisierung macht, und urn die es Schleiermacher seinem Bildungsverständnis zufolge in seiner Theoriebildung wesentlich geht (vgl. auch die Kritik von Strunk, aaO 65 Anm.). 67 Vgl. Schleiermachers Beschreibung der Berliner Mittwochsgesellschaft, in der er F.Schlegel kennengelernt hat: "Ich lernte ihn zuerst in einer geschlossenen Gesellschaft kennen, von der ich ein Mitglied bin, wo man zusammenkommt, um sich Aufsätze vorzulesen, schöne schriftstellerische Werke zu beherzigen, literarische Neuigkeiten mitzuteilen, usw." (An seine Schwester 22. Okt. 1797, B r . I , 161). Sicher ist die Theorie des geselligen Betragens an diesen Formen der Geselligkeit orientiert, wie gerade auch Schleiermachers Auseinandersetzung mit seiner Schwester über die Ähnlichkeiten und Differenzen des geselligen Lebens in der Gemeine und in der Welt ( B r , I , 2 0 7 f ) zeigen, die deutlich machen, daß die Bedeutung dieser Gesellschaften nur im Zusammenhang mit seiner bestimmten Auffassung von der Bestimmung des Menschen erfaßt werden kann. 68 Die hier herausgestellte Frage kann noch einmal die Themenstellung dieser Untersuchung verdeutlichen. Eine Untersuchung der Individualitätsanschauung steht in der Gefahr der Beschränkung auf den Gegenstand der Individualität, ohne die weiterreichenden systematischen Zusammenhänge in den Blick zu bekommen (vgl. z . B . J.Richter, Das Prinzip der Individualität in der Moralphilosophie Schleiermachers, Leipzig 1901). Vor allem wird davon abgesehen, daß die Individualitätsanschauung auch auf ihren Theoretiker angewendet wird. Diese reflexive Beziehung, die gerade die Monologen und Reden als Darstellungsform zu erklären vermag, ist konstitutiv für Schleiermachers Verständnis des Gebildetseins, das den Gegenstand der Untersuchung abgibt. Es sei hier angemerkt, daß Schleiermachers Theorie des geselligen Betragens Momente enthält, die über den Arbeitszusammenhang der Frühschriften hinausweisen auf die spätere Theologie Schleiermachers. Auf der einen Seite verdient der hier gebrauchte Ausdruck "Gefühl" (ThgB 6) als Urteilsinstanz im Blick auf das gesellige Verhalten analog dem Gewissen im Blick auf moralische Urteile Erwähnung. Er zeigt, daß Schleiermachers spätere Auffassung von der Religion als Gefühl nicht unvorbereitet war und stellt vielleicht eine Verbindung zwischen diesem Religionsverständnis und Jacobis Begriff des Gefühls dar. Auf der anderen Seite hat Schleiermacher in Abweichung von der ersten Auflage der Reden später zur Bestimmung des Begriffs der Kirche auf die
- 318 Zu S.42-45: hier entwickelte Vorstellung von der Beschränktheit der Gemeinschaft und dem für ihre Individualität notwendigen Maß zurückgegriffen (ThgB lOf). 69 Die Überlegung über die Entsprechung zwischen der Selbstdarstellung des gebildeten Individuums und der Form des Monologs hat ihren historischen Anhalt an den Reflexionen der Romantiker um F.Schlegel über die Formen der Dichtung und der sprachlichen Gestaltung, deren rationaler Kern durch das Etikett der Romantik meist mehr verstellt als aufgezeigt wird. So lassen sich auf dem Hintergrund der Kritik Schlegels an der der Religion nicht angemessenen rhetorischen Gestalt und dem Hinweis auf Hülsens Reisebeschreibung im Athenäum jene rhythmische Gestaltung der Monologen verstehen, die Schleiermacher dann gegenüber Brinckmanns Vorwurf der "Verkünstelung" verteidigt (Meisner I, 170; vgl. LSchl.I, 443.464f). Auf den Zusammenhang mit den Überlegungen Schlegels über eine neue "Heilige Schrift", die auch hinter den Ausführungen der dritten Rede über das Verhältnis von Religion und Kunst stehen, hat mich H.Patsch aufmerksam gemacht (vgl. H.Patsch, Schleiermachers poetische Versuche. Ungedruckte germanistische Examensarbeit, Heidelberg 1965). 70 Die folgende Darstellung zitiert die Monologen nach der kritischen Ausgabe von Schiele und Mulert (1914) mit der in Klammern gesetzten Seitenzahl. Zur Orientierung über diese Schrift, die gern als Seitenstück zu den Reden angesehen wird und offenbar lieber herausgegeben als einer eigenständigen Untersuchung unterzogen worden ist (Tice verzeichnet allein fünf verschiedene deutsche Ausgaben), vergleiche die kommentierten Vorarbeiten in der genannten Ausgabe und die Einführung von G.Wehrung (1953). 71 Dilthey (LSchl.I, 460ff) und im Anschluß an ihn auch Schiele (aaO) wollen die Monologen als Vorstufe zu einem Roman verstehen. Diese Vermutung berührt sich mit der oben entwickelten Überlegung zur Darstellungsform der Monologen, weil sie gerade die Unterscheidung zwischen der Darstellung des gebildeten Selbstverständnisses überhaupt und der Darstellung der Eigentümlichkeit eines gebildeten Individuums thematisiert. Dilthey scheint aber gerade diese Unterscheidung aufheben zu wollen: Unter der Voraussetzung der Individualitätsanschauung stellt sich nach ihm für Schleiermacher die Aufgabe eines Romans so sehr, daß es nur "der Romen seines eigenen Lebens" hätte werden können ( e b d . ) . Dazu sei aber die Zeit noch nicht reif gewesen. Aber immerhin habe sich der in sich geschlossene "ideale Wille" bereits darstellen lassen, was in den Monologen dann geschehen sei.
- 319 Zu S.45-46: Schiele grenzt diese biographisch gerichteten Ausführungen Diltheys gegen das drohende Mißverständnis als Konfessionen ab, in denen dann "der Gedanke an Sünde, an die Schuld, die Fehler, die Irrtümer des Ich" fehlen würde. Er insistiert darauf, daß Schleiermacher sich auf die Darstellung des idealen Wesens beschränkt habe, wie er es selbst in den Vorreden zu den späteren Auflagen gegen Mißdeutungen geltend gemacht hat: Die Idee eines Menschen, nicht seine Erscheinugn (3), das Urbild und nicht das Zerrbild eines Menschen (4) habe er zeigen wollen, darum bemüht, "die örter für die Verschiedenheit der Urbilder" aufzusuchen ( 4 ) . Wie immer die biographisch gerichtete Roman-Hypothese Diltheys zu beurteilen sein mag, Schleiermachers eigene Ausführungen machen m.E. unmißverständlich deutlich, daß sein Interesse eben nicht auf die Darstellung seiner eigenen Eigentümlichkeit als bestimmte Person gerichtet war, sondern auf die Individualität überhaupt, die dem Gebildeten vor Augen steht. Die Monologen sind daher nicht autobiographisch gemeint, sondern verdanken sich dem theoretischen Bemühen, eine adäquate Darstellungsform für das gebildete Selbstverständnis zu finden, die das Allgemeine nur in der Besonderheit der individuellen Erscheinung ausdrücken kann. 72 Br .II, 15; IV, 66; I, 401. 280. 73 Vgl. Schlegels Äußerung über die Arbeitsvorhaben Schleiermachers ( B r . I I I , 79, 83. 87): "Ich glaube, Deine Kritik der Moral . . . bedarf gewiß einer Construktion und Constitution der ganzen vollen Menschheit und Moralität im Gegensatz zu der isolierten Philosophie" ( B r . I I I , 79). Die Bemerkung Schleiermachers zeigt nicht nur den Abstand zum Idealismus Fichtes, sondern ebenso den Abstand zum Realismus Jacobis, sofern dieser auf der Entgegensetzung von Glauben und Wissen beharrt (vgl. zu Schleiermachers Rezeption von Spinoza und Jacobi Herms, aaO 119-163). 73a Vgl. das Urteil, das Schleiermacher noch 1803 über Fichte gefällt hat: "Wer nun aber die Philosophie und das Leben so strenge trennt, wie Fichte thut, was kann an dem Großes sein? Ein großer einseitiger Virtuose, aber wenig Mensch" ( B r . I V , 93). 74 Schleiermachers Kritik an Fichte berührt sich mit der von F. Schlegel (vgl. Herms, aaO 253) und der, die Jean Paul in seiner "Clavis Fichtiana" geäußert hat: "Nur von der Seite der Individuation, sagt Jacobi, ist in den Spinozismus einzubrechen; das gilt auch von der Wissenschaftslehre und von jeder Philosophie, insofern sie rein oder absolut wäre" (Werke in 12 Bänden, 1975, VI, 1014). Die Untersuchungen der Fichteschen Philosophie durch D.Henrich und F.Wagner haben diese Kritik bestätigt und
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Zu S.46-47: verdeutlicht: "Daß Fichte die individuelle Persönlichkeit nicht an ihr selbst, nämlich als manifeste Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit denkt, hat darin seinen Grund, daß er die Ichheit als ursprünglich thetische Einheit von Subjekt und Objekt, Setzen und Gesetztsein faßt; die Ichheit als diese Einheit von Subjekt und Objekt kann nur durch Übertragung auf ein bestimmtes empirisches Dasein individualisiert werden, so daß die individuelle Persönlichkeit der verschwindende Ausdruck der allgemeinen, aber überindividuellen Ichheit ist" (F.Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, 1971, 60; vgl. D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, 1967, 49). 75 E.Hirsch (aaO IV, 500-511) hat seiner Darstellung der Berliner Zeit offenkundig dieses Selbstzeugnis zugrunde gelegt, ohne die darin enthaltene Differenz zu Fichte im philosophischen Ansatz zu würdigen. Hirsch sieht die Beziehung Schleiermachers zu Fichte darin, daß jener bei diesem die "Denkmittel" (504) findet, daß "die Reden und Monologen hinsichtlich des empirischen Ich- und Weltbewußtseins die Aussagen Fichtes in vereinfachter Gestalt wiederholen" (505). Die substantielle Differenz zwischen beiden bringt Hirsch dann als "zwiefachen Vorbehalt" zur Geltung, der sich auf die "Frage nach dem unserm Selbst- und Weltbewußtsein zugrundeliegenden Sein an sich" (508) und andererseits auf die Trennung von Philosophie und Leben (509) richtet. Es ist allerdings im Blick auf das Gewicht dieser Vorbehalte, die bereits in der Orientierung am empirischen Ich- und Weltbewußtsein zur Geltung kommen, zu fragen, ob die Auffassung von Hirsch, es sei Schleiermacher darum gegangen, die Selbstanschauung des Ich zur Selbstanschauung der Individualität zu vertiefen (510), unbesehen übernommen werden kann, ohne zu erkennen, daß eben diese Vertiefung den Rahmen der Wissenschaftslehre Fichtes sprengt (vgl. Hertel, Das theologische Denken Schleiermachers, 1965, 183-198). 76 Vgl. die Erläuterung, die Schleiermacher als Erwiderung auf den von Brinckmann erhobenen Vorwurf der Künstlichkeit der Monologen über deren Konstruktion gemacht hat: "Ich habe es mir überhaupt sehr schwer gedacht ein Selbstgespräch zu construiren, sowohl in Absicht auf die Ordnung der Materie, als auf den Ton. Was das erste betrifft, so war mir gleich klar, daß eine Entwicklung der Prinzipien darin nirgends vorkommen dürfe; denn indem man Grundsätze sucht, kann man unmöglich zusammenhängend mit sich selbst reden, und ein Selbstgespräch scheint mir darin bestehen zu können, daß man sich nach der Beziehung der Grundsätze auf das Einzelne fragt und sich der Anschauung des Einzelnen nach den Grundsätzen bewußt wird. Von dieser Idee bin ich überall ausgegangen" (Meisner 1, 170f).
- 321 Zu S.49-66: 77 Fichte, Wissenschafteslehre (1794), WW I, 91ff. 78 Durch diesen Ausgangspunkt bei der gewöhnlichen Lebensanschauung sind die Monologen auf eine Themenstellung bezogen, die sich in Schleiermachers Biographie bis zu der Neujahrspredigt von 1792 zurückverfolgen läßt (D 46f). Der Gedanke, daß bestimmte Tage wie der Neujahrs- oder der Geburtstag jemanden dazu anregen, über den "Wert des Lebens" nachzudenken, hat Schleiermacher dann an seinem 24. Geburtstag (21. Nov. 1792) in dem so betitelten Fragment weiter ausgearbeitet. Dieser Ausgangspunkt kommt auch im Untertitel der Monologen zum Ausdruck, der sie als eine "Neujahrsgabe" an das neue Jahrhundert ausweist. Später hat er dann noch die Entstehung der Glaubenslehre von dieser Vorstellung aus verstanden, wenn der Entschluß dazu an seinem fünfzigsten Geburtstag gefallen ist (Br.IV, 244). Den Begriff des Lebens hat Schleiermacher in der Neuauflage der Reden von 1806 und in der Einleitung der Glaubenslehre ins Zentrum gerückt. 79 Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), WW I, 422. 80 S.o. Anm. 74. 81 Vgl. R 264ff. Ähnlich lautet die Formulierung Fichtes: "Jenes Selbstbewußtsein dringt sich nicht auf, und kommt nicht von selbst; man muß wirklich frei handeln und dann vom Objekte abstrahieren und lediglich auf sich selbst merken" (aaO I, 429). 82 Vgl. die Beschreibung des individuellen Bildungsprozesses im zweiten Monolog: "Nur wenn der Mensch im gegenwärtigen Handeln sich seiner Eigenheit bewußt ist, kann er sicher sein, sie auch im Nächsten nicht zu verlezen; und nur wenn er von sich beständig fordert die ganze Menschheit anzuschaun, und jeder andern Darstellung von ihr sich und die seinige entgegen zu sezen, kann er das Bewußtsein seiner Eigenheit erhalten; denn nur durch Entgegensezung wird das Einzelne erkannt" (37,2038,2). 83 ThgB 8, s . o . S.40. 84 In dieser zweifachen Auffassung des äußeren Handelns ist das erste der beiden Einteilungsprinzipien von Schleiermachers Güterlehre vorweggenommen: Organisieren und Symbolisieren. Allerdings sind Weltbildung und Selbstbildung noch auf das Individuum bezogen und nicht auf den Prozeß der Vereinigung von Vernunft und Natur. 84a Vgl. 53, 3-10: "Es schwebt ihm deutlich vor, wie der geartet müßte sein, mit dem er durch den Tausch des Denkens und Empfindens zur gegenseitigen Bildung und zum erhöhten Bewußtsein sich verbinden könnte: doch wenn er nicht durch Zufall glück-
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Zu S .66-69:
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lieh im engen Umkreis seines äußern Lebens ihn selbst entdeckt, so seufzet jener wie er vergeblich im gleichen Wunsch das kurze Leben hin". Vgl. 59, 21-27: "Vermehrten äußern Besitz des Habens und des Wissens, Schutz und Hülfe gegen Schicksal und Unglück, v e r mehrte Kraft im Bündnis zur Beschränkung der Andern, das nur suchet und findet der Mensch von Heute in Freundschaft, Ehe und Vaterland; nicht Hülfe und Ergänzung der Kraft zur eignen Bildung, nicht Gewinn an neuem innern Leben." Vgl. Schleiermachers Vorschläge, wie die Verbesserung einer bestehenden Geselligkeit möglich ist: "Alle gesellschaftlichen Äußerungen müssen demzufolge eine doppelte Tendenz, gleichsam einen doppelten Sinn haben, einen, den ich den gemeinen nennen möchte, der sich unmittelbar auf die Unterhaltung bezieht, und seinen Zweck notwendig und unfehlbar erreicht, und einen andern gleichsam höheren, der nur aufs ungewisse hingeworfen wird, ob ihn jemand aufnehmen, und die darin enthaltenen Andeutungen weiter verfolgen will" (ThgB 27; vgl. dazu auch die Funktion des Mittlers in den Reden s . u . ) . Weil Schleiermacher das gebildete Selbstverständnis durch die Individualität sanschauung auslegt und seine Explikation als Selbstbetrachtung und Weltansicht durch ihre Struktur bestimmt ist, also ein klares und deutliches Verständnis des Gebildetseins vorliegt, kann von einem Begriff der Bildung bei Schleiermacher gesprochen werden (vgl. Ebeling, aaO 70). W.Schultz, Griechisches Ethos in Schleiermachers Reden und Monologen, NZsTh 10, 1968, hat m.E. aufgrund seines alternativen Deutungsschemas von der Religion als übermoralisches "Geschenkt- und Ergriffensein" und dem "autonomen Menschentum des griechischen Ethos" diese Differenz übersehen und daher in der Struktur des gebildeten Individuums nur den "unversöhnbaren Gegensatz bei Schleiermacher" sehen können (aaO 271). Das gesteht Schleiermacher rückblickend in der Nachrede zur 2. Auflage der Reden (1806) ein, in der er die inzwischen eingetretene Entwicklung zu seiner Prognose über die Zukunft der Religion und des Christentums in Beziehung setzt: "Und dann war ich sicher, Ihr würdet selbst finden, was Ich Euch gern zeigen wollte, daß Ihr in eben der Gestalt der Religion, welche Ihr so oft verachtet, im Christentum, mit Eurem ganzen Wissen, Thun und Sein so eingewurzelt seid, daß Ihr gar nicht heraus könnt, und daß Ihr vergeblich versucht Euch seine Zerstörung vorzustellen, ohne zugleich die Vernichtung dessen, was Euch das Liebste und Heiligste in der Welt ist, Eurer gesamten Bildung und Art des Daseins, ja Eurer Kunst und Wissenschaft mit zu beschließen" (P300).
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Zu S.71: 90 Vgl. die Vorrede zur 3. Ausgabe der Monologen, M 3. 91 Die vorgezogene Darstellung von Schleiermachers Monologen vor die fast ein Jahr zuvor erschienene Religionsschrift, die ihn einem größeren literarischen Publikum bekannt gemacht hat, ist aus Gründen gerechtfertigt, die im Thema der Untersuchung liegen. Stärker als die zeitliche Distanz fällt die inhaltliche Differenz zwischen beiden Schriften ins Gewicht, die sich aus der thematischen Festlegung der Monologen auf die Selbstbetrachtung ergibt, daß nämlich das gebildete Selb st Verständnis in seiner ethischen Explikation auf die Prozesse der Selbstbildung und der freien Geselligkeit beschränkt ist. Die Intention der Monologen ist darauf gerichtet, den Selbstbildungsprozeß vom Weltbildungsprozeß abzuheben, so daß dieser nur in Beziehung auf den eigenständigen Selbstbildungsprozeß thematisiert wird. Da mit der Religion der Selbst und Welt umfassende Horizont thematisch ist, legt sich die Umstellung nahe, zumal auf die zeitliche Distanz gesehen die für den Bildungsbegriff zentrale Individualitätsanschauung auch schon für die Theorie des geselligen Betragens bestimmend ist. Durch diese Umstellung wird eine neue Bestimmung des inneren Zusammenhanges zwischen den religiösen Reden und ethischen Monologen sichtbar, insofern sich beide auf den Bildungsbegriff beziehen lassen. 92 Seit R.Otto hundert Jahr nach ihrem ersten Erscheinen die Reden in ihrer ursprünglichen Gestalt wieder veröffentlicht hat, sind sie in verschiedenen Ausgaben zugänglich, die die Seitenzählung der Urausgabe notieren. Daher wird im folgenden Abschnitt die Seitenzahl der Urausgabe hinter Zitaten aus den Reden in Klammern gesetzt. 93 Soweit ich sehen kann, ist die Form der Reden bisher immer auf Schleiermachers Predigttätigkeit und die entsprechende Theorie bezogen worden (vgl. Seifert, aaO l l l f f ) . Diese Beziehung ist zu offenkundig, als daß sie geleugnet werden könnte. Aber es läßt sich fragen, ob die Entstehung zwischen Schleiermachers Predigttheorie und den Reden an die gebildeten Verächter nicht ihren Grund in seiner Auffassung von dem durch Religion konstituierten gebildeten Individuum hat. 94 Vgl. den Forschungsüberblick zu dieser Frage bei Seifert, aaO 12ff. Die von Seifert skizzierte Alternative, die Reden vom Begriff der Religion oder von der Auffassung des Christentums her zu verstehen, spiegelt die Diskussion einer Zeit, die durch die sich entwickelnde Religionswissenschaft vor die Frage nach der Absolutheit des Christentums gestellt ist, so daß eine "Ehrenrettung Schleiermachers" (O.Ritsehl) im Blick auf seine Stellung zum Christentum in den Reden für notwendig erachtet wurde (vgl. Rendtorff, aaO 119).
- 324 Zu S.72-74: 95 Hertel hat (aaO) die Einheit des theologischen Ansatzes der Reden in Frage gestellt und im Anschluß an Diltheys Ausführungen über die Entstehung der Reden (LSehl.I, 381ff) einen "Bruch" nach der zweiten Rede festgestellt, der im Unterschied zu allen sonst angenommenen Beeinflussungen (aaO 33 Anm. 15) auf eine Beeinflussung durch Theologie und Kirche zurückgeführt wird: "Der deutliche Bruch . . . hängt mit Sicherheit mit Schleiermachers Potsdamer Tätigkeit zusammen". Darüber hinaus sieht Hertel dann in der fünften Rede einen dritten Entwurf, in welchem Schleiermacher die theologischen Probleme in der kirchlichen Situation um 1800 aufgenommen habe (42). Man wird sicher im Blick auf das Verständnis der Religion in den Reden verschiedene Weisen der Thematisierung unterscheiden müssen, aber daß sie als selbständige Entwürfe auf zufällige äußere Einflüsse zurückzuführen sind, scheint gerade angesichts der von Schlegel und Schleiermacher geübten Stilkritik, die auf die Differenz zwischen Intention und Darstellung abhebt, zweifelhaft. Auf dem Boden des Bildungsbegriffs lassen sich aus sachlichen Gründen die erste Rede abheben und die vierte sich mit der fünften zusammenordnen, während die dritte eine gewisse Zwischenstellung einnimmt, die ich aber wegen der Bedeutung, die der Redner den Gebildeten für die Palingenese der Religion einräumt, auf die zweite Rede beziehe. 96 Vgl. Schleiermachers Tagebuchnotizen aus dieser Zeit, in denen er ausdrücklich das Verhältnis zwischen Redner und Hörer als Wechselwirkung der freien Geselligkeit faßt, sowie die Darstellung der religiösen Geselligkeit in der vierten Rede, in der er diese Wechselwirkung als Zusammenhang von Rede und Musik darstellt. D 105: 146. "Wechselwirkung ist nur da, wo jede Thätigkeit des einen Wirkung des andern ist. Also auch die Thätigkeit des Hörers während des Hörens; er muß also bloß vernehmen. Nun aber soll seine Thätigkeit eine freie Entwicklung seiner Humanität sein; Ich muß ihn also in den Zustand versetzen, daß er nicht anders kann als vernehmen, und auch in den, daß er nichts andres will als vernehmen . . . 147. Soll das Vernehmen des Hörers eine Thätigkeit sein, so muß es auch im Redenden etwas wirken; die Passivität muß aktiv sein. Dies muß ins Unendliche fortgehen, und ist das stumme Spiel der Gesellschaft . . . 148. Das Reden selbst muß aber schon eine Wirkung des Hörenden sein. Dies ist freilich nur divinatorisch möglich, nämlich so, daß er es gleich als seine Wirkung adoptirt". 97 Es ist bemerkenswert, daß Schleiermacher zur Unterscheidung der Religion von der Philosophie auf die antike Rhetorik als Teil des humanistischen Erbes zurückgreift und damit eine ähnliche Posi-
- 325 Zu S.74-84: tion einnimmt, wie sie Gadamer (WuM 16ff) f ü r Vico herausgearbeitet hat. Zur Gattung der Rede vgl. E.Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, 6. Aufl. 1967, 531: "Diese Gattung (Protreptikos, Mahnrede) - von Antisthenes, Aristipp, Aristoteles in die Literatur eingeführt - verfolgt in der Regel den Zweck, den Hörer oder Leser zum Philosophieren aufzufordern. Seit Philo von Larissa, dem Lehrer Ciceros, unterschied man zwei Teile des Protreptikos: den 'endeiktischen' und den 'apelektischen'; in jenem wurden die Vorzüge der Philosophie bewiesen, in diesem ihre Gegner oder Verächter (vituperatores, noch bei Schleiermacher ( ! ) überführt . . . Je nachdem im Protreptikos das eine oder das andere Element überwog, näherte er sich mehr der epideiktischen oder der Verteidigungsrede, der panegyrischen oder der apologetischen Art. In der Spätantike löst sich der Protreptikos von der Philosophie, oder besser gesagt, er kann in den Dienst aller Artes gestellt werden". 98 R 181f: "Darum ist es unmöglich, Religion anders auszusprechen und mitzuteilen als rednerisch, in aller Anstrengung und Kunst der Sprache . . . Ich wollte, ich könnte Euch ein Bild machen von dem reichen, schwelgerischen Leben in dieser Stadt Gottes . . . " Vgl. auch die einleitenden Bemerkungen zur fünften Rede über den möglichen Erfolg: "Ob also die Idee, welche ich Euch gemacht habe vom Innern der Religion, Euch jene Achtung abgenötigt hat . . . , ob meine Gedanken über den Zusammenhang . . . Euch angeregt haben zu einem innigeren Anschauen unsres Seins und Werdens, . . . ob also die ganze Religion in ihrer Unendlichkeit . . . Euch hingerissen hat zur Anbetung, darüber frage ich Euch nicht" (R 236f). 99 Vgl. die Bestimmung dessen, was diejenigen tun können, die u n ter den f ü r das religiöse Leben verderblichen Bedingungen des staatlichen Einflusses in der Kirche das priesterliche Amt ausüben müssen: Sie dürfen zwar nicht untreu werden gegenüber dem moralischen Beruf, zu dem sie gesetzt sind (R 227), aber durch ein "priesterliches Leben", durch die Äußerung und Darstellung ihres inneren religiösen Lebens, können sie für die Religion wirken. "Wenn so ihr ganzes Leben und jede Bewegung ihrer inneren und äußeren Gestalt ein priesterliches Kunstwerk ist, so wird vielleicht durch diese stumme Sprache manchen der Sinn aufgehen f ü r das, was in ihnen wohnt" (R 228). 99a Ich bezeichne diese Form der Darstellung, in der der PiatonÜbersetzer Schleiermacher hier das Prinzip der Welterklärung einf ü h r t als mythisierende Rede. Diese Darstellungsform hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der platonischen Mythopoiie (vgl. E.Hoffmann, Piaton, rde 142, 1961, 22 u . ö . ) .
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Zu S.85-89: 100 Hertel unterläuft diese Differenz, indem er statt nach dem Mittler, nach der "Mitte des Menschseins" (aaO 48) fragt und auf das "Geschehen Gottes" (49), statt auf die Verschiedenheit des Ortes achtet, an dem dies Geschehen im "Wort von Menschen" (ebd.) stattfindet. Die Beschränkung auf das Geschehen in der Begegnung hat zur Folge, daß Hertel das eigentümliche Profil der Individualitätsanschauung nicht erkennt, wie seine Interpretation der vierten Rede zeigt (128ff). Seifert (aaO 58f. 137ff) hat im Anschluß an O.Ritsehl die zweifache Bestimmung des Mittlerbegriffs betont und f ü r seine These, daß die Reden von der Darstellung des Christentums in der fünften Rede aus zu interpretieren seien, auszuwerten versucht. Da es ihm aber darauf ankommt, wegen der Orientierung am Christentum noch einen dritten, höchsten Begriff des Mittlers einzuführen (140), t r i f f t er nach dem Schema 'alle - einige - einer' gerade die falsche Zuordnung zwischen den Schichten des Mittlerbegriffs und den Bewußtseinsstufen. 101 Dieser Versuch geht von der Annahme aus, daß Schleiermacher auf der Grundlage des gebildeten Selbstverständnisses einen Argumentationszusammenhang entwickelt hat, so daß es f ü r eine Beurteilung einzelner Wendungen unerläßlich ist, ihren Ort innerhalb der Argumentation zu erkennen. So können dann nicht nur die Schichtungen einzelner Begriffe (Seifert, aaO 66), sondern auch deren Grund und deren Funktion angegeben werden. 102 Ein gutes Beispiel f ü r diese Auffassung ist W.Humboldts Abhandlung 'Über den Einfluß des Theismus, Atheismus und Skeptizismus auf die Sitten der Menschen' (1788/89, Gesammelte Schriften, Bd. 1, 45-76), in der er die Frage, ob die Religion, die in der alten Welt als Zwangsmittel der Regierung diente, im modernen Staat als Bildungsmittel fungieren kann, so beantwortet, daß Religion der moralischen Bildung des Menschen dienlich sein kann, wenn sie der Vorstellungsart eines jeden Menschen freien Raum läßt, wobei eben manche Menschen dieses Hilfsmittels nicht bedürfen . 103 Das zeigt sich in der Urauflage der Reden im Unterschied zu den späteren Auflagen auch darin, daß zwischen Metaphysik und Moral einerseits und der Tätigkeit der Spekulation und Kunst bzw. Denken und Handeln andererseits nicht differenziert wird. 104 Diese Formulierung zeigt in Übereinstimmung mit dem folgenden Verständnis der Religion als Wahrnehmungsvorgang, daß Religion nicht im Sinne von Religiosität auf das Gemüt beschränkt gedacht wird (gegen Wintsch, aaO, vgl. Hertel, aaO 56; Seifert, aaO 88; Rendtorff, aaO 120). 105 Vgl. ThgB 4; in der zweiten Auflage der Reden ist dies Argument pointierter vorgebracht worden (P 34).
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Zu S.90-92: 106 F.Beißer, Schleiermachers Lehre von Gott, 1970, 17 Anm. 15, hat zu Recht Seiferts Interpretation des grundlegenden Satzes über das Universum und das Verhältnis des Menschen zu ihm kritisiert, der (aaO 31) mit Hilfe des Gegensatzpaares 'exoterisch' und 'esoterisch' zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffs des Universums unterscheidet. Beißer selbst verfehlt aber das Gefälle der Schleiermacherschen Argumentation, wenn er meint, die Religion würde einfach dem "verfügenden Erkennen, das Metaphysik vollzieht", indem sie wie die Moral ihren Ansatz beim Subjekt nimmt (aaO 17), entgegengesetzt. Denn Schleiermacher gewinnt die Bestimmung der Religion nicht aus der Kritik der Philosophie, sondern aus dem aufgestellten Verhältnis des Menschen zum Universum und aus der damit gegebenen Individualitätsanschauung e r gibt sich die Kritik der abstrakten Allgemeinheit in Metaphysik und Moral. 107 Vgl. Schleiermachers Antwortschreiben auf den kritischen Brief von F.S.G.Sack (Br.III, 280-286): "Ich habe nur gesagt, daß die Religion davon nicht abhange, ob man im abstracten Denken der unendlichen übersinnlichen Ursach der Welt das Prädicat der Persönlichkeit beilege oder nicht". 108 Vgl. Ρ 42 und die Erläuterung der Auflage von 1821 Ρ 134, aber auch die Bemerkung über die mögliche Kunstreligion in der dritten Rede (R 168ff). 109 W.Schultz, Das griechische Ethos . . . , 270f, sieht in dieser und ähnlichen Wendungen eine 'Anihilatio· im Sinne der totalen Vernichtung der selbständigen personalen Individualität und erkennt darin den Einbruch des griechischen Ethos, das unausgeglichen neben der positiven Wertung der Individualität im Sinne h e r r n hutischer Frömmigkeit steht. Dieser Gegensatz entsteht m.E. n u r , wenn positivistisch von der gegebenen Individualität ausgegangen wird und die Frage nach der Konstitution des Individualitätsbewußtseins überhaupt nicht gesehen wird. 110 So sehr Schleiermachers Bildungsverständnis davon geprägt sein mag, daß in dem Begriff der Bildung "der frühromantische Kreis um seinen Wortführer Schlegel sein ganzes Wollen zusammenfaßt ( ! ) und sich von ihm her gegen alle überlieferten aufklärerischutilitaristischen Tendenzen durchsetzt" (Menze, Der Bildungsbegriff des jungen F.Schlegel, 1964, 12), so sehr liegt m.E. in dem Insistieren Schleiermachers auf der Endlichkeit des Individuums im Unterschied zum unendlichen Ganzen und in der Bestimmung der konstitutiven Bedeutung der Religion f ü r die Bildung als Wahrnehmung der Differenz des Endlichen zum Unendlichen der Unterschied zu Schlegel und seine Selbständigkeit ihm gegenüber, der gerade die differenzierte Bestimmung der Religion als der Bildung
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Zu S.92-97:
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inadäquate Isolation an Schleiermachers Reden kritisiert (Minor II, 313) und sich mokiert, Schleiermacher schleiche umher wie ein Dachs, um an allen Subjekten das Universum zu riechen (Krit. Ausgabe, Bd. 18, XXVIII; vgl. Herms, aaO 263). Dieser Zusammenhang zwischen dem gebildeten Selbstverständnis und der Religion, der die in den Monologen offene Frage nach der Konstitution des Individualitätsbewußtseins beantwortet, zeigt das Unzureichende einer Interpretation, die Religion und Bildung abstrakt entgegensetzt oder Religion und Bildung identifiziert ( s . o . Anm. 48). Dabei steht der von Gadamer (WuM 16ff. 31ff) herausgearbeitete Bedeutungszusammenhang der Termini "Sinn" und "Geschmack" im Hintergrund. Hirsch, aaO IV, 505, hält die Begriffe der Anschauung und des Gefühls f ü r eine Übernahme im Zusammenhang von Schleiermachers vereinfachter Wiederholung der Philosophie Fichtes. Die Reaktion auf eine Einwirkung durch Anschauung und Gefühl hat aber m.E. Fichtes Theorie der Repulsion nicht notwendig zur Voraussetzung. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 95. 115f. Vgl. Schleiermachers "Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" (WW III, 4,1, 299f): "Wenn man also gar keinen Grund hat, eine Mehrheit der noumena zu behaupten, und wir nichts von ihnen sagen sollen, als was sich nothwendig auf die Erscheinung bezieht: so ist es schon eine Anmaßung, wenn wir uns anders ausdrücken als 'Das noumenon', 'Die Welt als noumenon'. Ebensowenig geht es nun aber an, sich weiter zu versteigen und mit Spinoza eine positive Einheit und Unendlichkeit zu behaupten; davon konnte aber dieser, dem der kritische Idealismus fremd war, nichts wissen". Vgl. M 16. Zum philosophischen Hintergrund dieser Vorstellung in der sog. Vereinigungsphilosophie vgl. D.Henrich, Hegel und Hölderlin, in: d e r s . , Hegel im Kontext, Frankfurt 1971, 9-40, vor allem 12-22. Die Bedeutung, die dem Begriff der Anschauung als Kennzeichnung der ursprünglichen Konzeption des Wesens der Religion zuteil geworden ist, beruht m.E. zum großen Teil auf der Eigenart der Rezeptionsgeschichte der Reden. Im 19. Jahrhundert sind die Reden meist in der dritten Auflage von 1821 benutzt worden, die den wenig veränderten Text der zweiten Auflage von 1806 mit Erläuterungen bietet (D.F.Strauß, F . C h r . B a u r , A.Ritsehl, M.Kähler u . a . Ausnahme: W.Dilthey, R.Haym). Die Bedeutung für das Schleiermacher-Verständnis zeigt sich, wenn man z.B. f r a g t , ob Ritschis Beschreibung der Religion als "Abart des Kunstsinns" (Ritsehl, Schleiermachers Reden, 28), die auf der richtigen Beobachtung beruht, daß das Wesen der Religion von dem Verhältnis
- 329 Zu S.97-103:
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von Religion und Kunst am Ende der dritten Rede verstanden werden kann, nicht doch anders ausgefallen wäre, wenn er die u r sprüngliche Bestimmung des Wesens der Religion als Anschauen hätte zugrundelegen können. Erst spät hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß das Wesen der Religion ursprünglich nicht als Gefühl bestimmt worden ist. E.Fuchs, Schleiermachers Religionsbegriff, 1901, 5ff, findet diese Einsicht zuerst bei R.Haym, Die romantische Schule, 1870. Mit der die Rezeption im 20. Jahrhundert bestimmenden Neuausgabe der Reden durch R.Otto 1899 verbreitete sich die Auffassung, daß die Religion im Gegensatz zum Gefühl als Anschauung gefaßt worden sei. E.Fuchs hat diese Auffassung in seiner Untersuchung begründet. H.Süßkind hat im Anschluß daran 1911 die veränderte Bestimmung der Religion durch den Gefühlsbegriff in der zweiten Ausgabe von 1806 durch die im Begriff der Anschauung konkurrierende Ausbildung der Identitätsphilosophie Schellings erklärt. Die Differenz zwischen beiden Ausgaben der Reden ist zutreffend beobachtet, aber es ist noch zu p r ü f e n , ob diese Differenz durch den Vergleich der aus dem Argumentationszusammenhang der Reden herausgelösten Wesensbestimmung der Religion als Anschauung und als Gefühl auch zutreffend beschrieben worden ist. Vgl. M 60 und die Differenzierung des Mittlerbegriffs R lOf. Beißer, aaO 26. Seifert, aaO 95. Schleiermacher, der nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit Schlegel über die philosophischen Tendenzen seiner Zeit wohl unterrichtet war, hat hier - wie auch der Hinweis auf die Suche nach einer höchsten, die theoretische und die praktische Abteilung in sich vereinigenden Philosophie (R 46) zeigt - die Einheit von Menschheit und Natur im Auge. Diese Problemstellung im Ausgang von der Philosophie Fichtes f ü h r t nicht nur Schelling zur Ausbildung seiner Identitätsphilosphie (vgl. W.Schulz, Fichtes und Schellings philosophische Entwicklung im Grundriß, in: Fichte - Schelling Briefwechsel, 1968, 28-24, d e r s . , Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie, in: Schelling, Uber das Wesen der menschlichen Freiheit, 1975, 7-26, bes. l l f f ) , sondern diese Problemstellung hat auch Schlegel zusammen mit Novalis seit dem Sommer 1798 beschäftigt, wobei eine symbolische Naturauffassung auf die neue, herbeizuführende Religion gedeutet wurde (vgl. E.Behler, Einleitung zu Schlegels philosophischen Lehrjahren, Krit. Ausgb., Bd. 18, XXI-XLI, bes. XXIX-XXXIV). Darauf lassen sich auch die Andeutungen beziehen, mit denen Schleiermacher die Anstrengungen bezeichnet, durch die die Gebildeten zur Palingenese der Religion unabsichtlich beitragen (R 171f). Da-
- 330 Zu S.103-106: f ü r spricht auch, daß im ersten Tagebuch Schleiermachers (D 99) unter die Notizen über die Religion und die gute Lebensart Bemerkungen über die Physik eingestreut sind. Allerdings setzt sich Schleiermacher gegen das Schlegelsche Religionsverständnis ab, indem er die Religion als passives Anschauen bestimmt und allem Bilden entgegensetzt. Vor allem die dritte Rede über die Bildung zur Religion kann geradezu als Bestreitung des Schlegelschen Satzes gelesen werden: "Im Christentum wird Gott-Mensch; in der neuen Religion wird er durch Bildung Gott" (aaO 18,267; vgl. 872). 122 Laist, aaO 32f, Seifert, aaO 77ff. 123 Seifert hat diesem Sachverhalt dadurch Rechnung getragen, daß er als höchste Stufe des Begriffs das Universum als "Welt" in "besonders gefülltem Sinn" (aaO 79) bestimmt, womit er Schleiermachers spätere Differenzierung zwischen Gott und Welt hier bereits vorwegnimmt. Auffallend ist, daß Seifert zugunsten dieses Weltbegriffs den Begriff der Geschichte der untersten Stufe zuordnet: "Über das Universum als Natur und Geschichte geht der Redner hinaus zum Universum als Menschheit" (79). Es ist ein Indiz dafür, daß die geschichtstheologische Konzeption Schleiermachers, die durch das Verständnis des Gebildeten als Mittler, durch ihre Rolle bei der Palingenese der Religion, durch die Aufgabe der sichtbaren Kirche und schließlich durch die Bestimmung des Christentums als vergänglicher Erscheinung der Religion angezeigt und um den Gedanken der Aufhebung der Mittlerschaft zentriert ist, in Seiferts Analyse der Theologie des jungen Schleiermacher unterbelichtet ist. Darin stimmt Hertel mit Seifert ü b e r ein, indem er das Universum so bestimmt, daß es "kein feststellbares Objekt ist, sondern mit dem Geschehen des Offenbarwerdens des Menschseins identisch ist . . . Das Gegenüber des Menschen ist somit die Betroffenheit, von der er bestimmt ist. Seine Bestimmung ist nicht etwas, worüber er verfügen kann, sondern ein Geschehen, das ihm offenbar macht, wer er ist; das ihm seine Zeit, die ihm gemäß ist, schenkt" (99). Diese aktualisierende Interpretation radikalisiert die Konzeption der Reden, so daß sie als "theologisches Denken" schlechthin identifiziert werden kann, allerdings unter Vernachlässigung der eigentümlichen Ausprägung dieses Denkens bei Schleiermacher. Nicht zufällig wird diese Arbeit Hertels K.Barth zum Beleg f ü r sein Urteil über die moderne Theologie als Schleiermacher-Renaissance, verbunden mit der Feststellung eines "erschütternden" Niveauunterschiedes (K.Barth, Nachwort in SA 301). 124 Vgl. die ähnlich gerichtete Kritik von Novalis, Christenheit oder Europa, II, 33.
- 331 Zu S.107-115: 125 Vgl. dazu Schlegels Lyceums-Fragment (Minor 32): "Sinn (für eine besondere Kunst, Wissenschaft, einen Menschen usw.) ist dividierter Geist; Selbstbeschränkung, also ein Resultat von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung." (Ähnlich Minor 37). 126 Vgl. aus Schleiermachers Tagebüchern (D 117): "30. Das Universum gleicht darin dem Menschen, daß die Thätigkeit die Hauptsache ist, die Begebenheit nur das vergängliche Resultat. Der ächte historische Sinn erhebt sich über die Geschichte. Alle Erscheinungen sind nur wie die heiligen Wunder da, um die Betrachtung zu lenken auf den Geist, der sie spielend hervorbracht e . " Vgl. A.Ritsehl, Schleiermachers Reden, 26ff. 127 Vgl. z . B . PhE 342 (§ 82) und 428 (§ 15). 128 Vgl. Hirsch, aaO IV, 359. 515. 129 Ohne daß die im Zusammenhang der ersten Rede erörterte Parallelität zwischen der religiösen und der gebildeten Geselligkeit aufgehoben wird, hebt Schleiermacher hier auf ihre Differenz ab, insofern die im Gedanken der Individualität enthaltene Differenz zum Ganzen in der Religion wahrgenommen wird und die Darstellung des im Endlichen angeschauten Unendlichen in der Rede die adäquate Darstellungsform findet, der dann auf seiten der hörenden Gemeinde der musikalische Lobpreis entspricht. 130 Wenn auch das religiöse Leben der Herrnhuter Gemeine Schleiermacher bei der vierten Rede vor Augen gestanden hat (vgl. Ρ 218, 222, u . ö . ) , so ist doch nicht zu übersehen, daß in dem Kirchenbegriff das in der Individualitätsanschauung angelegte Moment der Gemeinschaft der Individuen zum Tragen kommt. Darin liegt der Anstoß für den Vorwurf, Schleiermacher unterliege hier der Gefahr blasser Begriffsdichtung (Seifert, aaO 149). Daß die vierte Rede der für die methodische Deutung unklarste Teil des Buches sei ( e b d . ) , kann nur finden, wer das Gesellige in der Religion an einem fremden Kirchenbegriff mißt und die Bedeutung unterschlägt, die der daraus abgeleitete Begriff der bestehenden religiösen Gemeinschaft für die Vermittlung der positiven Religion des Christentums hat. Unter Berücksichtigung der Ausführungen über den Unterschied des geselligen Lebens in der Gemeine und in der Welt ( B r . I , 208), mit denen Schleiermacher sein Leben vor seiner Schwester rechtfertigt, indem er gerade der Selbstbeobachtung in Einsamkeit und durch stilles Nachdenken die Anregungen durch vielfältigen geselligen Umgang gegenüber stellt, lassen sich die Ausführungen der vierten Rede immerhin als Idealisierung des Herrnhuter Lebens, als gelungene Geselligkeit bezeichnen. Vgl. auch die ideale Vorstellung eines zugleich beschaulichen und praktischen Lebens (R 231, dazu Rendtorff, aaO 128ff).
- 332 Zu S.117-119: 131 Zu der Entgegensetzung von natürlicher und künstlicher Bildung vgl. F.Schlegel, ü b e r das Studium der griechischen Poesie (1797). 132 Vgl. R 224. Rendtorff, aaO 133ff, hat diese Stelle der Reden als Beleg f ü r die These zitiert, daß Schleiermachers Kirchentheorie eine exemplarische Theorie der menschlichen Gesellschaft ü b e r haupt sei (aaO 132), daß es sich bei Schleiermachers Theorie der Geselligkeit um "eine religiöse Theorie des Bildungsideals der Zeit handelt", daß es zugleich eine "religiöse Theorie der Freizeitgesellschaft" sei (aaO 135). Dem ist zuzustimmen, wenn stärker berücksichtigt wird, daß es sich dabei um eine ideale Vorstellung handelt (R 190f), um eine Zielvorstellung auf dem Standpunkt des religiösen und zugleich gebildeten Individuums, zu deren Realisierung die Gebildeten in Kunst und Wissenschaft wie die religiösen Individuen in der äußeren Kirche beitragen, so daß die Theorie erst abgeschlossen ist, wenn sie alle Bedingungen zur Realisier u n g dieses Ideals angeben kann. Weiter ist zu berücksichtigen, daß "ein Leben der Ruhe und Muße" nicht identisch ist mit der errungenen Herrschaft über die Körperwelt, sondern daß beides verschiedene Seiten des Zustandes der Vollendung bezeichnet: "Jedes Leben (ist) praktisch und beschaulich zugleich" (R 231); Herrschaft aber muß ausgeübt werden. Schließlich hat Schleiermacher trotz des Gebrauchs der Ausdrücke 'Arbeit' und 'Sklaverei' und des Bildes vom 'Feenpalast' wohl weniger die "Bedingungen der Arbeitswelt" und das "industrielle Produktionssystem" (aaO 134) vor Augen, sondern er reflektiert allgemeiner die vorherrschenden Lebensbedingungen für die Ungebildeten, d . h . für die, die durch die wechselnden einzelnen und endlichen Erscheinungen bestimmt werden: "Jetzt seufzen Millionen von Menschen beider (!) Geschlechter und aller (!) Stände . . . " (R 250). In der Doppelseitigkeit des angestrebten Lebens schlägt sich die Doppelseitigkeit der Beziehung des Menschen zum Universum (R 41) nieder. 133 Dieses Verständnis legt sich vor allem dann nahe, wenn die Religionstheorie der Reden isoliert betrachtet wird, ohne daß auf ihre Darstellungsform und auf den gebildeten Standpunkt reflektiert wird, durch die die Frage der Vermittlung zum Thema wird. So ergibt sich z.B. die Kritik von R. Otto an der fünften Rede im "Rückblick" seiner Ausgabe (aaO 221) folgerichtig: "Ein ganz folgerechter Abschluß ist das nicht. Vielmehr wäre seine eigentliche Aufgabe, die er auch selber fühlt, eine etwas andere gewesen. Er mußte zeigen, wie jenes allgemeine Moment, wie 'Religion ü b e r haupt', nämlich jener Ewigkeitssinn, jene 'anschauend-fühlende' Beziehung auf das Unendliche überhaupt zu der konkreten, das Leben bestimmenden Macht werden kann, wie wir sie in allem
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wirklich religiösen höherer Stufen finden. Diesem gegenüber war dann die Frage, wie es denn zu den mannigfaltigen historischen Verschiedenheiten der Religion komme, erst nachfolgend. Statt dessen wird sein Blick sogleich festgehalten durch die in der Tat sich aufdrängende Tatsache, daß energisches religiöses Leben sich nur findet im Zusammenhange einer der großen geschichtlichen Ausprägungen und Individualisierungen der Religion". Eben das, was Otto als eigentliche Aufgabe der fünften Rede ansieht, die Konkretion dessen, was als Wesen der Religion bestimmt worden ist, kann von Schleiermacher nicht anders gelöst werden, als daß er das Christentum als die religiöse Gemeinschaft rekonstruiert, in der dasjenige Religionsindividuum gebildet worden ist, das den Redner zu seinem religiös begründeten, gebildeten Selbstverständnis angeregt hat, von dem aus die in den Reden vorliegende Religionstheorie konzipiert werden konnte. Vgl. Gadamers Charakterisierung der Schleiermacherschen Hermeneutik als Rekonstruktion im Unterschied zu Hegels als Integration (WuM 158). Erstes Sendschreiben an Lücke, SA 124. Dies ist das zweite Moment, durch das die gewaltige Wirkung der Reden auf die Zeitgenossen zu erklären ist. Neben der Begründung der Selbständigkeit der Religion, die ihre Ablösung aus dem Zusammenhang der Metaphysik und auch aus dem der Moral im Sinne Kants und auch des Tübinger Supranaturalismus bedeutet, besteht die Bedeutung der Reden darin, daß .die Abwertung der geoffenbarten Religion gegenüber der natürlichen, wie sie in der Neologie und von Kant vertreten worden ist, geradezu umgewertet wird, indem Schleiermacher die geoffenbarte Religion als positive Religion rekonstruiert, die die abstrakte natürliche Religion überbietet. Der Zusammenhang zwischen beiden Momenten der Wirkung der Reden wird durch die Individualitätsanschauung hergestellt, weil sie dasjenige Moment zu erkennen gibt, das in der Wesensbestimmung der Religion nicht ausdrücklich gemacht ist. Vgl. R 14 und die Selbstbiographie Schleiermachers in PS II, 1-9. Seifert, aaO 151ff; Otto, aaO 220; Stephan, Theologiegeschichte, 50. Seifert, aaO 163. Seiferts Versuch, den Begriff des Positiven zu differenzieren, indem er zwischen "historisch-positiv" und "persönlich-positiv" (aaO 161) unterscheidet, beleuchtet das Problem mehr, als daß es eine Lösung bietet, vor allem weil Seifert nicht die Differenz zwischen der Religion, die einer hat, und dem religiösen Individuum, das sie hat, berücksichtigt.
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Zu S.137-156: 141 Vgl. W.Schultz, Griechisches Ethos, 282; d e r s . , Theorie des Gefühls, ZThK 53, 1956, 81. 142 So jedenfalls stellt es sich nach Diltheys 'Leben Schleiermachers' dar, wenn in gewisser Spannung zum biographischen Ansatz der (von Redeker aus dem Nachlaß herausgegebene) zweite Band "Schleiermachers System als Philosophie und Theologie" zur Darstellung bringt (vgl. M.Redeker, Schleiermacher. Leben und Werk, Berlin 1968). Anders sucht Herms in Fortführung seiner ersten Untersuchung die erste Gestalt von Schleiermachers System der Wissenschaften und seine Spätgestalt als "Stadien eines einheitlich motivierten Arbeitsprozesses" deutlich zu machen (E. Herms, Die Ethik des Wissens beim späten Schleiermacher, ZThK 73, 1976, 472). 143 Vgl. die Beschreibung, mit der Dilthey die Überwindung der romantischen Subjektivität und die Verwurzelung in dem Boden der Geschichte feiert: "So endete diese Epoche. Der Staat des Gedankens war zertrümmert, der Kreis der Genossen zerstreut . . . Nun gewährt ein gütiges Geschick Schleiermacher, in dem großen Gang der öffentlichen Angelegenheiten einzustehèn mit seiner Person für die Existenz des Staats und die Verwirklichung seiner Ideale in ihm. Sein Leben gewinnt damit erst festen Boden, seine Gesinnung den Kreis der Handlung, für die sie bestimmt war, seine männliche Seele die Welt, in der sie frei zu atmen vermochte. Zugleich fügt sich seine Lebens- und Weltansicht in den großen geschichtlichen Zusammenhang des philosophischen Gedankens ein. Die Sitte des Christentums und die Ethik der Alten entwickeln in ihm das Verständnis der objektiven sittlichen Welt. Ein festgefügter, klarer Zusammenhang der Gedanken bildet sich, in dem jeder Begriff sich an seinem Zusammenhang zu festigen und zu erproben hat, das Ganze an der realen Welt und den positiven Wissenschaften - strenge philosophische Wissenschaft. Endlich vertieft sich sein religiöses Innenleben in die geschichtliche Macht des Christentums. Aus Kulturbedingungen, welche uns Heutigen schon fremdartig geworden sind, treten wir freudig mit ihm in das Handeln und wissenschaftliche Denken der Gegenwart" (LSchl.I, 545f). 144 Während in den Monologen stärker als in den Reden der Einfluß Fichtes gesehen wird, führt man im Anschluß an Süßkind die Änderung des Religionsbegriffs in der zweiten Auflage der Reden auf die Auseinandersetzung mit der Identitätsphilosophie Schellings zurück. Hirsch (aaO IV, 564) dagegen sieht darin den "letzten großen Einfluß, den Schleiermacher von Fichte erfahren hat". 145 Diese Tendenz zeigt Herms (aaO 513), wenn er die Ethik des späten Schleiermacher als "Theorie des unmittelbaren Selbstbe-
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wußtseins" begreifen will und damit noch einmal auf Schleiermachers Jacobi-Studium zurückgreift, das die Herkunft f ü r das System in seiner ersten Gestalt bezeichnet. Vgl. Süßkinds These, daß Schleiermacher bereits vor Schelling die Wissenschaftssystematik aufgestellt habe, daß er aber aufgrund von Schellings philosophischer Grundlegung der Systematik den Religionsbegriff modifizieren mußte. Redeker, Schleiermacher, 105. Diese Charakterisierung beruht darauf, daß Schleiermachers späteres Werk fast insgesamt auf Vorlesungen zurückgeht. Von einer Änderung des Wissenschaftsverständnisses kann deshalb gesprochen werden, weil Schleiermacher mit der Professur in Halle theologische Vorlesungen zu halten gehabt hat, so daß er einen Begriff von Theologie als Wissenschaft gehabt haben muß, der in den Reden nicht zu e r kennen ist. S.o. S.45. Neben der Ausgabe der Philosophischen Ethik Schleiermachers, die A.Schweitzer 1835 herausgegeben hat (WW 111,5), ist die von O.Braun veranstaltete Ausgabe der Entwürfe zu einem System der Sittenlehre nach den Handschriften Schleiermachers (Werke II) heranzuziehen. So Joergensen, Die Ethik Schleiermachers und Birkner, Schleiermachers christliche Sittenlehre, 30ff. Schleiermachers ethische Arbeit wird durch die frühen Abhandlungen, in denen er sich mit Kant auseinandersetzt (vgl. Herms, Herkunft, 98ff; Weber, Wissenschaftsbegriff, 95), durch die Kritik der Sittenlehre (vgl. Herms, aaO 165ff), durch die im Zusammenhang mit seinen Vorlesungen entstandenen Vorarbeiten f ü r eine Veröffentlichung der Ethik (1805-1816) und schließlich durch die Akademie-Reden über einzelne ethische Begriffe (18191830) dokumentiert. Dilthey unterscheidet einen historisch-kritischen und einen systematischen Ansatz (LSchl.II, 231ff). PhE 249. 500. 542. Die drei Totalitätsideen, die in der Kritik der Sittenlehre die Momente des menschlichen Handlungsvollzuges repräsentieren, erhalten durch die Vorstellung der Vernunftbeseelung eine Zuordnung, die zunächst dem Vorrang der Güterlehre Rechnung t r ä g t . Da eine vollständige Darstellung des Ganzen nach Schleiermacher nicht möglich ist, stehen der Güterlehre die auf die Vereinzelung in Raum und Zeit bezogenen Tugend- und Pflichtenlehre als notwendige Ergänzung zur Seite (PhE 87, 256, 507, 550). Es finden also beide Seiten, das Ganze und das einzelne, ihre Berücksichtigung in der Ethik. Gewinnt Schleiermacher aus der sittlichen Anschauung des Menschen als vernunftbeseeltes Individuum jenen um-
- 336 Zu S.158-160: fassenden sittlichen Gesamtprozeß, so wird die Unabgeschlossenheit dieses Prozesses und seine Bindung an die handelnden Individuen dadurch zum Ausdruck gebracht, daß eine Tugend- und Pflichtenlehre aufgestellt wird ( s . u . S.168f). 155 Vgl. Birkner, aaO 36ff. 87ff; Miller, Übergang, 65ff: Die von Birkner festgestellte Zuordnung von abstrakt-formaler philosophischer und konkreter christlicher Ethik muß mit der von Miller beobachteten zentralen Bedeutung des Himmelreiches in der sittlichen Welt unter dem Ideal des Gottesreiches zusammen gesehen werden. 156 Schleiermacher hat in den 'Grundlinien' ein Projekt realisiert, das F.Schlegel schon 1798 in einem Brief angesprochen hat (Br.III, 79.83.87), das Schleiermacher offenbar aber erst nach den Monologen gezielt in Angriff genommen hat (Meisner I, 164.182) und dessen Ausführung schließlich nach seiner Übersiedlung aus Berlin in die Einsamkeit von Stolp erfolgt ist (Meisner I, 267.300). Damit ist angezeigt, daß Schleiermacher schon in Berlin Ambitionen nicht nur auf Wissenschaft überhaupt, sondern gerade auf die Ethik gehabt hat und ein Zusammenhang zwischen seinem Verständnis des Gebildeten als Individuum und der wissenschaftlichen Behandlung der Ethik vermutet werden kann. Diesen Zusammenhang hat bereits Schlegel anvisiert, wenn er schreibt: "Ich glaube , Deine Kritik der Moral . . . bedarf gewiß einer Construktion und Constitution der ganzen vollen Menschheit und Moralität im Gegensatz zu der isolierten Philosophie" (Br.III, 83). Schleiermacher hat seine Monologen dann selbst als den Versuch charakterisiert, den philosophischen Standpunkt ins Leben zu übertragen. Schleiermacher hat auch selbst diesen Zusammenhang ausdrücklich formuliert, daß er nämlich die Voraussetzung der Monologen "in einer Kritik der Moral und in einer Moral selbst auf andere Weise und schulgerecht darzulegen" gedenke (Meisner I, 166). Schließlich hat er in der Vorrede zu den "Grundlinien", in denen ja nur der erste Teil seines Projektes realisiert worden ist, seine Leser wiederum auf die Reden und Monologen verwiesen: er hoffe, daß den Lesern, "welche in dem philosophischen Calculus nicht ungeübt sind und dasjenige vergleichen wollen, was gelegentlich in den Reden über die Religion, noch mehr aber in den Monologen angedeutet worden", seine Ideen zur Ethik schon anhand dieser Kritik deutlich genug vor Augen geführt seien (KdS 5). Man wird diesen Äußerungen entnehmen dürfen, daß Schleiermacher die Absicht gehabt hat, das, was als sein Bildungsbegriff bezeichnet worden ist, in der Ethik explizit durchzuführen. Man wird aber zugleich festhalten müssen, daß er seine Absicht nicht ausgeführt hat, sondern seine Ethik dann einen anderen Begründungszusam-
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S.160: menhang erkennen läßt. - Im letzten Teil seiner Untersuchung hat Herms den Versuch gemacht, das Ergebnis der "intellektuellen Entwicklung" Schleiermachers (aaO 16), vor allem das, was Herms als "Theorie des unmittelbaren Realitätsbewußtseins" in Schleiermachers Auseinandersetzung mit Jacobi gefunden hat (aaO 152), in seinen systematischen Konsequenzen anhand der Kritk der Moral nachzuweisen. Dieser Versuch ist die Konsequenz einer Fragestellung, die am Wissen und am System der Wissenschaften orientiert ist (besonders deutlich in dem späteren Versuch von Herms, die Begründung des Wissens der Ethik zuzuweisen, wobei völlig von dem Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie abgesehen wird). Dabei wird aber die Differenz zwischen dem Grund des Wissens und dem bestimmten Wissen nivelliert. Das jedenfalls zeigt das zwiespältige Bemühen, diesen Teil der Untersuchung an Schleiermachers Kritik der Sittenlehre als "Schlüsselwerk" der Berliner Zeit auszurichten. Der Zwiespalt wird aber sowohl an der Bestimmung des Verhältnisses der 'Grundlinien' zu den Reden und Monologen, als auch an der Behandlung der 'Grundlinien' selbst greifbar. So räumt Herms anmerkungsweise ein, "daß keines der drei Berliner Hauptwerke ohne die anderen das Ganze der Schleiermacherschen Gedankenwelt jener Jahre bietet" (aaO 168 Anm. 1) und daß "die KdS als Ergänzung der Erörterungen in den Reden und Monologen" gelesen werden könne (aaO 173 Anm. 44). Aber er zieht jene dann doch vor: "Reden und Monologen sind zwischeneingekommen" (174). Zu diesem Schluß kommt Herms vor allem dadurch, daß er das Verhältnis der Grundlinien zu Reden und Monologen durch die Unterscheidung von Wissenschaftlichkeit und Vorwissenschaftlichkeit, bzw. von gemeiner und wissenschaftlicher Erkenntnis bestimmt, wobei er Schlegels Differenz zwischen Philosophie und 'Poesie auf die alte Schulunterscheidung bezieht. (Diese Differenz kennzeichnet gerade das Bildungsverständnis.) Es ist aber die Frage, ob diese Begriffspaare geeignet sind, die Intention, die Schleiermacher mit der poetischen Darstellungsform verbunden hat, die Selbstdarstellung des gebildeten Individuums, zu erfassen. Jedenfalls ist es offenkundig problematisch, wenn Herms die Wissenschaftlichkeit als adäquate Darstellungsweise unterstellt und zugleich f ü r die Monologen die Entsprechung von Form und Inhalt auflöst: Die Monologen sollen belegen, "wie ausschließlich Schleiermacher nur an die Vorwissenschaftlichkeit der Form gedacht hat" (171). Das überrascht aber angesichts der Wertschätzung, die der Platon-Übersetzer Schleiermacher noch heute genießt, insofern von ihm gesagt wird, er habe zuerst die Form des platonischen Dialogs als Ausdruck des dialektischen Denkens erkannt. Die ab-
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Zu S.160-170: strakte Trennung von Form und Inhalt findet bei Herms aber auch auf die Kritik der Sittenlehre selbst ihre Anwendung, indem er die Behauptung von Wehrung aufnimmt, daß der Wissenschaftsbegriff das Thema der KdS sei (173 Anm. 44). Denn diese Behauptung wirkt sich zumindest einseitig dahingehend aus, daß Herms das von ihm konstruierte System der Wissenschaften an den 'Grundlinien' zu identifizieren sucht, wobei es überraschen muß, wenn er gerade das Zentrum dieses Systems, das unmittelbare Realitätsbewußtsein, nur in "indirekten Andeutungen" in der KdS finden kann und es durch die 'Liebesszene' aus den Reden (R 73ff) belegt (180), daß er weiter auf den Inhalt der Grundlinien, die Kritik der bisherigen Sittenlehre nur an untergeordneter Stelle in seinem System eingehen kann (221f) und daß er schließlich von der Entfaltung der Idee der ethischen Wissenschaft zum Zwekke der Kritik vollständig absieht. Das hängt zweifellos mit der Problemstellung der Untersuchung zusammen, die zwar das 'unmittelbare Realitätsbewußtsein', nicht aber die systematische Bedeutung der Individualitätsanschauung für den gebildeten Standpunkt des Wissenschaftlers wahrzunehmen erlaubt, die Schleiermacher selbst immerhin den großen Punkt der Philosophie genannt hat: "Das Ausgehen von der Individualität bleibt aber gewiß der höchste Standpunkt, da er zugleich den der Allgemeinheit und der Identität in sich schließt" (Br.IV, 93). 157 Die Untersuchung stützt sich auf die in Werke, Bd. 1 enthaltene Ausgabe, die im folgenden Abschnitt nur mit Seiten- und zusätzlich mit der Zeilenangabe zitiert wird. 158 S . o . S.77f, R.200. 159 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 55ff. 159a Vgl. die frühen Abhandlungen "Über das höchste Gut" (1789), "Über die Freiheit des Menschen" (1789/92) und "Über den Werth des Lebens" (1792/93) in den "Denkmalen". 160 Diese Argumentation hat ihre Parallelen in der Bestimmung dessen, was ein Religionsindividuum konstituiert (R 248-261) und in der Bestimmung des Zusammenhanges zwischen Glaubenssätzen und der Dogmatik (GL §§ 15-19). 161 Diesen Gedanken hat Schleiermacher später in der Akademie-Abhandlung "über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz" (1825) ausführlicher dargelegt. 162 Diese Möglichkeit, Schleiermachers Kritik an Fichte auf den Hintergrund der gebildeten Individualitätsanschauung hat Wagner, Schleiermachers Dialektik, 17, nicht berücksichtigt, wenn er im Sinne Fichtes die Kritik Schleiermachers mit der Frage zurückweist, "durch was die Ganzheit garantiert werden kann, wenn die höchste Wissenschaft nicht auf einen obersten Grundsatz beruhen soll".
- 339 Zu S.174-189: 163 S . o . Anm. 156. 164 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 9ff. 165 Eine Untersuchung der ethischen Entwürfe Schleiermachers unter dieser Fragestellung muß hier unterbleiben. 166 Meisner I, 320.323.329; B r . I I I , 367. 167 Meisner I, 320. 168 Abgedruckt in B r . I V , 579-593; im folgenden Abschnitt nur mit Seiten- und zusätzlicher Zeilenangabe zitiert. 169 KdS 22,20ff ; s . o . S.166. 170 Vgl. Wagner, aaO 20; W.Schulz, Fichtes und Schellings philosophische Entwicklung im Grundriß. Es ist auffallend, daß Schleiermacher sich nicht mit Schellings "System des transzendentalen Idealismus" (1800) oder der "Darstellung meines Systems der Philosophie" (1801) auseinandersetzt, sondern diese Enzyklopädie des akademischen Studiums zum Gegenstand seiner Auseinandersetzung mit Schelling macht. Daß Schleiermacher erst hier den Fortschritt des wissenschaftlichen Bewußtseins eingetreten sieht, ist durch die nicht am Absoluten, sondern am System orientierten Fragestellung bedingt. 171 Die Verstellung des eigenen Ansatzes von Schleiermachers Ethik hat sich bis heute darin wirksam erwiesen, daß die KdS seit der Untersuchung von Süßkind und Wehrungs entwicklungsgeschichtlicher Darstellung der Dialektik Schleiermachers nur als Beleg für die gegenüber Schelling selbständig entwickelte Wissenschaftssystematik verstanden wird (vgl. Wagner, aaO 24), von der aus die positive Rezension Schellings dann einleuchtet. Über diesem Interesse an dem System des Wissens unterblieb meist die weitergehende Untersuchung der Kritik der Sittenlehre, für die gerade der Ausschluß der Deduktion der realen Wissenschaft der Ethik aus der höchsten Wissenschaft kennzeichnend ist, und sich damit die Frage stellt, wie denn dann die Ethik als Wissenschaft möglich sei. Wehrung (aaO 15) behauptet entgegen der von Schleiermacher vollzogenen Kritik KdS 20ff ), daß Schleiermacher bei der Frage nach dem Ursprung des höchsten Grundsatzes "über die Wertlosigkeit des zweiten Weges keine Worte verliert, . . . auch den ersten Weg nicht empfehle, sondern selbstverständlich allein der dritte Weg, die Deduktion, den wissenschaftlichen Ansprüchen genügt". Wegen der Beschränkung auf die Bemerkungen über die höchste Wissenschaft, ohne Berücksichtigung ihrer negativen Funktion in der KdS erscheint für Wehrung die Kritik der Moral neben der Schelling-Rezension als Station der Vorgeschichte der Dialektik. Unter diesem Bild einer harmonischen Entwicklung bleibt aber gerade der folgenreiche Übergang von der negativen zur positiven Funktion der höchsten Wissenschaft, mit der Schleiermacher die Änderungen in der Bestimmung des Verhältnisses
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von Religion und Philosophie in der zweiten Auflage der Reden begründet (Ρ X) unbemerkt, und die kritischen Reflexionen an Schellings System der Erkenntnisse werden zwar mehr oder weniger registriert, nicht aber in ihrer systematischen Bedeutung voll erkannt. Die Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums werden nach Schriften von 1801-104 aus den ausgewählten Werken, Darmstadt 1968 als 'Schelling' mit Seitenangabe zitiert. Vgl. die Individualisierung der obersten Grundsätze in der KdS 20ff, s . o . S. 169. Vgl. noch die Näherungsformeln f ü r den transzendenten Grund in Schleiermachers Dialektik (Wagner, aaO 92ff). Vgl. die Formulierung aus der zweiten Rede, nach der die Religion mit Metaphysik und Moral "denselben Gegenstand" hat, daß sie sich aber darin unterscheide, daß sie "diesen Stoff ganz anders behandeln" muß (R 41f). Die Nähe zu den Reden ist deutlich: "Geschichte im eigentlichsten Sinn ist der höchste Gegenstand der Religion" (R 100). "Dieses, daß das Christentum in seiner eigentlichsten Grundanschauung am meisten und liebsten das Universum in der Religion und ihrer Geschichte anschaut, daß es die Religion selbst als Stoff f ü r die Religion verarbeitet und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist, das macht das Unterscheidenste seines Charakters, das bestimmt seine ganze Form" (R 293f). Schelling verweist darauf, daß er im "System des transzendentalen Idealismus" bereits die Geschichte unter diesen Ideen periodisiert habe. Der Hinweis soll offenkundig auf die Differenz zwischen beiden aufmerksam machen. Denn im System nimmt die Natur die mittlere Position ein und die dritte Periode der Vorsehung wird als ausstehende noch erwartet (Schelling, Schriften 1799-1801, 603f). Darauf spielt Schleiermacher vielleicht an, wenn er die Einordnung eines Gedankens in einen Zusammenhang als ein "wahres zweites Erfinden" würdigt und damit die Urheberschaft des Gedankens offen läßt (586,21-28). Vgl. PhE 252.505.549. Haben die technischen Disziplinen die Aufgabe der Regelgebung, so wird der Vollzug dieser Regeln durch das individuelle Subjekt zum Gegenstand der Ästhetik, der sich Schleiermacher zuerst im Sommer 1819 zugewendet hat (WW 111,7). Deutlich hat Schleiermacher diesen Zusammenhang auch in der Einleitung der praktischen Theologie herausgearbeitet (WW 1,13, 39ff). Auf diesem Hintergrund wird auch deutlich, daß der Skopus jenes Bildes von der Ellipse, das Schleiermacher zur Veranschaulichung seines eigenen ethischen Entwurfes vorge-
- 341 Zu S.196-210:
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schlagen hat ( B r . I I I , 333), nicht einfach in der "Mischungsdialektik" liegt, sondern gerade darin zu sehen ist, daß der polare Gegensatz auf den Indifferenzpunkt des Idealen und Realen bezogen ist. Erst damit ist die Struktur des Denkens vollständig beschrieben (vgl. A.Reble, Schleiermachers Denkstruktur, ZThK (NF) 17, 1936, 254-272). KD 1. Aufl. (1810), § 1). Es ist gegenüber der von Fuchs und Süßkind vertretenen These, Schleiermacher habe seinen Religionsbegriff aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Systementwurf Schellings modifiziert, zu bemerken, daß Schleiermacher gerade in der ausdrücklichen Auseinandersetzung mit Schelling offenbar an der Bestimmung der Religion durch den Begriff der Anschauung festgehalten hat. Es handelt sich m.E. nicht einfach um eine immanente Kritik und Korrektur des Schellingschen Wissenschaftssystems (Wagner, 23). Dazu weist die Korrektur eine zu große Nähe zur Konzeption der Reden auf, deren Intention eben nicht auf das System der Erkenntnisse eingeschränkt ist. Kant, Der Streit der Fakultäten, A 7; vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 247f. Diese Polemik sieht die gebildeten Verächter ihre Bildung gerade verfehlen, wenn sie von der Individualität absehen und die Menschen nach dem Ideal der Menschheit bilden (R 90). S . o . S.164; KdS 11. Diese Differenz zwischen der Kunst und der Bestimmung und Darstellung nach ihrer idealen Seite im Handeln entspricht der Beschränktheit der realen Wissenschaften gegenüber Kunst und Religion. S . o . S.166f. Das ist jedenfalls nach dem Modell der Wissenschaftsentwicklung denkbar, das Schleiermacher in der KdS, d . h . auf dem Boden des Bildungsbegriffs entwickelt hat. So wird auch verständlich, daß Schleiermacher den Fortschritt eben nicht mit dem identitätsphilosophischen Ansatz Schellings sondern erst mit dieser Durchführung eingetreten sieht und zugleich durch seine Kritik einen abweichenden Entwurf vorlegt. An dieser Stelle muß die Untersuchung der ethischen Entwürfe Schleiermachers unter dieser Perspektive unterbleiben. PhE 247. 491. 524. Die zweite Ausgabe der Reden von 1806 wird im folgenden nach der kritischen Ausgabe von Pünjer zitiert, wobei zur Unterscheidung von der Urausgabe (R) vor die Seitenangabe ein 'P' gesetzt wird. Zur zweiten Ausgabe der Reden vgl. Huber, Die Entwicklung des
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Zu S.210: Religionsbegriffs bei Schleiermacher, Leipzig 1901, Fuchs, Wandlungen in Schleiermachers Denken zwischen der 1. und 2. Ausgabe der Reden, ThStKr 76, 1903, 71-99, Süßkind, der Einfluß Schellings, bes. Teil III. Fuchs orientiert seine Untersuchung an der Beobachtung, die ihn zu seiner Dissertation über Schleiermachers Religionsbegriff zur Zeit der ersten Ausgabe der Reden geführt hat, daß nämlich die 1. Ausgabe im Unterschied zur späteren und zur Glaubenslehre durch den Begriff der Anschauung bestimmt ist. Indem es Fuchs gelingt, die systematische Bedeutung dieses Begriffs f ü r Schleiermachers "persönliche religiöse Stellung" aufzuweisen, entsteht ihm die Aufgabe, die "Wandlung in Schleiermachers Denken" aufzuklären, die zu dessen späterer Gestalt geführt hat. Aus diesem Untersuchungsinteresse heraus konzentriert sich Fuchs auf den Gefühlsbegriff. Dabei bemüht er sich festzustellen, daß es sich nur um eine Nuanzierung handelt, die in der "pädagogischen Eigenart" Schleiermachers begründet ist, fremde Begriffe aufzunehmen. Konkreter Anlaß ist die von Schelling ausgearbeitete Identitätsphilosophie. In Rücksicht auf diese verzichte Schleiermacher auf den Anschauungsbegriff und stelle statt dessen den Gefühlsbegriff in den Vordergrund mit der Folge, daß seine u r s p r ü n g liche Einsicht von einer widersprüchlichen Tendenz zur Einheit überdeckt zu werden droht, die aber doch in der Interpretation sich als untergeordnet erweist. 192 Diese Zueignung ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat durchaus Anhalt an dem trotz aller Hindernisse intensiven und herzlichen Briefwechsel Schleiermachers mit Brinckmann. (Schleiermachers Briefe finden sich in Br.IV; Brinckmanns Briefe sind leider gesondert in den Mitteilungen aus dem Litteraturarchiv in Berlin 1912 publiziert worden.) Vor allem Brinckmann bekundet Zustimmung und Ubereinstimmung mit Schleiermachers Reden. So begrüßt er am 14. März 1800 die Reden als "ein unendliches Buch", das eine Idee entwickle, "die früher in mir das Lebensprinzip meines höheren Selbst war", das alles so schön und so e r haben enthalte, "was ich je dunkel oder unentwickelt gedacht" (aaO 24). In einem späteren Brief (29. Nov. 1803) hat er sogar diesen Eindruck, den die Reden auf ihn gemacht haben, in einem Gedicht wiedergegeben und die Reden selbst gegen Schleiermacher verteidigt (aaO 51f). Derselbe Brief enthält auch eine Erinnerung an jenen Ursprung, der gemeinsamen Denkart, den Brinckmann nicht in der Herrnhuterzeit, sondern in der Studentenzeit in Halle sieht: "Du warst der Erste, mit dem ich gemeinschaftlich zu denken anfing; mit dem ich zuerst Ideen hervorbrachte, nicht bloß Meinungen austauschte. Es entstand hieraus eine intellektuelle Ehe, die uns heilig bleiben soll" (40). Daß in der Tat eine e r -
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staunliche Übereinstimmung besteht, zeigen Brinckmanns Ausführungen in demselben Brief über die Individualitätsanschauung, mit deren Hilfe er diese beständige Jugendfreundschaft erklärt: Trotz der Veränderungen seien die beiden Freunde wie "alle vorzüglichen Menschen . . . dem Kern ihrer Eigentümlichkeit nach" (ebd.) sich gleich geblieben. Dieser eigentümlichen, in sich harmonischen Persönlichkeit entspricht der Bildungsprozeß, auf den Brinckmann zurückblickt: "Willig gesteh' ich, daß sich in mir nichts eigentlich zu einer Art von Vollkommenheit ausgebildet hat, als der Mensch selbst; aber es genügt mir das Bewußtsein, daß meine innere Eigenthümlichkeit immer mehr werth sein wird, als alles, was ich hervorbringe" ( e b d . ) . Dieses Bewußtsein der innerlichen Individualität, das dem gebildeten Selbstverständnis Schleiermachers durchaus entspricht, erlaubt eine ruhige Betrachtung der Welt, des "äußern Getümmels" (aaO 41). "Mein ganzes Leben mit allen seinen geistigen Entwickelungen steht noch so klar vor mir; alles greift so harmonisch ineinander, daß mir keine Periode desselben wie ein isolirtes Fragment erscheint . . . Diese Einheit des Lebens ist mir immer der Probierstein eines wirklich gediegenen Charakters; und alle Weltkenntnis und Menschenbeobachtung überzeugt mich täglich mehr, daß nichts seltner angetroffen wird, als eben dieser". - Schleiermachers Zueignung der Reden an Brinckmann läßt sich wie eine späte Antwort auf diesen Brief ansehen. Meisner II, 61. Schleiermacher hat zuerst im Sommer 1805 die Hermeneutik zum Gegenstand einer Vorlesung gemacht, die sich an der Sprachanschauung orientiert, die er im Brouillon der Ethik von 1805 niedergelegt hat. S.o. S.72, 86, 110. S.o. S.188f. Dieser polare Gegensatz von Leben und Kunst entspricht den beiden noch zu erwähnenden Momenten des Lebens, dem Fürsich-Sein und dem Sein-im-Ganzen. Dieser Gegensatz, der in der Religion seinen Indifferenzpunkt hat, entspricht dem Verständnis der Kunst nach der Schelling-Rezension ( s . o . S.196). Hier wird auch derjenige Gegensatz explizit, unter dem Schleiermacher in seinem späteren System des Wissens die Individualität thematisiert: der polare Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen, des Identischen und Individuellen, der in Entsprechung zum Darstellungsverhältnis des Absoluten auf den Indifferenzpunkt bezogen ist, der in dem polaren Gegensatz zur Darstellung kommt. In der dritten Auflage hat Schleiermacher dann das Verhältnis von Mensch und Universum ganz getilgt und statt dessen auf dem Boden der Entsprechung von Sein und Wissen gemäß der Glau-
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benslehre § 4,2 formuliert, die Physik beschreibe die Vorstellungen des Menschen von den Dingen, und was die Welt als ihre Gesamtheit f ü r ihn sei, während die Ethik beschreibe, was er f ü r die Welt sein und darin tun soll (P 39; vgl. auch das abbildliche und vorbildliche Denken in der Dialektik) (WW III, 4,2, 517). Vgl. KD (1830) § lz; 2. Sendschreiben, SA 146ff. Fichte, erste Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), WW I, 422. M.lOf; s . o . S.48. Vgl. die entsprechende Verdeutlichung der zweiten gegenüber der ersten Fassung der Reden: R 57f: "Alle Begebenheiten in der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion, es drückt die Beziehung auf ein unendliches Ganzes aus, aber über dem Sein dieses Gottes vor der Welt und außer der Welt grübeln, mag in der Metaphysik gut und nöthig sein, in der Religion wird auch das nur leere Mythologie" . Ρ 60: "Ja, um aller Hierhergehörige in Eins zusammenzufassen, so ist es allerdings das Ein und Alles der Religion, Alles im Gefühl uns Bewegende in seiner höchsten Einheit als Eins und dasselbe zu fühlen und alles Einzelne und Besondere nur hierdurch vermittelt, also unser Sein als ein Sein in Gott und als ein Leben in Gott unser Leben. Aber die Gottheit dann wieder als ein Abgesondertes und Einzelnes hinzustellen, das ist nur eine Bezeichnung" . Durch die Funktion der Erinnerung der eigenen Genesis erhält der Gefühlsbegriff seine Nähe zum Problem der Konstitution des Selbstbewußtseins; die andere Funktion macht aber gleichzeitig die Differenz sichtbar, daß der Gefühlsbegriff in einen anderen Problemhorizont gehört, der durch die Zeitlichkeit des Lebens bestimmt ist. Es wäre interessant, aufgrund der Bedeutung, die der Lebensbegriff für Schleiermacher hier, in der Glaubenslehre § 3,3, in der Psychologie (zuerst Sommer 1818) und in der Ästhetik (zuerst Sommer 1819) gehabt hat, den Zusammenhängen mit der Lebensphilosophie des Schleiermacher-Biographen Dilthey nachzugehen . Zur Vorgeschichte des Lebensbegriffs bei Schleiermacher vgl. die Einleitung Schieies zur kritischen Ausgabe der Monologen, in der die Verbindung der Monologen mit der Neujahrspredigt von 1792 und dem Fragment über den Wert des Lebens herausgearbeitet worden ist. Auf dem gebildeten Standpunkt, wie er in den Frühschriften sich dokumentiert hat, ist der Lebensbegriff nicht zum selbständigen Thema geworden, weil es bei dem gebildeten Selbstverständnis um die gebildete Lebensanschauung
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in Abhebung von der gewöhnlichen geht (M lOff). Erst aufgrund der veränderten Bestimmung des Bildungsbegriffs kann die Voraussetzung f ü r die Bildung der Gebildeten durch die Lebensanschauung erfaßt werden. Von diesen in der zweiten Auflage der Reden sichtbaren Veränderungen aus ist es m.E. nicht wahrscheinlich, daß Schleiermacher aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Jacobi den Begriff des Gefühls im Sinne des unmittelbaren Selbstbewußtseins bestimmt hat (Herms, aaO 136ff). Herms f ü h r t nur einen einzigen Beleg f ü r den Ausdruck 'unmittelbares Selbstbewußtsein' aus dieser Zeit an. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß Schleiermacher bei dieser späteren Konzeption auf den Gefühlsbegriff Jacobis zurückgegriffen hat. S.o. S.112. Hier ist der Zusammenhang von § 4 und 5 der Glaubenslehre vorweggenommen . PhE 597. Ebeling, RGG3VI, 814. Abgedruckt in PS II (1957). Die kritische Ausgabe der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums (hg. v . H.Scholz, Leipzig 1910) enthält den Text der zweiten Auflage von 1830 und bietet den Text der ersten Auflage von 1810 im Apparat. Wenn nicht anders vermerkt, wird im folgenden die zweite Auflage nach Paragraphen zitiert. Das ist nicht ganz ausgeglichen mit der Aussage in der Güterlehr e : "wie die Sprache zum Gedanken, so verhält sich zum Gefühl unmittelbar und ursprünglich die Gebärde auch im weitesten Sinn genommen" (PhE 597). In der Diskussion um die wissenschaftstheoretische Legitimation der Theologie fungiert Schleiermachers "Kurze Darstellung des theologischen Studiums" als exemplarischer Text, auf den in Anerkennung seiner inneren Durchsichtigkeit kritisch Bezug genommen wird (vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 247-255; O.Bayer, Was ist das, Theologie? 7.40ff; vgl. weiter zur KD: H.G.Fritzsche, Theologie als positive Wissenschaft: Über den systemtheoretischen Unterschied zwischen Theologie und Religionswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der enzyklopädischen Konzeption Schleiermachers, theol. Diss. Berlin 1953; Ebeling, Theologie und Verkündigung, 104f; Jüngel, Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander (1967). Den Hauptpunkt der Kritik bildet diese doppelte Beziehung, wie der Wille, bei der Leitung der Kirche wirksam zu sein ( § 7 ) sich zum Interesse am Christentum ( § 8 ) verhält (vgl. Pannenberg, 252). Die Lösung, die schon Scholz in der Einleitung zur
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Zu S.240-244: kritischen Ausgabe vorgeschlagen hat, eliminiert den Praxisbezug zugunsten des Gegenstandsbezuges. Die Veränderung gegenüber Schleiermachers Auffassung zeigt sich an der Bestimmung der Positivität der Theologie. Enthalten Schelling-Rezension und Universitätsgutachten nur den Begriff der positiven Wissenschaft, den Schleiermacher in KD § lz angeführt hat, so deutet Scholz die Abgrenzung gegenüber der spekulativen Theologie durch den Begriff der Positivität, "daß Theologie ihren Gegenstand immer schon vorfindet" (KD XXVI), so daß sie "nicht eine Begriffs-, sondern eine Gegenstands Wissenschaft" ist (KD XXVII). Versteht Scholz diesen Begriff im Sinne einer Deduktion der Theologie aus einem Prinzip (KD XXIV), so beschreibt er damit gerade den Typus der spekulativen Theologie, den Schleiermacher ausschließt. Denn die Frage, auf die Schleiermacher durch den Praxisbezug eine Antwort versucht hat, ist gerade, wie dies Prinzip bzw. wie der Gegenstand so konstituiert werden kann, daß die Selbständigkeit der Theologie gegenüber dem philosophischen System des Wissens gewahrt und Theologie nicht einfach ins System der Geistes- und Kulturwissenschaft eingeordnet wird ( e b d . ) . Im Unterschied zu dieser an der Wissenschaftlichkeit der Theologie orientierten Fragestellung unternimmt die folgende Untersuchung den Versuch, auf dem Boden des modifizierten Bildungsbegriffs zu erklären, wie Schleiermacher zu diesem Begriff der Theologie als positiver Wissenschaft gekommen ist. Die Erklärungsleistung soll darin bestehen, daß die doppelte Bestimmung des Theologiebegriffs aufgeklärt und der systematische Ort der Theologie im Verhältnis von Religion und Philosophie bestimmt wird. 215 Hierin liegt m.E. ein wichtiges Motiv f ü r seine Auseinandersetzung mit Schelling. 216 Meisner I, 163. 217 Damit wird der Zusammenhang von Religion, Christentum und Bildung unter den veränderten Bedingungen der zweiten Auflage der Reden von 1806 formuliert. 218 Ρ 53ff. 219 ThgB lOf. 220 So wenig Schleiermacher den Zusammenhang der beiden letzten Reden verändert oder bei der Darstellung des Christentums durchgängig Konsequenzen, die sich aus der Bestimmung der religiösen Erscheinungen als Gefühlsäußerungen ergeben, f ü r den Begriff der Erlösung berücksichtigt hat, so wenig hat er in die Argumentation der vierten Rede eingegriffen und das Verhältnis zwischen wahrer und sichtbarer Kirche und die Bestimmung der Mittlerfunktion der Priester im Sinne des allgemeinen Priestertums abgeändert. Um so deutlicher ergab sich aber f ü r die dritte Ausgabe der Reden die Notwendigkeit, den in der Einleitung der GL aufgestellten Kirchenbegriff als be-
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grenzte Gemeinschaft frommer Individuen mit den Anschauungen der vierten Rede in Übereinstimmung zu bringen. Ein Indiz für die Richtung der Änderung ist in der Bindung der Darstellung der wahren Kirche an ihren historischen Ort innerhalb der Geschichte der christlichen Kirche zu sehen, wenn Schleiermacher in den Erläuterungen immer wieder auf die Herkunft dieser Vorstellung aus der Brüdergemeine verweist (P 218.219.222. u . ö . ) . Man wird nicht einfach einen Gegensatz zwischen dem Kirchenbegriff der Reden und dem der Glaubenslehre konstruieren können, den Schleiermacher auf äußerliche Weise zum Ausgleich gebracht habe. Vielmehr wird man berücksichtigen müssen, daß Schleiermacher bereits in der zweiten Ausgabe der Reden die Erscheinungen der Religion als Gefühlsäußerungen bestimmt hat, so daß sich bereits dort die Implikationen f ü r den Kirchenbegriff e r geben, die auch an einigen signifikanten Änderungen der zweiten Auflage zu erkennen sind. In den späteren Erläuterungen sind dann nur diese Implikationen, die Schleiermacher zuerst in der Glaubenslehre explizit gemacht hat, von dort aufgenommen worden, so daß es sich dem äußeren Anschein nach um einen äußerlichen Ausgleich handelt. Vgl. Schleiermachers Erziehungslehre WW III, 9 (1849). Die Vorlesung von 1826 ist in PS I abgedruckt. AaO 9. Vgl. Scholz, KD XXVIII. Diese Unterscheidung findet sich zuerst in der Ethik von 1816, ist aber implizit auch schon in der Ethik von 1812/13 als Voraussetzung für die Einführung der kritischen und technischen Disziplinen enthalten (PhE 252. 497f. 537f); zur ethischen Begründung der Pädagogik vgl. PS I , l l f . Von Schleiermachers System des Wissens aus ergibt sich gegen die von Scholz entwickelte Deutung der Positivität der Einwand, das jeder gegebene Gegenstand gewußt und im Wissen dargestellt werden kann, so daß f ü r Schleiermacher die Selbständigkeit der Theologie als Wissenschaft darauf nicht beruhen kann. Das eigentümliche Profil seines Theologiebegriffs liegt hiernach gerade darin, daß die Bestimmung des gemeinschaftlichen Prinzips der christlichen Kirche die Bedingung ist, unter der Theologie als Theorie kirchenleitender Praxis dann möglich ist. In diesem Sinn konstituiert Theologie ihren Gegenstand selbst und überläßt seine Konstitution nicht einer anderen Wissenschaft. Schleiermacher hat die Probleme des Historismus noch nicht sehen können. PhE 359. Strauß, Schleiermacher und Daub, 24. Schleiermacher hat z.B. in der zweiten Fassung der Reden Jesu
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Sendung näher bestimmt als Einsicht in die E r l ö s u n g s b e d ü r f t i g keit der Menschen (P 284). Daraus ergibt sich im Blick auf die f ü n f t e Rede eine implizite Ä n d e r u n g der Christologie. C h r i s t u s kann nicht einfach als T r ä g e r der christlichen Fundamentalanschauung vorgestellt werden. Vielmehr muß er selbst hinsichtlich des von ihm ausgehenden religiösen Kommunikationsprozesses eine Funktion e r f ü l l e n , die d u r c h den Begriff der Erlösung beschrieben wird. Als Indiz d a f ü r läßt sich in der zweiten Fassung die Ergänzung a n f ü h r e n , d u r c h die "die große Idee, welche d a r z u stellen er gekommen war", näher bestimmt wird (R 301). Denn sie besteht nicht n u r darin, "daß alles Endliche höherer Vermittlungen b e d a r f , um mit der Gottheit zusammenzuhängen", sondern ebenfalls in der Erkenntnis der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, "daß f ü r den von dem Endlichen und Besonderen e r g r i f fenen Menschen, dem sich n u r gar zu leicht das Göttliche selbst in dieser Form darstellt, n u r Heil zu finden ist in der Erlösung" (P 284). Es kann hier n u r auf die sich ergebenden Implikationen f ü r die Christologie und den Begriff der Erlösung hingewiesen werden. Das Problem, wie d a s , was als individuelle Ä u ß e r u n g eines religiösen Gefühls zu bezeichnen i s t , zum Ausdruck der gemeinschaftlichen Eigentümlichkeit der Christen werden k a n n , das d a r ü b e r hinaus die Konstitution des Gebildeten möglich macht und einer wissenschaftlichen Darstellung fähig i s t , hat Schleiermacher in der Glaubenslehre behandelt. S . o . Anm. 49. Schelling, 448ff. Briefe an Gaß, 2; vgl. Redekers Einleitung zu seiner Ausgabe von Schleiermachers Glaubenslehre, XV-XXXII. Vgl. die A u s f ü h r u n g e n ü b e r die Enzyklopädie KD §§ 18ff. B r . I V , 580. Schelling, 446f. Vgl. P a n n e n b e r g , Wissenschaftstheorie, 412ff; Ebeling, Erwägungen zu einer evangelischen Fundamentaltheologie, ZThK 67, 1970, 479-524. Meisner II, 21f. Hier spiegelt sich die Differenz in der Theoriebildung, die oben zwischen der Schelling-Rezension und der zweiten Fassung der Reden am Begriff der Religion festgestellt worden s i n d . Diese Argumentation bildet das Verhältnis exemplarisch ab, das Schleiermacher f ü r die Darstellung des Absoluten gegenüber Schelling entwickelt h a t . Der relative Gegensatz besteht n u r , wenn er auf den Indifferenzpunkt der Idee des Kirchenfürsten bezogen i s t . Vgl. PhE 448. 604. Hier wird deutlich, daß der Begriff der P e r son vom einzelnen Individuum auf geschichtliche Größen im Sinne
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Zu S.253-262: moralischer bzw. juristischer Personen übertragen worden ist. 239 Vgl. R.Otto, Einleitung in Schleiermachers Reden, 9. 240 PhE. 253. 505. 549. 241 Vgl. KD § 29z: "Ohne die fortwährende Beziehung auf ethische Sätze kann auch das Studium der historischen Theologie nur u n zusammenhängende Vorübung sein und muß in geistloser Überlieferung ausarten." 242 Briefe an Gaß, 87. 243 Ebeling und Jüngel haben diese Systemkonstruktion nicht unzutreffend durch den Begriff der Geschichtlichkeit erläutert, den Offermann dann zur Interpretation der Einleitung der Glaubenslehre herangezogen hat. 244 Von hier aus ist zu fragen, ob Schleiermacher nur die Bedingungen seines Theologiebegriffs nicht hinreichend reflektiert hat (Pannenberg, Wis sen schaft stheorie, 251), oder ob nicht gerade auf dem Boden der Unterscheidung von Religion und Philosophie dieser Theologiebegriff um des freien Vollzugs christlich-frommen Lebens willen diese Bestimmung erhalten hat (vgl. auch das Verhältnis zwischen der Enzyklopädie und der Glaubenslehre). 245 Durch den Begriff der Christentumstheorie (vgl. T.Rendtorff, Theorie des Christentums, 1972) läßt sich m.E. heute jene Konstruktion einigermaßen zutreffend beschreiben, die Schleiermacher in der philosophischen Theologie in ihrem Verhältnis zur historischen unternommen hat. Allerdings ist dieser Begriff so zu verstehen, daß die Tätigkeit der Theoriebildung selbst in den Gegenstand der Theorie integriert ist. 246 GL § 2. (Leitsätze werden im folgenden nach der Ausgabe von Redeker nur durch Angabe des Paragraphen zitiert, während Zitaten aus den Erläuterungen die Seitenangabe beigefügt wird.) 247 Die beiden Sendschreiben an Herrn Dr. Lücke sind in WW 1,2, 575-653 gedruckt. Im folgenden wird der Abdruck in der Schleiermacher-Auswahl SA zitiert. 248 Hierin ist wiederum die Abgrenzung gegenüber jedem spekulativen Verständnis der Theologie zu erkennen. 249 Vgl. Redekers Einleitung, XIX. 250 Meisner II, 34. 251 Diese immanente Interpretation des Verhältnisses von KD und GL stützt die These, daß Schleiermacher sich der Abstraktheit und Formalität seiner Enzyklopädie bewußt war und sie um der Freiheit des frommen Lebens willen gegenüber dem Wissen bewußt in Kauf genommen hat. Auf dieser Differenz beruhen m.E. die Schwierigkeiten, die Schleiermacher die praktische Theologie bereitet. Denn in ihr muß der Zusammenhang zwischen dem gemeinschaftlich Eigentümlichen der Christen und dem freien Kommunikationsprozeß der frommen Christen dargestellt werden.
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Zu S.265-267: 252 D.Offermann hat unter der Leitfrage nach der Geschichtsbezogenheit des christlichen Glaubens die Aussageabsicht der Einleitung im Blick auf Joh 1,14 als den Grundtext der Dogmatik einer eingehenden Analyse unterworfen. Zur Struktur der Lehnsätze vgl. die Zusammenfassung 323ff. Offermann hat zwar den Zusammenhang der Lehnsätze mit der Philosophie gesehen (27. 326), aber sie hat das doppelte kritische Verfahren und die Orientierung am geschichtlichen Individuum in der Kirche nicht berücksichtigt und damit die Abstraktheit des Theologiebegriffs nicht erkannt. 253 Diese Anordnung spiegelt noch den Argumentationsgang der Reden, der in der fünften Rede mit der Bestimmung des Wesens des Christentums sein Ziel erreicht. An die Bestimmung der Religion schließt sich mit dem Begriff der Kirche und der positiven Religion die Beschreibung jener Vermittlung an, die die Voraussetzung dafür bildet, daß das Christentum als diejenige Religion dargestellt werden kann, innerhalb derer die Realisierung des Wesens der Religion erfolgt. Der Unterschied zu den Reden ergibt sich daraus, daß zwischen der Kirche als vermittelnder Anstalt und der positiven Religion als dem durch eine Zentralanschauung organisierten Religionsindividuum nicht mehr unterschieden wird, und daher der Kirchenbegriff eine andere Gestalt hat und eine andere Funktion gewinnt, die in den ethischen und religionsphilosophischen Lehnsätzen dargestellt wird. 254 S . u . S.270. 255 Vgl. dazu Wagner, Schleiermachers Dialektik, 152ff. Der Ort, an dem Schleiermacher eine bestimmte Argumentationsfigur in einen Zusammenhang einführt, ist m.E. nicht ohne Bedeutung f ü r ihren Sinn. In der Dialektik kommt Schleiermacher erst am Ende des tranzendentalen Teils auf das unmittelbare Selbstbewußtsein, nachdem die Unmöglichkeit erwiesen worden ist, den transzendenten Grund im Denken und Wollen zu erfassen. In der Glaubenslehre zeigt sich der Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins als Erläuterung des Gefühlsbegriffs, der im Zusammenhang der am Lebensbegriff orientierten Psychologie (zuerst Sommer 1818) seinen Ort hat. Es ist m.E. noch nicht ausgemacht, wo Schleiermacher den Begriff des unmittelbaren Selbstbewußtseins entwickelt hat, ob er nicht in den Zusammenhang der gebildeten Lebensanschauung gehört. 256 Vgl. schon Ρ 56: Die Unterscheidung zwischen dem Gefühl, das dem Wissen angehört, und dem, das als Lebensfunktion des Individuums verstanden ist. 257 Damit versucht Schleiermacher offenbar gerade die Gefahr zu bannen, die durch die Bestimmung der Religion als Gefühl auf dem Boden der gebildeten Lebensanschauung entsteht: Religion
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ist nur ein Moment der individuellen Lebenseinheit, die gerade das umfassende Ganze des Universums nicht mehr ausdrücklich machen kann. Daß Schleiermacher auf eine Bestimmtheit des Gefühls rekurriert, bedeutet demgegenüber dann bereits eine differenziertere Beschreibung. Vgl. die Erläuterung der Unmittelbarkeit der Religion in den Reden von 1806: "Unmittelbar in der Religion ist alles wahr, denn wie könnte es sonst geworden sein? unmittelbar aber ist nur, was noch nicht durch den Begriff hindurchgegangen ist, sondern rein im Gefühl erwachsen" (P 65). S . o . S.225. Zur Bedeutung des Lebensbegriffs in der Glaubenslehre vgl. jetzt Ebeling, Schleiermachers Wirklichkeitsverständnis. Schleiermachers Psychologie ist veröffentlicht in WW 111,6 (1862). Für diesen Zusammenhang vgl. F.W.Siegmund-Schultze, Schleiermachers Psychologie in ihrer Bedeutung für die Glaubenslehre, Marburg 1913. Vgl. Wagner, 182, Ebeling, aaO 164. Wagner, aaO 139 Anm. 3, zu Recht gegen Miller, Der Übergang. S . o . S.265f. Damit wird die Differenz zwischen den Reden und der GL noch einmal fixiert. Während die Religion in den Reden vor den Gebildeten als Moment ihrer Lebensanschauung bestimmt wird, das zumindest implizit im Lebensgefühl jedes Menschen enthalten ist, geht die GL von derjenigen Bestimmung des Gefühls aus, die dem höchsten, d . h . dem gebildeten und damit wissenschaftlicher Darstellung fähigen Selbstbewußtsein entspricht. Die Darstellungsfähigkeit des Gefühls wird wiederum im Gefühl selbst expliziert. Insofern ist das Christentum bereits in dieser Bestimmung der Frömmigkeit auf dem höchsten Standpunkt enthalten. Darin besteht die Zuordnung der beiden Paragraphen 3 und 4. Was allgemein als psychologische Beschreibung des individuellen Subjekts gilt, muß auf dem gebildeten Standpunkt für das gebildete Bewußtsein selbst gelten. Deshalb muß Schleiermacher seine Analyse als Analyse des unmittelbaren Selbstbewußtseins, bzw. Gefühls fortsetzen, wenn es sich wirklich um Selbstbewußtsein handeln soll. Das ist allerdings eine problematische Prämisse. Denn es ist kein Grund zu erkennen, daß die Bezeichnung der Beziehung des individuellen Subjekts auf anderes durch Rezeptivität und Spontaneität ohne weiteres auf die beiden Seiten des lebendigen Subjekts selbst übertragen werden können. Vgl. die Ausführungen zur Ersetzung der Anschauung in der Religion zugunsten der Gefühlsdarstellung s . o . S.231. Vgl. dazu Ebeling, Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewußtsein, 116ff.
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Zu S.273-292: 267 268 269 270 271
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Vgl. Dialektik 111,4/2, 152. 430. 473. 523. SA 125. R 10; M 60f; s . o . S.83. Vgl. Wagner, Persönlichkeit Gottes, 57. Das gilt auch f ü r Christus, sofern die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins (GL § 94) die eingetretene Dominanz des Gottesbewußtseins über das sinnliche Bewußtsein bezeichnet. PhE 589. Vgl. Miller, Übergang, 54ff. Die Akademieabhandlung wird im folgenden nach dem leicht zugänglichen Abdruck in der Schleiermacher-Auswahl zitiert. Diese Ableitung des Individuumsbegriffs aus dem der Gattung durch die Beziehung auf die Stufen des Organischen ist in den Entwürfen der Ethik bis 1816 nicht zu finden. Dort wird der Gattungsbegriff aus der Bestimmung der Einheit von Vernunft und Natur als Kraftsein der Masse und Massesein der Kraft gewonnen (PhE 503). S.o. S.242. S.o. S.273. PhE 259, 431, 562. Hier ist der systematische Ort f ü r die christliche Sittenlehre Schleiermachers zu erkennen. Auf den ersten Blick scheint Schleiermacher unter dieser Beschreibung auch seine ursprüngliche Fassung des gebildeten Individuums, das seine Individualität bildet, statt wie der Künstler die Welt, zu subsumieren. Allerdings muß der andere systematische Zusammenhang berücksichtigt werden, in welchem die Unterscheidung hier steht, bevor darin eine Abkehr von seiner ursprünglichen Auffassung gesehen werden kann. 'Reich Gottes' und 'schöne Seele' stehen in einem polaren Gegensatz, während in den Monologen die Beziehung zwischen beiden Polen des Gegensatzes nur durch die Vorstellung individueller Verschiedenheit erfaßt werden konnte. Vgl. z.B. Hegels theologische Frühschriften oder Schlegels Abhandlung über griechische Poesie. Die Nähe zu der auf Willkür beruhenden Zentralanschauung in der fünften Rede ist hier greifbar (vgl. R 259f; Ρ 256). 'Erlösung' wird hier auf den Begriff des Lebens bezogen, während dieser Ausdruck in den Reden von 1799 die Beziehung zwischen dem Endlichen und Unendlichen bezeichnet, die vom Unendlichen ausgeht (R 291). Die Rekonstruktion macht Schleiermachers Interesse an einem 'Leben Jesu' deutlich. Sie zeigt dann aber auch die systematischen Implikationen dieses Entwurfs, die von Strauß kritisiert worden sind. Vgl. Strauß, Der Christus des Glaubens und der
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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Hrsg. von Wolfhart Pannenberg und Reinhard Slenczka. Eine Auswahl
14 Günther Schnurr: Skeptizismus als theologisches Problem. 1964. 261 Seiten, kart. 15 Günther Gassmann: Das historische Bischofsamt und die Einheit der Kirche in der neueren anglikanischen Theologie. 1964. 283 Seiten, kart. 17 Urban Forell: Wunderbegriffe und logische Analyse. 1967. 461 Seiten, kan. 18 Reinhard Slenczka: Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi. 1967. 366 Seiten, kart. u. Ln. 19 Jörg Rothermundt: Personale Synthese. Isaak August Dorners dogmatische Methode. 1968. 250 Seiten, kart. 20 Harald Schultze: Lessings Toleranzbegriff. 1969. 179 Seiten, kart. 21 Christoph Maczewski: Die Zoî-Bewegung Griechenlands. 1970. 160 Seiten, kart. 22 Friedrich Beisser: Schleiermachers Lehre von Gott dargestellt nach seinen Reden und seiner Glaubenslehre. 1970. 265 Seiten, kart. 24 Klaus Rosenthal: Die Uberwindung des Subjekt-Objekt-Denkens als philosophisches und theologisches Problem. 1970. 170 Seiten, kart. 25 Hermann Brandt: Gotteserkenntnis und Weltentfremdung. 1971. 269 Seiten, kart. 26 Hans M . Barth: Atheismus und Orthodoxie. 1971. 356 Seiten, geb. 27 Adriaan Geense: Auferstehung und Offenbarung. 1971. 235 Seiten, kart. 28 Georg G. Blum: Offenbarung und Überlieferung. 1971. 234 Seiten, kart. 29 Heinrich Leipold: Missionarische Theologie. 1974. 298 Seiten, kart. 30 Klaus Bümlein: Mündige und schuldige Welt. 1974. 155 Seiten, kart. 32 Michael Plathow: Das Problem des concursus divinus. 1975. 213 Seiten, kart. 34 Bertold Klappert: Promissio und Bund. 1976. 296 Seiten, kart. 35 Koloman Micskey: Die Axiom-Syntax des evangelisch-dogmatischen Denkens. 1976. 162 Seiten, kart. 36 Wolfgang Greive: Der Grund des Glaubens. 1976. 233 Seiten, kart. 37 Joachim Track: Sprachkritische Untersuchungen zum christlichen Reden von Gott. 1977. 337 Seiten, kart. 38 Konrad Fischer: De Deo trino et uno. 1978. 364 Seiten, kart. 39 Günther Gassmann: Konzeptionen der Einheit in der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung 1910-1937. 1979. 311 Seiten, kart. 40 Viorel Mehedintu: Offenbarung und Überlieferung. 1980. 352 Seiten, kart. 41 Richard Ziegert: Der neue Diakonat. 1980. 241 Seiten, kart. 43 Michael Plathow: Lehre und Ordnung im Leben der Kirche heute. 1982. 314 Seiten, kart. 44 Christos Yannaras: Person und Eros. 1982. 287 Seiten, kart. 45 Fritz Heidler: Die biblische Lehre von der Unsterblichkeit der Seele. 1983. 203 Seiten, kart. 46 Werner Schwartz: Analytische Ethik und christliche Theologie. 1984. 295 Seiten, kart. 47 Werner Brändle: Rettung des Hoffnungslosen. 1984. 332 Seiten, kart. 48 Hugh Jones: Die Logik theologischer Perspektiven. 1986. 246 Seiten, kart. 50 Lothar Kugelmann: Antizipation. 1986. 374 Seiten, kart. 51 Dieter Becker: Karl Barth und Martin Buber - Denker in dialogischer Nachbarschaft? 1986. 279 Seiten, kart. 52 Teresa Berger: Liturgie - Spiegel der Kirche. 1986. X , 382 Seiten, kart. 53 Richard Mössinger: Zur Lehre des christlichen Gebets. 1986. 298 Seiten, kart. 54 Martin George: Mystische und religiöse Erfahrung im Denken Vladimir Solov'evs. 1988. 384 Seiten, kart. 55 Gerhard K. Schäfer: Eucharistie im ökumenischen Kontext. 1988. X , 351 Seiten, kart. 56 Hartmut Baier: Richard Siebeck und Karl Barth - Medizin und Theologie im Gespräch. 1988. VI, 251 Seiten kart. 57 Achim Dunkel: Christlicher Glaube und historische Vernunft. 1989. 344 Seiten kart.
Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich