Bildkommunikation: Ansichten der Systemtheorie [1. Aufl.] 9783839401620

Kommunikation ist eine Sache, das Sehen eine andere. Beide sind durch ihre eigenen Prozesse und Operationen gekennzeichn

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German Pages 268 [271] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Die Struktur der kommunikativen Operation
Potenzierte Unterstellungen
Einige Verwicklungen der Zwei und der Drei
Der operativ-strukturelle Komplex der Kommunikation
Die Frage nach der Bildkommunikation
Zur weiteren Untersuchung
Sehen und Sichtbarkeit
Die Differenz der Visualität
Der Modus der Sichtbarkeit
Die Modifikation und die Modulation
Attentionale Objekte
Aufmerken
Konstituieren
Beobachten
Verknüpfen
Beziehen
Modellieren
Visualisieren
Sichten und Sichtbarmachen
Sichten = Sehen-in
Endogenese und Exogenese
Koppeln und Schließen
Die soziale Kopplungsform des bildlichen Sehens
Die symbolische Regulation sozialer Systeme
Das pikturale Verstehen der Kommunikation
Glossar
Literatur
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Bildkommunikation: Ansichten der Systemtheorie [1. Aufl.]
 9783839401620

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) T00_01 schmutztitel.p 25698268932

Georg Jongmanns (Dr. phil.) ist Medienwissenschaftler und Soziologe. Die vorliegende Untersuchung entstand im Rahmen des Doktorandenkolloquiums an der Bauhaus-Universität Weimar, des Graduiertenkollegs »Intermedialität« in Siegen und des Systemtheoretischen Forschungskolloquiums in Bielefeld. Der Autor ist gegenwärtig als Hochschulplaner und -berater tätig.

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) T00_02 vak.p 25698268988

Georg Jongmanns Bildkommunikation Ansichten der Systemtheorie

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) T00_03 innentitel.p 25698269020

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-162-0

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) T00_04 impressum.p 25698269028

Inhalt Vorbemerkung

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Die Struktur der kommunikativen Operation

17 Potenzierte Unterstellungen 17 | Einige Verwicklungen der Zwei und der Drei 32 | Der operativ-strukturelle Komplex der Kommunikation 37 | Die Frage nach der Bildkommunikation 49 | Zur weiteren Untersuchung 55

Sehen und Sichtbarkeit

61 Die Differenz der Visualität 61 | Der Modus der Sichtbarkeit 70 | Die Modifikation und die Modulation 90

Attentionale Objekte

95 Aufmerken 95 | Konstituieren 102 | Beobachten 109 | Verknüpfen 122 | Beziehen 138 | Modellieren 141 | Visualisieren 156

Sichten und Sichtbarmachen

163 Sichten = Sehen-in 163 | Endogenese und Exogenese 179

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6) T00_05 inhalt.p 25698269100

Koppeln und Schließen

201 Die soziale Kopplungsform des bildlichen Sehens 201 | Die symbolische Regulation sozialer Systeme 218 | Das pikturale Verstehen der Kommunikation 230

Glossar

247 Literatur

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6) T00_05 inhalt.p 25698269100

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Vorbemerkung Angriffslustige Monster, Rockstars auf der Bühne, Filmküsse, Politiker, Sportler im Moment der größten Anstrengung, attackierende Soldaten, Opfer von Gewaltverbrechen. All dies sind hinlänglich bekannte Motive von massenmedialen, bildlichen Darstellungen. Die Posen, die Stereotypen, die sich unentwegt wiederholenden Inszenierungen hat Robert Longo im Jahr 1996 zum Anlass für sein Magellan-Projekt genommen. 366 schwarze Zeichnungen (Kreide, Kohle, Zeichenstift) zeigen Szenen aus Filmen und Magazinen, aus Werbung und Kunst, aus dem Fernsehen und aus wissenschaftlichen Artikeln. Ihre Sammlung erschafft ein Kompendium von allzu Bekanntem und von Normierungen des Sehens. Die Zeichnungen beschäftigen sich mit den Resultaten massenmedialer Praktiken und Prozeduren und verdeutlichen, wie einprägsam sich diese Resultate auf das Sehen auswirken. Sie verdeutlichen aber ebenso, dass die massenmediale Produktion nur in dem Rahmen der Wiedererkennbarkeit verfährt, der ihr durch das Sehen gesteckt wird. Man kann zwei aufeinander abgestimmte Prozesse unterscheiden, die ihre Relevanz ausspielen, wenn es um Bilder geht: Auf der eine Seite sorgt der Diskurs, sorgen die sozialen Praktiken, sorgt die Kommunikation dafür, dass sich Muster herausbilden, Darstellungsweisen etablieren, Stile geschaffen werden, auf die man immer wieder zurückkommen kann. Allein schon wegen ihrer weiten Verbreitung und wegen der Variationen, die sie erfahren, ist es unmöglich, diese Errungenschaften auf die Handlungen, Tätigkeiten oder Kreationen einzelner Personen zu reduzieren. Auf der anderen Seite steht das Sehen, das seinen Blick in den Bildern schweifen lässt, den Figuren folgt, den Linien entlanggleitet und sich von den Farben affizieren lässt. Man macht es sich jedoch zu einfach, wenn man annimmt, dass das Sehen und die Kommunikation immer schon aneinander angepasst sind. Normierungen müssen sich erst durchsetzen, Darstellungsweisen müssen geschaffen und Plausibilitäten müssen ermittelt werden, um sowohl auf der Seite der Kommunikation als auch auf der Seite des Sehens zu nachhaltigen Formen der Bildlichkeit zu gelangen. Die vielfältigen Anstrengungen, die unternommen werden, um die technischen Visualisierungsverfahren so weit zu entwickeln, bis sie sowohl visuelle Aufschlüsse als auch kommunikative Wirksamkeit zeitigen, belegen die 7

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

Notwendigkeit von Passungsaktivitäten. Zu ihrem Leidwesen glücken sie nicht immer. Die Geschichte der Bildlichkeit ist voll von Experimenten und Abbrüchen, Gewöhnungen und Moden, von plötzlichen Zäsuren und paradigmatischen Entwürfen. Somit können zwei Aspekte der Bildlichkeit festgehalten werden. Erstens besteht zwischen der Bildkommunikation und dem Sehen von Bildern eine grundlegende Differenz, über die hinweg beide miteinander verbunden sind. Man muss das Sehen und die Kommunikation sowohl in ihrer Eigenständigkeit als auch in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit begreifen. Eigenständig sind sie, insofern sie eigenen Prozessen folgen, die mal bildlich bestimmt sind und mal nicht; abhängig sind sie, insofern sie die Ressourcen des jeweils anderen voraussetzen, um Bildlichkeit prozessieren zu können. Da es bei den Abstimmungen nicht nur zu gegenseitigen Passungen, sondern auch zu Friktionen kommt, mit denen Reibungsverluste und Irritationen einhergehen, ist die Schnittstelle zwischen dem Sehen und der Kommunikation zweitens eine Problemstelle. Trotz der gegenwärtigen Konjunktur der Bilder in den Kultur- und Sozialwissenschaften findet diese Stelle nur wenig Beachtung. Als Problem wird sie schon gar nicht erkannt. Ausgehend von der problematischen Schnittstelle wird im Folgenden die Frage entwickelt, wie die Kommunikation verfährt, wenn sie unter Verwendung pikturaler Mittel zu Stande kommt. Die korrespondierende Frage für das Sehen lautet, welche Aufmerksamkeit von ihm dabei abverlangt wird. Da Niklas Luhmann die Eigenständigkeit kommunikativer und wahrnehmender Prozesse unter dem Titel der operativen Geschlossenheit und strukturellen Kopplung am deutlichsten herausgearbeitet hat, orientieren sich die Überlegungen an seiner Theorie sozialer Systeme. Um dies tun zu können, müssen einige Interventionen vorgenommen und einige gut erschlossene Pfade ausgelassen werden. Ein von der Systemtheorie vorgegebener, nahe liegender Einstieg in die Studie könnte zum Beispiel über die formale Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen genommen werden. Hierbei würde man sich jedoch einige Schwierigkeiten einhandeln. Die Unterscheidung kann keine leitende Funktion übernehmen, weil beim Sehen von Bildern erstens nicht das ganze Bewusstsein, sondern eben nur seine visuelle Wahrnehmung zum Zuge kommt und weil das kommunikativ wirksame Sehen zweitens nicht auf das Bewusstsein allein reduzierbar ist. Die Systemtheorie regt nicht nur dazu an, die kaum hinterfragte Integrität der Kommunikation und des Sehens in den Blick zu nehmen. Sie gestattet wegen ihres generalisierenden Ansatzes zudem einen analytischen Zugriff auf sehr verschiedene gesellschaftliche Bereiche, in denen Bildlichkeit eine Rolle spielt. Bilder entfalten ihre Bedeutung nicht allein in der Kunst oder in den Massenmedien. Die apparativ gestützten Visualisierungsverfahren in der Medizin und in vielen Natur8

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VORBEMERKUNG

wissenschaften sind ebenso relevant wie die professionellen und privaten Praktiken im Umgang mit der Foto- und Videografie, mit Programmen zur Bildbearbeitung, mit Computerspielen und mit Webcams. Es ist eine breite Diversifikation pikturaler Mittel zu beobachten, die W.J.T. Mitchell dazu veranlasst, von einem pictorial turn zu sprechen: »Whatever the pictorial turn is, then, it should be clear that it is not a return to naive mimesis, copy or correspondence theories of representation, or a renewed metaphysics of pictorial ›presence‹: it is rather a postlinguistic, postsemiotic rediscovery of the picture as a complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality« (1994: 16). Die Systemtheorie fügt diesen Aspekten einen weiteren hinzu: das Zusammenspiel zwischen dem Sehen und der Kommunikation und daraus folgend zwischen dem Sehen und den aus Kommunikation bestehenden sozialen Systeme. Die Systemtheorie fügt diesen Aspekt aber nur hinzu, insoweit man sie entsprechend modifiziert. Sie ist nicht gut darauf vorbereitet, Aussagen zur Bildkommunikation zu treffen. Der Grund dafür liegt sowohl im Bild- als auch im Kommunikationsbegriff. Ein Konzept der Bildlichkeit sucht man in der Systemtheorie vergebens und der Begriff der Kommunikation verhält sich indifferent gegenüber verschiedenen Darstellungsweisen. Die Untersuchung macht den Vorschlag, die Kommunikation nicht vom System aus (als zu reproduzierendes Element), sondern umgekehrt ein soziales System von seinen basalen, kommunikativen Operationen aus zu denken. Statt der top-down-Perspektive nimmt die Studie eine operationale bottom-up-Sichtweise ein. Dieses Vorgehen ermöglicht es, die Struktur der kommunikativen Operation freizulegen. Der Bildbegriff setzt daran an und wird unter operativstrukturellen Gesichtspunkten entwickelt. So wandelt sich die soziologische Fragerichtung der Systemtheorie, wie soziale Ordnung möglich ist, in die medienwissenschaftliche Problemstellung, wie sich diese Ordnung unter mediatisierten Bedingungen konstituiert. Von Interesse sind dabei sowohl der Aufbau und die Genese sinn- und sinnenhafter Ordnungsvorgängen als auch die Grenzen ihrer Funktionalität. Um dieses Ziel zu erreichen, kommen neben Luhmann sehr unterschiedliche Autoren zu Wort und werden miteinander ins Gespräch gebracht: Luhmann mit Deleuze, Glanville mit Luhmann, Deleuze mit Glanville. Deleuze mischt sich in die Proklamation systemischer Konstitutionsleistungen ein, setzt sich dadurch aber selbst einem systemtheoretischen Blick aus. Das ist der Preis, den er zahlen muss. Cassirer dient als Kronzeuge symbolischer Ordnungen und Fiedler ist als Experte für das Sichtbarmachen eingeladen. Obwohl sich Goodman in die Debatte von Glanville und Deleuze einmischen könnte, schweigt er bis zum Schluss, um Luhmann einige wichtige Hinweise zu geben, wie verschiedene Darstellungsweisen verstanden werden können. So entfaltet sich eine intensive, theoretische Diskussion. Sie nimmt ihren Ausgang beim 9

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

Begriff der Kommunikation, behandelt anschließend das Sehen und die Sichtbarkeit, um im dritten Abschnitt einen formalen Ausdruck für das Sehen von Bildern zu entwickeln, der unter kommunikativen Bedingungen zum Zuge kommen kann. Dieses Zwischenergebnis zum Sehen von Bildern und zum Sichtbarmachen wird anschließend ausführlich diskutiert. Im fünften Abschnitt werden daraus schließlich die fälligen Konsequenzen für die Bildkommunikation gezogen.

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»Man muß die Null finden.« (Michel Serres)

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»Das ist zweifelsohne ein Wagnis.« (Vilém Flusser)

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»/« (Niklas Luhmann)

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VORBEMERKUNG

Die Struktur der kommunikativen Operation Potenzierte Unterstellungen Niemand kommuniziert. Niemand hat je kommuniziert und niemand wird jemals kommunizieren. Denn einzig die Kommunikation kommuniziert. Folgt man der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns, setzen sich soziale Systeme aus Kommunikationen zusammen, die sich innerhalb dieses Systemzusammenhangs reproduzieren. Tun sie es, hat das System Bestand, unterbleiben sie, endet der Bestand des Systems. Wenn Kommunikation auf Kommunikation folgt, wenn sie aneinander anschließen, wenn sie ein Netzwerk konfigurieren und sich innerhalb dieses Netzwerkes eine Ausgangsbasis schaffen, um weiterhin erfolgen zu können, dann kann man davon sprechen, dass sich ein soziales System stabilisiert hat. Es ist die Sache des Systems herauszubilden, was ihm als Kommunikation gilt, was also intern zu weiteren Anschlüssen, zu weiteren Strukturierungen, zu weiterem Bestand führt und was nicht. Solche selbstreferenziellen Systeme »produzieren die Elemente, aus denen sie bestehen, durch das Arrangement der Elemente aus denen sie bestehen. Sie sind reproduktive Systeme – wenn Reproduktion im alten Sinne heißt: Produktion aus Produktion. Die Reproduktion kommunikativer Systeme ist nur durch Kommunikation möglich« (Luhmann 1982: 374). In dieser Rekursivität liegt ihre Operationsweise. Ist ein System in der Lage, auf Grund seiner eigenen Bestände den weiteren Bestand zu gewährleisten, hat man es mit einem autopoietischen System zu tun. So wird klar: Es kommunizieren allein soziale Systeme und nicht etwa die Menschen, Individuen, Personen oder psychischen Akteure, über die kommuniziert werden könnte oder die anderweitig an der Konstitution der Kommunikation und ihrem systemischen Procedere beteiligt oder in ihre Verfahrensweisen einbezogen sind. In diesem Sinne ist es streng genommen sogar falsch zu sagen, dass man kommuniziert. Die Kommunikation ist ausschließlich den sozialen Systemen selbst zuzurechnen. Sie führt sich selber so durch, wie sie sich in ihnen jeweils strukturiert: »Nur ein System kann operieren, und nur Operationen können Systeme produzieren« (ders. 1995c: 27). Ihre Selbstreferenz bezieht sich sowohl auf jede einzelne Operation als auch auf die 17

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

Systeme, die sich aus den Operationen zusammensetzen. Da sich jede Operation ereignet und da die Systeme aufgebaut werden, evoluieren, Stabilisierungen und Destabilisierungen erfahren und schließlich abbrechen und ihren Bestand verlieren können, so wie jede Operation endogen unruhig ist und verschwindet, sobald sie durchgeführt wurde, fällt durchgängig Zeit an. Die Kommunikation zeichnet sich demnach durch drei Merkmale aus: Sie ist rekursiv, reproduktiv und temporalisiert. Sie ist in sich rekursiv gebaut und gestattet auf diesem Wege ihre Reproduktion. So erlangt sie die systemische Rekursivität, wodurch die Zeit des Systems entfaltet wird. In ihr werden die nötigen und die möglichen Zurechnungen vorgenommen, um den Operationen Anhaltspunkte für den weiteren Vollzug zu gewähren. Kurz, die elementare oder basale Selbstreferenz ist in jeder Operation und in dem System, das sich aus den Operationen zusammensetzt, doppelt geführt. Darauf muss auch eine Analyse kommunikativer und sozialer Verhältnisse mittels der Systemtheorie Rücksicht nehmen. Was man einem System zu unterstellen oder zuzurechnen geneigt ist, kann nur dann gerechtfertigt sein, wenn es sich als kommunikativ wirksam erweist, erwiesen und bewiesen hat. Selbstverständlich zwingt eine solche Position dazu, den Kommunikationsbegriff genau zu fassen, die Bedingungen der Reproduktion zu erörtern und die Frage nach ihrer Strukturierung zu beantworten, die Binnenstruktur der Kommunikation selbst und schließlich die Bedingungen ihres Zustandekommens aufzuklären, um übereilte Fehlschlüsse zu vermeiden und die notwendigen Konsequenzen angemessen ziehen zu können.1 Mit einigen Aspekten der selbstreferenziellen Struktur der Kommunikation werden sich die folgenden Seiten befassen. Hier wird sich die Frage anschließen, wie die Kommunikation aufgebaut ist und wie sie verfährt, wenn sie unter bildlichen, und nicht etwa unter verbalsprachlichen Bedingungen zu Stande kommt. Dies ist die Leitfrage dieser Studie: Wie verfährt ein soziales System, wenn es mittels Bildern kommuniziert, und – vor allem – welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit dies geschehen kann? Um eine Antwort geben zu können, wird man die Theoriestelle, an der das Problem ansetzt, genau markieren und einige begleitende Fragen stellen und behandeln müssen. Wir werden sehen. Auszugehen ist jedenfalls von dem ebenso ein-

1. Die anhaltende, sehr umfangreiche und verzweigte Diskussion soll hier nicht verfolgt oder diskutiert werden. Stellvertretend sei auf Fuchs 1993 und 1995, Schneider 1994, Maresch, Werber 1999 und Jahraus, Ort 2001 verwiesen. Von Luhmann liegen zahlreiche Ausführungen zum Begriff und zur Funktionalität der Kommunikation vor: 1975c, 1981a, 1982, 1984: 191-241, 1986a, 1988b, 1995d; in den Monographien zu den gesellschaftlichen Funktionssystemen finden sich ebenfalls wichtige Passagen zu diesem Thema, so bspw. 1990b: 11-67, 1995b: 13-91 und 1997a: 78-91. 18

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DIE STRUKTUR DER KOMMUNIKATIVEN OPERATION

fachen wie streng durchzuhaltenden Umstand, dass soziale Systeme aus kommunikativen Operationen bestehen. Das wird unmissverständlich deutlich, wenn Luhmann schreibt: »Die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme verlangt eine genaue Angabe derjenigen Operation, die die Autopoiesis des Systems durchführt und damit ein System gegen seine Umwelt abgrenzt. Im Falle sozialer Systeme geschieht dies durch Kommunikation. [Sie] hat alle dafür erforderlichen Eigenschaften: Sie ist eine genuin soziale (und die einzig genuin soziale) Operation.« (Ders. 1997a: 81) Die Kommunikation ist für soziale Systeme irreduzibel. Das bedeutet, alles was in irgendeiner Weise im System vorkommt, muss erstens auf die Kommunikation zurückgeführt werden. Zweitens kann die Kommunikation auf nichts anderes zurückgeführt werden. Nur wenn ihre drei Komponenten operativ zur Geltung gebracht werden – Luhmann bestimmt die Kommunikation als die Synthese dreier Selektionen: der Mitteilung, der Information und des Verstehens –, kann tatsächlich von einer Kommunikation die Rede sein. Die Irreduzibilität gilt auch im Fall der kommunikativen Handlung, die eine besondere Stellung im System einnimmt. Soziale Systeme sind dazu veranlasst, so Luhmann, sich zur Sicherung ihrer Anschlussoptionen und zur Stabilisierung der autopoietischen Funktion auf Handlungen zurückzurechnen und somit die Mitteilungskomponente als ein Mitteilungshandeln auszuweisen. Sie bilden interne Strukturen aus, um erwartbar zu machen, auf wen bzw. auf welches System in ihrer Umwelt die Mitteilung in der Kommunikation zugerechnet werden kann, und um erwartbar zu machen, was vorgefallen ist und was weiterhin geschehen kann oder soll. Auf diese Weise bringen die Systeme in Erfahrung, wer was mitgeteilt hat und wann was geschehen ist. Ihre Strukturen nehmen dafür die Gestalt personaler Schemata an, die mit psychischen Systemen korrelieren, die ihrerseits die Kommunikation anregen und irritieren. Nichtsdestotrotz reduziert sie sich nicht auf die Handlung. Es verhält sich vielmehr umgekehrt: »Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme« (ders. 1984: 241).2 Wie auch immer die Synthese der Information, der Mitteilung und des Verstehens zu Stande kommt – dafür soll im weiteren Verlauf ein Vorschlag entwickelt werden –, sie ist eine Operation und sie findet ihre Einheit innerhalb der rekursiven und reproduktiven Struktur des Systems. Vorläufig kann sie als das selektive Verstehen der selektiven

2. Zum Handlungsbegriff im Systemkontext vgl. auch Luhmann 1978, wo diese Position noch nicht entwickelt ist, wo Luhmann die Handlung jedoch bis zur Schwelle der Kommunikationstheorie trägt. 19

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

Information einer selektiven Mitteilung zur Ermöglichung eines weiteren Verstehens einer informativen Mitteilung begriffen werden. Dass diese Einheit nicht ohne Komplexität zu haben ist, liegt wegen der rekursiven und temporalisierten Verstrickungen und wegen der Selektivität der drei Komponenten ebenso auf der Hand wie die Tatsache, dass sie sich nicht so leicht erfassen lässt wie ihre als Handlung ausgewiesene Mitteilung. Die Handlung nimmt zwar eine prominente Stellung innerhalb der systemischen Selbstregulationsprozesse ein, vermag jedoch nicht die Einheit der kommunikativen Operativität selbst zu klären. Sagt man mit Luhmann, dass jede Kommunikation markieren muss, »wer was mitgeteilt hat« (ders. 1997a: 86), oder dass ein Sozialsystem notwendigerweise ein Selbstbeobachter ist, so hat man es mit einer Mehrheit von Markierungen und mit einer Mehrheit von Operationen zu tun. Man hat es deswegen mit einer Mehrheit von Operationen zu tun, weil die Beobachtung als eine distinkte Bezeichnung definiert wird (als die Unterscheidung zwischen der Bezeichnung und demjenigen, das aus der Bezeichnung ausgeschlossen ist) und weil jede Bezeichnung (die Bezeichnung des Wer und die Bezeichnung des Was) als jeweils eine Operation gilt. Besteht die konstitutive Operation (Kommunikation) also aus einer Mehrheit von Operationen (Bezeichnungen/Unterscheidungen)? Wie kann dies funktionieren? Wie verhalten sich die Operativität der Kommunikation und die Operativität der Beobachtungen zueinander? Muss nicht die Operativität der Kommunikation geklärt werden, um kenntlich machen zu können, welche distinkten Bezeichnungen sie prozessiert und was für sie überhaupt als Bezeichnung in Frage kommt? Wie kommunikativ ist also die Beobachtung und was bedeutet es schließlich für die Kommunikation, eine Bezeichnung vorzunehmen? Wenngleich Luhmann anmerkt, dass die Beobachtungen und Selbstbeobachtungen ein »strukturiertes System« (ders. 1990b: 79) voraussetzen, bleibt ungeklärt, inwieweit die verschiedenen Bezeichnungen einen autopoietisch reproduzierbaren, operativen Komplex bilden und inwieweit die Beobachtungen den Strukturreichtum der Kommunikation mitgestalten bzw. nachvollziehbar machen. Um für diese Problemlage zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen, wird man untersuchen müssen, wie eine distinkte Bezeichnung in die Strukturen der Systeme ›eingeschrieben‹ ist und welchen Anschlusswerten (Strukturwerten) sie entspricht. Die Irreduzibilität der konstitutiven Operation betrifft neben der Handlung folglich auch die Beobachtung bzw. die Selbstbeobachtung, deren Begriffe die systemtheoretische Debatte in der zurückliegenden Dekade dominiert haben. Obwohl sich soziale Systeme als beobachtende Systeme (re-)konstruieren und formalisieren lassen, bestehen sie nicht aus Beobachtungen und können nicht auf Beobachtungen zurückgeführt werden. Wenn man darauf beharrt – das ist das entschiedene Interesse dieser Studie –, dass alles kommunikativ Prozessierte seinen Wert nur 20

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DIE STRUKTUR DER KOMMUNIKATIVEN OPERATION

aus der Operativität der Kommunikation erhält, weil nur sie es verwirklicht und es sich nur in ihr verwirklichen kann, dann ergibt sich zwangsläufig eine Verschiebung des theoretischen Schwerpunkts.3 Das bedeutet, dass die weiteren Ausführungen nicht der Unterscheidung folgen werden, die unauflöslich mit dem Beobachtungsbegriff Luhmanns verbunden ist – der Unterscheidung zwischen der Operation und der Beobachtung.4 Auch diese Unterscheidung geht davon aus, dass sie selbst und dass eine Beobachtung nur als kommunikative Operation vollzogen werden kann, lässt aber ungeklärt, wie die in Anspruch genommene Operation strukturiert ist und wie sich auf Grund ihrer Reproduktivität das zugehörige System strukturiert. Wie will man aber die Beobachtungen eines Systems beobachten können, wenn man offen lässt, wie es auf der elementaren, Kommunikation an Kommunikation anschließenden, basal selbstreferenziellen, operativ-strukturellen Ebene verfährt? Es besteht Klärungsbedarf. Die Notwendigkeit, den Blick für die operativ-strukturelle Ebene zu schärfen, resultiert noch aus einem weiteren Sachverhalt, der bisweilen übergangen wird. Die Rekursivität der Beobachtungen – jede Beobachtung kann beobachtet werden, ohne dass sich ihre Form Bezeichnung/Unterscheidung ändert – ist nicht homomorph mit der Reproduktivität der Kommunikation. Die Rekursionen der Beobachtungen formalisieren einen perfekten und vollständigen Systemzusammenhang5 und können gerade deswegen die systemische Reproduktion und somit den sich wiederersetzenden und wiederzersetzenden Strukturreichtum der Kommunikation nur ungenügend erfassen. Der Beobachtungsbegriff drückt zwar aus, dass etwas bezeichnet und etwas anderes nicht bezeichnet wird, vermag aber weder etwas über die Beziehung des Ausgeschlossenen zur Bezeichnung noch etwas über die Konsequenzen dieses Ausschlusses für weitere Bezeichnungen auszusagen. Die Beobachtung verhält sich indifferent gegenüber der unmarkierten Seite. Die Kommunikation kann hingegen nicht-aktualisierte Möglichkeiten ihres Sinngeschehens im nächsten Moment aufgreifen, sie als realisierbare Optionen verwerfen oder gar neue Möglichkeiten entwerfen. Das heißt, sie verhält sich nicht indifferent gegenüber ihrer unmarkierten Seite. Die kommunikative Reproduktion ist zwar in jedem Fall rekursiv, nicht jede Form der Rekursivität zieht jedoch reproduktive, also produktive, also poietische Verhältnisse nach sich. Offensichtlich ist man dazu an-

3. Das Interesse daran ergibt sich aus dem Problem der Bildkommunikation. Wenn man danach fragt, wie die Kommunikation verfährt, wenn sie bildlich verfährt, wird man zunächst Spezifikationsmöglichkeiten eröffnen müssen, um überhaupt etwas über die pikturale Operativität sozialer Systeme aussagen zu können. 4. Zu dieser Unterscheidung vgl. insbesondere Luhmann 1990b: 75-117. 5. Vgl. Spencer Brown 1969: 1. 21

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

gehalten, die Kommunikation mitsamt ihrer reproduktiven Instanz des Sozialsystems und die Beobachtung mitsamt ihrer rekursiven Instanz des Beobachters vor einer Verwechslung zu schützen.6 Es steht außer Frage, dass soziale Systeme in einer Weise beobachtbar sind, dergemäß sie selbst beobachten, sich selbst beobachten und entsprechende Bezeichnungen vornehmen. Sie tun dies jedoch ausschließlich kommunikativ. Das heißt auch, was sich auch immer als Bezeichnung eignet, bewährt oder durchsetzt, hängt von den weitaus umfangreicheren Eigenleistungen der Systeme ab, von ihren elementaren, kommunikativen Operationen und von ihrer Vernetzung. Hier eignen und ereignen sich die Bezeichnungen und die (Selbst-)Beobachtungen und nur hier finden sie ihre Relevanz. Wenn für den operativ-strukturellen Bereich folglich nicht geklärt ist, was ihm als Bezeichnung gilt, dann ist für soziale Systeme nicht zureichend geklärt, was Beobachtung oder Selbstbeobachtung heißen kann. Wenn im Weiteren von Operationen sozialer Systeme die Rede ist, sind damit nur die Kommunikation und ihre rekursiv-reproduktivtemporalisiert systemischen Vollzüge gemeint. Es führt kein Weg daran vorbei, ihre Genese und ihre Formierung, so wie Luhmann sie vorgestellt hat, noch einmal nachzuzeichnen und ihre elementare oder basale Selbstreferenz dort aufzusuchen, wo von kommunikativ vollzogenen Beobachtungen (im Luhmannschen Sinne von Unterscheidung/Bezeichnung) noch nicht die Rede sein kann, da die Kommunikation noch im Vollzug ist. Die Argumentation verbleibt bei all dem auf systemtheoretischem Boden, da sie sich des Beobachtungsschemas von Element und Relation bedient, mit dem Luhmann die basale Selbstreferenz definiert, und es in der Folge als Operation und Struktur interpretiert. Neben der basalen gibt Luhmann zwei weitere Typen der Selbstreferenz an, mit denen ein System für sich selbst Ordnungsgewinne erzielt: die prozessuale Selbstreferenz, bei der das System mittels des Schemas vorher/nachher Kommunikationsabfolgen, das heißt »eine Mehrzahl von Elementen« in den Blick nimmt, und die Reflexion, »mit der das System sich selbst im Unterschied von seiner Umwelt bezeich-

6. Die Beobachtungstheorie gilt dieser Studie als die Methodologie der Systemtheorie, das heißt als die formale Lehre systemischer Verfahrensweisen, die nicht zuletzt für die Systemtheorie gilt. Die Methode der Kommunikation wird durch die Form der Beobachtung beschrieben. Ihre Kalkulation erklärt allerdings nicht, wie Systemstrukturen prozessiert oder wie systeminterne Differenzierungen vorgenommen werden, wie die Mitteilung von der Information unterschieden wird (da die Form dieser Unterscheidung lediglich als Schema fungiert), was im Sinne eines Systems als Umwelt erscheint u.a.m. Die methodologische Deutung der Beobachtungstheorie schließt ausdrücklich den Fall ein, dass sich die sozialen Systeme der Formalisierungen bedienen können und dass sie sich zumindest partiell so beobachten, wie es die Soziologie zu tun vorgibt. 22

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DIE STRUKTUR DER KOMMUNIKATIVEN OPERATION

net« (ders. 1984: 601). Den beiden Letztgenannten ist gemeinsam, dass sie sich nur im Zuge der basalen Selbstreferenz verwirklichen können, und allen Drei ist gemeinsam, dass sie ihr System nie in der Gesamtheit erfassen. Von der reflexiven Systemreferenz wird die Totalität verfehlt, weil sie als Identitätsselektion und als Selbstsimplifikation auftritt. Nichtsdestotrotz werden ihrem »identifizierenden Sinngehalt eine Art Vorrangstellung ein[ge]räumt und [die Systemabläufe] von dort her über Regeln, Vordringlichkeiten, Hierarchisierungen« (ders. 1981b: 22) umstrukturiert. Inwieweit sie sich tatsächlich durchsetzen und zu welchen Resultaten sie führen, verlangt eine basale Verwirklichung und bedarf einer je systemspezifischen Überprüfung. Basal gehen der Reflexion »notwendige Mehrdeutigkeiten, Unbestimmtheiten, Redundanzen, die als Drehscheibe der Kommunikation und zugleich als Platzhalter für Möglichkeiten dienen« (ebd.: 19), ebenso voraus wie sie mit ihr einhergehen. Dies zeugt von der endogenen Unruhe der Selbstreferenz und verweist darauf, dass die Kommunikation in jeder Hinsicht – auch in prozessualer und in reflexiver – eine Möglichkeiten entwerfende, aktualisierende und verwerfende Operation ist.7 Nach diesen Vorbemerkungen kann nun gefragt werden, wie sich die Kommunikation zusammensetzt. Neben dem Aspekt der Synthese (einer selektiven Mitteilung, einer selektiven Information und eines selektiven Verstehens) darf man einen zweiten, für die Konstitution der Operation ebenfalls notwendigen Aspekt nicht vergessen: die funktionale Alter/Ego-Dyade und ihre Situation der doppelten Kontingenz. Bei der Klärung des Kommunikationsbegriffs werden sie bisweilen unterschlagen. Sie sind jedoch unverzichtbar, da sie die Synthese erst als Operation begreifbar machen. Beide Aspekte sollen nun beleuchtet werden. Alter und Ego sind funktionale Einheiten, die den Nukleus sozialer Systeme bilden und in einer bestimmten Weise mit psychischen Systemen korrespondieren. Alter und Ego drücken aus, dass psychische Systeme ein Verhalten erleben, das reflexiv dem Erleben eines anderen psychischen Systems entspricht. Allerdings ist das fremde Erleben in keiner Weise zugänglich. Man kann das Erleben eines anderen nicht unmittelbar erleben. Nur über das gezeitigte und dem unterstellten Erleben entsprechende Verhalten wird ersichtlich, dass auf das fremde Erleben beidseitig abgestellt werden kann. Hinzu kommt, dass sowohl das Erleben als auch das Verhalten kontingent sind und als kontingent aufgefasst werden, sodass die Dyade auf beiden Seiten doppelte Kontingenz erfährt. »Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zu-

7. Von hier aus kann eine Verbindung zu der Erkenntnis geschlagen werden, dass der Aufbau von Systemstrukturen eine hinreichende (Mikro-)Diversität benötigt; vgl. Wilden 1987: 167 ff., Luhmann 1997c und Fuchs 2001b. 23

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standekommen, die bedingt ist durch die Komplexität der sie ermöglichenden Systeme, die aber nicht davon abhängt, daß diese Komplexität auch berechnet, auch kontrolliert werden kann. Wir nennen diese emergente Ordnung soziales System« (ders. 1984: 157). Zunächst figurieren Alter und Ego nur als Systeme in einer Umwelt, die erkennen und erkennen lassen, dass es in ihrer Umwelt Systeme gibt, die sich ebenfalls in und an ihrer Umwelt orientieren, in der die ersten Systeme wiederum vorkommen. Dies gilt deswegen, weil Verhalten immer nur erlebtes Verhalten ist. Indem ihnen klar wird, dass das eigene Erleben/Verhalten mit einem fremden Erleben/Verhalten korreliert, von dem unterstellt wird, dass diese Korrelation auch dort vorliegt – man muss am fremden Verhalten wahrnehmen, dass man wahrgenommen wird –, ist eine nötige Voraussetzung für die Genese eines sozialen Systems erfüllt. Sie reicht jedoch noch nicht aus. Erst wenn darüber hinaus unklar wird, wie die wechselseitigen Korrelationen korrelierbar gehalten werden können, sehen sie sich genötigt, eine ihnen gemeinsame Umwelt auszubilden, die nolens volens als ein außerhalb von ihnen liegendes System auftritt. Die Situation der doppelten Kontingenz »ist für jedes der beteiligten Systeme Moment des eigenen Umweltverhältnisses, zugleich aber Kristallisationskern für ein emergentes System/Umwelt-Verhältnis. Dies soziale System gründet sich mithin auf Instabilität« (ebd.: 167). Auch dies drücken Alter und Ego aus. Da Alter und Ego als Funktionseinheiten gelten, die das Erleben und das Verhalten organisieren, sind sie mit Bewusstseinszuständen enggeführt – und zwar so eng, dass man sie verwechseln könnte. Wenn Alter und Ego als Systeme mit gegenseitig intransparenter Komplexität beschrieben werden, fasst Luhmann sie nicht mehr als Funktionseinheiten auf, sondern eben als psychische Systeme. Dementsprechend schreibt er, dass die doppelte Kontingenz nicht auf die einzelnen psychischen Systeme reduzierbar ist (vgl. ebd.: 166). Ist sie darüber hinaus auch nicht auf die psychischen Schemata und Funktionen, das heißt auf den Modus Operandi des Bewusstseins rückführbar? Wenn Alter und Ego als erlebende, als sich verhaltende und als das Fremdverhalten erlebende Systeme behandelt werden, ist die daraus resultierende Komplexität immer noch ein Fall des Erlebens und des Verhalten, also des Bewusstseins. Wie es scheint, muss kritisch nachgefragt werden. Wie kommt der take off zu Stande, der die Reduktion auf die psychischen Aktivitäten von Alter und Ego und überhaupt auf Bewusstsein verhindert; der also davon sprechen lässt, dass es sich um ein drittes, um ein emergentes soziales System handelt? Reicht die gegenseitige Rücksichtnahme bereits aus, die Alter und Ego zur Kontingenzminderung und Komplexitätsreduktion veranlassen, um kenntlich zu machen, dass sie es nicht mehr nur mit zwei Systemen zu tun haben, sondern ein emergentes drittes System vorliegt, das sie mit ihrer internen (bewuss24

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ten) Verhaltens- und Erlebensdualität operativ nicht mehr durchdringen und an das sie letztendlich nur noch (sozial) strukturell gekoppelt sind? – Die Differenz zu diesem dritten System liegt in Alter und in Ego selbst verborgen, wodurch sie ihre Theoriefunktion, Sozialität zu begründen, erst erfüllen können. Die Differenz wird in dem Moment gewonnen, in dem das Ich zur Person mutiert, mit der es von nun an zu tun haben wird, und in dem das Verhalten zur Handlung transformiert wird, als das es von nun an sekündlich unterstellt werden kann (vgl. ebd.: 169). Man zeitigt vor den Augen der anderen nicht nur ein ungeschicktes Verhalten, wenn man ein Glas umwirft, man muss auch zu jeder Zeit damit rechnen, dass dies als provokante Handlung ausgelegt wird und man fortan als Provokateur gilt, was zu zunächst unabsehbaren, später jedoch kalkulierbaren Strukturierungs- und Anschlussmöglichkeiten führt. Alter und Ego drücken also auch eine Alternation aus. Alter und Ego sind auf die Option des Strukturgewinns hin getrimmt. Daher dürfen sie nur in einem sehr begrenzten Sinne als psychische Systeme begriffen werden. Ihre Dyade kennzeichnet die asymmetrische und irreversible Transformation der Alternation, der das Bewusstsein unterzogen wird. Eine Transformation, die Luhmann nicht deutlich genug benennt und aus der Konsequenzen zu ziehen sind. Mit Luhmann haben sich Alter und Ego immer schon in geeigneter Weise aufeinander eingelassen, indem sie als reziprokes Alter Ego des jeweils anderen gelten. Ihnen wird gleichzeitig unterstellt, dass sie nicht anders wollen. Ihre Dyade stellt folglich zwei Konditionierungen heraus. Erstens gewährleistet die für alle Seiten unterstellbare doppelte Kontingenz den nötigen Möglichkeitsspielraum, in dem Selektionskriterien zirkulär aneinander gewonnen werden und der den Anlass zur emergenten Strukturbildung gibt: eine »Systembildungsmöglichkeit im Wartestand« (ebd.: 172).8 Damit sie tatsächlich zu einem selbstorganisierenden Bereich wird – darin liegt die zweite Kondition –, müssen Alter und Ego in einer spezifischen Weise von den bewusstseinsmäßigen Funktionen Abstand nehmen. Mit ihnen geschieht etwas, das das Bewusstsein nicht vermag, denn sie verfahren so, als würden sie ihr Fremderleben replizieren. Es ist indes unmöglich zu erleben, wie man erlebt wird; im Grunde ist es unmöglich zu erleben, dass man erlebt wird. Erleben ist psychisch nicht auf anderes Erleben abstellbar. Man kann einem erlebten Verhalten nur unterstellen, dass mit ihm ein Erleben korrespondiert, das mit der gleichen Unterstellung operiert. Es kann folglich nicht mehr um die aktuelle, operative Gültigkeit und Verwertbarkeit des Erlebens und Verhaltens gehen, so wie sie psychisch realisiert werden. Es dreht sich nur noch um die Koordination dessen, dass man sich verhalten könnte, weil

8. Zum Aspekt der Konditionierung vgl. auch Luhmann 1984: 185 f. 25

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man erlebt würde, und dass man erleben könnte, weil andere sich verhalten würden. Man hat es folglich mit der Replikation von Verhalt- und Erlebbarkeiten zu tun. Das Verhalten und das Erleben stehen in der Potenz, in der sie diejenige Komplexität entfalten, von der Luhmann sagt, sie sei auf keines der psychischen Systeme rückführbar. Man muss darüber hinaus betonen, dass die Potenzierung nicht einmal mehr auf bewusste Tätigkeiten rückführbar ist. Die psychischen Systeme orientieren ihre Aufmerksamkeit vielmehr an einer sozialen Koordination des Schemas eines auf Erleben abstellenden Verhaltens, die sich ihrer enthoben hat und die zu erleben ihrerseits nicht in der Lage ist, da sie kommuniziert. Alter und Ego sind diejenigen funktionalen Einheiten, die das Bewusstsein sozial verkoppeln und die nicht mit psychischen Systemen verwechselt werden dürfen. Aus ihnen wird vielmehr ein Potenzial der Unterstellbarkeit ausdifferenziert, das die irreversible Transformation des psychischen Verhaltens in ein (auch selbst-)unterstellbares Handeln und das die irreversible Transformation des Ichs in eine Person gestattet. Die Potenzierung bewirkt, dass man sich an einem selbstreferenziellen Komplex orientiert, der das Verhalten immer unter Korrelationsdruck eines für andere erlebbar machenden Verhaltens setzt. Jedes Verhalten geht auf Distanz zu sich selbst, um sich darin wieder aufzufinden. Man spielt seine Rolle. In nahkommunikativen Interaktionen macht sich der Distanzierungseffekt der Potenzierung wegen der schnellen Interventionsmöglichkeiten für psychische Systeme nur wenig bemerkbar. So kann man bspw. nachfragen, ob der Gesprächspartner noch zuhört oder nicht, um sicher zu stellen, dass sein Erleben mit dem Erleben des eigenen Verhaltens korrespondiert. Möglicherweise neigt man daher zu der Annahme, die Situation der doppelten Kontingenz sei wegen der überbordenden Selektionsmöglichkeiten zwar nicht ausschöpfbar, für die psychischen Systeme jedoch erschließbar; und die Situation erfülle die Anwesenden mit dem Wissen um ihre vermeintliche Reziprozität. In fernkommunikativen, bspw. rein schriftlichen Verhältnissen hat man indes keinerlei Zugang zum aktuellen Verhalten eines anderen Systems, auf das man sich in der Erwartung einstellt, es stelle sein Erleben unmittelbar auf das eigene Verhalten ein. Sicherlich gibt es auch hier vielfältige Möglichkeiten, mit dem Schreiben ein bestimmtes Erleben (Lesen) zu beabsichtigen, das das Geschriebene in genau dieser Weise erkennt und zurechnet. Dies setzt jedoch mangels unmittelbarer Überprüfbarkeit voraus, dass man sich an der apsychischen Koordination psychischer Schemata orientiert und eben nicht mehr am erlebbar machenden und erlebten Verhalten anderer. Da ein Schriftstück in vielerlei Hinsicht aufgefasst werden kann – von ihm auf ein anderes selbstreferenziell verfahrendes, psychisches System zu schließen, ist eine Möglichkeit unter vielen –, wird das Schema von Erleben und Verhalten 26

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selbst noch kontingent gesetzt. Man kann zu jeder Zeit darauf abstellen und zum Beispiel zurückschreiben, um so kenntlich zu machen, dass man die Situation der doppelten Kontingenz in Bewegung bringen möchte. Auch eine Interaktion kann weiterlaufen, wenn manche Teilnehmer ihr nicht folgen und wenn sie sich von Zeit zu Zeit wieder ins Geschehen bringen, damit der Glauben daran, dass die Kommunikation noch funktioniert, nicht vollends erschüttert wird. Dies wäre nicht möglich, wenn die Situation der doppelten Kontingenz von dem tatsächlichen Erleben der psychischen Systeme abhinge. Während das Bewusstsein notwendigerweise auf die Operativität des Schemas Erleben/Verhalten angewiesen ist – man erlebt, verhält sich und erlebt, dass man sich verhält –, wird es mit Bezug auf seine Potenzierung kontingent gesetzt. Dies zeigt einerseits, dass psychische Systeme so nicht verfahren können. Andererseits veranlasst es sie zu besonderen Maßnahmen, um das Funktionieren der doppelten Kontingenz für andere unter Beweis zu stellen und für sich satisfaktionsfähig zu halten. Aus dem von den psychischen Systemen abgehobenen Potenzial speist sich die Kommunikation. Sie aktualisiert es und kommt auf diesem Wege in Gang. Wie hängen nun die Alter/Ego-Dyade mit den drei Aspekten der Kommunikation zusammen? Zunächst zur Mitteilung: Alter und Ego strukturieren sich derart, dass ihre auf fremdes Erleben abstellende Verhaltensweisen auf sie selbst und damit auf die ihnen entsprechenden, psychischen Systeme zurückgerechnet werden und insofern als Handlung gelten. Dabei sind alle mutmaßlichen Systeme unterstelltermaßen an demselben Potenzial interessiert – ob sie wollen oder nicht, ob sie so erleben oder nicht, ob sie eine Absicht verfolgen oder nicht, ob es sie hinter einer Autorenadresse gibt oder nicht. Auf diesem Wege erfahren die (vermuteten) psychischen Systeme eine Ansprache und werden dazu angehalten, insofern sie das Interesse und die Motivation aufbringen und aufbringen können, sich so zu verhalten, dass sie weiterhin ansprechbar bleiben, oder das Sprechen bzw. ein ähnlich adäquates Verhalten aufzunehmen. Ein Erlebens-/Verhaltens-Spektrum zu wählen und sich für einen seiner möglichen Momente zu entscheiden, markiert die Mitteilung der Kommunikation, die sich an ein gekoppeltes psychisches System zurückbindet und insofern als Handlung erscheint – eine Art Selbsterhaltungsvorrichtung sozialer Systeme, die das Potenzial der doppelten Kontingenz konfirmiert und turbuliert. Es muss betont werden, dass nicht allein das psychisch erlebte, eigene oder fremde Verhalten kontingent ist, sondern vor allem der Zugriff auf ihre Koordination und der erst mit diesem Zugriff realisierte, soziale Möglichkeitsraum. Da er zugleich selektiv eröffnet und selektiv genutzt wird, ist die Mitteilung von einer doppelten Selektivität gekennzeichnet, die auch Luhmann beschreibt: »Sie wählt unter den zur Wahl stehenden Möglichkeiten diese (und nicht andere); und sie wählt einen Möglichkeitsbereich, ein ›Woraus‹ der Selektion, in dem sich erst eine 27

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bestimmbare Zahl von Alternativen mit deutlichen Tendenzen für bestimmte Optionen abzeichnen« (ebd.: 188). Insoweit die Mitteilung sowohl einen bestimmten Bereich von Zurechenbarkeiten markiert als auch eine bestimmte Zurechnung verlangt, ist sie bindende und zurückgebundene Kontingenz. Vielleicht mag man gegen die vorgeschlagene Deutung einwenden, dass sie von den Ausführungen Luhmanns abweicht: »Die Mitteilung ist nichts weiter als ein Selektionsvorschlag, eine Anregung [des Mitteilenden]. Erst dadurch, daß diese Anregung aufgegriffen, daß die Erregung prozessiert wird, kommt Kommunikation zustande« (ebd.: 194). In diesem Sinne wird die Mitteilung als dasjenige Verhalten begriffen, das jemand zeitigt und das jemand anderes als ein Verhalten mit einer kommunikativen Absicht versteht. Sowohl die Auswahl des Verhaltens als auch sein Verstehen sind kontingent, was die Selektivität der Mitteilung (in Luhmanns Sinne) erklärt. Eine solche Begriffsfassung setzt sich jedoch der Gefahr aus, die Mitteilung zwar nicht auf einzelne psychische Systeme, aber doch auf Bewusstseinskapazitäten und -koordinationen zu reduzieren. Denn alles was hier kommunikativ geschieht, wird mit Bewusstseinsprozessen, mit psychisch erlebtem Verhalten erklärt. Dem bleiben die Transformationen entgegenzuhalten, die die psychischen Systeme unter sozialen Bedingungen nolens volens erfahren: Das erlebbare Verhalten wird zur Handlung, das Ich wird zur Person und die Artikulation wird zur Mitteilung. Sie wird nicht aufgegriffen und erst in der Folge kommunikativ relevant, sondern erst durch die Transformation einer Artikulation oder eines Ausdrucksverhaltens zur (anregenden) Mitteilung. Ein psychisches System artikuliert, es teilt nicht mit. Die Information ist der zweite selektive Aspekt der Kommunikation. Sie kann in zwei Richtungen ausgedeutet werden. Erstens wird nicht nur mitgeteilt, es wird immer auch etwas mitgeteilt. In der Kommunikation geht es immer um Sachverhalte und um Themen, wie rudimentär sie auch vorgebracht werden oder wie ausgeprägt sie auch sein mögen. Irgendeine Bezeichnung, die man aufgreifen und bestätigen oder negieren kann, wird immer vorgenommen, so die geläufige systemtheoretische Auffassung. Dies schließt auch ein, dass die Mitteilung bezeichenbar ist und auf diesem Wege selbst semantisch informativ wird. Insoweit hängt die Information immer von Bezeichnungen ab. Neben dem semantisierten Begriff der Information kann man mit ihr zweitens die erreichbaren Systemzustände und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens begreifen. Im Rahmen seines beobachtungstheoretischen Ansatzes führt Luhmann beide Deutungsrichtungen zusammen: »Informationen sind stets systemintern konstituierte Zeitunterschiede, nämlich Unterschiede in Systemzuständen, die aus einem Zusammenspiel von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen, aber stets systemintern prozessierten Bezeichnungen resultieren« (ders. 1997a: 28

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194 f.). Nicht-bezeichnende Information ist scheinbar unzulässig – eine Fehlannahme, wie später noch zu zeigen sein wird. Wegen der stets informativen Bezeichnung bzw. wegen der stets bezeichnenden Information setzt Luhmann auf eine hinreichende Codierung, die sowohl für Ego als auch für Alter gilt.9 Dies stellt allerdings kein befriedigendes Theorieangebot dar. Einesteils benötigt man Codierungen für die Übertragung von Information – Encodierung auf der einen und Decodierung auf der anderen Seite –, anderenteils lehnt Luhmann das Modell bzw. die Metapher der Übertragung aus gutem Grund ab, da nichts übertragen wird, weder Information noch irgendetwas anderes. Das Problem liegt auf der Hand. Solange man die doppelt kontingente Situation von Alter und Ego durch zwei separierte Systeme zu erklären versucht, die einerseits eine Information mitteilen und dies andererseits verstehen, wird man auf die Übertragung und substituierende Funktionen wie bspw. die Codierung nicht verzichten können. Denn man muss sicher stellen, dass sich Alter und Ego ihrer reziproken Kommunikationstüchtigkeit bewusst sind, damit das Theorem noch funktioniert. Das heißt, sie müssen sich in ihrer Gegenseitigkeit verstanden haben, bevor verstanden worden ist. Damit ist auch der dritte Aspekt der Kommunikation angesprochen: das Verstehen. Es unterscheidet nicht nur die Mitteilung von der Information, sondern kann seinerseits als eine mitgeteilte Information verstanden werden, wodurch es das Und-so-Weiter der Kommunikation gewährt. So wird deutlich, wie die basale Selbstreferenz mittels der eigenen Elemente immer nur auf weitere eigene Elemente rekursiv Bezug nimmt. Dafür genügt es, irgendetwas zu verstehen; gleichgültig, ob es richtig oder falsch ist.10 Selektiv ist das Verstehen, weil es auf viele verschiedene Weisen zwischen der Mitteilung und ihrer Information unterscheiden kann. Da jeder der drei Aspekte selektiv ist, muss man zu jeder Zeit mit einer anderen Mitteilung und mit einer anderen Information rechnen. Sie verändern sich und verändern damit auch das System. Obwohl die Kommunikation der Form nach für eine anschließende Kommunikation gleich bleibt – stets wird eine informative Mitteilung unterschieden –, sind sie endogen unruhig. Dies beruht auf einer zweiten Rekursion des Verstehens, die die Binnenstruktur der einzelnen, rekursiv aneinander anschließenden Elemente bzw. Operationen bestimmt. Die endogene Unruhe resultiert daraus, dass sich Ego und Alter immer wieder alternierend aufeinander abstimmen müssen und dass das daraus gewonnene Potenzial immer aufs Neue initialisiert

9. Zur Codierung vgl. Luhmann 1984: 197. 10. Zur soziologischen Abgrenzungsbewegung des systemtheoretischen Verstehensbegriffs von der Hermeneutik in der Tradition der Hermeneutik vgl. Luhmann 1986a, Kneer u. Nassehi 1991, Hahn 1992, Bohn 1992, Sutter 1997. 29

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werden muss.11 Das Verstehen ist der Abstimmungsvorgang der doppelseitigen Alternation bzw. derjenige Moment, in dem ein Alter Ego des anderen Alter Ego ist und in dem sie konvergieren. So kommt die Struktur, an die die beteiligten psychischen Systeme gekoppelt sind, immer aufs Neue rekursiv zu Stande und kann dann bei hinreichender Perturbation reproduziert werden. Genau in diesem Moment wird die Transformation einer Artikulation oder eines Ausdrucksverhaltens in eine Handlung fällig und erhält rückwirkend einen spezifischen Informationswert. Und genau dieser Moment ist das explizit gemachte Ereignis der Kommunikation. Das Verstehen ist demnach eine doppelt geführte Rekursion. Der Abstimmungsvorgang entspricht der Erklärung Luhmanns, dass Alter etwas mitteilt, das von Ego verstanden wird, woran Alter wiederum anschließen kann. Da Alter dies wissen kann, wählt er sinnvollerweise ein solches Verhalten, das das Verstehen vorstrukturiert und erleichtert, ohne allerdings kontrollieren zu können, wie und was verstanden wird. Die Stärke dieser Erklärung liegt darin, die Einheit verschiedener Selektionshorizonte benennen zu können. Ihre Schwäche liegt indes darin, dass diese Einheit aus den verschiedenen Operationen und Selektionen Alters und Egos besteht und dass sie es deswegen versäumt, die Einheit der kommunikativen Operation zu beschreiben. Es genügt nicht, ihre Einheit aus einem gegebenen Sozialsystem abzuleiten und sie als die verstehende Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information zu bestimmen, da dabei unklar bleibt, wie die selbstreferenzielle Einheit des Systems sich aus der selbstreferenziellen Einheit seiner Operationen aufbaut.12 Sie können nur aneinander anschließen, wenn sie die dafür nötige, rekursive Infrastruktur bereitstellen. Genau dies zu untersuchen vergisst man, wenn sich Alter und Ego als selbstreferenzielle Systeme mit der ihnen zugehörigen Umwelt immer schon gefunden haben und sich damit durchgängig auf ihr Verstehen verstanden haben. Luhmann schreibt: »Erst bei sozialer Reflexivität, erst wenn es um das Erleben des Erlebens und Handelns anderer Systeme geht, kommt die besondere Form der Sinnverarbeitung in Betracht, die man ›Verstehen‹ nennt. Sinnerfassen selbst ist noch kein Verstehen in diesem anspruchsvollen Sinne. Vielmehr kommt Verstehen zum Zuge, wenn man Sinnerleben bzw. sinnhaftes Handeln auf andere Systeme mit einer eigenen System/Umwelt-Differenz projiziert. Erst mit Hilfe der System/Umwelt-Differenz transfomiert man Erleben in Verstehen, und

11. Hier kommen die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien ins Spiel, mit denen das Abstimmungsverhalten von Alter und Ego einer Regulation unterzogen wird; vgl. hierzu Luhmann 1997a: 336. 12. Gewiss impliziert dies keine Rückkehr zu einem substanzialisierten Elementbegriff, da die Bestimmung der operativen Selbigkeit allein von einem hinreichend konvergenzfähigen Potenzial abhängt. 30

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auch dies nur dann, wenn man mitberücksichtigt, daß die anderen Systeme sich selbst und ihre Umwelt ebenfalls sinnhaft unterscheiden.« (Ders. 1984: 110) Noch einmal: Das Erleben eines anderen Erlebens ist unmöglich; Verhalten wird im kommunikativen Rahmen zur Handlung transformiert; und die Projektion auf andere erlebende Systeme ist nicht immer gerechtfertigt. Stattdessen projiziert man auf ein doppelt kontingentes Potenzial, von dem man annimmt, andere würden dies ebenfalls tun, und das so strukturiert ist, dass alle möglichen Beteiligten daraufhin ihre Projektionen vornehmen können.13 Gewiss hinterlässt dies weit reichende Spuren in den psychischen Systemen und gewiss können sie auch für sich verstehen, was sich in ihrer Umwelt abspielt. Die Transformation des psychischen Erlebens in ein soziales Verstehen wird jedoch nicht psychisch vorgenommen, sondern in genau dem Bereich, in dem auch ein Verhalten zur zurechenbaren Mitteilung und ein Ich zur Person transformiert werden. So entfaltet sich allmählich eine operable Struktur, in der die Abstimmungen der Alter/Ego-Dyade und die triadische Kommunikation auf komplizierte Weise und untrennbar ineinander gefaltet sind. Die doppelt geführte Rekursion des Verstehens, die im Inneren die Operation schließt und die im Äußeren die Operationen reproduktiv aneinander anschließt, repliziert so den Sinn, den Psychisches und Soziales aneinander gewinnen und von dem sie abhängen. Nicht allein etwas verstanden zu haben, erzeugt demnach die Bedeutung einer Sache und unterliegt ihrem Sinn. Die gesamte Trias der Kommunikation und sogar die Zurechnungsinstanzen Alter und Ego werden sinnhaft konstituiert. Man versteht nicht allein den Sinn, wenn man versteht. Zu verstehen macht erst den Sinn der Systeme, in dem sie ihre Konstitutionsbedingungen wiederfinden.

13. Trotz der Intervention in den systemtheoretischen Theoriekorpus bleibt die allgemeine Form des Sinnbegriffs, den Luhmann als die Unterscheidung von Potenzialität und Aktualität bestimmt, erhalten; zum Sinnbegriff vgl. insbesondere ders. 1971b, 1984: 92-147, 1997a: 44-59. In einem wichtigen Punkt soll Luhmann jedoch widersprochen werden. Während er behauptet: »auch der aktualisierte Sinn ist und bleibt möglich und der mögliche Sinn aktualisierbar« (1997a: 50) und ihm damit eine zeitliche Reversibilität unterstellt, muss man Luhmann entgegenhalten, dass Aktualisierungen immer auch zeitsensitiv sind – was ich jetzt sagen kann, kann ich später nicht mehr sagen –, dass sich manche Möglichkeiten nur im Horizont sehr bestimmter Aktualisierungen ergeben und dementsprechend in keinem anderen, späteren oder früheren Moment aktualisierbar sind und dass sie Möglichkeiten vernichten und neue Möglichkeiten aufscheinen lassen. Kurz, man kann das Potenzial nicht auf gegebene Möglichkeiten und seine Aktualisierung nicht auf eine mehr oder minder geordnete Selektion reduzieren. Vielmehr werden die Möglichkeiten und ihre momentweisen Verwirklichungen aktuell aneinander gewonnen, wodurch das Potenzial der gegenseitigen Unterstellbarkeit unabsehbar intensiviert und variiert wird. 31

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Einige Verwicklungen der Zwei und der Drei Luhmann ist nicht der einzige Autor, der die verwickelten Verhältnisse des Zusammenhangs von Alter und Ego einerseits und seiner dreistelligen, funktionalen Aktualisierungsform andererseits vorgeführt hat. In der Untersuchung zur Logik des Sinns von Gilles Deleuze findet man einen ähnlich gelagerten Fall vor. Die von Deleuze nachgezeichnete Genese des Sinns macht kenntlich, wie der Übergang vom Ich zur Person einerseits und eine dreistellige Form – bei ihm anhand der logischen Funktionen des Satzes exemplifiziert – zusammenhängen. Obwohl die jeweilige Motivation und die soziologischen Konsequenzen Luhmanns bzw. philosophischen Konsequenzen bei Deleuze weit auseinander liegen und obwohl auf die Ausführungen von Deleuze hier nur partiell eingegangen werden kann, soll mit Hilfe einer parallelen Lektüre die rekursive Verstrickung in der Luhmannschen Konzeption noch einmal verdeutlicht werden, um daraus die fälligen Schlüsse für die Binnenstruktur der kommunikativen Operation zu ziehen. Gemäß Deleuze bestimmt zunächst jedes Ego, jede Monade, jedes System eine Welt und bestimmt sich in seiner Umwelt. Fragt man in einem zweiten Schritt danach, was diesen Individuen gemeinsam ist, nach ihrer gemeinsamen Welt, entsprechen den Individuen nicht mehr ihre jeweiligen Welten, sondern ihre Umwelten in einer allen gemeinsamen Welt. Hier ist nicht mehr allein von Individuen die Rede, sondern von Klassen und Eigenschaften, die Personen definieren. Deleuze unterscheidet auf diesem Wege zwei genetische Elemente des Sinns: Erstens die Individuen, denen eine Welt entspricht, und zweitens in einer gemeinsamen Welt die Personen, die jeweils eine Klasse von Eigenschaften bilden, die ihrerseits als »eine durch die ihr zukommenden Welten, Möglichkeiten und Individuen konstituierte Klasse« (Deleuze 1993a: 150) bestimmt wird. Luhmann schreibt dementsprechend über die wechselseitigen Beobachtungen der füreinander intransparenten Systeme: »Jede Seite kann unterscheiden zwischen ihrer Umwelt bzw. der Welt schlechthin und Systemen-mit-Umwelt in ihrer Umwelt« (1984: 161). Man hat es hier mit individuellen psychischen bzw. mit bereits konstituierten sozialen Systemen zu tun, die sich in ihrer Umwelt und an ihrer Umwelt sinnhaft orientieren. Jedem individuierten System entspricht eine eigene Umwelt, von der es irritiert wird und auf die es verweisen kann. Außerdem hat man es mit den personalen Zurechnungen auf diese individuellen und selbstreferenziellen Systeme zu tun: »Psychische Systeme, die von anderen psychischen oder von sozialen Systemen beobachtet werden, wollen wir Personen nennen« (Luhmann 1984: 155).14

14. Ist die Anmerkung nötig, dass die Person als Element der von Deleuze so 32

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Hieraus resultiert eine durchweg paradoxe und problematische Situation: Wenn jedes System über die Differenz zu einer – und das heißt zu seiner – Umwelt definiert wird und wenn jedem System die Bestimmung der Eigenzustände selbst überlassen bleibt, dann muss man notwendigerweise von ihren Divergenzen ausgehen. Kein anderes System kann die inneren Vorgänge einsehen – und es kann ebenso wenig einsehen, was einem anderen System als Umwelt erscheint, worin also die Fremdumwelt besteht. Zur Umwelt des anderen gehört sodann auch das eigene Verhalten, dessen Fremderleben vom eigenen Erleben unterschieden werden und das auf diesem Wege ebenfalls systematisch unzugänglich bleiben muss. Alle Systeme ›umwelten‹ aneinander vorbei. Nichtsdestotrotz besteht die Aufgabe für alle Individuen darin, jedes psychische System individuell und allgemeingültig als eine Person gelten zu lassen – für alle in allen Umwelten in einer Welt. Mit Deleuze lässt sich hier »das Prinzip eines ›Gemeinsinns‹ als Identifikationsfunktion« (1993a: 151) feststellen, der die Konvergenzfähigkeit der Individuen (zum Beispiel Alter und Ego) obliegt.15 Woher weiß man aber, was einem Individuum als Umwelt erscheint und wie es seine Umwelt erlebt? Man unterliegt dem Paradox, sich auf eine allen Personen gemeinsame Welt mit den ihnen inhärenten, spezifisch irritierenden, individuellen Umwelten zu beziehen. Dementsprechend unterliegen die sozialen Systeme dem Paradox, in einer Welt viele verschiedene, divergierende Umwelten zu bilden, Beschreibungen der Welt in der Welt anzufertigen und Subsysteme einer allen gemeinsamen Welt(-gesellschaft) zu sein. Darin besteht Luhmanns transzendentale Abschlussformel: Die eine (dezentrierte) Welt hebt »die Differenzen aller Einzelsystemperspektiven auf, indem für jedes System die Welt die Einheit der eigenen Differenz von System und Umwelt ist« (1984: 106).

genannten »passiven Genese« nicht mit der soziologischen Person verwechselt werden darf? Die hier festgestellte Entsprechung bezieht sich ausschließlich auf ihre Funktionalität im Kontext sinnhafter Prozesse. 15. Die Identifikationsfunktion darf nicht mit der Funktion der Selbstbeschreibungen oder des Identitätsgebrauchs innerhalb der Systeme verwechselt werden; zur zweiten Funktion vgl. Luhmann 1979a. Die immer nur selektiv möglichen Selbstbeschreibungen dienen bspw. der systeminternen Rationalität, während die Identifikationsfunktion das Abgestelltsein von Alter auf Ego innerhalb der Systemtheorie gewährleistet. Auf gesellschaftlichem Niveau fungiert die Form der primären Differenzierung (seit einigen Jahrhunderten die funktionale Differenzierung von Wirtschaft, Recht, Politik, Religion, Kunst, Wissenschaft etc.) als Gewährleistungsträger des Abgestelltseins im Sinne eines Gemeinsinns: »Funktionale Differenzierung besagt, daß der Gesichtspunkt der Einheit, unter dem eine Differenz von System und Umwelt ausdifferenziert ist, die Funktion ist, die das ausdifferenzierte System (also nicht: dessen Umwelt) für das Gesamtsystem erfüllt« (ders. 1997a: 745 f.). 33

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Luhmann folgt trotz aller Differenzen und Divergenzen der Systeme einer absoluten Konvergenz. Sie beruht in der Form von System und Umwelt, in der jedes sinnhafte System die Form aller anderen sinnhaften Systeme reflektiert. Daher konvergieren alle Systeme mitsamt ihrer jeweiligen Umwelten auf eine Welt, auf eine universelle Gesellschaft oder – wie Deleuze es nennt – auf ein »universelles Ego«, das nur paradox zu denken ist und das sich einem »dem Sinn stets kopräsenten Unsinn« (1993a: 150 f.) verdankt. Die Gesellschaft gleicht der Menge, die sich selbst als Element enthält, da sie einesteils das alle Kommunikation umfassende System ist und anderenteils in jedem einzelnen Subsystem und in jeder einzelnen Operation befindet, insoweit jede Kommunikation gesellschaftlich ist. Nicht diese Paradoxie bereitet der Systemtheorie Probleme. Sie hat sie mit dem Konzept der Autologie sogar überboten.16 Das Problem besteht vielmehr darin, dass man den »kopräsenten Unsinn« aus dem Blick verliert und verbannt, wenn man sich auf erfolgreiche Systempassungen und reziproke Alternationen beschränkt und damit allein die reine Funktionalität eines identifizierbaren Sinns präferiert, ohne kenntlich zu machen, wie sie einsetzt, wie ihre Grenze verläuft und wo sich ihre »alle Unterscheidungen transzendierende Welteinheit« (Luhmann 1997a: 1110) in der Divergenz verliert. Wie bereits ausgeführt, verwirklicht sich der Sinn kommunikativ über die Information, die Mitteilung und das Verstehen. Hier liegt eine Parallele zur Satzordnung vor, in der sich der Sinn über a) die Bezeichnungs- oder Indikationsbeziehung zu einem »Dingzustand«, b) über die Manifestationsbeziehung zu einem »ausdrückenden Subjekt« und c) über die Bedeutung oder Signifikation ausdrückt bzw. verwirklicht. Sie stellt sich in einem »indirekten Verfahren ein, das heißt in ihrer Beziehung zu anderen Sätzen, aus denen sie gefolgert wird oder deren Schlußfolgerung sie umgekehrt ermöglicht« (Deleuze 1993a: 29 ff.). Es ist nicht schwer, hier eine Parallele zur kommunikativen Rekursion zu entdecken, die jede verstehende Unterscheidung zwischen der Mitteilung und ihrer Information einem weiteren Verstehen aussetzt. Die Parallele bedeutet nicht, die Bezeichnung mit der Information, die Mitteilung mit der Manifestation und das Verstehen mit der Bedeutung zu identifizieren. Gleichwohl kann von einer Bedeutung nur die Rede sein, wenn es ein Verstehen gibt, übernimmt die Manifestation des Satzes die Funktion der Mitteilung eines beobachteten Systems, und besitzt eine Bezeichnung einen informativen Wert. Die Rekursivität der aneinander anschließenden Kommunikationen findet im Binnenverhältnis ihrer drei Komponenten ihre logische Fortsetzung. Erstens aktualisiert sich die Information mittels der Mitteilung, hängt also von ihr ab: »Die Mitteilung muß die Information dupli-

16. Zur Verfahrensweise der Systemtheorie vgl. auch Baecker 2000. 34

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zieren, sie nämlich einerseits draußen lassen und sie andererseits zur Mitteilung verwenden und ihr eine dafür geeignete Zweitform geben« (Luhmann 1984: 197).17 Zweitens hängt die Mitteilung vom Verstehen ab, auf das hin sie ihre Information mitteilt. Sie macht sich verständlich, um verstanden werden zu können. Drittens bringt das Verstehen der Mitteilung und der Information und ihrer Unterscheidung erst die Kommunikation zu Stande. Viertens hängt das Verstehen von der Information ab, da sie den aktuellen Systemzustand definiert, an den das Verstehen anschließt. Fünftens zurück zu erstens: Im Verstehen aktualisiert sich eine Information mittels einer Mitteilung … und immer so fort. Die Zirkularität beschränkt sich demzufolge nicht allein auf die Äußerlichkeit, mit der eine Kommunikation eine andere erst als mitgeteilte Information ausweist bzw. mit der sich ein Satz von einem anderen abgrenzt, indem er ihm seine Bedeutung verleiht. Ebenso wie sich die drei Beziehungen des Satzes gegenseitig voraussetzen18, setzen sich auch die drei Selektionen der Kommunikation gegenseitig voraus. Mit dieser inhärenten Zirkularität ist es noch nicht getan. In der gegenseitigen Abhängigkeit der drei Selektionen zeigen sich auch die Alter/Ego-Dyade bzw. die beiden, ihre Transformation anzeigenden genetischen Elemente des Sinns (Person und Individuum). Geht man zunächst von der Luhmannsche Konzeption aus, so gibt es keine Mitteilung und kein Verstehen ohne die individuierten Alter und Ego und keine aktualisierte Information, wenn im systemischen Zusammenhang keine Codierung vorkommt: »[…] codierte Ereignisse wirken im Kommunikationsprozeß als Information, nichtcodierte als Störung« (ebd.). Das heißt, das Zustandekommen der systemischen Schließung hängt nicht nur davon ab, dass das Verstehen die Information von der Mitteilung unterscheiden kann, sie hängt zudem davon ab, dass die Information auf beiden Seiten gleichsinnig gehandhabt werden kann – was auch immer Gleichsinnigkeit für die Beteiligten bedeuten mag. Alter und Ego fungieren demnach als die gegenseitige Unterstellung von gleichsinnigen Distinktions- und Diskriminierungskompetenzen. Mit diesen Kompetenzen bzw. mit den erwarteten, projizierten, antizipierten Eigenschaften werden Alter und Ego zur Person, zu paradox konstituierten Elementen oder – systemtheoretisch gesprochen – zu Schemata der Zurechnung transformiert. Als Individuen sind sie zunächst nur von ihrer jeweiligen Umwelt umgeben. Wegen einer mitgeteilten Information bemerken sie, dass sie ebenfalls in der Umwelt des anderen Individuums vorkommen, in der sie sich von ihm unterscheiden. Auf diesem Wege führen sie die

17. Zu den mit der Duplikation verbundenen Schwierigkeiten vgl. Stäheli 2000: 104 und 162 ff. 18. Zu den Abhängigkeiten im Satz vgl. Deleuze 1993a: 32 ff. 35

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Unterscheidung von ihrer eigenen Umwelt in der Umwelt des anderen und damit in die gleichzeitig konstituierte, gemeinsam sinnhafte Welt ein, die garantiert, dass alle Vorkommnisse der verschiedenen Umwelten prinzipiell für alle Systeme zugänglich sind (vgl. ders. 1986a: 81). Man kann darüber informiert werden. Insofern Luhmann davon ausgeht, dass sich die gegenseitig aufeinander abstellenden Systeme grundsätzlich nicht verfehlen können – die doppelte Kontingenz ihres gegenseitigen Erlebens und Verhaltens verrät ja bereits im Wortlaut, dass die Unmöglichkeit ausgeschlossen ist –, definiert er das Verstehen des anderen als Konvergenzpunkt und nimmt damit eine apriorische Ordnung des Verstehens an, die zugleich die Möglichkeitsbedingung der Bildung sozialer Systeme ist. Aus diesem Grund ist das Verstehen vorrangig. Gleichwohl hängt es insoweit von der Mitteilung ab, wie sich die Codierung, die das mögliche Verstehen zwischen Alter und Ego definiert, in den ›personalisierten‹, gleichsinnigen Systemen (als System/ Umwelt) begründet. Und die Mitteilung hängt von der Information ab, insoweit jede mitteilende Person als individuelles System gegeben und bezeichenbar sein muss. In analoger Weise formuliert Deleuze für den logischen Satz: »Wenn die Bedeutung als Möglichkeitsbedingung oder -form vorrangig ist, verweist sie gleichwohl in dem Maße auf die Manifestation, wie die vielheitlichen Klassen und die variablen Eigenschaften, die die Bedeutung definieren, sich auf die Person […] gründen; und die Manifestation verweist in dem Maße auf die Bezeichnung, wie die Person ihrerseits sich auf das Individuum gründet.« (Deleuze 1993a: 153) Überrascht es, dass sich die Systemkonstitution in weiten Strecken mit der Ontologieanalyse von Deleuze deckt? Was Luhmann hinzusetzt und wodurch er sich zugleich von der ontologischen Tradition absetzt, ist die notwendige und paradigmatische Anerkennung der Selbstreferenz für den Aufbau systemischer Ordnungen, durch die die beiden Elemente des Individuums und der Person als stabilisierende Funktionen denkbar werden. Man wird beachten müssen, dass er dabei versäumt, die Startbedingungen zu hinterfragen und die Grenzen der Funktionen aufzuzeigen. Wie bereits gesagt, soll weder die Genese des Sinns diskutiert, noch können die mit Deleuze zu ziehenden Schlussfolgerungen bis zu ihrem Ende verfolgt werden. Für die einheitliche Operation der Kommunikation bleibt jedenfalls die doppelte Rekursivität des Verstehens festzuhalten: Da Alter und Ego nicht in jeder Hinsicht, sondern nur in der gegenseitigen Unterstellung konvergieren – und dies auch nur momentweise –, verläuft das Verstehen erstens durch ihre Dyade, die es doppelt kontingent schließt. Darauf verweist die Unterscheidung zwischen dem Individuum und der Person. Unter systemtheoretischen Ge-

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sichtspunkten bedingen sich beide gegenseitig, da Systeme immer nur beobachtete Systeme sind und psychische Systeme nur als solche auftreten können, wenn man sich ihnen mit einem personalen Schema nähert. Das Verstehen verläuft zweitens durch die in sich zirkulär gebaute kommunikative Trias, mit der es den Kommunikationsprozess schließt. Nur die doppelte Schließung ermöglicht und reproduziert das Sozialsystem, nur in dieser doppelt rekursiven Weise kann die Kommunikation operieren und nur hier kann sie an ihre Grenzen stoßen.19 Insoweit ist das Verstehen der komplex strukturierende Operator sozialer Systeme. Dies soll nun weiter ausgeführt werden.

Der operativ-strukturelle Komplex der Kommunikation Die Operation als die Synthese dreier Selektionen zu begreifen, scheint nunmehr eine sehr vorläufige Bestimmung zu sein. Weder ist geklärt, inwieweit die drei Selektionen selbst als Operationen aufgefasst werden müssen, noch bringt ihre Synthese die Einheit einer rekursiven und reproduktionsfähigen Operation zum Ausdruck, da in der Luhmannschen Konzeption die zusammengeführten Vorkommnisse über mehrere Systeme verteilt sind. Wie gezeigt, benötigt die Systemtheorie ein System, das ein Mitteilungsverhalten auswählt, und ein System, das das Verstehen vollziehen muss. Diese Mehrheit von Operationen mag zwar auf die inhärente Komplexität der Kommunikation verweisen, vermag jedoch gerade nicht die operative Einheit zu erklären. Ebenso wenig wird ihr der Vorschlag der nachträglichen Beobachtung einer vorgängigen Operativität gerecht. Ihm zufolge erzeugt die Kommunikation »nicht nur durch bloßen Vollzug als Operation eine Differenz (das auch!), sondern sie verwendet auch eine spezifische Unterscheidung, nämlich die von Mitteilung und Information, um zu beobachten, daß dies geschieht« (Luhmann 1997a: 86). Das nach wie vor offene Problem besteht darin,

19. Hieraus lässt sich auch eine methodische Konsequenz ableiten. Da sich diese Studie die Frage zur Aufgabe gemacht hat, wie die Bildkommunikation operiert, wenn sie operiert, kann nicht von der Leitunterscheidung System/Umwelt ausgegangen werden, an der sich die Systemtheorie zumeist orientiert. Denn zunächst muss gezeigt werden, wie sich die Kommunikation schließt und wie sie ihre spezifisch bildliche Anschlussfähigkeit gewinnt, um sodann als System in der ihr genuinen Umwelt zu prozessieren. Zu untersuchen sind die strukturellen Verhältnisse, die sich mit der Kommunikation zeitigen und die sie voraussetzt, um sich zu schließen und um letztlich piktural zu verfahren. Daher übernimmt hier die Unterscheidung zwischen der operativen Schließung und der strukturellen Kopplung die führende Rolle (zu dieser Unterscheidung vgl. Luhmann 1997a: 92-120). 37

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die operative Wirksamkeit einer informierenden Mitteilung immer schon vorauszusetzen, damit sich das Verstehen als die Handhabung genau dieses Schemas (Information/Mitteilung) darauf zurückbeugen kann. Man vergisst dabei, die innere oder endogene Rekursion von Alter und Ego zu berücksichtigen, und geht stattdessen stillschweigend von ihrer immerwährenden Funktionalität aus, ohne ihre Grenzen zu kennen. Jede Beobachtung muss sich als kommunikative Operation bewähren, also als Operation zu einer Einheit schließen – Alter und Ego müssen sich aufeinander verstanden haben –, bevor sie irgendeine Bezeichnung (auch die der Mitteilung und der Information) wird vorgenommen haben können. Ohne die innere Schließung kann von einer Kommunikation nicht die Rede sein. Man unterschlägt des Weiteren, dass sich die Beobachtung nur deswegen auf den »bloßen Vollzug« beziehen kann, weil sie von ihm antizipiert wird, und dass sich die Kommunikation nur aus diesem Grund ihres selbstbeschreibenden Schemas bedienen kann. Der zeitliche Abstand besteht folglich nicht zwischen einer Operation und ihrer Beobachtung, sondern bereits innerhalb jeder einzelnen Operation. Jede Operation bindet auf differenzielle Weise Zeit, ohne sich auf einen Zeitpunkt und eine Gegenwart festgelegt haben zu können.20 Man muss fragen: Wie ist die doppelt geschlossene kommunikative Operation strukturiert, damit dies möglich wird? Und mit Bezug auf die strukturelle Kopplung muss man fragen: Wie ist die Struktur beschaffen, die durch äußere Vorgänge deformiert und irritiert werden kann? Für eine Antwort soll nun das vernachlässigte Systemtheoriestück der Erwartungen oder besser: der Erwartungserwartungen aufgegriffen und modifiziert werden. Bei ihm geht es kurz gesagt um Strukturierungen der doppelten Kontingenz, die über Verhaltenserwartungen zwischen Alter und Ego realisiert werden. Strukturierend wirken die Erwartungen insoweit, als dass sie als »Einschränkung des Möglichkeitsspielraums« (Luhmann 1984: 397) des Verhaltens fungieren. Alter richtet seine Erwartungen nicht allein auf das Verhalten Egos, sondern ebenso darauf, dass Ego eigene Erwartungen mit Alters Verhaltenserwartungen verknüpft. Umgekehrt kann Alter erwarten, ebenfalls Erwartungen ausgesetzt zu sein, um sein eigenes Verhalten abzustimmen. Demnach beziehen sich Erwartungen auf Erwartungen, die die Beziehungen zwischen Alter und Ego bestimmen: »Erwartungserwartungen veranlassen alle Teilnehmer, sich wechselseitig übergreifende und in diesem Sinne strukturelle Orientierungen zu unterstellen. Damit wird verhindert,

20. In Anlehnung an Deleuze kann man das hier zu Grunde liegende Zeitverhältnis aionisch nennen; vgl. ders. 1993a: 86 ff. und 206 ff. 38

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daß soziale Systeme in der Art bloßer Reaktionsketten gebildet werden, in denen ein Ereignis mehr oder minder voraussehbar das nächste nach sich zieht.« (Ebd.: 414) 21 Erneut hat man es mit gegenseitigen Unterstellungen zu tun. Soll die oben vorgestellte Potenzierungsthese der Unterstellungen und des Aufeinanderabstellens ihre Gültigkeit behalten, wird man weiter abstrahieren müssen: Dann geht es nicht mehr darum, dass separierte Systeme erwarten, andere Systeme würden von ihnen das Erleben eines mehr oder weniger bestimmten Verhaltens erwarten. Denn wiederum ist zu fragen, ob es sich bei diesen Systemen nicht um psychische handelt und handeln muss, da sie erlebensfähig sind. Stattdessen wird es darum gehen müssen, dass sie sich an einem erwartungsstrukturierten Komplex gegenseitiger Unstellbarkeit koppeln. Damit erhält die apsychische Koordination ihres Erlebens und Verhaltens den virtuellen Status22 von Erwartbarkeiten, während zu erleben und sich zu verhalten weiterhin ihnen überlassen bleibt. Die Koordination ist nichts anderes als die Erwartungsstruktur selbst, die eigene Komplexitätsgrade erreicht und eigene Regulationen zulässt. Darin besteht die Sozialität, von deren Standpunkt aus betrachtet die separierten psychischen Systeme nicht mehr als Systeme, sondern als Konfigurationen von Erwartbarkeiten erscheinen. Und darin besteht wiederum die Funktion von Alter und Ego, auf die die Erwartungen wie auf Attraktoren gerichtet werden. Alter und Ego als bloße Funktionen einer Struktur zu begreifen verlangt, die Erwartungsstruktur von allen psychischen Vorgängen und von allen psychologischen Definitionsversuchen zu befreien, sie von aller Intentionalität des Erlebens und des sich erlebbar machenden Verhaltens zu entschlacken, um so die Regulationen in den Blick zu bekommen, an die sich das Bewusstsein bindet. Damit soll keineswegs ausgeschlossen werden, dass psychische Systeme Erwartungen hegen. Es wird jedoch ausgeschlossen, dass sie erwartungsstrukturiert sind. Die Erwartungserwartungen müssen losgelöst werden von den Absichten, Wünschen oder Hoffnungen eines psychischen Systems, die es ge-

21. Zu den Funktionen der Erwartungserwartungen vgl. insbesondere Luhmann 1987a: 27-131 und 1995f. Da es hier um keine Exegese, sondern um ein Theorieproblem geht, wird auf eine Besprechung der bei Talcott Parsons liegenden Bezugsquellen Luhmanns verzichtet. 22. Auch diese Intervention in den systemtheoretischen Korpus läßt sich mit Deleuze vornehmen. Er macht deutlich, dass die Struktur vor allem virtuell ist: Sie ist »real ohne aktuell zu sein, ideal ohne abstrakt zu sein« (ders. 1992b: 27) und sie ist, so fügt Deleuze an anderer Stelle hinzu, »symbolisch ohne fiktiv zu sein« (1992a: 264). Luhmann bleibt hingegen der Aktualität verhaftet: »Strukturen gibt es nur als jeweils gegenwärtige; sie durchgreifen die Zeit nur im Zeithorizont der Gegenwart, die gegenwärtige Zukunft mit der gegenwärtigen Vergangenheit integrierend« (1984: 399). 39

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gebenenfalls mit dem Verhalten anderer verbindet23, und von der eigenen Verhaltensmotivation, die aus den vermuteten Erwartungen anderer resultiert, sodass sie ihre Gültigkeit allein in der Potenz der doppelten Kontingenz und in der Virtualität ihrer Struktur erhalten. Die Struktur wird so zur reinen Koordinatorin des Schemas Erleben/Verhalten. Mit der Erwartung wird in der Theorie sozialer Systeme eine Haltung beschrieben, die sich kontingent auf ein zukünftiges Geschehen projiziert: »Erwarten ist die in die Zukunft gerichtete Intentionalität des Erlebnisflusses, der sich stets wechselnde Inhalte sucht und in deren Wechsel Realität erfährt« (ders. 1987a: 83). Tritt das Geschehen ein, wie es erwartend vorgestellt wurde, hat sich die Erwartung erfüllt, weicht es hingegen von der Vorstellung ab, wurde die Erwartung überrascht oder – im negativen Fall – enttäuscht. Auf Erwartungserwartungen bezogen bedeutet das: »Sozialität im Sinne eines Strukturaufbaus, der Erwartbarkeit erwartbar macht, ist dann die Bedingung der Möglichkeit der Fortsetzung von Kommunikation« (Bohn 1999: 79 f.). Erwartungen im Sinne dieser Studie meinen indes zugleich mehr und weniger als diese Begriffsfassung. In zeitlicher Hinsicht muss man über ihre in die Zukunft weisende Projektion hinausgehen. Im Erwarten verweist man nicht nur auf die Zukunft bzw. richtet sich nicht nur in der Zukunft ein, da man auch wartet – und wenn man wartet, tut man dies bereits eine Weile. Das Warten oder Verweilen der Erwartung bezieht die Vergangenheit auf die Zukunft. Das Erwarten ist eine gerichtete, temporale Disposition, in der man darauf wartet, dass das Warten in dem Moment zu seinem Ende findet, in dem etwas geschieht, das dann zufrieden stellend, enttäuschend oder gar überraschend gewesen sein wird. Dafür muss zuvor keinesfalls explizit gemacht worden sein, dass man genau dieses oder jenes erwartet hat. Es geschieht immer etwas, das auf eine Erwartungsdisposition trifft. Das Erwarten muss auch nicht auf ein bestimmtes Geschehen oder Verhalten gerichtet werden. Es genügt die Erwartung, dass etwas auf eine bestimmte Art geschieht, wenn es geschieht, oder dass es nicht mehr geschieht. Was geschieht, wenn es geschieht, kann sodann damit korreliert werden, ob es erwartbar war, ob es also in der Vergangenheit auf Zukünftiges bezogen werden konnte und ob es in der Zukunft mit Vergangenem übereinstimmt oder nicht. Hier kommt zum ersten Mal das (Un-)Wahrscheinlichkeitsmoment der Erwartungen zum Tragen. So kann man zum Beispiel davon überrascht werden, dass etwas geschieht (retrospektiv betrachtet war der Zeitpunkt unbestimmt und das jetzige Eintreffen unwahrscheinlich), es ist aber keineswegs

23. So definiert etwa Johan Galtung: »Expectations will be conceived of as standards of evaluation, located in the mind of one individual and used to evaluate attributes and actions of oneself and other individuals« (1959: 214). 40

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überraschend, dass es genau so geschieht, wie es gerade geschehen ist (man erwartet es für jeden unwahrscheinlichen Zeitpunkt in genau dieser Weise). Die (Un-)Wahrscheinlichkeit bezieht sich keineswegs allein auf ein mehr oder minder erwartbares Geschehen, sondern darüber hinaus auf das Erwarten selbst. Zu erwarten richtet eine Spanne ein, verlängert die Vergangenheit in die Zukunft und bezieht die Zukunft auf das vergänglich-vergehende Warten, was bspw. im Modus des Unbedingten (»Ich erwarte dich um Punkt fünf Uhr!«) oder der bangen Hoffnung (»Bitte keinen Regen mehr …«) realisiert werden kann. Unter dem Gesichtspunkt des Erwartens als Sinnorientierung – genau dieser Aspekt wird wichtig, wenn Erwartungen erwartet werden – ist jeder weitere Moment dann schon wartend und insoweit vergangen, obwohl er selbst noch nicht Gegenwart war (man möchte in jedem Moment, der in Bezug auf das Eintreffen vergangen ist, pünktlich sein oder im Trockenen spazieren gehen). Insofern ist die Erwartung die in die Zukunft gerichtete Projektion einer Rückprojektion, die zusammengenommen die Gegenwart zu einem reinen Wahrscheinlichkeitsmoment werden lässt. Die temporale Sinnverweisung besteht darin, der Linie der Vergangenheit-Zukunft eine Dauer zu verleihen und sie mit einem Richtungssinn auszustatten. Zu erwarten meint die Spanne, die die Momente bis zum Eintreffen überzieht und in deren Orientierung und Gegenorientierung man sich hineinversetzt, in die man inbegriffen ist und die die Gegenwart des Erwartens zu einem Wahrscheinlichkeitsmoment in dieser Ordnung werden lässt. Das Erwarten eines Ereignisses richtet den Sinn des Ereignisses aus, nämlich selbst vergangen angekündigt zu sein, zukünftig zu vergehen und bis dahin auf eine ›Doppelzeit‹ eingestellt zu bleiben. Eine Erwartung ist nichts anderes als diese temporalisierte Sinnorientierung. Richtet sich die Erwartung nicht mehr auf ein mehr oder weniger bestimmtes, mehr oder weniger wahrscheinliches Geschehen oder Verhalten anderer, sondern auf Erwartungen, kreuzen sich die Sinnorientierungen und orientieren sich aneinander. Die Orientierungen synchronisieren sich für ein Geschehen, was auch immer geschehen mag. Damit suspendieren sie die erlebt-erlebende Gegenwart des psychischen Systems, die in seiner Eigenzeit aufgehoben ist und bleibt. In den Sinnorientierungen wird kein Geschehen und kein erlebbares Verhalten mehr erwartet, kein Moment des Eintreffens, sondern es wird vielmehr vergangen-zukünftig erwartet, zukünftig erwartet worden zu sein. Vom eigenen Standpunkt aus beeilt man sich oder spielt – je nach dem, mit wem man es zu tun hat – auf Zeit. Vom Standpunkt der Erwartungsstruktur betrachtet ist man bereits vor Ort, befindet sich also bezüglich des zu realisierenden Strukturwerts der Pünktlichkeit in der Vergangenheit. Das heißt, strukturell wird keine Pünktlichkeit, sondern eine Sinnorientierung erwartet. Die Synchronisation ihrer Doppelläufigkeit 41

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fällt mit der Temporalität zusammen, die die kommunikative Reproduktion für die Aktualisierung benötigt (»Du bist bereits da!? Gut, dann können wir beginnen.«). Sie benötigt sie, weil die Reproduktion immer in die Zeit ausgreift und in diesem Sinne Re–Pro–Duktion ist und weil sie ihre eigene, ihr gemäße und ihrem Maß unterliegende Verbindungslinie von Vergangenheit und Zukunft entfaltet. Es ist diese Synchronisation, die letztlich auch die Synchronisation von Alter und Ego (als Funktionseinheiten) ist, auf die man sein Verhalten abstellt, wenn man Kommunikation ermöglichen möchte. Wenn man Erwartungen und strukturierte Erwartungserwartungen als grundlegende Sinnorientierungen begreift, womit Luhmanns Erklärung nicht grundsätzlich widersprochen wird – »Erwartung ist als Sinnform, nicht als innerpsychischer Vorgang gemeint. Der Begriff der Erwartungsstruktur ist aber auf das selbstreferentielle System bezogen, das sich durch Erwartungen strukturiert« (1984: 399) –, dann können sie ausgerichtet oder unterlassen und gegebenenfalls verlängert oder abgebrochen, aber sie können nicht enttäuscht werden. Denn eine Enttäuschung bezieht sich nicht auf das Erwarten als Sinnorientierung oder auf Erwartungserwartungen als Sinnstruktur, sondern auf die mit ihr einhergehenden Bestimmungen und auf die sie ausfüllenden, psychischen Vorstellungen. Die Bestimmung macht die Erwartung zu einer Erwartung von etwas. Davon muss man absehen, in sachlicher Hinsicht also hinter der gewohnten Begriffsfassung zurückbleiben. Enttäuschbar ist nur die Bestimmung einer Erwartung, nicht die Erwartung als sinnhafte Ausrichtung oder als Formung. Schließlich hat man nur wegen einer Enttäuschung plötzlich nicht nicht erwartet bzw. seine auf die möglichen Erwartungsstrukturen gerichtete Aufmerksamkeit nachträglich zurückgezogen. Das Gleiche gilt für die Erfüllung und die Überraschung. Auch sie beziehen sich auf die Bestimmungen, die die Erwartungen spezifizieren und spezifizierbar halten. Kurz, die Erwartung ist unbestimmt, aber zu jeder Zeit bestimmbar. Sie ist zwar nicht enttäuschbar, aber mit ihrer Bestimmung kann jederzeit eine Enttäuschung einhergehen. Die Unbestimmtheit der Erwartungen bezieht sich nicht darauf, zumindest in ihrer Unbestimmtheit bekannt bzw. bestimmt zu sein. Das hieße ja, man wisse genau, was zu erwarten sei und was man wolle, aber leider nur implizit. Die Erwartung ist vielmehr als Bestimmung noch nicht bekannt. Inwieweit ist die Erwartung unbekannt? Ihre Unbestimmtheit bedeutet gewiss nicht, dass sie ins Blaue hineinprojiziert wird. Erwartungen sind stets davon abhängig, dass etwas geschieht, und sie sind stets davon abhängig, bestätigt oder irritiert zu werden. Insoweit kann man sie als sinnhafte Ereignisorientierungen kennzeichnen. Die Erwartung ist die offene Orientierung dafür, einem Ereignis unabhängig davon einen Sinn zukommen zu lassen, ob dieses Ereignis erwartet worden ist oder nicht. Wenn es indes eingetroffen ist, so ist auch seine Zeit 42

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gekommen, ihm einen Sinn zu verleihen und es als Geschehen zu bestimmen. Zu erwarten meint folglich eine ereignishaft gewonnene, noch nicht bearbeitete Projektion samt Rückprojektion, meint die Offenheit zur Bestimmung – die über Wahrscheinlichkeiten verrechnet wird. Unter dem Gesichtspunkt des eingetroffenen Geschehens ist die Bestimmung gewiss und kontingent (ich stelle eine Frage, sie gibt mir, wie mit der Frage intendiert und erwartet worden ist, eine Antwort), unter dem Gesichtspunkt des Erwartens gibt es hingegen nur in die Zeit gestreute Wahrscheinlichkeiten für Erwartbares (wird es eine Antwort geben? welche?). Dementsprechend unterliegen Erwartungsstrukturen einem Probabilismus für Verhaltensoptionen samt ihrer Temporalität. Selbst in dem Fall, in dem die Erwartung expliziert wird (bspw. Pünktlichkeit zu erwarten), schließt man keineswegs das Erleben eines anderen Verhaltens aus (sich zu verspäten ist dann immer noch möglich), sondern legt Wahrscheinlichkeiten fest, an denen man sich orientiert und mit denen weiteres Operieren vorstrukturiert wird (sich besser zu beeilen, da das Treffen pünktlich beginnt). Demzufolge ist die Bestimmung einer Erwartung insoweit noch nicht bekannt, als dass sie Wahrscheinlichkeiten dafür vorgibt und strukturiert, ob man eine Erfüllung, eine Überraschung oder eine Enttäuschung wird erleben können. Der Probabilismus gilt für die Temporalität aber nicht nur, weil man sich verspäten könnte. Er gilt für sie vor allem deswegen, weil die sich synchronisierenden Erwartungen zuallererst eine Zeit initialisieren, in der die Kommunikation beginnen kann. Es gibt nicht nur eine zeitliche (Un-)Wahrscheinlichkeit dafür, wann kommuniziert wird, sondern insbesondere eine (un-)wahrscheinliche Zeit der Kommunikation. Erwartungen im Moment des Geschehens zu bestimmen, obliegt dem Bewusstsein, das sich in ihre Sinnorientierungen einrichtet. Dies geschieht, indem sie in Anspruch genommen werden, indem man die Stimme erhebt und zu artikulieren beginnt, und darauf wartet, wiederum angesprochen zu werden. Auf diesem Wege werden die Erwartungen intentional gefüllt: fürchtend und bangend, hoffend und wünschend, aus Neugierde, mit einem strikten Willen, mit Gleichmut oder der Norm verpflichtet. Sie können auf einen Sachzusammenhang gerichtet werden oder darauf, dass eine Regel einzuhalten ist. Überdies können die Erwartungen als Erwartungen an das eigene oder fremde Verhalten erlebt werden. Die Erfüllungen, Enttäuschungen und Überraschungen, die sich hier einstellen, liegen in dem, was für das Bewusstsein handhabbar und informativ ist, und in dem, wie es irritiert wird. Kurz, sie liegen im psychischen Systemzustand. Wird die Erwartung in dieser Weise zur Orientierung des Erlebens, hat man es mit psychischen Vorgängen und individuellen Eigenleistungen zu tun, die für niemanden durchschaubar oder einsehbar sind. Das Erleben ist und bleibt dem individuellen Eigensinn überlassen. Davon unabhängig verfährt der Prozess, der die Wahrscheinlich43

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keiten des Erlebbarmachens und der Verhaltensoptionen bemisst. Beginnt die Erwartung in diesem Sinne, die Funktion einer strukturierenden Koordinatorin dessen auszuüben, wie man erleben oder sich verhalten könnte, verweist sie auf Kommunikation. Dafür ist es zunächst nötig, sich als ein Alter Ego erwartbar zu machen. Dies geschieht zum Beispiel, indem man die Stimme erhebt und nach der Uhrzeit fragt. Der erste Moment der Kommunikation besteht folglich darin, eine Instanz einzurichten, die als Bezugspunkt weiterer Erwartungen fungiert. Umgekehrt bezieht man sich genau auf diesen Punkt, wenn man nach der Uhrzeit gefragt wird und zu antworten ansetzt. Die erwünschte Auskunft zu geben, erkennt die Situation an und begegnet einem Alter Ego mit einem anderen Alter Ego, wodurch eine gehörte Artikulation als Mitteilung anerkannt und wodurch zugleich die innere Rekursion des Verstehens vollzogen wird: Alter versteht Ego als sein Alter Ego, insofern er selbst als ein Alter Ego fungiert, wodurch sogleich Erwartbarkeiten gebunden werden (bspw. den anderen anschauen und ihm nicht den Rücken zukehren, vorausgesetzt man ist nicht blind). Insoweit ist die dann beginnende und sich auch äußerlich schließende Kommunikation strukturell ebenso an die psychischen Systeme gekoppelt, wie dies umgekehrt der Fall ist. Sicherlich kann man nach der Uhrzeit fragen und, bevor eine Antwort gegeben wird, die Ohren verschließen oder gar weglaufen. Indem man sich mit der Frage jedoch ansprechbar macht, hat man begonnen, Erwartungen auf sich zu ziehen (die Erwartung einer erwarteten Antwort) und das Potenzial der doppelten Kontingenz zu initialisieren. Sie wird mit der erfolgenden Auskunft aufgenommen und turbuliert, sie wird verstanden. Kommunikativ zu verstehen bedeutet also, Erwartungen erwartbar zu machen, Alter und Ego rekursiv erwartungsstrukturiert aneinander zu binden und sie als bindende Funktionen (Attraktoren) innerhalb dieser Struktur gelten zu lassen. Das gilt potenziell und unterstelltermaßen für denjenigen, der spricht, und für diejenige, die zuhört. Die psychischen Systeme potenzieren sich in Alter und Ego und in der doppelten Kontingenz und fungieren unter strukturellen Gesichtspunkten der Kommunikation als virtuelle Erwartungsbindungen.24 Zu Verstehen bedeutet, die Sinnorientierungen der Erwartungen in einer Schleife der Vor- und Rückläufigkeit je momentweise zu synchronisieren und sie in der Form eines Wahrscheinlichkeitszustands zu fixieren – in einer Form, die Kontingenzen standhält und situative Lernfähigkeit unter Beweis zu stellen in der Lage ist. Das Verstehen bezieht sich im Unterschied zum Erleben nicht auf intendierte Bestimmungen

24. Dies wird es erlauben, Sachverhalte zu untersuchen, die operativ-strukturell die bindende Funktion der Attraktoren übernehmen, die jedoch nicht mehr auf psychische Systeme zurückgeführt werden müssen (oder können). 44

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von Erwartungen, es bezieht sich auf ihre Erwartbarkeiten und auf die Bestimmung sinnhafter Wahrscheinlichkeitszustände. Vom Standpunkt verschiedener psychischer Systeme ist dies nicht rekonstruierbar, da sie in ihrem jeweiligen Erleben niemals konvergieren können. Sie divergieren allein schon deswegen, weil sie ihr eigenes Verhalten anders erleben als alle anderen. Sie divergieren auch dann, wenn sie sicher sind, dass alle Beteiligten das Gleiche erleben. Vom Standpunkt der allgemeinen psychischen Funktionen des Erlebens ist der Probabilismus nicht rekonstruierbar, weil eine Erwartung sich nicht als das Erleben einer Enttäuschung oder Überraschung, sondern als die Erwartung einer Erwartung bestimmt, als die temporale Sinnorientierung, die sich an temporalen Sinnorientierungen orientiert. Diese Sachlage betrifft lediglich die endogene Rekursion des Verstehens. Wenn das Verstehen die Kommunikation darüber hinaus äußerlich schließt, das heißt: wenn die Attraktoren als Instanzen der Mitteilung stabilisiert werden, was nichts anderes bedeutet, als dass sie weitere Erwartungen erwartbar machen, hat sich eine Operation vollzogen, an die weitere Operationen anschließen können. Erst durch die stabilisierten Funktionen kann eine Mitteilung (ein Kopfschütteln) von anderen, ebenso wahrgenommenen körperlichen Verhaltensweisen (ein nervöses Zucken der Augenbraue) unterschieden, kommunikativ aufgegriffen und von da aus als Handlung zu(rück)gerechnet werden. Das kommunikative Verstehen ist eine doppelt rekursive, eine doppelt schließende und eine sich unentwegt reprogrammierende Erwartungsmuster-Erkennungsmaschine, die in ihre eigene Struktur eingebunden ist und von der wiederum abhängt, wie die operative Reproduktion verfährt. Insofern behält Luhmann vollkommen recht, wenn er schreibt: Die Struktur »ist nicht der produzierende Faktor, nicht die Ur–sache, sondern ist selbst nichts anderes als das Eingeschränktsein der Qualität und Verknüpfbarkeit der Elemente« (1984: 384 f.). Für die Beschreibung von Interaktionen mögen die vorgeführten Theorieschleifen überflüssig erscheinen, da eine Artikulation oder ein anderes Verhalten unmittelbar und aktuell als Mitteilung aufgegriffen werden sowie Alter und Ego sich ihrer Gegenseitigkeit sicher sein können, ohne selbst als Sequenzen von probabilistischen Erwartungsstrukturen zu erscheinen. Für das Verständnis mediatisierte Kommunikationssituationen sind die Ausführungen indes notwendig, denn in ihnen erscheinen Alter und Ego niemals in Präsenz voreinander, können also auch kein erlebbares Verhalten zeitigen und darüber bestimmt werden. Sie können nur als temporalisierte Erwartungsbindungen fungieren, die über textliche, bildliche oder andere Darstellungsweisen zu Stande kommen. Dafür werden dann auch personale Schemata relevant, wie etwa die Praktiken zeigen, Autorennamen auf Buchdeckel abzudrucken oder Signaturen auf Gemälden zu hinterlassen. Das Verstehen ist der Operator sozialer Systeme. Die Mittei45

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lungsinstanz ist ihr ausgewiesener Bindungs- oder Zurechnungspunkt. Genauer muss man von (mindestens) bipolaren Bezugspunkten sprechen, die die Struktur konfigurieren und die Mitteilung kennzeichnen. Weitere Komplikationen sind nicht auszuschließen, sollen aber zurückgestellt werden, da sie für die Kennzeichnung der Kommunikation zunächst nicht notwendig sind. Ebenso wenig interessieren momentan die strukturellen Eigenschaften der in den Systemen ausgebildeten Rollen, Normen, Werte, Programme, Semantiken, symbolischen Generalisierungen, Selbstbeschreibungen etc. Nur so viel sei gesagt: Sie strukturieren nicht nur das System, sondern die Operativität jeder einzelnen Kommunikation, um sich auf diesem Wege im System Geltung zu verschaffen. Insoweit das Verstehen von einem Bipol der Mitteilungsinstanzen ausgeht und mit ihm seine weitere Funktionalität im System sichert, dient er ihm als Operand. Es hält sich an die Struktur, deren innere Rekursivität es selbst verantwortet. Wenn das Verstehen den Operator und wenn die Mitteilung (Mitteilungsinstanzen) den Operanden der Kommunikation sozialer Systeme bilden: Wie verhält es sich dann mit der Information? Sie ist nichts anderes als das Resultat des Verstehens, als dasjenige, was verstanden worden ist. Wenn das Verstehen jedoch als eine doppelt geführte Rekursion begriffen wird, dann ist es nicht mehr möglich, einen Sachverhalt oder ein Zeichen zu verstehen, so wie man sagt, man habe verstanden, um was es geht, oder man habe die semantische Bedeutung eines Wortes verstanden. Es ist aber auch nicht mehr möglich, mit Luhmann das Verstehen als »Beobachtung im Hinblick auf die Handhabung von Selbstreferenz« (1986a: 79) eines anderen Systems zu begreifen. Wenngleich Luhmann zeigt, dass das Verstehen einer doppelt geführten Rekursion gleicht, zwingt sein Vorschlag dazu, zwischen einem verstehenden und verstandenen System zu unterscheiden und das Verstehen damit zugleich diesen der fraglichen Kommunikation äußerlichen Systemen zuzuweisen. Dies ist letztlich isomorph mit der Alter/ Ego-Dyade, wenn beide als separierte Systeme identifiziert werden. Was verstanden wurde, ist kein anderes System, sondern das kommunikativ operierende, soziale System selbst – und zwar insoweit, wie sein Wahrscheinlichkeitszustand je momentweise bestimmt wurde. Das heißt, der Informationsbegriff ist nunmehr auf die Erwartungsstruktur zu beziehen und nicht auf die denotative Zeichenfunktion einer vom System etwa beschreibend durchgeführten Beobachtung. Es ist weiterhin möglich, Zeichen zu generieren und mit ihnen Bezeichnungen vorzunehmen. Es wäre jedoch allzu einfach, den Zustand einer Interaktion, in der nach der Uhrzeit gefragt wird und eine Antwort erfolgt, über die wahrscheinliche Bedeutung der Auskunft »13.20 h« zu bestimmen. Der semantische Aspekt ist nur informativ, insoweit angesprochene Dinge, Themen oder Sachverhalte Erwartbarkei-

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ten bereitstellen und sie mitstrukturieren.25 Da die Bedeutung einer Bezeichnung an dem aktuellen Systemzustand nur in diesem Maße partizipiert, kann sie ihn auch nur partiell definieren. Informativ ist auch, wann und wie die Antwort erfolgt, ob sie bspw. erwarten lässt, weitere Worte zu wechseln und damit die Bindung der Attraktoren zu stärken oder auseinander zu gehen und die Struktur aufzulösen. Beginnt man hingegen zu tanzen, ist die Information themenlos. Nichtsdestotrotz gibt es starke Attraktoren und schnelle Zustandswechsel innerhalb der Erwartungsstruktur, in der das Erleben und das Verhalten koordiniert werden. Es gibt zudem eine deutliche Doppelrekursivität des Verstehens, die endogen die Attraktoren aneinander bindet und die exogen jeden erreichten Zustand als Ausgangspunkt weiterer Zustandsbestimmungen nimmt (bis hierhin haben wir uns bewegt: Welche Schritte sind nun möglich, um den Tanz fortzusetzen?). Es ist abwegig, Kommunikationsweisen zu leugnen, nur weil sie themenlos und ohne Denotationen operieren.26 Die Information darf nicht nur als das mehr oder weniger wahrscheinliche, aktualisierte Resultat einer Operation begriffen werden, das unter dem Gesichtspunkt seines Eintreffens andere Möglichkeiten als ebenfalls wählbar erscheinen lässt und sie insoweit mit–aktualisiert. Die Information besteht nicht nur in der kontingenten Aktualisierung, sondern hängt entscheidend davon ab, dass sie diesen Moment als Ausgangspunkt weiterer Operationen nimmt. Die Information ist immer nur ein Zwischenresultat, wie auch Dirk Baecker hervorhebt: »Es geht nicht nur um die Ausleuchtung eines je aktuell nicht wahrgenommenen Bereichs möglicher Verknüpfungen zwischen den Elementen des Systems. Sondern es geht auch um ein Errechnen der möglichen Zustände des Systems durch eine laufende Überprüfung der bereits ausgetesteten möglichen Zustände.« (Baecker 1999: 186) Es spielt keine Rolle, ob die Zustände semantisch, über Körperbewegungen oder auf anderem Wege, wie etwa dem gemeinsamen Musizieren erreicht werden, bei dem es um Töne und Klänge, um Tonfolgen und Rhythmen geht. Wenn musikalisch kommuniziert wird, dann wird ein Potenzial für das gemeinsame Hören und Töneproduzieren festgelegt, ohne sein eigenes oder das Hören eines anderen auch nur im Mindesten vollzogen oder nachvollzogen haben zu müssen. Die kommunikative Information bestimmt sich nicht als das, was man hört oder wie

25. Zur semantischen Information vgl. MacKay 1969. Die Diskussion semantischer Aspekte wird am Ende der Untersuchung wieder aufgenommen. 26. In dieser Weise bspw. Fuchs 2001: 220. Luhmann behandelt den Tanz und das Musizieren unter körperlichen Gesichtspunkten und nicht als Kommunikation; vgl. ders. 1984: 336. 47

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man sich bewegt oder worüber man nachdenkt, sondern sie ist die Aktualisierung des Wahrscheinlichkeitzustands dafür, inwieweit man unterstellen kann, dass andere die Koordination des Hörens und Zuhören-Gebens ebenfalls unterstellen können. Ein so erreichter Zustand kann nur deswegen als weiterer Ausgangspunkt genommen werden, weil er in die probabilistische Struktur zurückgebunden wird und weitere Sinnorientierungen zur Verfügung stellt. Daher ist die Information als der Wahrscheinlichkeitszustand einer aktuell-kontingenten Bestimmung von Anschluss- und Änderungsmöglichkeiten (des Systems im System) zu begreifen. In den Systemen geht es um ein Prozessieren selbst gewählter, aber immer anders wählbarer Zustände. Das System ist zugleich gewählter Zustandswechsel und wählender Wechselzustand. Insoweit die Zustände im Bezug zu vorhergehenden Zuständen mehr oder weniger wahrscheinlich sind, verarbeiten die Systeme Information, und insoweit dabei eine adaptive structural resonance27 zum Tragen kommt, lernen sie oder nehmen anderweitig Einfluss auf ihre eigenen Vollzüge. Dies deutet an, dass der bei Luhmann zentrale Begriff der Selbstbeobachtung im Sinne einer selektiven Selbstbezeichnung und -einschränkung auf operativ-strukturellem Niveau reformulier- und substituierbar ist. Eine andere Frage besteht darin, inwieweit die Systeme die strukturellen Vorgänge, die immer auch irritierende Kopplungsvorgänge mit anderen Systemen einschließen28, überhaupt unter Kontrolle halten oder auch nur für sich als wählbar erschließen können. Mit der Irritation der Erwartungsstruktur kommen die Enttäuschungen und Überraschungen wieder ins Spiel; diesmal für den Bereich kommunikativer Informations(v)erarbeitung. Die Überraschung kann als eine induzierte Informationserzeugung begriffen werden, insoweit vom System zunächst nicht zugängliche Möglichkeitsräume eröffnet werden. Die Enttäuschung kann hingegen als Informationszerstörung begriffen werden – Zerstörung insoweit, wie Alter und Ego destabilisiert werden bzw. in einem Maße divergieren, sodass das Verstehen in die Irre geleitet wird und sein System kaum zu schließen vermag (man spricht zu einer Gruppe von Personen, die nicht zuzuhören scheinen, und sucht verzweifelt Blickkontakt, um Anschlussoptionen zu ermitteln). Wie auch immer ein System verfährt und was ihm auch immer widerfährt, die Wahrscheinlichkeit seiner Zustände gibt jedenfalls die Varietät der Restrukturierungsmöglichkeiten an, die das Verstehen aufgreift. Nichts anderes meinte der Ausdruck, dass es sich – wegen der veränderbaren und sich verändernden Ausgangsbedingungen – ständig

27. Dieter Gernert erläutert diesen Effekt als »a loop consisting of three elements: 1. ability to detect information, 2. new information, 3. adaption (formation of a more suitable internal structure)« (1996: 159). 28. Vgl. Luhmann 1990b: 40. 48

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reprogrammiert. Der Ausdruck reformuliert zugleich Luhmanns prägnante Kurzformel, dass in einer Kommunikation die Unterscheidung von Mitteilung und Information angewendet und beobachtet wird bzw. dass mitkommuniziert werden muss, wer was mitgeteilt hat. Der Ausdruck reformuliert sie, weil die innere Rekursionen Alter und Ego bzw. die Attraktoren endogen aneinander bindet und damit Wahrscheinlichkeiten produziert. Und er reformuliert die Kurzformel, weil die äußere Rekursion sich sowohl an die Attraktoren zurückbindet und damit die innere Rekursion bestärkt (die Mitteilung markieren) als auch die aktualisierten Zustände mitberücksichtigt (die Information markieren), um weitere Operationen wahrscheinlicher zu machen. In dieser in sich gewundenen, doppelten Schließung liegt die Einheit der kommunikativen Operation.

Die Frage nach der Bildkommunikation Von dem Tatbestand der doppelten Rekursion des Verstehens und der doppelten Schließung sozialer Systeme ist im Weiteren auszugehen, wenn nach dem Zusammenhang von Bildlichkeit und Kommunikativität gefragt wird. Demnach ist die Kommunikation weder als ein mehrgliedriger Prozess der Codierung und Übertragung noch als ein ausgesendeter Apell dargestellter Sachverhalte durch ein Ausdrucksverhalten zu begreifen, der auf Annahme oder Ablehung bei einem Empfänger stößt. Begreift man Alter und Ego als Momente einer Struktur, in der sie die Funktion ihres gegenseitigen Bezugs erst erfüllen können, wird das zur Klärung kommunikativer Verhältnisse häufig herangezogene SenderEmpfänger-Modell hinfällig. Die Frage der Bildkommunikation stellt sich ausdrücklich nicht nach Sender und Empfänger von bildlich vermittelter Kommunikation, sie stellt sich überhaupt nicht nach Senden, Empfangen und Vermittlung. Die Frage stellt sich vielmehr nach der Operativität, die sich im sozialen System durch kommunikativ-pikturale Muster auf das System auswirkt. Solange zwischen einer Instanz, die versteht, und einer Instanz, die zu verstehen gibt, unterschieden wird, behält das Modell von Sender und Empfänger seine Relevanz. Dem bleibt entgegenzuhalten, dass ihr Bezug nicht in Form einer Metastabilität voraussetzbar (Übertragungskanal), sondern vielmehr endogen unruhig ist und im Zuge der Reproduktion immer wieder hergestellt werden muss. Mit der Theorie sozialer Systeme ist des Weiteren davon auszugehen, dass sich die kommunikativen Operationen zu einem eigenständigen Bereich schließen und dass sie auf Grund ihrer Eigenleistungen Ordnungsgewinne erzielen, die für Operationen anderen Typs weder erreichbar noch erschließbar sind. Umgekehrt greift die Kommunikation ausschließlich auf andere Kommunikationen zu, ohne an Operationen anderen Typs anschließen zu können. 49

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Da man sehen können muss, um Bilder kommunikativ relevant zu machen, stößt man bei der Frage nach der Bildkommunikation – wie Bilder an der Kommunikation beteiligt sind, in der sie Verwendung finden – unausweichlich auf ein Problem. Denn die Kommunikation verfügt über keine Ressourcen und über keine Einrichtung, mit der sie sieht: »Ausgeschlossen ist die Auffassung, daß Kommunikationssysteme, also soziale Systeme, wahrnehmen können« (Luhmann 1995b: 19). Die Kommunikation kommuniziert, sie sieht nicht. Ebenso wenig ist sie blind, denn die Blindheit ist nur unter der Prämisse des Sehens zu begreifen. Wie aber können Bilder kommunikativ werden, wenn die Kommunikation weder etwas sieht noch nichts sieht, wenn ihr selbst die notwendige Voraussetzung dafür fehlt, Bilder visuell zu erschließen? Der kommunikative Zugriff auf bildliche Darstellungen ist ein völlig anderer als derjenige des Bewusstseins. Ein Bild zu betrachten ist Sache der Wahrnehmung und insoweit nicht kommunikativ. Ebenso wenig kommunikativ ist es, einen Pinsel zu führen oder die Videokamera zu bedienen. Etwas zu sagen oder einen Text zu schreiben ist ebenso wenig eine Kommunikation wie das Lesen dieser Studie. Die Publikation eines Textes, der in Archiven verschwindet, ist ebenfalls keine Operation sozialer Systeme. Und doch prozessieren sie nicht, wenn all dies ausbleibt. Wie aber verfährt die Kommunikation, wenn sie unter bildlichen Bedingungen zu Stande kommt, und vor allem: wie hängt ihre Operativität mit der vorausgesetzten Wahrnehmung und den vorausgesetzten körperlichen Tätigkeiten zusammen? Im Zuge der selbstreferenziellen Geschlossenheit wird darüber befunden, was einem sozialen System als Bild oder als Text gilt und was nicht. Was auch immer es ist, es ist nicht das, was vor den Augen erscheint. Wenn es der Kommunikation gelingt, bspw. dank Texten oder Bildern fortgesetzt zu operieren, so sollen diese Texte und Bilder Kommunikabilien oder kommunikative Artefakte heißen. Es würde das gesamte Unternehmen dieser Studie karikieren, würde man sich bei der Bestimmung solcher Kommunikabilien allein auf die Bezeichnungen beschränken, mit denen ein gegebenes (beobachtetes) System einen Film oder einen Roman oder ein Konzert kennzeichnet. Dass eine Bezeichnung möglich ist und vorgenommen wird, besagt nichts darüber, wie in einem sozialen System eine die Bezeichnungen ermöglichende operative Struktur etabliert wird. Die Bezeichnung einer Kommunikabilie besagt nichts darüber, wie sie bspw. die Restrukturierungsmöglichkeiten und die Anschlussoptionen gestalten. In einem Brief zu schreiben, man bedanke sich artig für den letzten Brief und antworte nun leider verspätet, nimmt zwar solche Bezeichnungen vor, erklärt aber noch nicht die Möglichkeiten und Beschränkungen, die aus der durchgeführten, brieflichen Kommunikationsweise für die Kommunikation resultieren. Für das weitere Vorgehen bedeuten die Ausführungen einerseits, 50

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einen Ansatz finden zu müssen, der beschreibt, wie Artefakte allgemein kommunikativ werden. Andererseits bedarf es einiger Überlegungen, die die Spezifik von Bildern herausstellen – eine Spezifik, die ihrer Sichtbarkeit geschuldet ist. Da ihre Operativität erst noch zu klären ist, sollen unter Bildern bis auf Weiteres und in aller Vorläufigkeit die Darstellungsweisen von Gemälden und Skulpturen, von fotografischen und holografischen Artefakten, von Videos und Filmen, des Fernsehprogramms und von anderem mehr gefasst werden. Das heißt, Bildlichkeit wird in einem pikturalen Sinne und nicht in dem Sinne von Vorstellungen und Imaginationen verstanden. Damit ist zugleich ausgeschlossen, unter dem hier verwendeten Bildbegriff sprachliche Figuren wie die Allegorie (obwohl es pikturale, allegorische Darstellungsweisen geben mag) oder mentale Zustände zu fassen. Folgt man der geläufigen systemtheoretischen Argumentation, ist Kommunikation immer schon an das Bewusstsein und umgekehrt ist Bewusstsein immer schon an die Kommunikation angepasst, sodass die Wahrnehmungsunfähigkeit sozialer Systeme problemlos hingenommen werden kann. Mit dem Bewusstsein ist die notwendige Voraussetzung für jedes Prozessieren von Kommunikation gegeben. Ohne psychische Vorgänge könnte nie eine soziale Operation vollzogen werden. Da gemäß Luhmann die Wahrnehmung und mit ihr das Sehen eine Spezialkompetenz psychischer Systeme ist (vgl. 1995b: 14), obliegt das Wahrnehmen der Bilder eben dem Bewusstsein. Dies gilt sicherlich nicht allein für Gemälde oder Fotografien. Ebenso muss man einen Text zunächst sehen bzw. im Fall der Blindenschrift ertasten oder einen Gesprächspartner hören, damit Kommunikation überhaupt erst in Gang kommen kann. So wie das Zustandekommen der Kommunikation von einem bewussten Wahrnehmen abhängt, hängt es seinerseits von neurobiologischen Voraussetzungen ab, wiederum ohne auf sie zuzugreifen. Psychische Systeme werden auf Wahrzunehmendes, das ihnen wegen neuronaler Verarbeitungskapazitäten zur Verfügung steht, aufmerksam, machen mit ihm – nun als Gesehenes – ihre eigenen Erfahrungen, um es im weiteren Verlauf zu artikulieren und – erneut transformiert – als mitgeteilte Information einem weiteren Verstehen zur Verfügung zu stellen. Dank der gegenseitigen, psychischen und sozialen Systempassungen haben die Bilder von vornherein eine entsprechende Formierung erfahren, die die Wahrnehmung nur in kommunikativer, die Kommunikation jedoch in doppelter Hinsicht benötigt: »als Bedingung der Mitwirkung verschiedener psychischer Systeme […] und als Garantie der Anschlussfähigkeit der Kommunikation« (ebd.: 50).29 Das Wahr-

29. Zu den wahrnehmbaren Formen der Kommunikation vgl. Luhmann 1995b und 1997a: 190 ff. 51

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nehmbare wird zum Kommunikablen, indem es geformt, das heißt: indem es als distinkte Unterscheidung präpariert wird, auf die die Kommunikation operativ abstellt und die sie verwendet. Man täuscht sich in der Annahme, mit dieser Antwort sei das Problem gelöst. Darauf hinzuweisen, die Kommunikation mit Bildern sei auf Grund der verschiedenen, operativ geschlossenen und aneinander gekoppelten Systemtypen möglich – das ist die schlichte Voraussetzung dieser Studie –, besagt noch nichts darüber, wie die kommunikativen Operationen unter pikturalen Bedingungen vollzogen werden, wie eine Mitteilung zur Darstellung kommt bzw. wie eine Darstellung als Mitteilung aufgefasst, wie das Verstehen vollzogen und in welchen informativen Stand das System dadurch versetzt wird. Angenommen, es liegt eine Reihe von kommunikativen Artefakten vor: Briefe, die auf Briefe antworten; wissenschaftliche Aufsätze, die auf andere Aufsätze verweisen, indem sie ohne sie zu benennen, Argumente aus ihnen übernehmen, oder indem sie sie explizit zitieren; Grafiken, die Motive von Gemälden variieren. Man hat es mit einer Reihe von Kommunikabilien zu tun, die als persönliche, wissenschaftliche und künstlerische Mitteilungen begriffen und entsprechend prozessiert werden. Ihr Verstehen besteht darin, dass eine Darstellung auf eine andere Bezug nimmt und der Vorherigen einen Sinn entnimmt, um sie einer weiteren Sinnverwendung auszusetzen. Die Reihen werden durch das Verstehen gebildet, indem es anhand dessen, auf das es Bezug nimmt, die Mitteilung von der Information rekursiv unterscheidet. Es legt fest, dass es sich um zu beantwortende Briefe, um zitationswürdige Argumente und um eine vielgestaltige, zeichnerische Variabilität handelt. Somit wird beides, die Mitteilung und die Information, erst anhand der Kommunikabilien ermittelt. Alle im Zuge der Kommunikation gemachten Zurechnungen auf mitteilende Autoren und Autorinnen, auf Mitteilungsabsichten oder auf Themenkarrieren müssen den Artefakten bzw. demjenigen in ihnen entnommen werden, an das ein Verstehen ansetzen kann. Das heißt, die Kommunikabilien fungieren als Ausgangs- und als Endpunkt und bedingen die Möglichkeiten der Information und der Mitteilung. Bei Briefen liegt das verstehende Schließen darin, einen Absender zu erkennen und zu lesen, was zur Sprache kommt. Bei Bildern liegt das verstehende Anschließen darin, dass etwas als zu sehen Gegebenes erkannt und aufgegriffen wird. Man sieht, dass ein Bild vorliegt, und man sieht, dass in ihm etwas zur Ansicht kommt. Dies ist das Erleben, dessen Koordination vom Verstehen aufgegriffen wird. Kommunikativ kommt es auf diese Koordination an und nicht darauf, wer was sieht. Nimmt man zum Beispiel den Fall, dass zwei voneinander getrennte Personen gemeinsam eine Collage herstellen, die die eine der anderen kommentarlos zuschickt, sobald sie ihre Gestaltungen vorgenommen hat. Sie reagieren jeweils auf das, was die an52

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dere Person hinzugefügt oder wieder weggenommen oder verschoben hat, um ihre eigene Gestaltungen vorzunehmen. Die am Bild orientierte Kommunikation setzt sich unabhängig davon fort, ob sie jeweils das Gleiche sehen, ob die Collage in den Augen der einen Person einer Schnecke ähnelt und in den Augen der anderen Person geometrische Winkelverschiebungen an parallelen Linien darstellt. Es ist nicht nötig, der anderen Person eine Absicht oder eine motivierte Handlungsfolge zuzurechnen, damit der nächste Handgriff erfolgen und eine Gestaltung vorgenommen werden kann. Nichts von alledem benötigt die Kommunikation, um zu operieren. Sie benötigt allein ein sich auf Bildlichkeit verstehendes Verstehen, das eine darstellerische Mitteilung als Bild bestimmt. Dies wird besonders deutlich, wenn man das Beispiel fortschreibt: Nimmt man weiter, dass mehr als zwei Personen an der Gestaltung beteiligt sind und die Collage in einem Zufallsverfahren ohne Angabe des Absenders und ohne das Wissen darum verschickt wird, wer sie erhält, wie viele Personen in Frage kommen und ob auch automatisierte Gestaltungsverfahren zulässig sind, so bleibt nichts anderes, als sich an den Gestaltungen selbst zu orientieren und sie als die relevante Mitteilung aufzufassen. Das heißt, die Mitteilungsinstanz erfüllt ihre Funktion nicht mehr dank einer zugerechneten Handlung, sondern vielmehr dank der zum Zuge kommenden Darstellungsweise des Bildes. Im Falle von Gemälden ist die Zurechnung auf einen ausführenden Handlungsträger durch die Bestimmung des Stils oder durch eine Signatur möglicherweise gesichert, im Falle von Fotografien in Tageszeitungen hingegen spielt eine solche Zurechnung kaum eine Rolle und wird vielleicht aus urheberrechtlichen Gründen noch in sehr verkürzter, schriftlicher Form gewährt, ist für den kommunikativen Erfolg jedoch unnötig, irrelevant oder gar schädlich. Eine Darstellung als Mitteilung eines Mitteilenden zu verstehen, um sie kommunikativ zu verstehen, ist keine Bedingung für weitere Anschlüsse. Aus diesem Grund besteht auch keine Notwendigkeit darin, sich auf seine Wahrnehmung zu berufen. Die Bedingung liegt in der Darstellung selbst. Genau darin, wie sich ihre Kommunikativität beschreiben lässt, besteht das mit dem bloßen Hinweis auf psychisch und kommunikativ operable Formen nicht gelöste Problem. Wie steht es um den Zusammenhang von bewusstem Wahrnehmen und Kommunikativem? Wenn Luhmann schreibt: »Vom Bewußtsein aus gesehen findet alle Kommunikation in einer wahrnehmbaren Welt statt« (1995b: 27), muss man ihm entgegnen, dass das Bewusstsein weder Kommunikation wahrnehmen noch sehen kann, wie Bilder kommunikativ werden. Es greift zwar permanent auf seine ihm möglichen Wahrnehmungen zurück, um sich in seiner Welt wahrnehmend zu orientieren. Das Bewusstsein kann seine eigenen Wahrnehmungen auch in mancherlei Hinsicht steuern, um dieses oder jenes in den Blick zu bekommen und sich hierhin oder dorthin zu wenden. Auf Kommuni53

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kation bezogen gilt dies jedoch nicht, denn ebenso wenig wie sie sehen, hören oder riechen kann, wird sie gesehen, gehört oder gerochen. Sie ist schlichtweg nicht wahrnehmbar und kann daher nicht in einer wahrnehmbaren Welt liegen. Wie sollte man eine Operation, wie sollte man – um in Luhmanns Paradigma zu sprechen – die Synthese dreier Selektionen wahrnehmen können? Wie sollte man eine Mitteilung, eine Information oder ein Verstehen sehen können, da doch nur der Kommunikation überlassen bleibt, was ihr als Information, als Mitteilung und als Verstehen gilt? Und wie sollte man schließlich mitsehen können, wie einem sozialen System die ihm angemessene, durch seine Operationen bedingte Umwelt erscheint? Das System ist ausschließlich durch die Differenz bedingt, die sich zwischen ihm und seiner Umwelt etabliert und deren Prozessieren dem System zuzurechnen ist. Würde ein soziales System gesehen werden, brächte sich die Systemtheorie in die prekäre Lage, ihren Gegenstand auf psychische Prozesse zu reduzieren, der ihr damit verloren ginge. Die Reduktion bestünde darin, die Kommunikation als Sequenz der wahrgenommenen Umwelt ausschließlich von dem abhängig zu machen, was die psychischen Systeme intern zu erarbeiten fähig sind. Wenn man Kommunikation sehen, hören oder schmecken könnte, würde sie als bewusster Umweltbezug erscheinen, da alles Wahrgenommene zur Umwelt psychischer Systeme gehört, und sie würde in der Folge ihre eigene Operativität einbüßen. Sicherlich kann man etwas wahrnehmen, das an der Kommunikation partizipiert, so wie die eigenen Artikulationen und Aktivitäten Anteil sozialer Systeme werden. Damit hat man aber noch nicht die Kommunikation in den Blick bekommen, wie sie hier begriffen wird – als Operation. Offensichtlich dürfen das bildliche Sehen und das bildliche Kommunizieren nicht enggeführt werden. Was ein Bewusstsein auch immer wahrnimmt, denkt oder intendiert, unter den Bedingungen operativer Schließung hat es damit weder an Kommunikation angeschlossen noch hat es einem sozialen System zu seinem rekursiv ermittelten, intern vollzogenen Anschluss verholfen. Dies bedeutet aber auch, dass die gesehenen Formen, mit denen sich bspw. die formale Ästhetik und die Ikonographie beschäftigen, nicht die Formen der Kommunikation sein können. Jedes System prozessiert eigenständig – und das heißt: es prozessiert seine eigenen Formen. Psychische und soziale Systemreferenzen machen sich bspw. im Fall der historisch erfolgreichen, zentralperspektivischen Darstellung geltend, bei der man zuallererst auf die optische Position eines Sehenden rekurriert. Sowohl kommunikativ als auch psychisch relevant sind die Sehgewohnheiten und Darstellungsregeln, die sich mit der Portraitfotografie oder im Genrekino etabliert haben. So wie das Bewusstsein den Zugang der Kommunikation zu Gesehenem strukturiert, wird auch das bewusste Sehen unter sozialen Bedingungen erlernt. Häufig realisiert das Bewusstsein nur dasjenige, was sich leicht in die strukturellen 54

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Vorgaben der Kommunikation auf der einen Seite und dem optischen, neuronalen etc. Wahrnehmungsapparat auf der anderen einpasst, wodurch es sein Erleben auf ein Minimum an Freiheitsgraden reduziert. Nichtsdestotrotz bleibt das Erleben dem Bewusstsein überlassen, während die Koordination von Erlebbarem der operativen Struktur der Kommunikation obliegt. Auch die Formen, die Luhmann zwischen der Kommunikation auf der eine Seite und der Wahrnehmung auf der anderen Seite setzt und die der Wiederhol- und Wiedererkennbarkeit innerhalb sozialer Systeme dienen, hängen davon ab, dass sie sich für ihren kommunikativen Gebrauch als tauglich erweisen. Dies tun sie wiederum ausschließlich unter kommunikativen Hinsichten. Obwohl es unmöglich ist, dass das Wahrgenommene in der Kommunikation wieder auftaucht und umgekehrt, dass kommunizierte Information als ein psychischer Systemzustand die Welt erblickt, lässt sich offensichtlich ein Bedingungszusammenhang zwischen beiden konstatieren, von dem aus die Frage nach der Bildkommunikation erschlossen werden kann. Dieser Bedingungszusammenhang gibt die Fragerichtung der weiteren Ausführungen vor: Wie kann bei aller Eigenständigkeit der Systeme der vorauszusetzende Zusammenhang zwischen dem Sehen und der Kommunikation bestimmt werden?

Zur weiteren Untersuchung Fragt man unter den von Niklas Luhmann vorgegebenen, systemtheoretischen Prämissen nach der Bildkommunikation und damit nach der pikturalen Operativität sozialer Systeme, ergibt sich eine doppelte Problemlage: Einerseits muss geklärt werden, wie sich die kommunikative Operation unter den Verwendungsbedingungen ihrer Kommunikabilien strukturiert. Wie schließt sie sich und wie gelingt es ihr trotz des Verzichts auf Handlungszurechnungen, die Bedingungen für die systemische Reproduktion zu erfüllen, das heißt: handhabbare Anschlussmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen? Da die Systemtheorie auf Generalisierbarkeit setzt, muss die Antwort darauf für Kommunikabilien jedweder Art gelten. Sie muss in einer Weise gegeben werden, die die Kommunikabilien auf dem Niveau der operativ-strukturellen Verhältnisse interpretiert. Gelingt dies, können die Spezifika für das pikturale Kommunizieren abgeleitet werden. Unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation ist Bildlichkeit eine näher zu bestimmende Art des Prozessierens, des Anschließens und des Verstehens. Es geht folglich darum, um es mit einem Wort Luhmanns zu sagen, das pikturale »Verstehbarkeitsabschätzungswissen« (1984: 604) sozialer Systeme zu untersuchen. Daraufhin werden die Ausführungen zulaufen müssen: einen Ausdruck für das operative Moment zu finden, das man piktural nennen kann. Woraus aber sollen die Spezifika abgeleitet werden, wenn nicht 55

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daraus, dass Bilder gesehen werden? Das zweite Problem besteht also darin, einen Ausdruck für das Sehen von Bildern zu finden, der es in den Bedingungszusammenhang struktureller Kopplungen zu stellen vermag. Es ist nicht wichtig zu wissen, ob das Wahrnehmen bewusst wird bzw. bis in einen Zustand des bewussten Erlebens vordringt, um kommunikativ relevant zu werden, um also einen Beitrag zur Kommunikation zu erbringen. Ebenso müssen die Beteiligten einer Kommunikation nicht bewusst erleben, dass sie Beteiligte sind, damit ein kommunikativer Anschluss zu Stande gebracht wird. Vielmehr wird man die Verhältnisse desjenigen Sehens untersuchen müssen, das kommunikativ relevant gemacht werden kann. Folglich wird die systemtheoretische Prämisse aufgegeben, nach der das Bewusstsein an allen wahrnehmungsrelevanten, kommunikativen Operationen maßgeblich und primär beteiligt ist. Der Bedingungszusammenhang zwischen dem Sehen und der Kommunikation widerspricht der Annahme, dass das bewusste Sehen der Kommunikation immer und zwangsläufig vorgeschaltet ist und dass in der Kommunikation nur vorkommen kann, was das Bewusstsein ihr anheim stellt. Die Kommunikativität von Bildern bleibt zwar abhängig davon, dass sie gesehen werden, sie entzieht sich jedoch der notwendigen Abhängigkeit einer privilegierten psychischen Mittlerrolle. Dies ist die einfache Konsequenz aus dem Ergebnis, dass psychische Systeme erleben und dass soziale Systeme Erlebbares koordinieren, ohne selbst erleben (oder sehen) zu können. Daher wird im Weiteren auf eine Systempräferenz verzichtet, um die Kopplungsform des Sehens zu ermitteln. Da die vorliegende Studie auf kommunikative Verhältnisse zielt, ist sie von einer Asymmetrie gekennzeichnet. Das Sehen und die Wahrnehmung müssen nicht in ihrer Operativität untersucht werden, wie es für die Kommunikation geschehen soll. Wie sich das Sehen vollzieht, kann weitestgehend unberücksichtigt bleiben. Die visuelle Wahrnehmung und speziell die visuelle Wahrnehmung von Bildern muss nur in der Hinsicht untersucht werden, in der sie von den Strukturierungsleistungen der Kommunikation aufgenommen wird, in der sie also an soziale Systeme gekoppelt ist. Demnach lautet die Frage, die sich an das Sehen von Bildern stellt: In welcher Form ist es strukturell an die Kommunikation gekoppelt? Mit Bezug auf die Kommunikation kehrt sich die Fragerichtung um. Da ihre Operativität im Mittelpunkt des Interesses steht, wird nicht ihre Kopplungsform ermittelt, die vom Sehen aufgegriffen und informativ gemacht werden kann. Vielmehr wird zu untersuchen sein, wie sich die Kopplungsform des Bildersehens in der Kommunikation auswirkt. Aus diesem Grund beginnt die Studie beim Sehen und bei der Sichtbarkeit, leitet daraus die gesuchte Kopplungsform des Bildersehens ab und nutzt sie schließlich zur Beschreibung des pikturalen Kommunizierens. Mit diesem asymmetrischen Untersuchungsde56

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sign wird nicht nur die Schnittstelle zwischen der Wahrnehmung und der Kommunikation in den Blick genommen, um ein Theorieangebot für ihre Problemlage zu entwickeln. Die Studie votiert zugleich dafür, die Bedingtheit und die Grenzen der Wahrnehmung zu erkennen, um sich den Fragestellungen der Kommunikation und das heißt: der Sozialität und letztlich der Praxis zuwenden zu können. Das Sehen ist ein Wahrnehmungssinn, der optisch, physiologisch, neurobiologisch, psychologisch oder phänomenologisch bestimmbar ist. In allen diesen Versionen des Sehens geht es darum, dass etwas sieht und dass etwas gesehen wird. Sie unterscheiden folglich allesamt zwischen einer sehenden und einer gesehenen Instanz, die als Koordinaten des Sehens fungieren. Im zweiten Abschnitt wird diese koordinierende Visualitätsdifferenz durch verschiedene Theorien des Sehens verfolgt. Es stellt sich heraus, dass das Sehende und das Gesehene sich nicht von allein aufeinander beziehen. Sie werden vielmehr aufeinander bezogen, sie werden als Visualitätsdifferenz selbst noch einmal koordiniert. Die Möglichkeitsbedingung dafür wird als Sichtbarkeit beschrieben. Die Visualitätsdifferenz muss sich nicht nur in den visuellen Systemen bewähren, die von den verschiedenen Versionen des Sehens beschrieben werden. Sie muss auch konstituiert und stabilisiert werden. Sie koordiniert nicht nur das Sehen, sondern unterliegt ihrerseits einer Koordinationsweise, die ihr eigenes Recht einfordert und in eigener Hinsicht untersucht werden muss. Dies geschieht im dritten Abschnitt unter dem Titel der Aufmerksamkeit oder Attentionalität. Mit Hilfe der Beobachtungstheorie Ranulph Glanvilles und mit einigen Interventionen von Gilles Deleuze wird ein Konzept entwickelt, das die Konstitution und das Abgestimmtsein der Visualitätsdifferenz vorführt. Dabei geht es nicht mehr darum, was ein visuelles System sieht und welche Funktionen und Kompetenzen dem Sehenden zukommen, wie das visuelle System aufgebaut ist, welchen Komplexitätsgrad es erreicht und welchen Limitationen es unterworfen ist. Vielmehr sollen die Strukturen herausgestellt werden, mit denen die Visualitätsdifferenz gehandhabt oder koordiniert wird. In Glanvilles Konzeption geht es um Objekte der Aufmerksamkeit, die sich gegenseitig beobachten und dabei eine Beobachtungsstruktur entwerfen. Die Objekte können Relationen errechnen und Relationen von Relationen ermitteln, das heißt Komplexität beobachten. Sie können zudem Modellierungen vornehmen, also andere Objekte so beobachten, dass diese Modellobjekte die Beziehungen zu einer Mehrheit anderer Objekte organisieren. Mittels der konfigurierbaren Beobachtungsstrukturen lässt sich zeigen, wie mit dem Sehen verfahren wird, ohne näher darauf eingehen zu müssen, was im Einzelnen sieht oder gesehen wird. Es lässt sich zudem zeigen, wie die Visualitätsdifferenz im Fall von Bildern koordiniert wird. Auf diesem Wege erhält man 57

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den gewünschten Ausdruck für die Form des Sehens, die auch in kommunikativer Hinsicht relevant zu machen ist. Wenn das Sehen den Maßgaben dieser attentionalen Form folgt, hat man es mit einer an die Kommunikation gekoppelten Wahrnehmung zu tun. Um den gefundenen Ausdruck zu überprüfen, wird er an dem wahrnehmungspsychologischen Ansatz exemplarisch durchgespielt, den James Gibson vorgelegt hat und der von Margaret Hagen weiterentwickelt wurde. Zugleich werden die Grenzen ihres Ansatzes aufgezeigt. Da die Kritik letztlich durch den Bildbegriff motiviert ist, ergibt sich die Notwendigkeit, ihn zu präzisieren und ihm seine bis dahin durchgehaltene Vorläufigkeit zu nehmen. Damit beschäftigt sich der vierte Abschnitt. Den methodischen Vorgaben folgend kann die Bildlichkeit nur innerhalb eines operativ-strukturellen Untersuchungsfeldes aufgesucht und begriffen werden. Den Ausgangspunkt dafür liefert ein doppeltes Sehen, das in den Materialgestaltungen Gegenstände oder anderes mehr erkennen kann. Dieses Sehen-in ist unverzichtbar. Wenn man nicht auf seine doppelte Weise sieht, hat man es nicht mit einem bildlichen Sehen und folglich auch nicht mit Bildern zu tun. Gewiss kann man dank bildlicher Gegenstände auch besondere Farbempfindungen oder andere Wahrnehmungseffekte erleben, die das Sehen-in nicht erfasst. Sie werden aber nur zu einem bildlichen Sehen, wenn sie auf seine Form zurückgeführt werden können; ansonsten wären diese Empfindungen vom Sehen der faszinierenden Farbspiele des Nordlichts nicht unterscheidbar. Die Auffassung des bildlichen Sehens von Gestalten in Materialgestaltungen ist nicht neu. Man findet sie bereits bei Konrad Fiedler. Die Konzeption der Attentionalität gibt jedoch ausreichende Mittel an die Hand, um eine genauere Bestimmung vorzunehmen. Das pikturale Sehen-in unterscheidet sich von anderen Formen – zum Beispiel vom Sehen einer tänzerischen Bewegung im Rauch einer Zigarette – durch eine besondere symbolische Beobachtungs- oder Aufmerksamkeitsstruktur. Es wird gezeigt, dass nur das Sehen von Bildern in dieser Weise strukturiert ist. Darüber hinaus wird die Morphogenese der pikturalen Sehform nachgezeichnet, die dann zu Stande kommt, wenn sowohl eine exogene als auch eine endogene Grenze gezogen werden. Die Grenzen liegen im Sehen selbst und beruhen auf seiner Attentionalität. Damit gelingt es, den Bildbegriff von der Einzelgegenständlichkeit eines Gemäldes, einer Fotografie oder eines Films zu lösen, die problematisch wird, sobald man nach der pikturalen Operativität sozialer Systeme fragt. Denn sie haben weder Hände, um ein Gemälde an die Wand zu hängen, noch Augen, um die Unterschiede zwischen dem Gemälde und der Wand zu identifizieren. Die exogene und die endogene Grenze definieren die Operabilität des Bildersehens und markieren zugleich, wie es in einen nicht-bildlichen Sehbereich wechselt bzw. wie seine Funktion, die Visualitätsdifferenz zu koordinieren, tiefgreifend erschüttert wird. Bei Bil58

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dern liegen beide Grenzen zwar notwendigerweise gemeinsam vor, müssen aber nicht immer in gleicher Weise aufeinander bezogen werden. Es lassen sich Verfahren des Sichtbarmachens beschreiben, die sich dieser Grenzen bedienen (Endogenese und Exogenese) und das Sehen an ihnen entlangführen. Damit endet der vierte Abschnitt. Die dem Sehen gegebenen Gestaltungen über seine Aufmerksamkeitsstruktur zu begreifen hat den entscheidenden Vorteil, dass sie auch hinsichtlich der Kommunikation behandelbar werden. Ihre Bildlichkeit ist darüber zu erschließen, dass die Form des Bildersehens erwartet und erwartbar gemacht werden kann. Es kommt nicht auf den Vollzug der Wahrnehmung an und nicht darauf, wer was auf welche Weise in einem Bild sieht. Entscheidend ist vielmehr, dass die Kommunikation mit einer bestimmten Koordinationsweise des Sehens rechnet, um piktural zu verfahren. Hiervon ausgehend kann der fünfte Abschnitt schließlich die Frage nach der Bildkommunikation beantworten. Zunächst widmet er sich den operativen Effekten der strukturellen Kopplung in den beteiligten Systemen. Sie wird über eine in ihnen parallel prozessierte, symbolische Regulation vermittelt, die es den Systemen ermöglicht, auf ihre eigene Informationsverarbeitung Einfluss zu nehmen. Mit Ernst Cassirer lässt sich zeigen, wie die symbolische Regulation das Bewusstsein bzw. die psychischen Systeme in die Lage versetzt, den Grad der eigenen Informiertheit zu bestimmen. Für die Kommunikation wird eine entsprechende Verfahrensweise angenommen. Auf diesem Wege erhalten die gekoppelten Systeme die Möglichkeit, die aneinander festgelegten Strukturvorgaben für ihre interne Operativität frei zu nutzen. Für das Sehen heißt das: Sobald es in einem Bild sieht – was auch immer es zu erblicken vermag –, ist es sozial gekoppelt. Für die Kommunikation heißt das: Sie verfährt derart, dass sie die Erwartbarkeit des pikturalen Sehens variabel einsetzen und handhaben kann, ohne seine Attentionalität vernachlässigen zu dürfen. Demnach gibt es ein auf Bildlichkeit spezialisiertes Verstehen, das Anschlussmöglichkeiten für weiteres Verstehen eröffnet und so die Kommunikation operativ schließt. Um dies kenntlich zu machen, wird die Symboltheorie Nelson Goodmans herangezogen. Mit ihr lassen sich verschiedene Weisen des Verstehens unterscheiden und das pikturale Verstehen spezifizieren. Seine eigenen Strukturierungsleistungen, die durch es behandelte Mitteilung und die aus beiden resultierende Information werden abschließend beschrieben.

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Sehen und Sichtbarkeit Die Differenz der Visualität Wie man das Sehen auch beschreibt und welche Operationen es vollzieht, es wird durch die Differenz zwischen zwei Instanzen, zwischen einem Sehenden und einem Gesehenen bestimmt. Diese Visualitätsdifferenz ist irreduzibel und das Grundschema eines jeden Verständnisses des Sehens. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich das Sehende und das Gesehene in den vielen Versionen des Sehens deutlich voneinander. Viele antike Auffassungen beschreiben die Visualitätsdifferenz zum Beispiel mittels eines emittierten Kegels von Sehstrahlen, die die Dinge in der Distanz zum Auge erfassen. Der Sehstrahl geht vom Auge aus, verbindet sich mit dem ihm ähnlichen Licht und, wie bei Ptolemäus zu lesen, erreicht die Gegenstände bzw. stößt, wenn man Demokrit folgt, auf die ihm entgegenkommenden Abstrahlungen. Solange man umherblickt, geht vom Auge eine Emission aus, wodurch es einen unmittelbaren Eindruck bzw. im Fall der emanistischen Auffassung ein mittelbares Bild (eidolon) der Dinge erhält. Hieraus resultiert eine eigenartige Konsequenz: »So findet das Sehen außerhalb der Grenzen unserer Körperoberfläche statt, so weit wie unser Blick reichen kann« (Simon 1992: 45). Es ist für das zeitgenössische Verständnis nicht unmittelbar eingängig, wie Gérard Simon mit der notwendigen Deutlichkeit hervorhebt, dass die Empfindung vom Körper losgelöst ist und sich nicht auf ein wahrnehmendes Subjekt oder auf einen die Empfindungen verarbeitenden Körper bezieht. Das Sehende liegt im Sehstrahl. Er wird von den gesehenen Dingen seiner Umgebung gefärbt und bemisst die Distanz zu ihnen – seit Euklid in geometrischer Manier. Gemäß Ptolemäus erreicht der Sehstrahl die Dinge immer an ihrem Platz, und zwar auch dann, wenn man wie bei der Reflexion im Spiegel und bei der Refraktion im Wasser einem Irrtum unterliegt und das Gesehene, also das sich manifestierende Bild, falsch lokalisiert: »Es ist der Ort, den wir fälschlicherweise dem zuweisen, was wir woanders mit unserem Sehen berühren – es ist die Position einer Illusion« (ebd.: 214). Im antiken Verständnis des Sehens spielt das Licht offenkundig nur eine nebengeordnete Rolle, gleich ob der Sehstrahl die gesehenen Dinge oder die von ihnen ausgehenden 61

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Emanationen das blickende Auge erreichen. Folgt man den Analysen Gérard Simons, sind einzig die Farben genuin zu sehen Gegebenes, da alle anderen Eigenschaften der Dinge auch durch nicht-visuelle Erfahrungen ermittelt werden können. In der aristotelischen Lesart kommt zum Farbensehen eine vermittelnde Instanz hinzu, da man für das Sehen ein mehr oder minder transparentes (diaphanes) Medium benötigt, durch das hindurch die Farben auf die Augen einwirken können. Dem Licht bzw. dem Feuer fällt die Aufgabe zu, dieses Diaphane zu aktualisieren, es wirksam werden zu lassen. Ebenso wie die Luft und das Wasser gehören dem Diaphanen die umgebenden, festen und undurchsichtigen Gegenstände an. Während sie lediglich die ihrer Oberflächenfarbe gemäßen Bestimmung des Diaphanen aufweisen, können Wasser und Luft auch andere Farben annehmen: »Durch sich selbst sichtbar ist also einzig die Farbe der Dinge; doch sie kann nicht wahrgenommen werden ohne ein Zwischenglied, nämlich die zusammenhängende Folge sich bis ins Augeninnere fortsetzender transparenter Medien, denn was in direktem Kontakt mit dem Augapfel steht, sieht man nicht. Das Licht ist lediglich die Wirksamkeit dieser Eigenschaft der Transparenz.« (Simon 1992: 54) Die Diaphanität bezieht sich nicht darauf, wie das Sehen abläuft oder wie das Gesehene und das Sehende zu begreifen oder gar wo sie zu lokalisieren sind. Mit ihr bemüht sich Aristoteles nicht um das Sehen, sondern um das Sichtbare. Mit dem Diaphanen sind weder das Sehende noch das Gesehene oder die Differenz zwischen beiden angesprochen, sondern die Sichtbarkeit der im Lichte wirkenden Farben. Während die Farben gesehen werden, ist mit dem Diaphanen die Sichtbarkeit gegeben und damit zugleich die Möglichkeit geschaffen, die Farben der Dinge überhaupt erst sehen zu können. Dem muss sich das Licht lediglich einfügen. Die Auffassung, dass das Auftreffen des Lichts auf das Auge das Sehen zu Stande bringt, setzt sich erst seit den Arbeiten Alhazens im 11. Jahrhundert durch. Mit dem seit Kepler erreichten Verständnis, dass das Auge eine Linsenfunktion ausübt, die ein reales Netzhautbild erzeugt, kann man das Sehen auf eine Physik des Lichts zurückführen. Sie verlegt das Gesehene in die das Licht reflektierende Gegenstände und das Sehende in die Erfassung des gebündelten Lichts. Das Sehen gleicht einer Pyramide von Lichtstrahlen, die von allen Dingen gleichermaßen ausgehend in der Linse kulminieren und sich auf die Netzhaut projizieren. Da die Projektion auf der Retina ihrerseits als Gesehenes beschrieben wird – das Forscherauge sieht, was das beforschte Auge sieht –, begründet sich das Sehen in einer zirkulären Weise: das Sehende wird zum Gesehenen. Insofern das Sehende mit dem Gesehenen

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zusammenfällt, sieht es sich selbst.1 Das retinale Bild und der dem Licht ausgesetzte Gegenstand entsprechen einander Punkt für Punkt, wie der sehende Forscher leicht überprüfen kann, da für ihn kein anderes Verhältnis gilt. Ebenso korrespondieren die beiden Netzhautbilder des binokularen Sehens miteinander. Sie können problemlos Punkt für Punkt zusammengesetzt werden, da sie von vornherein miteinander assoziiert sind. Alles verbindet sich in einer perfekten Weise. Ist die Linse falsch justiert oder verfehlt die Korrespondenz der beiden Projektionen ihre Funktion, wird das Bild zwar unscharf; dem wirken die Augenbewegungen jedoch entgegen. Der Körper verfügt somit über eine optisch-mechanische, sehende Einrichtung, die dank der ubiquitären Verteilung des Lichts das Gesehene erfassen kann. Die Visualitätsdifferenz verschiebt sich noch einmal radikal, wenn man – wie dank der seit Descartes üblichen Dreiteilung in physikalische, physiologische und psychologische Aspekte möglich (vgl. Simon 1992: 20) – danach fragt, wie auf das empfangene Licht psychophysisch oder psychisch reagiert wird. Das Erfordernis zu einer Verschiebung ergibt sich aus der Erkenntnis, dass die Analogie des Sehens mit der Projektion durch eine Linse in die Kritik gerät: So hat die Retina zum Beispiel nicht die homogene Struktur eines Projektionsschirms; die Bewegungen des umherblickenden Auges bleiben unberücksichtigt; und schließlich kann die These einer Punkt-zu-Punkt-Entsprechung wegen der binokularen Disparation nicht weiter aufrechterhalten werden. Das Netzhautbild beginnt wie eine Tätowierung zu verblassen. Was aber sieht man, wenn man nicht das ins Auge projizierte Bild der Dinge sieht? Licht, Farben, Formen? Um sich vom Zwang einer Entscheidung zu befreien, sagt man: Es gibt einwirkende, energetische Reize mit darauf folgenden oder ausbleibenden Reaktionen, die von einem externen Beobachter bestimmt und in experimentellen Anordnungen kontrolliert werden können. Kurz, man inthronisiert das Reiz-Reaktions-Schema. Obwohl die Projektion auf der Retina nun nicht mehr das Gesehene determiniert, da die Erregung der Netzhautzellen aufhört, zugleich das Gesehene zu sein (wie im Falle der unterschrittenen Wahrnehmungsschwelle bei zu kurzen oder zu schwachen Reizen besonders deutlich wird), fordert das Bild hartnäckig und beständig seine Referenz ein. Es stellt die Reizung dar, die zunächst in eine chemische, daraufhin in eine neuronale und schließlich in eine psychische Reaktion mündet. Das Bild wandelt sich zum retinalen Reiz oder Reizmuster, das einem Sehenden gegeben wird, und präfiguriert insofern das Gesehene. Um in Experimentalanordnungen überprüfbare Ergebnisse über das Sehen zu erzielen, ist man genötigt, Reize zu isolieren und zu dosieren, sie distinkt zu halten und von Nicht-Reizen zu unterscheiden. So

1. Zu den hierdurch erzeugten Paradoxien vgl. Becker 1978. 63

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bestimmt die Psychophysik ihre Stimuli meist über physikalische Größen, die zu den ausgelösten Empfindungen – oder besser: zu ihren Beobachtungen und Protokollen – ins Verhältnis gesetzt werden. Um die Stimuli definieren und verabreichen zu können, bedarf es vorgängiger Überlegungen über die Beschaffenheit der Aufnahme von Reizen, über erwartete Empfindungen und über mögliche Reaktionen. Wo liegen in diesem Arrangement nun das Sehende und das Gesehene verborgen? Das Gesehene darf nicht mit dem Reiz identifizert werden, da die Stimuli physikalisch definiert sind und als solche kaum gesehen werden können. Stattdessen werden ihre Wirkungen wahrgenommen, die gegebenenfalls auch – darin besteht ein schwerwiegendes Problem für die Psychophysik – aus fehlenden Stimuli resultieren können. Das Gesehene liegt folglich in den vereinzelten oder sequenzierten, jedenfalls in den zu quantifizierenden Erregungen und Empfindungen. Indem aus dem empfangenen Reiz eine Reaktion abgeleitet und ein Unterschied zwischen beiden markiert wird, erhält man das Sehende. Es resultiert aus einem zugemuteten, den Experimentalanordnungen geschuldeten Beobachtungsschema, das aus einem Zu-sehen-Gegebenen Rückschlüsse auf ein Gesehenes (des Probanden) erlaubt. Wenn die Gestaltpsychologie Kurt Koffkas der Frage folgt, warum die Dinge so aussehen, wie sie es eben tun, bereitet die Positionierung des Sehenden und des Gesehenen zunächst keine Probleme. Die umgebenden Dinge werden phänomenal begriffen, sie werden schlichtweg gesehen und das Gesehene kann beschrieben werden. Hierdurch verliert das Reiz-Reaktions-Schema seine leitende Funktion, obwohl nach wie vor Reize experimentell konditioniert werden und die Beschreibungen des Gesehenen auf das Sehen insgesamt schließen lassen. Allerdings fragt man nicht meh nach dem Sehenden oder nach dem Gesehenen, sondern danach, wie ihre Differenz vermittelt ist, wie sich das Sehen auf sein Gesehenes einstellt und welchen Prinzipien oder Gesetzen die Wahrnehmung dabei unterliegt. Dabei stößt die Gestaltpsychologie auf Zu-sehen-Gegebenes, das ungesehen bleibt, und auf Gesehenes, das nicht zu sehen gegeben wurde, also auf eine Diskrepanz zwischen den Stimuli und demjenigen, das offensichtlich gesehen wird. Das Sehen beruht nicht allein auf dem einfallenden Licht, sondern auf eine teils erlernte und teils angeborene Durchmusterung der Reizsituation. Die wichtigsten gestaltpsychologischen Errungenschaften sind bekannt: der Unterschied zwischen Figur und Grund, die Prägnanz und die Konstanz des Wahrgenommenen, die Ganzheit einer Gestalt, die mehr als die distinkten Reize ist, und anderes mehr.2 Die Gestaltpsychologie wirft die Frage wird auf, wie man im Sehen zwischen Gesehenem und Ungesehenem unterscheiden kann, und stößt damit an ihre

2. Vgl. Metzger 1975 und 1986. 64

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Grenze, weil sie das Sehende in einem nicht mehr phänomenal orientierten Sinne beurteilen müsste. James Gibson bezieht sich zur Klärung des Gesehenen und des Ungesehenen auf die Propriozeption und das kinästhesische Mitwahrnehmen der eigenen Bewegungen. Man sieht zwar aktuell immer nur, was man sieht; dies fügt sich jedoch in einen allgemeinen Aufmerksamkeits- und Orientierungsprozess ein, sodass das Ungesehene keinerlei Problem mehr darstellt und das Gesehene von mehr abhängt als von der Reizung durch das auf die Retina einfallende Licht. Das Sehen findet nicht in einem euklidischen Tiefenraum statt, sondern durchmisst mittels der Sakkaden, binokularer Konvergenz-Divergenz-Effekte, Kopfbewegungen und anderer Funktionen des visuellen Systems informative Oberflächen. Gibson definiert ein Wahrnehmungssystem allgemein als »ein Organ mitsamt seiner Anpassungsleistungen auf einer jeweils gegebenen Stufe seiner Funktion«.3 Die Information bezieht sich nicht auf die durch die Energie des Lichts erregbaren Rezeptoren der Netzhaut, sondern allein auf das visuelle System, das die luminösen Relationen nutzt und ihre zum Teil durch die eigenen Bewegungen in der optischen Anordnung (ambient array) anfallenden Transformationen in einem doppelten Sinne zu berücksichtigen weiß.4 Das visuelle System ist auf Grund der innerhalb der Transformationen bestehenden Invarianten exterozeptiv über die Umwelt und zugleich propriozeptiv über sich selbst informiert. Dies bedeutet, von Information kann nur in Bezug auf den funktionalen Zusammenhang des Systems gesprochen werden. Der retinale Reiz büßt seine Dominanz ein: »In einer optischen Anordnung gibt es keine Reize« (1982: 229). Gibson leugnet sie keineswegs, bezweifelt allerdings, dass es sich bei ihnen um ein Wirklichkeit vermittelndes Muster oder gar um ein Bild handelt, das von den Gegenständen abgestrahlt wird und im Auge konvergiert: »Der einzige Weg ist […] davon abzugehen, daß der Netzhautreiz eine Art Bild ist. Was ein Objekt kennzeichnet, sind Invarianten, die selbst ›formlos‹ sind« (ebd.: 182). Sie zu registrieren ist die Aufgabe der Netzhaut, die dem Sehen funktional ein- und untergeordnet ist. Das retinale Bild und mit ihm seine physikalisch-optische Begründung haben endgültig den Wert zur Vermittlung des Sehenden und Gesehenen verloren. Gibson rückt entschieden von dem projektiven Modell der Optik ab. Man vermutete in den optischen Täuschungen, die mit den kongruenten Projektionen von tatsächlich verschieden geformten Gegenständen einhergehen, ein Indiz für den adäquaten Rückschluss vom Projizierten auf den Gegenstand, von dem die Projektion ausging. Den Grund dafür sah man in der Bestätigung der Geometrie: Wenn man sich

3. Vgl. Gibson 1982: 263 ff.; zum visuellen System vgl. auch Gibson 1973: 232 ff. 4. Vgl. Gibson 1973: 232 ff. 65

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bei der Konstruktion von zu sehen gegebenen Räumen nur genau genug an ihre Gesetze hält, täuscht sich die Wahrnehmung über die tatsächliche Beschaffenheit der Gegenstände, sodass die Geometrie ein Kriterium zur Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Sichtweisen liefert und damit selbst nur richtig sein kann – so vermutete man. Dem hält Gibson entgegen, dass die Geometrie nur solange Recht behält, wie das Sehende in eine einäugige Starre verfällt und das Sehen sich so weit einschränkt, wie zur eigenen Täuschung eben notwendig ist. Der Grund, der bisher für das Netzhautbild sprach, spricht ebenso gegen es. Verhielte sich das Sehen tatsächlich der Optik gemäß, könnte jeder gesehene Gegenstand auf viele verschiedene Projektionen zurückgeführt werden. Wie sollte man noch zwischen irrtümlichen und angemessenen Wahrnehmungen unterscheiden können? Stattdessen trifft das visuelle System die fälligen Unterscheidungen vermittels seiner aktiven Erkundungen, die ihm dank der Oberflächenstrukturen ermöglicht werden: »Sehen [see] hat seinen Sitz nicht im Körper, so wie man den Geist mit Sitz im Gehirn gedacht hat. Die Wahrnehmungsfähigkeiten des Organismus liegen nicht in konkreten, anatomischen Teilen des Körpers, sondern in Systemen mit ineinandergeschachtelten Funktionen. […] Nimmt man das Schauen [look] mit den Augen für sich allein, dann ist es eher ein Hinschauen, nicht Herumschauen. Es ist das Durchmustern (scanning) eines Objekts, einer Druckseite oder eines Bildes. Man schaut auch mit dem Kopf, nicht mit den Augen, oder exakter ausgedrückt, mit dem Kopf-Auge-System.« (Gibson 1982: 221) Das Licht vermittelt die Informationen der räumlichen Oberflächenbeschaffenheiten, die die Umgebung des Sehenden bereithält und die es – wie in einem Spiel den Ball – einzufangen gilt. Man weiß, dass die Information vorhanden ist, weil man gelernt hat, sie in Relation zum eigenen Verhalten nutzbar zu machen. Um in diesem Ansatz das Gesehene und das Sehende zu bestimmen, muss man mit der Tradition brechen: »Farbe, Form, Lokalisation, Raum, Zeit und Bewegung sind Themen, die durch Jahrhunderte abgehandelt wurden; aber sie sind nicht das, was man wahrnimmt« (ebd.: 258). Das Gesehene ist nicht identisch mit der Umwelt, da immer nur ein begrenzter Bereich dessen gesehen wird, was gesehen werden kann. Und da die optische Anordnung wegen der Beständigkeit und der Wechsel in der Umwelt teils bewahrt bleibt und teils gestört wird, besteht das Gesehene ebenfalls nicht in einer statischen Lichtsituation. Vielmehr muss man ihre raumzeitlichen Eigenschaften berücksichtigen: Es ist wahrscheinlich, so zieht Gibson den Schluss aus Experimenten zur Wahrnehmung von Außen- und Eigenbewegung, »daß die optische Information für ›Oberflächigkeit‹ nicht einfach im nahen Zusammensein von Flächeneinheiten innerhalb der optischen Anordnung besteht […], sondern in der Nicht-Versetzung der nachbarschaftlichen Ordnung dieser beständigen Oberflächeneinheiten über die Zeit« (ebd.: 202). Kurz, das Gesehene ist mit den Transforma66

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tionen der optischen Anordnung gegeben. Das Sehende hingegen liegt in derjenigen Funktion des visuellen Systems, der es obliegt, daraus relevante Information zur Orientierung in der Umwelt zu extrahieren. Die Invarianten der transformierenden Lichtstruktur sorgen dabei für die notwendige Stabilität der Visualitätsdifferenz. Auch in der Gestalttheorie beruht die Visualitätsdifferenz auf vermittelnde Invarianten. Bei Gibson fungieren sie hingegen als Strukturmerkmale, sie sind keine Figuren, Formen oder Gestalten. Das Sehende und das Gesehene bleiben unter Bewegungsbedingungen des visuellen Systems relativ zur Umwelt und unter Veränderungsbedingungen der Umwelt im Verhältnis zum System stabil aufeinander bezogen. Da es sein Sehendes aktiv in der Umgebung positioniert, sodass neben dem Gesehenen auch das aktuell Ungesehene sichtbar bleibt, sind das Sehende und das Gesehene stets aufeinander bezogen, miteinander verbunden und ineinander verschränkt. Das visuelle System versorgt sich über das Gesehene mit Invarianten, die über die eigene Position Auskunft geben. So liegt bspw. der Nasenrücken stets in der Reichweite des Blickfeldes (field of view) beider Augen und vermittelt dem Sehenden die eigene Position innerhalb des Sehfeldes (visual field) der Empfindungen, aus denen in der Regel zwei disparate Stichproben kontinuierlich entnommen werden. Die Überlappung beider Blickfelder, ihre Ausschnitthaftigkeit, der teils gesehene Körper und schließlich der ungesehene eigene Kopf verstärken die Einsicht, dass sich das visuelle System inmitten seiner Umwelt weiß. Darüber hinaus nimmt es mittels seiner Augenbewegungen exploratory adjustments und mittels der Pupille, der Netzhautzellen u.a.m. optimizing adjustments vor. Das visuelle System nimmt sich zu sehen, was es zu sehen gibt. Es markiert permanent die Differenz zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen. Der ökologische Ansatz Gibsons weist dem Sehen die Funktion zu, die Information auf Grund von Flächenanordnungen, die in Sicht kommen können, aus der Umwelt zu extrahieren und ihren Zugang zu erkunden und zu optimieren. Dies unterscheidet sich deutlich von konstruktivistischen Konzepten, in deren Sinne es zwar ebenfalls dem visuellen System obliegt, die Differenz zu markieren. Obwohl äußere Einwirkungen es stimulieren, wird die Information jedoch auf Grund seiner eigenen erreichten Zustände vom System erarbeitet: »Die Umwelt enthält keine Information: die Umwelt ist, wie sie ist« (von Foerster 1985c: 85).5 Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass das System in Differenz zur Umwelt steht und dass diese Differenz durch die Leistungen

5. Deutlicher noch: »Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung« (von Foerster 1985d: 25). Zu den neuronalen Prozessen des Sehens vgl. zum Beispiel Roth 1996: 98 ff. 67

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des Systems bestimmt wird. Der Unterschied liegt indes darin, wie die Differenz eingerichtet ist. Im ökologischen Ansatz richtet sich das visuelle System eben auf die Umwelt aus und orientiert sich an dem, was ihr zu entnehmen ist. Dabei kann man sich nicht auf die anfallenden Reize und ihre kognitive Weiterverarbeitung allein beschränken, wie es für die neurobiologische Forschung üblich ist. Die Neurobiologie konstatiert einen den neuronalen und zerebralen Zuständen eigenen Operationstypus, in dessen Vernetzungsstruktur und Topologie das Sehen zu suchen ist und die Unterscheidung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen getroffen wird. Man stößt jedoch auf eine entscheidende Schwierigkeit. Die neurobiologische Forschung gelangt zu dem Schluss, dass die Nervenimpulse ausschließlich über die Rezeptoren und die Intensität eines Reizes zu Stande kommen, von der Modalität des Reizes jedoch unbeeinflusst bleiben. Zudem werden die zu verarbeitenden internen Impulse mit vorhandenen, durch vorhergehende Prozesse ermittelte Gedächtnis- oder Netzwerkstrukturen abgeglichen. Konsequenterweise dürfte man im Sinne eines so argumentierenden Ansatzes keine äußeren Einflüsse unterscheiden (Licht, Schall u.a.). Wenn man dies dennoch tut, setzt man Gegebenheiten voraus, die am Ende wieder negiert werden. Man versucht sich der Schwierigkeit zu entledigen, indem man sich auf das Bewusstsein und seine verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten beruft: Was auch immer die neuronalen Netze erarbeiten, sie vermitteln es dem Bewusstsein und geben es ihm in der Form des Sehens, Hörens etc.; und das Bewusstsein kann nur zwischen den verschiedenen Modalitäten unterscheiden, weil es ihre Unterschiede durch die neuronal-zerebralen Verarbeitungskapazitäten erfahren hat. Wie aber hängt die bewusste Wahrnehmung mit diesen Kapazitäten zusammen? Wie weit trägt die folgende Argumentation Gerhard Roths: »Ich behaupte, daß das Auftreten von Bewußtsein wesentlich mit dem Zustand der Neuverknüpfung von Nervennetzen verbunden ist. Je mehr Verknüpfungsaufwand getrieben wird, desto bewußter wird der Vorgang, und je mehr ›vorgefertigte‹ Netzwerke für eine bestimmte kognitive oder motorische Aufgabe vorliegen, desto automatisierter und unbewußter erledigen wir diese Aufgabe. Bewußtsein ist das Eigensignal des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems (ob sensorisch, motorisch oder intern-kognitiv) und des Anlegens entsprechender neuer Nervennetze; es ist das charakteristische Merkmal, um diese Zustände von anderen unterscheiden zu können.« (Roth 1996: 233) Nachdem die Unerschütterlichkeit der Weltsicht im Lichte der Physik abgestreift wurde, muss man fragen, wie das Sehende dem Gesehenen noch entsprechen, wie das Sehen der visuellen Systeme und die nur ihnen zukommenden Eigenschaften mit der eigenen, evidenten Seherfahrung noch verbunden werden können, auf die sich die Psychologen ebenso wie die Neurobiologen verlassen. Es handelt sich um ein Reprä68

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sentationsproblem, das allerdings nicht mehr nach der wahren Abbildung und nicht mehr nach dem Schein fragt, sondern nach der Wirkund Wirklichkeitsmächtigkeit des eigenen Beschreibungswissens. Welche Anteile des Sehens sind kontingent und welche sind invariant, was wird erlernt und was ist angeboren? Wird die visuelle Information, auf der das Sehen beruht, decodiert, extrahiert oder konstruiert? Wie sind das Sehende und das Gesehene, was auch immer diese Positionen einnimmt, aufeinander abgestimmt? Und schließlich: Wie hängt all dies mit der Seherfahrung zusammen? Die Beobachtung, dass das erfahrbare Sehen vom Sehen eines Auge-Gehirn-Systems oder anderer konstruierbarer Systeme, die die Visualitätsdifferenz vorführen, grundverschieden ist, verlangt Konsequenzen. Roth reagiert mit der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Realität. Die Wirklichkeit der Phänomene, der mentalen Zustände, des Körpers und des wahrgenommenen Äußeren steht der Realität der neuronalen Prozesse bzw. einer transphänomenalen Welt gegenüber, die die phänomenale Wirklichkeit erst errechnet. Bei ihr handelt es sich um ein aus dem Verfahren des Gehirns und der operativ bestimmten Sinnesmodalitäten hervorgegangenes Konstrukt, »in dem die physiologisch-neuronalen Prozesse des Gehirns, die den mentalen Zuständen zugrunde liegen, nicht vorkommen. Wir können diese Zustände als äußerliche Geschehnisse studieren, nicht jedoch erlebnismäßig erfahren« (Roth 1996: 317). Dass die Phänomene nicht allein neuronal ermittelt werden, sondern das Gehirn zunächst auch gedacht und als Phänomen ernst genommen werden muss, liegt auf der Hand. Dieses phänomenal zugängliche Gehirn jedoch ist verschieden von dem realen Gehirn, das unzugänglich bleibt, das neben der Wahrnehmung eben auch die IchErfahrung hervorbringt. In der daraus resultierenden paradoxen Situation errechnen die neuronalen Prozesse eine Wirklichkeit, einschließlich der Beobachtungen und Beschreibungen dieser Prozesse, die in ihrem Vollzug nur sich selbst, nicht jedoch ihrem Errechneten zugänglich sind. ›In ihrem Vollzug‹ bedeutet: in den Operationen, die gemäß des modellierten und konstruierten Systems von Organen und Funktionen ablaufen und die irritierenderweise dazu Anlass geben, dem eigenen Erleben nur noch in sehr begrenztem Maße vertrauen zu können. Eine solche Unterscheidung sich gegenseitig einschließender, jedoch nur einseitig voraussetzender Wirkbereiche des Erkennens kann James Gibson nicht treffen, da seiner Meinung nach die Information der Umwelt entnommen und ihr nicht durch die Vorgänge im visuellen System zugewiesen wird. Dennoch benötigt auch er eine Differenz, um das Sehen des visuellen Systems mit der eigenen Seherfahrung korrelieren zu können: »Die Bezeichnung visuelle Welt sollte für das Bewußtwerden der Umwelt mittels eines Sehsystems reserviert bleiben« (Gibson

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1982: 222 f.).6 Auch die visuelle Welt umfasst dasjenige, was jeder sieht und was jeder von allen anderen zu sehen erwartet. Auch sie ist ein Resultat des visuellen Systems.

Der Modus der Sichtbarkeit Sieht man von der Rechtmäßigkeit der getroffenen Unterscheidungen und von den spezifischen Folgeproblemen ab, die die verschiedenen Versionen des Sehens nach sich ziehen, verweisen sie über ihre Argumentationslinien hinaus auf zwei bestimmende Prinzipien. Erstens fügen sich die visuellen Eigenschaften zwar in die allgemeine Wahrnehmungsfähigkeit ein, sie sind jedoch eigenständig und können in ihrer Eigenständigkeit beobachtet werden. Ob man sich auf die Farben bezieht – sei es als Eigenschaft der Dinge oder als ein begrenzter Frequenzbereich elektromagnetischer Wellen –, ob man den Sehstrahl in die räumliche Tiefe gleiten lässt oder ob das Sehen auf die informativen Oberflächenstrukturen oder die Differenzierung verschiedener Areale des Gehirns zurückgreift, jedes Mal wird es in einer Weise beobachtet, die es spezifiziert und von anderen Wahrnehmungsmodalitäten unabhängig macht. Darauf zielen auch die Unterscheidungen zwischen dem realen und wirklichen Sehen bzw. zwischen dem Sehen der visuellen Systeme und der visuellen Welt ab: Das Sehen folgt eigenen Funktionen und kann in dieser Eigenständigkeit beobachtet werden. Zweitens zeigen die Bemühungen, die Versionen des Sehens mit der eigenen Seherfahrung, die ihrerseits zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen unterscheidet, zu korrelieren, dass alles Sehen korreliert werden kann. Dies ist nicht so trivial, wie es zunächst scheinen mag, da dem Sehen und seinen Beobachtungen ein vermittelnder Grund vorausgesetzt wird: die Sichtbarkeit, die sehen lässt und das Sehen zulässt. Was bedeutet dies für das Sehen von Bildern? Zunächst muss man festhalten, dass in der Annahme ein Trugschluss besteht, die zu sehen gegebenen Dinge müssten von fester Konsistenz oder doch zumindest mit erfühlbaren Eigenschaften ausgestattet sein. Wolken oder Schatten gehören bspw. zum Gesehenen, ohne berührt werden zu können. Der Himmel wird ebenso gesehen wie ein Blitz, der ihn teilt. Beide verfügen wie die Wolken und die Schatten über keine anderen wahrnehmbaren als eben die visuellen Qualitäten. Man kann den Himmel

6. Vgl. hierzu auch das Kapitel The Visual Field and the Visual World in Gibson 1950, 26-43; vielleicht sollte man darauf hinweisen, dass manche Sätze dieser frühen Publikation – wie etwa: »The visual field […] is a reasonably close correlate of the retinal image« (ebd.: 43) – unter den später entwickelten Gesichtspunkten keinen Sinn mehr machen. 70

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weder berühren, noch kann man ihn hören, riechen oder schmecken. Ebenso trügerisch ist die Annahme, die Gegenstände müssten, um als solche gelten zu können, wenigstens gesehen werden. Blinde Menschen haben keine Schwierigkeiten, die sie umgebenden Gegenstände zu unterscheiden. Ihre wahrgenommene Umwelt setzt sich zwar in anderer Weise zusammen als bei Sehenden, ist aber eine vollständige, eben eine avisuelle Umwelt. Wenn bei Nicht-Blinden die anderen Sinne durch das Sehen auch dominiert sein mögen, so muss man dennoch die lang gepflegte Tradition aufgeben, es als das privilegierte Paradigma der Welterkenntnis zu begreifen. Es besteht keine Notwendigkeit darin, etwas sehen können zu müssen, um von der eigenen Umwelt zu wissen. Um hingegen in einem Bild einen Gegenstand oder etwas anderes zu erkennen, benötigt man das Sehen; und zwar ausschließlich das Sehen. Seine Eigenständigkeit ist die Grundvoraussetzung für das Zustandekommen von Bildern. Die pikturalen Gestaltungen bedienen sich der Eigenschaften, die das Sehen der vielfältigen Wahrnehmung von Gegenständen hinzufügt. Damit wird auch die Kommunikation rechnen müssen. Eine Konsequenz aus der Eigenständigkeit des Sehens lautet, dass Bilder weit von dem Wunder entfernt sind, Gesehenes zu erzeugen, das man in anderen Momenten in die Hand nehmen könnte. Die Bilder bleiben auch dann ans Sehen gebunden, wenn sie in einer Weise gefertigt sind, die die Assoziation nahelegt, die angesichtig gemachten Dinge erschienen zum Greifen nahe. Das in ihnen Gesehene besteht ausschließlich in den gestalteten Sichtbarkeiten, die es vor Augen führt. Auf diese Weise werden die unterschiedlichsten Dinge und Begebenheiten – von der Büffeljagd bis zum Ladendiebstahl – zu sehen gegeben, die mit Berührtem, Gehörtem und häufig sogar mit zuvor Gesehenem kaum etwas gemeinsam haben. Genau darin besteht das Vermögen der Bilder: Sie geben Vorkommnisse zu sehen, indem sie sie im Sichtbaren erzeugen. Die Dinge sichtbar zu machen, bezieht sich auf die manipulierende und gestalterische Zurichtung des Sehens und der Sichtbarkeit zugleich, auf das Sehende, das Gesehene und auf ihre Koordination. Bei Bildern handelt es sich um Gestaltungen des Sichtbaren, denen das Sehen unterliegt und die ebenso bewusste wie kommunikative Funktionen aufweisen. Bevor dies untersucht werden kann, muss zunächst der Zusammenhang zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit weiter geklärt werden. Es ist unmöglich, über eine Welt der Sichtbarkeit zu verfügen, wenn man nicht sehen kann und sich in dieser Welt von seiner gesehenen Umwelt unterscheidet, sowie es unmöglich ist, über eine Welt der Hörbarkeit zu verfügen, wenn man nicht hören kann und sich in dieser Welt von seiner gehörten Umwelt unterscheidet. Die sinnenhafte Orientierung kann auf viele verschiedene Weisen zu Stande kommen. So gehören Töne von Musikinstrumenten oder die Stimmen der Gesprächs71

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partner zum Hörbaren. Einen guten Wein oder ein ansehnliches Essen riecht man gerne und genießt ihre visuellen Qualitäten, man schmeckt sie und bemerkt ihre Temperatur. Hingegen kann ein Blick keine Temperatur erspüren, und er kann auch nicht gekitzelt werden. Weder sind die Farben und Schattierungen, das Helle und das Dunkle, die räumliche Tiefe und die Unschärfen am Rand des Blickfeldes mit den Taktilitätsgestalten gleichzusetzen noch ist das Blicken mit anderen Sinnesmodalitäten zu verwechseln. Ein Geruch steht nur in Differenz zu anderen Gerüchen, so wie Farben nur in Differenz zu anderen Farben, Helligkeitswerte nur in Differenz zu anderen Helligkeitswerten und Tonhöhen nur in Differenz zu anderen Tonhöhen stehen. Das Gerochene und das Gehörte stehen nicht in Differenz zum Gesehenen. Zwischen den verschieden und getrennt Wahrgenommenen gibt es weder Differenzen noch einen Einklang oder eine gegliederte Ordnung von Abstufungen. Ein gesehenes Rot ist nicht lauter als ein Geflüster, intensiver kann es hingegen sein. Es darf also nicht ausgeschlossen werden, dass sich Hörbares und Sichtbares verbinden und verbünden und gemeinsam Aufmerksamkeit erwecken, wie man es aus dem Kino oder jeder beliebigen Konversation kennt. Die Eigenständigkeit des Sehens widerspricht also keineswegs der Erfahrung, dass sich Riechbares und Sichtbares wie bei einem guten Essen oder wie im Fall des verschwitzten Nebenmannes in der U-Bahn zusammenfügen; oder dass das Hörbare eines Konzerts mehr Aufmerksamkeit erweckt und man es mit mehr Intensität verfolgt als das Gesehene. Nicht die sensuellen Wahrnehmungen verbinden sich, sondern ihre Aufmerksamkeit, die sich in ihnen ausrichtet und in der sie sich einrichten. Eine Vielzahl von Synchronisierungsmöglichkeiten orientieren das Riechbare mit dem Sichtbaren, das Sichtbare mit dem Hörbaren, das Hörbare mit dem Fühlbaren. So mag es eben auch Fälle geben, in denen man, um in vorliegenden Bildern etwas sehen zu können, mehr als nur visuelle Erfahrungen gemacht haben muss. Realisiert wird die Bildlichkeit jedoch über das Sehen. Und wenn etwas gesehen und damit die Sichtbarkeit erschlossen wird, fügt dieser Umstand der Wahrnehmung eine eigene, sinnenhafte Orientierung hinzu. Was auch immer in den Blick gerät, beim Sehen hat man es nicht allein mit dem Sehenden und dem Gesehenen, sondern darüber hinaus mit einer sichtbaren Welt zu tun, in der sich die Visualitätsdifferenz einrichtet und ihren Platz findet. Dies lässt sich auch mit Maurice Merleau-Ponty zeigen. Er hebt hervor, dass man die Dinge wahrnimmt und sich zugleich zwischen ihnen befindet und wiederfindet, dass die Sehenden in einer sichtbare Welt verflochten sind. Mit dem Blick fügt man sich in die sichtbare Welt ein. Er erkundet sie, richtet sich auf die Dinge aus und bezieht sie ebenso auf den blickenden Leib, wie dieser zu den Dingen gehört: 72

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»Gegeben sind also nicht etwa mit sich selbst identische Dinge, die sich dem Sehenden im nachhinein darbieten würden, und ebensowenig gibt es einen zunächst leeren Sehenden, der sich ihnen im nachhinein öffnen würde, sondern gegeben ist etwas, dem wir uns nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten [… Der] Blick ist nämlich selbst Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare, Suche nach sich selbst im Sichtbaren, dem es zugehört, – weil das Sichtbare der Welt nicht Hülle des quale ist, sondern das, was zwischen den verschiedenen quale ist, Bindegewebe der äußeren und inneren Horizonte.« (Merleau-Ponty 1986: 173) Das Problem der Sichtbarkeit liegt in dem herzustellenden Bezug zwischen der sehenden und der gesehenen Instanz. Merleau-Ponty legt das von der Visualitätsdifferenz verschiedene Sichtbare in sie hinein und versteht es aus ihrem bereits hergestellten Bezug heraus: Die Sehenden werden auf die Gesehenen (und auf die möglicherweise Gesehenen) durch den eigenen Leib bezogen. Dies geschieht erstens auf Grund ihrer Ähnlichkeit und zweitens dank der Aktivität des Blicks. Der Körper nimmt zugleich das Empfindbare auf und verleibt sich dem Empfindbaren ein. Dabei löst sich die Grenze zwischen dem Gesehenen und dem Körper der Sehenden auf, die in ein ihnen gemeinsames Feld übergehen: »Mein Leib als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mitenthalten. Aber mein sehender Leib unterhält diesen sichtbaren Leib und mit diesem alles Sichtbare« (ebd.: 182). Trotz oder gerade wegen dieser ineinander liegenden Verwicklung insistiert die Visualitätsdifferenz des sehenden und gesehenen Körpers mit Vehemenz. Als Sehender ist man unentwegt auf sein eigenes Sehen verwiesen, weil das Gesehene Teil der sich selbst zugerechneten Visualität ist. Wie beschrieben funktionalisiert Gibson diesen selbstbezüglichen Verweis der Position des Sehenden, indem er ihn innerhalb des visuellen Systems als Invariante bestimmt. Sich selbst mitzusehen erlaubt, von anderen aktuell nicht Gesehenem abzusehen, da die eigene Position gerade die selektive Perspektive begründet. Das Sehen schließt somit permanent Ungesehenes ein, was wiederum die Schlussfolgerung nach sich zieht, dass das Sehende selbst einen Platz einnimmt, an dem es zu sehen ist, ohne sich selbst vollständig erfassen zu können. Somit stellt sich das Sichtbare – und das allein ist hier entscheidend – als das Vermittlungsproblem des Sehens (einschließlich des Ungesehenen) dar. Die Sichtbarkeit ist einerseits durch die Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Kognitionsfähigkeit bedingt, je nach Begriff und je nach Vollzug des Sehens. Andererseits bleiben diese Fähigkeiten nicht unberührt davon, dass man sich im Sichtbaren einfindet und wiederfindet. Das zwingt zu deutlichen Distinktionen: So wie das Sehen nicht allein aus dem Sehenden besteht, sondern immer ein Gesehenes verlangt – wie unklar und unterdeterminiert oder völlig distinkt und überdeterminiert auch immer –, so darf die Sichtbarkeit weder mit dem Gesehenen noch mit dem aktuell Ungesehenen verwechselt werden, das für ei73

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nen Moment aus dem Blick oder hinter dem Rücken verschwindet, jedoch potenziell in der Reichweite des Sehens liegt. Sichtbarkeit ist keine Eigenschaft von Gegenständen oder Körpern; sie werden schlichtweg nur gesehen und sind Werte von visuellen Anordnungen. Die Sichtbarkeit ist ebenso wenig das der Möglichkeit nach zu Sehende, wie etwa die Rückseite des Mondes. Es genügt nicht zu sagen, dass das Sehende dem Sichtbaren gegenüber steht, weil man sieht, dass man gesehen wird oder dass man mit einiger Anstrengung bisher Ungesehenes aktualisierend in den Blick bekommt. Vielmehr ist die Sichtbarkeit dasjenige, das die Sicht offenbart und in der sie sich manifestiert. Merleau-Ponty schwankt zwischen zwei Bestimmungen. Einmal nennt er die Dinge und Körper selbst sichtbar, ein anderes Mal besteht die Sichtbarkeit darin, dass das Sehende überhaupt auf ein Gesehenes bezogen werden kann (vgl. ebd.: 199). Für ihn mag kein Widerspruch darin liegen, weil die Sichtbarkeit sowohl vom sehenden, sich mitsehenden Körper als auch von den gesehenen Dingen aus zu denken ist, die Vermittlung zwischen ihnen stattfindet und der Bezug ausschließlich zwischen ihnen hergestellt wird – der Einheit des Körpers und seiner aktuellen und potenziellen Blicke sei Dank (vgl. ebd.: 184). Sie liegt nicht darin, dass der Körper als eine Ganzheit oder Gestalt wahrgenommen wird, sondern darin, dass er zwischen den eigenen Empfindungen und dem selbst Empfundenen gleichermaßen zirkuliert. Die leibliche Einheit ist deswegen gewährt, weil das Sehen in Analogie zum Berühren steht: Man kann mit einer Hand die andere Hand berühren, während man die Dinge berührt. Die beiden Hände bilden eine gemeinsame und zugleich verwickelte Empfindung, die auch für das binokulare Sehen gilt. Das heißt, der Körper ist zugleich empfindend berührt und empfindsam berührend.7 Hieraus leitet sich ein den Körpern und den Dingen gemeinsames Element oder Medium ab, eine Zwischenleiblichkeit, die beide umschließt und in der sich beide einschließen. Sie liegt in dem Fleisch (chair), dessen man in dem Moment Gewahr wird, in dem man das Innere und das Äußere des Körpers zugleich innerlich und äußerlich erfährt, und mit dem der Blick die Dinge in analoger Weise überzieht. Es handelt sich stets um den gleichen Körper (vgl. ebd.: 177), der sieht und berührt, gesehen, berührt und in Zirkulation versetzt wird: »alle zusammen sind so ein Empfindendes im allgemeinen angesichts eines Empfindbaren im allgemeinen« (ebd.: 186).8 Mit der Analogie

7. Vgl. auch Merleau-Ponty 1966: 179 ff. Parallel zum Berühren-Sehen gibt es im Körper ein Tönen-Hören, mit dem er zu seinem (verbalen) Ausdruck findet. 8. Dem liegt das Verhältnis des Körpers zum Raum zu Grunde. Er ist dem Körper nur insoweit gegeben und erfahrbar, wie er sich in ihm zu bewegen weiß: »Nicht also dürfen wir sagen, unser Leib sei im Raume, wie übrigens ebensowenig, er sei in der Zeit. 74

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zwischen den Sinnen und zwischen ihnen und dem Fleisch stellt Merleau-Ponty eine Identität zwischen allem Empfindbaren her, die durch eine leibliche Synthese gewährleistet wird. Den empfindenden Körper an seiner Oberfläche zu sehen oder zu berühren und ihn wiederum als Gesehenen zu empfinden, verweist auf den gemeinsamen Bereich des Empfindens, in dem sich der Körper einfindet und an entscheidender Stelle exponiert, »weil der Leib (corps) zur Ordnung der Dinge gehört, so wie die Welt universelles Fleisch (chair) ist« (ebd.: 181). Hierdurch entfaltet sich das Sehen im Sichtbaren – in dem, was überhaupt gesehen werden kann. Es unterliegt dem Verhältnis des Körpers zu einer generellen Empfindsamkeit, in der er sich und die Dinge erfährt. Das Sehen unterliegt seinerseits dem Körper-in-der-Welt-Sein, in dem sich die Welt zum Körper verhält, so wie er sich zu ihr und zu ihrem Fleisch verhält: »eine Art inkarniertes Prinzip, das einen Seinsstil überall dort einführt, wo ein Teil davon zu finden ist« (ebd.: 184). Die Empfindung der körperlichen Oberflächenerfahrung und das Sehen liegen in der Tiefe des eigenen Leibes geborgen. Damit ist eine Identität gesetzt, die die Differenz von Empfindung und Empfundenen an die Grenze des oberflächig-tiefen Körpers verlegt, wodurch die Visualitätsdifferenz schließlich mit ihr zusammenfällt: Die sichtbaren Dinge »tapezieren von außen und von innen seine Blicke und seine Hände« (ebd.: 181). Welche Rolle aber spielt die Tiefe hier? Lag das Berührende nicht ebenso an der Oberfläche wie das Berührte? Definieren außen und innen nicht allein die Oberfläche, ohne in die Tiefe des Körpers vorzudringen? Das Sehen verweist auf das Berühren, wie das Berühren auf ein Berührtwerden verweist. Überall dort, wo Empfindungsdifferenzen prozessiert werden, verläuft die Oberfläche. Das heißt, sie wird operativ gezogen und ist nicht etwa substanziell geprägt. Die äußere Grenze des Körpers liegt innerhalb dieser Oberflächenverweise und bestimmt sich durch die Operativität der Sinne. Aus welchem anderen Grund könnte man glauben, dass die Grenze des Körpers entlang der sensiblen Haut verläuft? Warum wird sie nicht durch jedes einzelne Haar oder entlang der Ausscheidungen gezogen? Man kann das kleine Experiment Merleau-Pontys des Berührens einer Hand, die gerade einen Gegenstand berührt, anders deuten als er: Demnach gingen das Berühren und Berührtwerden, das Sehen und Gesehenwerden nicht in einer großen Analogie auf (vgl. ebd.: 176). Vielmehr würde die Differenz der berührenden Hand und des berührten Gegenstandes durch eine weitere Differenz beobachtet, die die berührende Hand als Berührte erscheinen ließe. Alles hinge davon ab, wie die Empfindungen und Wahr-

Er wohnt Raum und Zeit ein« (1966: 169). Ebenso: »Die Räumlichkeit des Leibes ist die Entfaltung seines Leibseins selbst, die Weise, in der er als Leib sich realisiert« (ebd.: 179). 75

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nehmungen unter den Bedingungen und unter der Wirkung eines generierten Körperschemas beobachtet werden. Das Innere und Äußere des Körpers in das vermittelnde Element des chair zu verlängern, setzt eine solche Beobachtbarkeit der Visualitätsdifferenz oder anderer Empfindungen bereits voraus. Die Körpergrenze zieht sich nicht beliebig durch die Oberfläche der Empfindungen, da sie von den gegenseitigen Beobachtungen der Sinne abhängt, die sich aufeinander abstimmen. Jede Empfindung und alles Empfundene verbleibt an der Oberfläche, nicht weil sie die Grenze eines tiefen Körpers oder einer Empfindungssubstanz ist, der das Sehen, das Berühren etc. innewohnen. Vielmehr bilden die Verweise der Empfindungen und Wahrnehmungen umgekehrt erst diese Oberfläche und in dieser Oberfläche Einschlüsse, die einen Tiefeneffekt und das heißt: den Empfindungsleib erzeugen. Die in ihm evozierten Eigenbeobachtungen entstehen nicht allein durch die berührte berührende Hand, sondern bereits durch die selbstvermittelten Bewegungen, die die Empfindsamkeit einstimmt (vgl. Gibson 1973: 53 ff.). Die Propriozeptionen versetzen die Perzeptionen in den Stand, zu einem selben Körper zu gehören, der sich als Einheit erst erfahren muss; hier wird sein konstitutives Schema generiert. Somit unterscheidet sich die Visualitätsdifferenz als das organisierende Moment des Sehens deutlich von der Körpergrenze, die durch sie mitorganisiert wird. Das Innere des Sehens ist etwas anderes als das Innere des Körpers, in dem das Sehen fälschlicherweise lokalisiert wird. Wo wird die Visualitätsdifferenz eröffnet, wenn das Sehen nicht dem Leib innewohnt? Der einheitliche Körper projiziert sich gemäß Merleau-Ponty auf die Welt, aus der er sich zugleich zurückerhält. Der über die Welt verteilte und in sie verwickelte Blick, der eine Sonderform des Fleisches darstellt, koordiniert wie schon das Diaphane der Farben und das Licht der Projektionen die Visualitätsdifferenz. Indem sie ihr einen Bereich zuweisen, in dem sie sich entfaltet, weisen das Diaphane und das Licht ebenfalls die Beobachtbarkeit des Sehens auf – eine Beobachtbarkeit, die direkt zum Sichtbaren führt. Zu beobachten bezieht sich immer auf eine Differenz und nicht auf einzelne Gegenstände oder Sachverhalte. In diesem Sinne beobachtet man keinen Gegenstand, sondern sieht oder berührt ihn. Einen Ton hört man, über den Streit bei den Nachbarn spricht man und von einem neuen Kinofilm liest man in der Zeitung. Bei diesen einfachen Relationen liegt noch keine Beobachtung vor. Erst mit der Frage, wie der gesehene Gegenstand für einen Sehenden oder ein bestimmtes Thema in einem Gespräch die spezifischen Werte des Gesehenen oder Besprochenen erhalten, taucht der Beobachtungsbegriff auf. Das Sehen zu beobachten bedeutet somit erstens, die Visualitätsdifferenz zur Geltung kommen zu

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lassen und ihre Ein- und Auswirkungen zu modellieren.9 Zweitens wird diese Differenz einer organisierenden Einheit wie dem Sehstrahl, dem Auge oder dem Blick zugerechnet, die die Wirkungen erzielt. Drittens muss das Sehen bei aller Eigenständigkeit in seiner Abhängigkeit erkannt werden, sodass man notwendigerweise auf seine Vermitteltheit, auf die Sichtbarkeit stößt, in der das Sehen seine Wirkungen erzielen kann und die selbst nicht zu sehen ist: »Licht ist gegenständlich nicht zu sehen. Zu sehen ist nur Lichtes als Gegenstand« (Becker 1978: 44). Von Sichtbarkeit kann nur gesprochen werden, wenn das Sehen beobachtet wird. Wenn es jedoch beobachtet wird, muss von Sichtbarkeit gesprochen werden. Sie gibt zu sehen. Das heißt, sie eröffnet und koordiniert die Visualitätsdifferenz. Das Sichtbare ist weder Gesehenes noch potenziell Gesehenes. Es ist ebenso wenig das Ergebnis des Sehens, das dann vorliegt, wenn sich das Sehende auf das Gesehene bezogen hat. Vielmehr ist es das Gebende des Sehens. Dies gilt sowohl für den Fall, dass man das Licht der Psychophysiker oder die in ihm enthaltene Information der Umwelt als dem Sehen gegeben voraussetzt, als auch für den Fall, dass das Sehen die Sichtbarkeit erst erschließen muss – etwa durch das Stabilisieren möglichen Eigenverhaltens neuronaler Netze oder durch die Begründung eines phänomenalen Sehens: »Mit dem ersten Sehen, mit dem ersten Kontakt, der ersten Lust findet eine Initiation statt, und das bedeutet nicht Setzung eines Inhalts, sondern Eröffnung einer Dimension, die fortan nie wieder verschlossen werden kann, es bedeutet Einrichtung einer Ebene, die fortan jede andere Erfahrung mitbestimmen wird.« (Merleau-Ponty 1986: 198) Lediglich zu sagen, dass es das Sehen in einer sichtbaren Welt gibt, verschweigt, wie sich der Bezug beider ergibt. Dem Diaphanen, dem Licht und dem chair ist gemeinsam, dass sie – wenngleich sehr verschieden gedacht – die beiden Seiten des Sehens betreffen und umfassen, wodurch sie die Sichtbarkeit ausdrücken. Sie zeigen zwar, wie das Gesehene auf das Sehende verweist, gelangen jedoch nicht zu dem Schluss, dass das Sichtbare gerade darin liegt, den Ausdruck des Sehens erst zu finden oder zu erfinden. Wenn gesagt wurde, dass das Sichtbare dasjenige ist, das zugleich sieht und gesehen wird, bedeutet das nicht, dass das sehende Auge oder die dem Auge zugerechnete, sinnhafte Instanz des Blicks gesehen werden. Das Sehen zu sehen ist unmöglich, ebenso wenig wie man das Berühren wiederum berühren kann. Um das Sichtbare zu erschließen, muss das Sehen vor allem im Sehen beobachtet werden: Was erlaubt einem Sehenden, den Eindruck des Gesehenen zu

9. Die Beobachtung bezieht sich hier auf die Handhabung einer Systemdifferenz. Wie dies geschieht, kann offen bleiben. Sie wird also nicht wie bei Luhmann durch die Form Bezeichnung/Unterscheidung definiert. 77

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empfinden? Was bringt das Gesehene dazu, das Gesehene eines Sehenden zu sein? Visualität ist die Sache der Empfindung und der Wahrnehmung, während Sichtbarkeit in Differenz zur Visualität den im Sehen realisierten Objekten der Beobachtung – und nur diesen Objekten – zukommt. Sie unterliegen den Sehbedingungen: im Blick zu liegen, sehen zu können und gesehen werden zu können, wenn man denn sehen kann – oder genauer: wenn es ein Sehen gibt; und fortgesetzt, differenzierter, präziser gesehen werden zu können, wenn man zu sehen lernt – oder genauer: wenn das Sehen modifiziert wird. Während also die Visualitätsdifferenz die visuellen Erscheinungen einschließlich der Sinnestäuschungen erfasst, entfaltet sich die Sichtbarkeit als die vom Sehen erklommene Ebene. Das grundlegende Verhältnis besteht darin, dass das Sehen das Sichtbare expliziert, in dem es implizit vorliegt. Das Diaphane Aristoteles’ impliziert die Farben, die es explizieren; das Licht Keplers impliziert die Projektionen, die es explizieren; das Fleisch Merleau-Pontys impliziert den empfindenden Körper, der es expliziert. Die Sichtbarkeit besteht in dem mit diesem Verhältnis der Implikation und Explikation begründeten Offensichtbaren, während das Sehen in der offenbarten und manifestierten Sicht liegt. Um die Implikation und Explikation wiederum zu unterscheiden, benötigt man eine operative Einheit, wie bspw. Gérard Simon mit Bezug auf den Sehstrahl verdeutlicht: »der Blick ist dasjenige, wodurch aus Sichtbarem Gesehenes wird« (Simon 1992: 65), wobei dem Licht die Aufgabe zufällt, »beim Blick den Übergang von der Potenz in den Akt zu bewirken und ihn auf diese Weise operant zu machen« (ebd.: 204). Ein mit dem Reiz-Reaktions-Schema beobachtender Experimentator handhabt die Visualitätsdifferenz, indem er sich – in zweifacher Hinsicht – indirekt auf das Sehen bezieht. Er gibt erstens etwas zu sehen, das er selbst sehen kann. Damit wird unterstellt und erwartet, dass es sich um ein allgemein Gesehenes handelt. Da auf das befragte Sehende experimentell nicht direkt zugegriffen werden kann, nutzt man stattdessen die Reaktion auf das zu sehen Gegebene. Hier wird zweitens eine das Sehende betreffende Korrespondenz unterstellt, die darin besteht, dass die beobachteten Reaktionen des Probanden annahmegemäß den Zuständen des Sehenden entsprechen. Der Experimentator installiert auf diese Weise ein visuelles System, das sowohl das Sehen als auch die Beobachtungen des Sehens umfasst und in dem die Visualitätsdifferenz koordiniert wird. Er beobachtet einerseits den Unterschied zwischen dem von ihm zu sehen Gegebenen und den darauf folgenden Reaktionen und er beobachtet damit andererseits die Beobachtungen des Probanden, die einen mutmaßlich privilegierten Einblick in das Gesehene wiedergeben. Das Reiz-Reaktions-Schema stellt auf Beobachtungen ab, die den Stimulus koordinieren (selegieren, berechnen, vorführen etc.) und die 78

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Reaktion vermessen. Die externen Beobachtungen des Experimentators werden in die Lage versetzen, mit den internen Beobachtungen des Probanden auf einer gemeinsamen Plattform zu operieren. Indem das Sehende auf eine einwirkende Stimulierung zu antworten und damit zwischen ihr und seiner Reaktion zu unterscheiden angeleitet wird, kann eine Korrespondenz zwischen dem Sehen und dem externen Beobachter hergestellt und das Gesehene mit dem Reiz identifiziert werden. Um von den beobachteten Reaktionen auf das Reagieren als Beobachten schließen zu dürfen, wird das Sehen auf die externen, vermessenden und zum Teil eben auch vermessenen Beobachtungskapazitäten reduziert. Man muss indes betonen, dass das Sehen und die Beobachtungen nicht identisch sind: Sehen ist nicht beobachten und das Sehen zu beobachten verlangt zunächst, ein System oder eine vergleichbare Einrichtung zu finden, das es zu beobachten erlaubt. Das Sehen darf deswegen nicht mit der Beobachtung verwechselt werden, weil es die beiden Werte des Gesehenen und des Sehenden umfasst, die innerhalb der Beobachtungsprozeduren erst kalkuliert werden. Auf diesem Wege kommt man weder dem Sehen auf die Schliche noch entdeckt man seine Entfaltungsmöglichkeiten. Die Visualität und ihre Beobachtungen bleiben disparat. Die Lösung des Problems besteht darin, das Sehen in ein System zu verlegen, in dem das Sehende und das Gesehene durch systemeigene Beobachtungen ermittelt werden. Damit ist zugleich der Weg geebnet, das Sehen als eine Systemeigenschaft aufzufassen, die im Prozessieren und in der Reproduktion der Beobachtungen liegt. In diesem Sinne spricht man zu vollem Recht von visuellen Systemen, die das Sehende und das Gesehene aus dem Verhältnis heraus errechnen, das sie zu ihrer Umwelt einnehmen bzw. das sie der Umwelt systemintern zuweisen. Man muss nach wie vor darauf achten, das Sehen von seinen Beobachtungen zu unterscheiden, da die visuellen Systeme kompliziertere Operationen durchführen als lediglich zu sehen, wenn dies auch ihre gesamte Aufmerksamkeit bindet. Die Visualitätsdifferenz zu beobachten heißt weiterhin, sie zu handhaben. Sie zu handhaben heißt jedoch keinesfalls, sie wie ein Werkzeug oder ein Instrument zu nutzen, sie innerlich zu betrachten oder gar mit ihrer Hilfe Handlungen auszuführen oder Beschreibungen anzufertigen. Die Beobachtung des Sehens findet weder in einer Werkstatt noch in einer Gemäldegalerie und gewiss nicht in einer Schreibstube statt. Indem die visuellen Systeme gemäß ihrer Fähigkeiten und Strukturen bspw. dem Licht die vorhandene Information entnehmen, scheidet sich in ihnen das Sehende vom Gesehenen auch ohne eine besondere Reflexion der Visualitätsdifferenz. Das Sehen wird nicht reflektiert, sondern entfaltet sich in den systemischen Beobachtungen, die der Sichtbarkeit zu einer überraschenden Wendung verhelfen. Es hat sich bereits gezeigt, dass es dem Sehen zusteht, dasjenige zu explizieren, das es impliziert. Das implizierend-explizierende Ver79

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hältnis der Sichtbarkeit kann nur in der Beobachtung des Sehens entdeckt werden, weil nur sie die Vermitteltheit des Sehenden und Gesehenen aufdeckt. Sie werden beobachtend unterschieden, gleich ob dies sehenden Auges, in der Geometrie, Physik oder Physiologie oder schließlich in den visuellen Systemen selbst geschieht. Jedes Mal wird das Sehen durch eine ihm entsprechende Sichtbarkeit begründet. Wenn die Systeme nun die Beobachtungen selbst durchführen, das Sehen in Funktion setzen und bewerten, entfalten sie sich nicht nur in einer den Beobachtungen und dem Sehen vorausgesetzten, allgemeinen Sichtbarkeit – so wie die Farben allen Sehenden und das arrangierte Licht sowohl dem Experimentator als auch der Versuchsperson zugänglich sind. Das Sichtbare ist für das Sehen und für seine Beobachtungen zudem generalisierbar, weil sie das Verhältnis generieren, in dem das Sichtbare das es explizierende Sehen impliziert. Die Beobachtung expliziert sich und zugleich das Sehen in einem System – mit oder ohne Umweltbezug, mit oder ohne Gedächtnis –, das ein Sichtbares zum Ausdruck bringt, das Beide wiederum impliziert. Das heißt, die Beobachtung richtet sich in der Sichtbarkeit seines Sehens ein. Die Beobachtung des Sehens unterscheidet ausschließlich das Sehen und unterscheidet sich damit als ein System zur Beobachtung des Sehens. Nur deswegen kann die Sichtbarkeit erschlossen werden. Die Beobachtungen verweisen also nur auf die Sichtbarkeit, wenn sie sich mit dem Sehen arrangieren und ihm zu einem Ausdruck verhelfen. Man könnte vermuten, dass die Gestalten der Figur-GrundBeziehungen und die Invarianten der Oberflächenstrukturen das Sichtbare bilden, weil sie das Sehende auf das Gesehene beziehen und insofern das für seine Bestimmung notwendige Kriterium erfüllen, ihre Differenz zu koordinieren. Sie sind jedoch – wie die Farben im Diaphanen und die Projektionen des Lichts – das Koordinierte des Sehens und bezeichnen seinen stabilisierten Zustand. Die Bezugsgrößen und Differenzierungen der visuellen Systeme sind keinesfalls das Sichtbare, selbst wenn seine Beziehung zum Sehen durch sie bestimmt wird. Da sowohl der ökologische Ansatz Gibsons als auch die kognitionswissenschaftliche Unterscheidung zwischen der neuronalen Realität und der erlebten Wirklichkeit von systemischen Beobachtungsordnungen abhängen, geben sie noch andere Hinweise auf die Sichtbarkeit. Gibson widerspricht der Bildtheorie der Wahrnehmung, die einem in einem Punkt fixierten Sehen das Wort redet. Es wird nicht punktuell oder in aufgereihten Punkten vollzogen, sondern ist in Bewegung, sodass die Beobachtung des visuellen Systems einer den Körperbewegungen entsprechenden Trajektorie gleicht, auf der der Unterschied zwischen der vorhandenen Information und der Reizenergie markiert wird. Von den Bahnen aus wird die gesamte Umwelt erfasst, wenn auch stets etwas Neues in Sicht kommt oder Altes aus ihr verschwindet. Außer Sicht zu sein bedeutet eben nicht, außerhalb der Be80

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obachtung des Sehens zu sein. Es wird auch in den Momenten beobachtet, in denen es nur wenig oder nichts zu sehen gibt. Gibson ersetzt die optische Ubiquität des Lichts durch die Ubiquität der Beobachtungsbahnen, die die Oberflächen erreichen wie zuvor das Licht die Dinge erreichte. 10 Er erschafft damit eine Sichtbarkeit, die mit dem Raum gegeben ist, in dem sich das Sehen von Oberflächenstrukturen vollzieht. Der erfahrbare Raum von Reizsituationen impliziert die zu gewinnende Information, die expliziert, dass etwas zu sehen gegeben ist. Die verschiedenen Beobachtungen und das Sehen verharren stets in derselben Sichtbarkeit, da sie dem Gesehenen und dem Sehenden das Verhältnis zum Sichtbaren qua System aufprägen. Dies gilt nicht minder für den zweiten Fall. Da die realen Vorgänge der neuronalen Netze uneinsehbar sind, muss man die Annahme begründen, dass es sich bei ihren Aktivitäten tatsächlich um ein visuelles System handelt und dass sie mit den experimentell induzierten und mutmaßlich allgemeinen Seherfahrungen korreliert werden können: Das psychisch Gesehene, über das auch Gibson schreibt, wird »vom Gehirn aufgrund interner Kriterien dem Bereich ›Außenwelt‹ zugeordnet. Das Ich als anderer Teil der Wirklichkeit empfindet dann diese Dinge als außerhalb, aber dieses Außerhalb existiert nur innerhalb der Wirklichkeit« (Roth 1996: 325), die zunächst real prozessiert wird. Dies muss wiederum wirklich gedacht, in wirklichen Experimenten mit wirklichen Stimulierungen und wirklichen Messungen auf Grund wirklicher Modelle von realen Vorgängen herausgefunden werden. Mithin wird das Gesehene auf einem Wege zu Stande gebracht, der dem Erleben und Denken offenbar nicht so unzugänglich bleibt, wie die Distinktion es erfordert. Die von Roth eingeführte Stoppregel des Zirkels, das Wahrnehmen und Erkennen einem Ich zuzurechnen und dieses Ich als eingebetteten Teil der real-zerebral kalkulierten Wirklichkeit aufzufassen, funktioniert nicht, weil die für das Bewusstsein intransparente, neuronale Realität ausschließlich in der dem Forscher zugänglichen phänomenalen und sozialen Wirklichkeit existiert: Die Realität ist ein Modell innerhalb dieser Wirklichkeit, die ihrerseits eine modellierte Struktur ihres Modells ist. Die Phänomene und die transphänomenale Realität

10. Damit ist sicherlich noch keine Lösung für das Problem der von anderen abgekoppelten, individualisierten Wahrnehmung gefunden, wie Gibson zu argumentieren versucht, da die aktuelle Position auf der Bahn einer anderen Person zwar später eingenommen werden kann (vgl. 1982: 215 f.), ihre Extraktion von Information bzw. ihr Sehen damit aber nicht erreicht ist. Auch wenn die Reizkonstellationen in beiden Momenten identisch sind, wird man dies für die jeweils gesehene bzw. ungesehene Umgebung der Wahrnehmenden kaum konstatieren können. Manche sehen das Haar in der Suppe, andere sehen es nicht. 81

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konstituieren und konstruieren sich gegenseitig. Das beforschte Gehirn unterliegt einem System, zu dem auch die Forschung gehört und das eine Selbigkeit benötigt, die die phänomenalen Beobachtungen mit neuronalen Verhaltensweisen (ein Oszillogramm betrachten und interpretieren, um damit auf Gehirntätigkeiten zu schließen) und die neuronalen Beobachtungen mit phänomenalen Verhaltensweisen (die Gehirntätigkeiten bewussten Erlebnissen zuordnen) zu korrelieren erlaubt. Genau dies weist über das visuelle System (wir sehen, weil wir nicht sehen, was uns errechnet) hinaus. Die konstitutive Intransparenz erfordert eine Prämisse dafür, dass die Unterscheidung kognitiver Verwirklichungsbereiche von beiden Seiten der Unterscheidung als die Selbe erscheinen kann, um ein stabiles, selbstreferenzielles Verhalten ihres Prozessierens überhaupt erst entwickeln zu können. Die real/ wirklichen Beobachtungsleistungen des Sehens verdanken sich einer Sichtbarkeit, die den Gedanken gewährt, dass die neuronale Realität auch dann die Selbe bleibt, wenn die real konstruierte Wirklichkeit über sie nachdenkt. Sie sind in einer Weise aufeinander abgestellt, in der sie von der selben Sichtbarkeit impliziert werden. Vor der Einführung der beobachterabhängigen Konstruktion visueller Systeme stellte sich das Problem der Selbigkeit nicht, da das Diaphane für alle Farben und das Licht für alle Projektionen das Selbe war. Man stieß allenfalls auf die Paradoxien, dass etwas deswegen gesehen werden kann, weil man das gesehene Licht nicht sieht, dass also das Sichtbare nicht gesehen wird; und dass die Gegenstände in einer außen liegenden Umwelt gesehen werden, während das Sehen doch nur intern (im zerebralen, physiologischen oder psychischen System) stattfindet. Die Paradoxien wurden nachhaltig unterdrückt, indem man die physikalische Stimulierung der vermittelnden Sinnesrezeptoren von der Wahrnehmung unterschied. Auf die Beobachtungen des Sehens umzustellen erfordert allerdings einen expliziten Zirkel des Sehens und seiner Beobachtungen, der sicherstellt, dass verschiedene Beobachter das Selbe sehen bzw. dass verschiedene, verschieden gesehene Umwelten zu der selben, sichtbaren Welt gehören. Sie finden sich in einer zirkulären Struktur wieder, die genau die Stabilität produziert, die die Visualitätsdifferenz benötigt: Erstens lassen sich sie Invarianten nur im Vergleich mehrerer Beobachtungen ermitteln, die deswegen durchführbar sind, weil bereits eine visuelle Struktur etabliert wurde, in der das Sehen beobachtbar ist. Zweitens wird das Gesehene der Außenwelt neuronal zurechenbar und damit von den sehenden und erinnernden Funktionen unterscheidbar, weil das Gehirn bereits zwischen körpereigenen und äußerlichen Reizsituationen unterscheidet, indem die Selbstreizungen von neuronal gesteuerten, motorischen Aktivitäten begleitet werden, während die Fremdreizungen keinen eigenen Aktivitäten zurechenbar, sondern vielmehr widerständig sind. Dies gilt aber nur, weil

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der Körper als bewegliche Einheit konzipiert ist und das Gehirn ihm zugehört, es somit von vornherein unterschieden wird und als die von außen unterschiedene, innere Instanz der Selbstbeschreibung fungiert, um innen und außen zu unterscheiden.11 Dass man hierbei durch die evidente Körpererfahrung angeleitet wird, mag zwar einiges erklären, ändert jedoch nichts an der Zirkularität des Inneren und des Äußeren. Zu den zirkulären, innen und außen ermittelnden Verhältnissen zählt die antike Analogie des Lichts und der Farben – »das Licht erleuchtet die Farbe, die Farbe färbt das Licht, und beide durchtränken den Blick« (Simon 1992: 205). Zu ihnen zählt das Licht der Physik als Wirkursache der Farbempfindungen und zu ihnen zählen schließlich die Gestalten und die Invarianten von Oberflächenstrukturen. Von Reizen und Reaktionen kann man ebenfalls nur sprechen, wenn man sich in die gliedernde Innen/Außen-Ordnung eingefügt hat, um auf beide Seiten zugreifen zu können. Das Sehen zu beobachten setzt sich über einen präfigurierten Unterschied von Innen und Außen hinweg und ermittelt Schemata, die in dem mit einem Außenindex verbundenen Gesehenen und in dem mit einem Innenindex verbundenen Sehenden zugleich liegen, die also die inner-äußere Koordination des Sehens bestimmen. Dies ist die entscheidende Schlussfolgerung, die man aus Merleau-Pontys Begriff des chair ziehen muss: Man ist im Sichtbaren eingefaltet oder impliziert, sobald man zu sehen beginnt. Man findet die Positionen des Sehenden und des Gesehenen und entfaltet oder expliziert sein Sehen im Sichtbaren in dem Maße, in dem sich auch das Sehen fortentwickelt. Die Koordination des Sehens jedoch allein aus seinen auf die leibliche Einheit bezogenen, inhärenten Verweisen abzuleiten, versäumt es, das Sehen als die Entfaltung der Sichtbarkeit auf Grund von Beobachtungen zu begreifen. Wie man auch vorgeht, die Beobachtungen und die Visualitätsdifferenz sind auf allen Ebenen angepasst, und dieses Angepasstsein heißt Sichtbarkeit. Mit ihr liegt eine sinnenhafte Orientierung vor, auf die die Visualität ihre Schemata aufbauen kann. Sie ist das orientierende und stabilisierende Moment des prozessierten Sehens. Sicherlich geht Merleau-Ponty über die Physik und auch über die Psychologie hinaus, denn er reduziert die Sichtbarkeit nicht auf das Sehen, sondern misst ihr einen eigenen Wert zu und lässt das Sehen sich in sie einschließen. Dies gelingt ihm jedoch nur wegen der Generalisierung des Sehens in einer synthetisierten Welt alles Empfindbaren,

11. Das Problem eines vorausgesetzten Außen und Innen verlängert sich in der Unterscheidung afferenter und efferenter Signale. Vgl. hierzu den Vorschlag von Wolfgang Prinz zum Problem der sensomotorischen Abstimmung zwischen Perzeption und Aktion bzw. zwischen den Codierungen der afferenten und efferenten Signale (Prinz 1992). 83

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in der das Berühren das Sehen auf sich selbst und umgekehrt das Sehen das Berühren auf sich selbst zu verweisen gestattet. Man muss entgegnen, dass das Sehen dank seiner Beobachtungen auf sich selbst verwiesen wird, weil sie nur des Sehens ist. Damit wird das Berühren aus dem Sehen ausgeschlossen, auch wenn (oder gerade weil?) Merleau-Ponty es ihm überlässt, die Beobachtungen des Sehens durchzuführen. Geht man davon aus, dass das Berühren-Sehen-Hören-Tönen eine allgemeine Empfindsamkeit bilden, dann kann von keiner Sichtbarkeit mehr die Rede sein, weil sie zugleich Berührbarkeit, Hörbarkeit etc. wäre. So müssten der erkundende Blick, der warme Luftzug im Sommer und die Klänge einer Sonate ihre Selbständigkeit einbüßen. Wie sollte das Sehen überblicken, was das Berühren oder das Hören vermögen, wie sollte das Hören erlauschen, was das Schmecken vermag? Aus der Tatsache, dass die Sinne aufeinander einwirken und zusammenwirken, wie Merleau-Ponty treffend bemerkt, leitet sich keinesfalls ihre Generalisierung, sondern allenfalls ein privilegiertes und spezifiziertes Zusammenwirken ab. Das Zusammenwirken der Sinne resultiert nicht aus den Beziehungen zwischen dem Berühren und dem Sehen oder zwischen ihm und dem Hören. Vielmehr verdankt es sich der Implikation mehrerer Modi: dem Modus des Hörbaren, des Sichtbaren etc. Sie bilden sich immer dann heraus, wenn die Aufmerksamkeit eine Schwelle überschritten hat und die Wahrnehmung einsetzen kann. Der Modus der Sichtbarkeit darf also nicht mit einer funktionierenden oder gestörten Sinnesmodalität verwechselt werden. Man muss stattdessen von multiplen Modi ausgehen, auf Grund derer die Sinnesmodalitäten gemeinsame Beobachtungen ausführen und eine gemeinsame Außen/InnenGrenze der Systeme oder Körper ziehen. »Die Theorie der Extraktion von Information verlangt Wahrnehmungssysteme, nicht Sinne. […] Die fünf Wahrnehmungssysteme entsprechen fünf verschiedenen Arten einer nach außen gerichteten Aufmerksamkeit. Ihre Funktionen überlappen sich, und sie sind alle mehr oder weniger einem allgemeinen Orientierungssystem untergeordnet.« (Gibson 1982: 263) So finden gelegentlich Nase und Auge zusammen und schweifen wieder ab in ihre eigenen, ihnen gemäße Bahnen: ein interessanter Geruch hier, eine visuelle Attraktion dort. Auge und Ohr sind in Gibsons Sinne jedoch nur auszurichtende Reizempfänger, die dank ihrer Ausrichtung die ihnen zugängliche Information extrahieren können. Dies wiederum wird durch die Selbstwahrnehmung bzw. durch die eigene leibliche Erfahrung – darin stimmen die Phänomenologie Merleau-Pontys und die Psychologie Gibsons überein – erst ermöglicht. Die Propriozeptionen und der eigene Leib synchronisieren demnach alle wahrnehmenden

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Aktivitäten, wodurch sie zum »Maßstab der Dinge« (Merleau-Ponty 1986: 199) werden. Synchronisieren sich die Propriozeptionen und der Körper auch selbst? Kann der Körper als eine atmende, essende und ausscheidende Einheit erfahren oder auch nur gedacht werden, zu der die Sinnestätigkeiten wahlweise hinzutreten oder von der sie ebenso fern bleiben können, ohne dass sich an seiner Einheit etwas änderte? Wie könnte eine solche Empfindungseinheit allem anderen vorausgesetzt werden? Sicherlich wirken die Sinnesmodalitäten zusammen und sind von der Propriozeption durchwirkt. Aber der Körper ist nicht diejenige Instanz, die das Sehen oder das Hören beobachtet. Wie sollte dann noch der Körper beobachtet werden können? Es gibt keinen privilegierten Beobachter, sondern lediglich eine Vielzahl von Beobachtungen mehr oder weniger stabilisierter Differenzen, eine Mehrheit von Differenzen in einem Gefüge verschiedener Modi. Hier findet der Körper zu seiner Einheit. Er ist das Resultat der Intensitäten, die eine Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten und dadurch die Beobachtungen des Sehens oder Berührens ermöglichen, die sich synchronisieren. Wenn sich das Berühren und das Sehen auf einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsniveau wiederfinden, können sie durchaus einen ihnen gemeinsamen Modus explizieren. Das heißt, zwei Sinnesmodalitäten werden von einer Beobachtung koordiniert. Eine solche Implikation kann leicht die privilegierten Korrelationen zwischen dem Berühren und dem Sehen oder auch zwischen dem Hören und Tönen erklären, die bei Merleau-Ponty eine wichtige Rolle spielen. Die Wahrnehmungssinne oder die ihnen entsprechenden Wahrnehmungssysteme differenzieren sich somit nicht über ihre jeweilig gewonnenen Werte – hier etwas Gerochenes, dort etwas Erblicktes – und beschränken sich auch nicht auf die fünf oder sechs Sinnesmodalitäten. Sie unterscheiden sich nicht voneinander, wie man Augen und Ohren unterscheidet. Vielmehr differenzieren sie sich mit der Aufmerksamkeit, die die Beobachtungen des Sehens und Hörens erlangen, und mit den Orientierungen, die man in ihr einschlagen kann. Der Tonfilm bspw. befördert wie schon das Führen gewöhnlicher Interaktionen einen Modus, in dem das Sehen und das Hören ihren gemeinsamen, audiovisuellen Beobachtungen unterliegen: Von Gesehenem wird die Aufmerksamkeit auf Gehörtes oder vom Hörenden zum Sehenden gelenkt. Hier bilden das Gehörtgesehene und das Hörendsehende eine einzige Differenz, die von einem hörsichtbaren Modus impliziert wird. Das einheitliche Niveau der Aufmerksamkeit entspricht bspw. der neurophysiologischen Erkenntnis, dass alle Sinnesreize – so unterschiedlich ihre physikalischen Beschaffenheiten auch sein mögen – durch eine einheitliche Nervenaktivität aufgenommen werden und dass daraus eine zerebrale Topologie mit verschiedenen Arealen resultiert,

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in denen die Wahrnehmungen dezentral, parallel und separiert erarbeitet und miteinander verbunden werden.12 Michel Serres präsentiert eine andere Differenzierung auf einem einheitlichen Niveau, in dem sich Inneres und Äußeres trennen. Die Haut bildet eine Ebene für alles Sensible, sie ist der zugleich variable und gemeinsame Sinn aller Sinne, »der die Verbindung, die Brücke, den Übergang zwischen ihnen darstellt, eine banale, gemeinschaftliche, von allen geteilte Ebene« (Serres 1998: 88). Aus ihr haben sich die Sinnesorgane ebenso herausgebildet und singularisiert wie die Sexualorgane und andere Empfindungsbereiche. Die Haut verfügt über Schutzzonen und zeigt Erregungszustände, sie ist sensibilisierbar und kann unempfindlich werden, man tätowiert und bekleidet sie mit anderen Häuten, sie ist eine gefaltete Oberfläche voller Spuren der Vergangenheit. Man hat es mit einer Ebene zu tun, die eine eigene Topologie entwirft, die ihrerseits behandelt, symbolisiert, vermessen oder der Biometrie unterworfen werden kann – ein Niveau für die differenziertesten und diffizilsten Beobachtungen: »Die Haut tritt zwischen mehrere Dinge der Welt und sorgt dafür, dass sie sich vermischen« (ebd.: 103). Ernst Cassirer erklärt die Aufteilung der Sinnesmodalitäten mit einer nachträglich analysierenden Reflexion über das sensorium commune. Mit einem Hinweis auf Herder konstatiert er für das Wahrnehmungsbewusstsein eine ihrer Differenzierung vorhergehende Verwobenheit und Durchdringung (vgl. Cassirer 1954: 39 ff.). Gleichwohl ist es nicht möglich, eine solche vorgängige Verbundenheit auf einer Ebene oder in einem gemeinen Sinn zu entdecken, ohne von den sie differenzierenden Wahrnehmungssinnen auszugehen. Man bleibt ihnen verhaftet. Selbst in der Synästhesie, auf die sich Cassirer beruft, werden gehörte Sprache oder Musik nicht von unspezifizierten Sinneseindrücken, sondern zumeist von Farben, mithin von klaren visuellen Erfahrungen begleitet. Da die Farben bei synästhetischen Erfahrungen nicht in der Umwelt gesehen werden und somit die Visualitätsdifferenz suspendiert wird, erkennt man in ihnen möglicherweise einen Beleg gegen die Annahme der verschiedenen Modi: Die Farben liegen innen, ohne dass ihnen ein Gesehenes entspricht. Dieser Einwand würde jedoch auf einem Missverständnis beruhen, da die Modi offen lassen, was innen und was außen liegt. Sie koordinieren nur, dass etwas mit einen Innenindex und dass etwas anderes mit einem Außenindex markierbar ist. Es handelt

12. Die parallele Verarbeitung gilt auch für das Sehen. Semir Zeki spricht diesbezüglich von einer funktionalen Differenzierung der unterschiedlichen visuellen Bereiche im Gehirn. Er untersucht gestalterische Verfahren, die mit den verschiedenen Funktionen korrespondieren: »It is the autonomy of the different components of the visual brain – in terms of both processing and perception – that leads me to speak […] of a functional specialisation in aesthetics« (1999: 68). 86

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sich bei den das Hören begleitenden Farben um kein Gesehenes oder Sichtbares, sondern um die Differenz zwischen einem Hörendsehenden und einem Gehörten und somit um einen hybriden Modus der Aufmerksamkeit. Der Begriff der Aufmerksamkeit13 bzw. der Attentionalität meint hier weder einen bewussten Vorgang noch die bewusste Entscheidung, sich auf etwas zu konzentrieren, meint auch nicht das Interesse, das man entwickelt, um einen Vorgang detailreich zu verfolgen, und ebenso wenig die Leistung, die man erbringen muss, um einen wahrgenommenen Gegenstand im Auge zu behalten. Die Aufmerksamkeit bezieht sich nicht auf den Grad an Bewusstheit14 und ebensowenig auf den gesammelten Ort des intendierenden Bewusstseins, wie man vielleicht für die Phänomenologie vermuten könnte. Um einen Gegenstand zu identifizieren, um einen Vorgang abzuschätzen, um ihm als Vorgang Interesse entgegen zu bringen, um etwas von Anderem zu separieren und um bei der Sache zu bleiben, muss bereits ein Aufmerken stattgefunden haben. Arien Mack und Irvin Rock bestätigen dieses Argument: »The term attention is used to refer to the process that brings a stimulus into consciousness. It is, in other words, the process that permits us to notice something« (2000: 25). Vom Bewusstsein aus mag die Aufmerksamkeit als eine Sonderkompetenz erscheinen. Es muss jedoch erst in geeigneter Weise aufmerksam gemacht werden, um überhaupt zu bemerken, dass es sich um etwas handelt oder gehandelt hat, dem es sich zuwenden kann. In diesem Sinne stellt Merleau-Ponty für die Phänomenologie klar: »Aufmerken ist nicht lediglich, zuvor schon Gegebenes klarer ins Licht setzen; vielmehr ist es die Leistung der Aufmerksamkeit, solches Gegebene ursprünglich gestalthaft zu artikulieren. […] So ist die Aufmerksamkeit nicht eine Assoziation von Bildern, noch der Rückgang eines bereits im Besitz seiner Gegenstände befindlichen Bewußtseins auf sich selbst, sondern die aktive Konstitution eines neuen Gegenstandes durch Thematisierung und Explikation von solchem, was zuvor nur gegenwärtig war als unbestimmter Horizont.« (Merleau-Ponty 1966: 51 f.) Die Attentionen zeichnen sich zunächst durch eine Schwelle der Intensität aus, die es zu überschreiten gilt, um aus einem energetischen einen informativen Zustand zu gewinnen, um einen Gegenstand oder eine Begebenheit, um irgendein Objekt der Aufmerksamkeit zu konstitu-

13. Für einen Überblick über die kognitionswissenschaftliche, psychologische und physiologische Forschung zur Aufmerksamkeit vgl. Wright 1999 und Pashler 1998 und 1999. 14. Diese Auffassung findet man bspw. bei Neisser 1996: 68 ff. oder Roth 1986: 214. 87

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ieren und um irgendetwas zu empfinden oder zu intendieren.15 Die Attentionen vermitteln die psychischen Orientierungen, die sich in ihnen einrichten und aufeinander beziehen können. Sie müssen sich erst sammeln und der Sinn muss seine Richtungen finden, damit überhaupt eine bewusste Erfahrung zu Stande kommt und ein Ich oder ein informationsverarbeitendes System konstituiert wird. Wie Husserl sagt, ist immer etwas bewusst, wenn etwas bewusst ist; Bewusstsein ist immer ein Bewusstsein von. Wenn es aber ein Bewusstsein von etwas ist, dann ist es zunächst ein Bewusstsein der Attentionen und von sinnhaften Ausrichtungen und Intensitätsschwellen. Die Attentionalität gibt an, dass eine Beobachtung stattfinden und ein Sehendes von einem Gesehenen unterschieden werden kann. Jede Beobachtung setzt eine solche Schwelle voraus, die außerhalb der Reichweite des attentionalen Beobachtens gerückt ist, sobald sie überwunden wurde, und die nichtsdestotrotz zum Sichtbaren gehört. Allein darin besteht die attentionale Einheit, die weder in einer Psyche noch in einer Person oder in einem Leib und gewiss nicht in einem Organ gefunden werden kann. Wenn man sagt, man richte seine Aufmerksamkeit auf etwas, findet eine konzentrierte Beobachtung statt, eine Synchronisation vieler Beobachtungen, ein Herabsenken der Schwelle, eine Sensibilisierung der Sinne, die von keinem psychischen Beobachter ausgeht, sondern sich allein auf attentionalem Niveau spezifiziert. Das wahrnehmende Bewusstsein und die Beobachtungen der visuellen Systeme sind über die Attentionen verteilt – ein distribuiertes Bewusstsein, ein zerstreutes System.16 Somit bezieht sich die Attentionalität unabhängig von phänomenologischen, psychologischen oder kognitionswissenschaftlichen Systempräferenzen auf die Beobachtungen von systemischen Leitdifferenzen. Die Aufmerksamkeit besteht einzig aus den Beobachtungen des Sehens, des Hörens etc., deren Sinnesausrichtungen von ihr bestimmt werden. Gibson kommt dieser Position nahe, wenn er über die Beobachtungen des visuellen Systems schreibt: »Bei den beiden angeblich getrennten Bereichen des Subjektiven und des Objektiven handelt es sich in Wirklichkeit nur um zwei Richtungen der Aufmerksamkeit. Es ist nicht nötig, einen Dualismus von Beobachter und Umwelt anzunehmen. Die Information für die Wahrnehmung des ›hier‹ ist von derselben Art wie die Information für die Wahrnehmung

15. Das Objekt der Aufmerksamkeit ist im Sinne Ranulph Glanvilles gemeint, mit dessen beobachtungstheoretischer Konzeption sich der nächste Abschnitt ausführlich beschäftigen wird. 16. Merleau-Ponty schreibt unter anderen Vorzeichen: »Soviel ist offensichtlich, daß das Empfinden in meinem Leib verstreut ist und zum Beispiel meine Hand es ist, die berührt, sodaß wir das Empfinden nicht von vornherein auf ein Denken beziehen dürfen, dessen bloße Modalität es wäre« (1986: 190). 88

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des ›dort‹, und dazwischen erstreckt sich eine kontinuierliche Flächenanordnung von Oberflächen.« (1982: 125) Die Flächenanordnung setzt sich ebenso aus den vor Augen liegenden Gegenständen zusammen wie aus den propriozeptiv zugänglichen und mitgesehenen Händen, Armen und der Nase. Gibson rechnet dieses Mitsehen der Selbstwahrnehmung zu, stellt der gesamten Oberflächenanordnung ein Sehendes gegenüber und setzt damit zugleich eine Selbigkeit des außen gesehenen Körpers und des Sehens voraus. Dieser Wahrnehmung geht – so die hier entwickelte Auffassung – eine Synchronisation der Aufmerksamkeit voraus. Das heißt, es obliegt der Attentionalität, das außen Gesehene vom innen Sehenden zu trennen und in ihrer Differenz aufeinander zu beziehen, wobei beide ausschließlich dem Modus unterworfen sind, in dem sie generiert werden. Eine Umwelt voller gesehener Gegenstände und ein blickendes oder gar intendierendes Bewusstsein anzunehmen, macht keinen Sinn, solange die Beobachtungen den Unterschied nicht in der Aufmerksamkeit organisieren. Auf gleiche Weise lassen sich die Beobachtungsbahnen re-interpretieren. Demnach entspricht die beobachtende Bewegung auf einer Bahn, um eine verdeckte Seite in den Blick zu bekommen oder die Position eines anderen Sehenden einzunehmen, einer Verschiebung der Aufmerksamkeit. Wenn man Gibson auch darin widersprechen muss, dass zwei Sehende nacheinander an der gleichen Stelle Identisches wahrnehmen (vgl. 1982: 216) – auch wenn das Gesehene gleichwertig ist, kann die Wahrnehmung nicht identisch sein, weil es sich um zwei verschiedene Sehende handelt –, so lässt sich doch zeigen, dass sich ihre Beobachtungen über Umwege aneinander orientieren, wodurch sie gemeinsame Bahnen etablieren oder besser: wodurch sie sich in gemeinsamen Bahnen einrichten. Die Sehenden werden attentional koordiniert, insoweit sie sich mittels weiterer Beobachtungen eines gleichwertigen Gesehenen versichern können. Identisch bleibt lediglich der informative Ort innerhalb der Oberflächenanordnung, der einer Relation zwischen ihren orientierenden Beobachtungen entspringt. Die Bahn entlang der Oberflächenanordnungen erweist sich als ein attentionales Arrangement, bei dem Beobachtungen wiederum beobachtet werden. Die Beobachtungen sind nun nicht mehr das Korrelat einer sichtbaren Welt, in der sie in Form visueller Systeme die Strukturen von Oberflächen eruieren. Vielmehr erschließen sie zuallererst das Zusehen-Gegebene im Modus der Sichtbarkeit. Man muss sich vor dem konstruktivistischen Missverständnis hüten, all dies einem Beobachter zuzurechnen, der die Welt nach seinen Kompetenzen und Kapazitäten ersinnt. Er ist selber nur ersonnen. Die Vorstellung eines Beobachters als Akteur seiner Beobachtungen ist absurd. Innerhalb der Aufmerk89

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samkeit gibt es keinen Platz für eine solche privilegierte Instanz, von der aus beobachtet wird oder die beobachtet werden kann. Daher hat man es auf attentionalem Niveau nicht mit einem Netzwerk verschiedener Beobachter, sondern ausschließlich mit einem Geflecht aus Beobachtungen von Beobachtungen zu tun, die die einzig von ihnen abhängigen, temporär stabil gehaltenen Werte des Sehenden und des Gesehenen festlegen. Im Gegensatz zu einem Netz hat ein Geflecht keine Knoten. Aus operationaler Sicht liegt der Ausgangspunkt des Sehens weder in der Umwelt noch im System und die Information liegt weder im Äußeren optischer Anordnungen noch im Inneren des Beobachters. Weder der Realismus noch der Konstruktivismus vermögen das Problem der Sichtbarkeit zu entfalten. Man findet es zwischen ihnen, zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen, zwischen dem System und der Umwelt, man findet sie dort, wo sich Inneres und Äußeres scheiden: an der Oberfläche der Systeme.

Die Modifikation und die Modulation Anstatt eine Version des Sehens oder eine Theorie visueller Systeme zu präferieren, soll die Feststellung genügen, dass die Sichtbarkeit ein eigenständiger Modus der sinnen- und sinnhaften Orientierung ist, in dem die Beobachtungen des Sehens operieren. Er besteht im Etablieren einer Verhältnismäßigkeit: Das Sehen wird nur in den visuellen Systemen beobachtet, insofern beide ein Sichtbares explizieren, das sie impliziert. Das konnte bereits vom Diaphanen und vom Licht gesagt werden. Die Beobachtungen des Sehens zeigen über die bloße Gegebenheit des Lichts hinaus – was wäre das Licht ohne das Sehen? –, dass die Seherfahrung nicht einfach in einer von vornherein sichtbaren Welt lanciert wird. Die visuellen Systeme müssen eingerichtet und ihre Funktionen müssen abgestimmt werden, damit sich in ihnen das Sehende und das Gesehene einfinden und sie sich im Zuge des Sehens wiederfinden. Wie aber kann das Verhältnis zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit näher bestimmt werden? Wenn Gibson von Aufmerksamkeit spricht, bezieht er sich auf die Strukturinvarianten optischer Anordnungen und damit auf die Abstimmungen, die zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen vorgenommen werden. Widerspricht man ihm darin, das Wahrnehmungsbewusstsein als die Eigenschaft eines »lebenden Betrachters« (1982: 258) und die Aufmerksamkeit als »eine Fertigkeit, die man weiterbildet«, aufzufassen, und beschränkt sich stattdessen auf ihre Handhabung, so gibt er nichtsdestotrotz einen wichtigen Hinweis auf das Verhältnis zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit. Wenn Gibson Aufmerksamkeit mit Begriffen wie »Mitschwingen, Extrahieren, Optimieren, Symmetrieren und auch [mit] Aktivitäten wie sich Orientieren, Erkun90

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den, Untersuchen oder sich Anpassen« beschreibt (ebd.: 265), geht es immer um die komplexen Beziehungen multimodaler Situationen, in denen das Sehende und das Gesehene variabel, Ordnungen und Strukturen bildend prozessiert und dabei durchgängig aufeinander bezogen werden. Das bedeutet: Das Sehen unterliegt vermittels der Beobachtungen unentwegt einer Modifikation. Die Visualitätsdifferenz wird in ihrem Prozessieren permanent neu bestimmt und in ihrer Bestimmung bestätigt. Ihre Koordination stabilisiert und restabilisiert das Sehen.17 Sie ändert seine Werte ebenso, indem ein Sehendes sich auf verschieden Gesehenes bezieht, wie auch eine Änderung vorliegt, wenn man von einem Gesehenen zu einem Wandel des Sehenden gelangt, indem das Sehende neu positioniert wird. Die Modifikation betrifft die Werte, die beide annehmen können, und somit das innere Verhältnis der Visualitätsdifferenz. Sie betrifft das, was man sieht, in einem doppelten Sinne, da ihre Schwankungsbreite sowohl das man umreißt, das sieht, als auch das was, das gesehen wird. Das Sehen kann nicht ohne eine Modulation durch das Sichtbare modifiziert werden. Die Modulation bezieht sich nicht auf das Licht als physikalischen Tatsachbestand oder auf die in der Umwelt vorhandene bzw. die im System erarbeitete Information. Auch das Diaphane oder die Vorstellung eines Mediums erfassen nicht die Modulation. Da der Modus das Sehen nur impliziert, insofern es beobachtet wird, ist er nicht von vornherein gegeben, wie etwa das Licht gegeben sein muss, um Farben zu aktualisieren oder Projektionen zu ermöglichen. Der Modus ist alles andere als ein neutrales oder rauschendes Medium. Ebenso wenig ist er eine unverrückbare, physikalische Entität. Die Farbe des Lichts zu ändern, um bisher Ungesehenes sehen zu können, oder das Diaphane wegen eines weggeblasenen Rauchs wirkmächtiger erscheinen zu lassen, erfasst nicht die notwendigen Konsequenzen aus der Implikation des Sichtbaren. Wie bspw. im Falle der mehrfach erfahrenen Bahnen Gibsons deutlich wird, richten sich, um zu sehen, Beobachtungen auf Beobachtungen aus. Da demnach mehrere Beobachtungen die Visualitätsdifferenz koordinieren, bezieht sich die Modulation auf die Beobachtungen, die in den Bereich vorhandener Beobachtungen eintreten und ihr Arrangement ändern. Sie bezieht sich zudem auf den durch diese Änderungen variierten Unterschied zwischen dem Gesehenen und Sehenden bzw. zwischen dem Äußeren und Inneren. Um weitere Beobachtungen noch umschließen zu können, in denen die Visualitätsdifferenz aufrechterhalten bleibt, muss der Modus

17. Die Modifikation der Visualitätsdifferenz entspricht der Perturbation bei Humberto Maturana. Er bezieht sie auf die strukturellen Änderungen eines autopoietischen Systems, das durch die Wechselwirkungen mit seiner Umgebung irritiert wird; ein irritierbares System ist strukturell plastisch. 91

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sinnenhafter Orientierung permanent neue Fluchtlinien zum Anschluss weiterer Beobachtungszirkel zulassen. Weder die Dauer noch die aufeinander ausgerichteten Bezüge oder die dadurch gemeinsam eingeschlagenen Ausrichtungen der Beobachtungen sind determiniert. Wenn das Sehen auch umschlossen ist, so ist die Modulation unabschließbar. Das heißt, dass nicht die Zeit oder der Raum des Sehens unendlich ist, sondern allein die Modulation der Sichtbarkeit. Niemand weiß, was es alles zu sehen gibt. Selbst Heinz von Foerster, der die stabile Position eines Beobachters bzw. eines beobachtenden Ichs verficht, weist auf die Schwierigkeiten hin, selbstorganisierende Systembereiche zu beobachten, die »sich nicht nur ständig im Raum bewegen und in ihrer Form verändern, sondern [die] auch hier und dort spontan auftreten und wieder verschwinden können« (1985b: 120). Was ist der Beobachter also anderes als diese modulierte Distribution der Beobachtungen, die nur gemäß ihrer Verrichtungen zu dem selben System gehören, das sich organisiert? Die sich aufeinander abstimmenden Attentionen schaffen ein Bündel variabler Modifikation und Modulation. Mit ihnen ist immer auch eine Ausdehnung (und wegen zu erwartender Strukturbildungen und Isomorphien eine Verengung) der Sichtbarkeit über mehrere Beobachtungen hinweg, eine Steigerung (und Minderung) der Potenz, Farben zu aktualisieren, eine Erhöhung (und Reduktion) der Projektionsmöglichkeiten, eben die Abstimmung dessen verbunden, das als das Selbe des Sehenden und Gesehenen zu entdecken ist. Gegenstände sind nach diesem Verständnis ebenso wenig die Selben, (auch dann nicht, wenn sie identisch bleiben), wie die Wahrnehmenden, die allenfalls aus Identitätsbeziehungen zwischen den durchgeführten Beobachtungen des Sehens bestehen. Da die Visualitätsdifferenz zu modifizieren stets mehrere Beobachtungen erfordert und die Sichtbarkeit zu modulieren das Hinzutreten weiterer Beobachtungen bedingt, geht mit dem Verhältnis, etwas sehenderweise zu explizieren, von dem das Sehen wiederum impliziert wird, notwendigerweise eine Replikation der arrangierten Beobachtungen einher. Jede Handhabung der Visualitätsdifferenz kehrt ein Sichtbares hervor, das von jeder weiteren Beobachtung in Anspruch genommen wird. Sie ist dazu gezwungen, sich in die Sichtbarkeit vorgefundener Beobachtungen einzubringen, sich also auf Grund des ihr zustehenden Sichtbaren an der Explikation einer gemeinsamen Sichtbarkeit zu beteiligen, um ein Sehen hervorbringen zu können. Die Beobachtungen gehören zu der selben Sichtbarkeit. Sie impliziert ihre Ausdehnung und Ausbreitung, über die die Visualitätsdifferenz verstreut ist: eine Replikation dessen, was das modifizierbare Sehen expliziert, und eine Replikation dessen, von dem die Modifikation impliziert wird. Das bedeutet, dass nicht allein das Sehen, sondern das Verhältnis zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit repliziert wird. Die Replikation 92

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bewahrt die Einheit des Sehens – zu einem Sehstrahl zu gehören, Farben identifizieren zu können, von einem visuellen System hervorgebracht zu werden – und die Selbigkeit des Sehens und ihrer Beobachtungen gleichermaßen. Unter den vorgeführten Bedingungen können die visuellen Systeme nicht mehr auf zelluläre Eigenschaften der die Reize verarbeitenden Organe zurückgeführt werden. Ebenso wenig können die Empfindungen auf einen von vornherein gesetzten, einheitlichen Körper zurückgeführt werden. Zudem sind weder ursächliche Reize noch unabhängige Umweltgeschehnisse voraussetzbar. Das Sehen findet nicht in den Organen, sondern im Modus der Sichtbarkeit statt, in dem die organisch-funktionale und die empfindend-leibliche Einheit erst gefunden werden müssen. Sie beruht auf einer Einheit ganz anderer Art. Damit die Beobachtungen des Sehens zu Stande kommen, muss eine energetische oder informative18, eine körperliche oder mentale Intensitätsschwelle überwunden werden. Wenn sich dies ereignet, hat man es ad hoc mit ein Attentionen zu tun. Mittels dieser attentionalen Einheiten ist nun zu klären, wie das Sehen zu einem kommunikativ relevanten Bildersehen wird.

18. Vgl. Deutsch, Deutsch 1969. 93

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Attentionale Objekte Aufmerken Zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit zu unterscheiden gibt noch keine Auskunft über die Kommunikativität der Bilder. Die Unterscheidung informiert nicht einmal über ihre Wahrnehmung, obwohl davon auszugehen ist, dass Bilder gesehen werden und ihnen ein Sehendes entspricht. Die Unterscheidung besagt lediglich, dass das Sehen von einer Sichtbarkeit impliziert wird, die es expliziert. Und sie besagt, dass die Replikation dieses Verhältnisses das fortgesetzte Sehen verantwortet, wodurch es selbst modifiziert und wodurch dasjenige, das es impliziert, moduliert wird. »Sehen ist an ein bestimmtes Feld gebundenes Denken« (Merleau-Ponty 1966: 254). Es verharrt stets in einer sich ergebenden Sichtbarkeit, die den Sehenden auf seine gesehene Umwelt bezieht, die die gemeinsame Koordination umfasst und die die Beobachtungen des Sehens impliziert. Obwohl die Unterscheidung zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit nicht unmittelbar zu einem Schluss auf die Bilder und auf ihre Kommunikativität führt, ist der Weg vorgezeichnet, auf dem man sie wird untersuchen können. Um kommunikativ relevant zu werden, hängen die Bilder notwendigerweise vom Sehen und von demjenigen ab, was das eigenständige Sehen in ihnen zu erblicken und zu entdecken vermag. Verfolgt man diese Bedingung eine Weile, so eröffnet sich eine Möglichkeit zu verstehen, wie die Bilder zur Kommunikation aufschließen: Da erstens das Sehen nicht mehr als psychische Aktivität begriffen werden muss und es sich damit der alleinigen Kompetenz psychischer Systeme entzieht, entledigt man sich zugleich des Zwanges, ihre Operativität definieren und sich innerhalb dieser Definition bewegen zu müssen. Entscheidend ist vielmehr, wie die attentionale Replikation operiert, wie also die Visualitätsdifferenz prozessiert wird. Die Aufmerksamkeit ist hier nicht als eine Sonderfunktion der Informationsverarbeitung visueller bzw. psychischer Systeme, sondern als das konstituierende Moment systemischer Orientierungen zu begreifen. In ihrem Rahmen wird Information und werden Systemzustände fällig, die ihrerseits als modifiziertes Sehen beschrieben werden können. Da die Visualitätsdifferenz zweitens auch im Fall der Bildkommunikation prozessiert wird 95

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und prozessiert werden muss, wird man die Replikation untersuchen müssen, um herauszufinden, wie das Sehen unter kommunikativen Bedingungen beobachtet wird. Das bedeutet: Es ist zu fragen, wie der Modus der Sichtbarkeit in dem Fall expliziert wird, in dem verstanden wird, dass ein Bild als eine kommunikativ mitteilende Darstellung, als eine Kommunikabilie vorliegt. Bisweilen stellt man sich die kommunikative Verwendung von Bildern etwa folgendermaßen vor: Man steht oder sitzt einem Gemälde oder einer Kinoleinwand gegenüber, rezipiert das zu sehen Gegebene und lässt in Bezug darauf seine Imagination walten und sein kulturelles Wissen zur Geltung kommen. Solch eine Situation besitzt in mehrfacher Hinsicht paradigmatische Züge. Berücksichtigt man die zurückliegenden Ausführungen, so müssen jedoch drei ihrer mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzter Prämissen kritisiert werden. Erstens ist das Sehen nicht auf eine ruhig gestellte Position verpflichtet, da es selbst beweglich ist. Dies gilt sowohl für das Sehende als auch für das Gesehene. Wenn es – wie im vorangegangenen Abschnitt geschehen – möglich ist, das Sehen als ein informatives Prozessieren auf Beobachtungsbahnen zu beschreiben, die ein bewegtes Sehendes und ein bewegtes Gesehenes umfassen, besteht kein Problem darin, zum Beispiel die filmische Bewegung, die räumliche Dimension von Holografien und schließlich den das Sehen befördernden Gang um eine Skulptur als pikturale Mittel zu begreifen. Zweitens relativieren die Beobachtungen des Sehens das gebräuchliche Schema von Produzenten und Rezipienten, da beide sehen müssen, um die Kommunikativität der Bilder herausstellen zu können. Sicherlich benötigt man mehr als das eigene Sehvermögen, um eine Grafik zu zeichnen oder eine Fotografie zu entwickeln. Nichtsdestotrotz zielen die notwendigen Handgriffe und Tätigkeiten auf das eigene oder das fremde Sehen im Bild, wie auch John Berger betont: »Zeichnen heißt sehen, die Struktur der Erscheinungen beobachten« (Berger 1999: 157). Auch wenn die motorischen Kompetenzen mit dem Sehen verwoben1 sind und man auf Grund der eigenen, gestalterischen Erfahrungen lernt, viele neue Facetten wahrzunehmen und die verwendeten Mittel mit einem Blick zu erkennen, bleibt es dabei: Man sieht sie im Bild und das Sehen wird in ihm gebahnt. Um ihre kommunikative Spezifik zu beschreiben, kann man auf die Unterscheidung zwischen den

1. Wie die Verwicklungen strukturiert sind, bleibt eine anregende Frage. Melvyn A. Goodale und G. Keith Humphrey unterscheiden bspw. zwischen zwei getrennten, jedoch miteinander zusammenhängenden und parallel prozessierenden visuellen Systemen (vgl. dies. 1998). Während ein System für die Wahrnehmung von Gegenständen (vision of perception) zuständig ist, steuert das andere System die auf die Gegenstände bezogenen Aktivitäten (vision of action). 96

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Produzenten auf der einen Seite und den Rezipienten auf der anderen verzichten, da man Beide auf die Unterschiede im Bildersehen und – in Hinsicht auf soziale Systeme – auf die Unterschiede im Bildverstehen wird zurückführen müssen.2 Ob typischerweise anders verstanden wird, wenn eine Kommunikation mehrheitlich Zurechnungen auf Personen aufweist, die als Produzenten gekennzeichnet sind, als etwa in Fällen, in denen nur Rezipientenpersonen beteiligt sind, führt möglicherweise zu einem aufschlussreichen Forschungsdesign. Ein Theorieproblem ist mit einer solchen Frage nicht verbunden. Für die kommunikative Operabilität der Bilder sind die Beobachtungsanordnungen entscheidend, nicht die personalen Kommunikanten. Kurz, ob das Sehen auf der Herstellerseite oder bei einem Betrachter wiedergefunden wird, ist für den Vollzug einer bildkommunikativen Operation nicht maßgeblich. Die Visualitätsdifferenz beschreibt nicht allein dasjenige, was im Bild gesehen wird, sondern selbstverständlich auch den vor Augen geführten Gegenstand. Sowohl der bildliche Gegenstand als auch das im Bild Vernommene sind zunächst – im bisher entwickelten Verständnis – nichts anderes als Gesehenes und müssen ebenfalls aus dem Sehen und der Sichtbarkeit heraus begriffen werden. Der dritte Einwand richtet sich somit gegen die Abkopplung des materiellen Bildträgers aus dem Sehgeschehen. Das Material wird gesehen und es wird gestaltet, um gesehen zu werden. Man sieht es und man sieht zugleich seine Gestaltungen. Der Unterschied zwischen dem Material und seinen Gestaltungen wird sehenderweise markiert und findet sich somit ebenso wie das Gestaltungsmittel der Bewegung und wie das Produzenten-RezipientenSchema auf attentionalem Niveau wieder.3 Wenn John Berger darauf verweist, dass man die »Struktur der Erscheinungen« zeichnend beobachtet, so muss bedacht werden, dass die Erscheinungen bereits zweiseitig sind, dass ein Erscheinendes ebenso zu ihnen gehört wie jemand, dem die Dinge erscheinen. Es wird deutlich, dass die Erscheinungen zu beobachten bedeutet, ihre Differenz zu beobachten. Bilder können nicht auf eine gesehene Gegenstände reduziert werden, da mit ihnen eine bestimmte Art zu sehen einhergeht, eine spezifische Weise, das Sehende und das Gesehene aufeinander zu beziehen, eine spezifische Form des Beobachtens. Das zeichnerisch-bildliche Sehen geht über das bloße Sehen von Gegenständen hi-

2. Die Diskussion über das Herstellen und Betrachten wird zu Beginn des fünften Abschnitts geführt. 3. Mit der Frage, wie die Unterscheidung zwischen dem bildlichen Gegenstand bzw. dem Träger auf der einen Seite und den an seiner Oberfläche gesehenen Gegenständen auf der anderen Seite unter den hier gewählten Bedingungen markiert werden kann, wird sich der vierte Abschnitt beschäftigen. 97

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naus und bleibt nichtsdestotrotz ein einfaches Sehen, das wie jedes andere Sehen auch vom Sichtbaren impliziert wird. Allein dabei kann man es noch nicht belassen. Denn Bilder zur Verfügung zu stellen oder über sie zu verfügen heißt, das Sehende einem Wandel zu unterziehen, Gesehenes zu finden oder zu erfinden, Beobachtungsbahnen zu erschließen, bisher ungesehene Gegenstände sichtbar zu machen und die Explikationen des Sehens zu vermehren. Bilder bestehen letztlich aus nichts anderem als aus diesen Bahnungen des Sehens. Es genügt daher keinesfalls, sie nur über die Modifikationen der Visualitätsdifferenz zu begreifen. Ein Bild resultiert aus einem speziellen Verfahren, die Sichtbarkeit zu modulieren, es verdankt sich des die Aufmerksamkeit bindenden Sichtbarmachens, insofern daraus kommunikative Anschlusswerte gewonnen werden können. Einen Ausdruck für diese sichtbar machende Modulation zu finden, ist die Aufgabe der folgenden Seiten. Sicherlich erfassen das Sehen und die Sichtbarkeit nicht alle mit den Bildern in Zusammenhang stehenden Praktiken, Prozeduren und Fertigkeiten der attribuierbaren Individuen wie bspw. der Produzenten und der Rezipienten. Umgekehrt muss aber erst angegeben werden, auf was ihre zugerechneten Aktivitäten zu beziehen sind und wie dieser Bezug hergestellt wird. Sie setzen somit eine noch näher zu bestimmende, bildkommunikative Operabilität voraus. Wenn gesehen wird, dass es sich um ein Bild handelt, und wenn gesehen wird, dass mit diesem Bild zugleich eine Mitteilung bzw. eine als Mitteilung verstehbare Darstellung vorliegt, hat man es einerseits mit einer sichtbar machenden Koordination der Visualitätsdifferenz und andererseits mit dem kommunikativen Verstehen zu tun. Das heißt nicht und das darf wegen der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme nicht heißen, dass die Operation der Kommunikation sehenderweise vollzogen wird. Damit sie aber vollzogen werden kann – und das heißt: damit ein die darstellerische Mitteilung von ihrer Information unterscheidendes Verstehen überhaupt erst zu Stande kommen und einsetzen kann –, bedarf es eines das Sichtbarmachen explizierenden Sehens. Ein Bild ist zugleich eine attentionale Form des Sehens und eine Funktion zur Gewinnung von Anschlusswerten, die kommunikativ als mitteilende Darstellung ausgewiesen wird. Ihr Verstehen wird auf attentionalem Niveau präfiguriert, um sie kommunikativ unterscheidbar und anschlussfähig zu machen. Wenn die attentionale Form des Bildersehens gefunden wurde, eröffnet sich die Möglichkeit für die Kommunikation, damit – und nur damit – zu operieren und interne Anschlüsse herzustellen. Es gibt ein kommunikatives Sehen, ohne zu kommunizieren, während die Kommunikation kommuniziert, ohne zu sehen. Im systemtheoretischen Sinne geht es letztlich um die Frage, wie sich die strukturelle Kopplung zwischen der Kommunikation und dem Sehen auf die Kommunikation auswirkt. Demnach muss man für eine Analyse des kommunikativen Verstehens von Bildern zunächst das Verhältnis 98

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zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit einer näheren Untersuchung unterziehen und es für das Sehen von Bildern und das Sehen in Bildern spezifizieren. Man wird fragen müssen, wie sich das Sehen des Sichtbarmachens repliziert, damit Bilder verstanden werden und damit dieses Verstehen Kommunikation in Gang bringen und soziale Systeme informieren kann. Die für die Systemtheorie maßgebliche Form der strukturellen Kopplung verbindet psychische mit sozialen Systemen. Ohne den Begriff der Kopplung zu gebrauchen, hat Jürgen Markowitz die strukturellen Bedingungen für die Partizipation des intendierenden Bewusstseins an der Kommunikation untersucht. Von besonderem Interesse ist der Umstand, dass er dies unter dem Titel der Attentionen tut, was zu einem kleinen Exkurs einlädt. Markowitz ist der Frage nachgegangen, wie »sich den Teilnehmern von Interaktionsprozessen der Kontext [erschließt], den sie durch ihr Verhalten konstituieren und an dem sie ihr Verhalten orientieren« (Markowitz 1986: 16). Damit stellt er sich der Frage, wie die Teilnahme an sozialen Systemen gelingt und welche die Verhaltensweisen stabilisierenden Funktionen dafür ins Werk gesetzt werden. Er zeigt, dass die Beobachtungen zwischen kommunikativ beteiligten Personen durch Attentionen reguliert werden. Wenngleich die Aufmerksamkeit im Gegensatz zum hier vertretenen Ansatz auf bewusste Akteure bezogen ist und als das soziale Korrelat oder Supplement ihrer Intentionen begriffen wird, belegt das Untersuchungsergebnis doch die Möglichkeit für die durch die Aufmerksamkeit hervorgerufenen kommunikativen Effekte, von denen soeben die Rede war. Den sowohl thematischen als auch methodischen Ausgangspunkt bildet bei Markowitz das sich in seiner (sozialen) Umwelt orientierende psychische System, dessen Orientierungen wiederum Orientierungspunkte für andere psychische Systeme liefern: »Die attentionalen Aktivitäten des Subjekts sind der fremden Wahrnehmung direkt zugänglich. […] Die wahrnehmbaren Attentionen können als nichtbeliebige Begleiterscheinungen der Intentionen des beobachteten Subjekts angesehen werden.« (Markowitz 1987: 487) Markowitz benennt zwei verschiedene attentionale Aktivitäten: erstens die oszillierenden und zweitens die alternierenden Orientierungen. Beide zeichnen sich vor allem durch ihre Selektionsfunktionen aus. Die attentionale Oszillation bezieht sich auf ein eingetretenes Geschehen und wechselt hier zwischen dem zentrierten Hinsehen auf die mit dem Geschehen verbundene Diskontinuität im eigenen Erleben einerseits und dem fugalen Absehen von der Umgebung des Geschehens andererseits. Dabei befragt man seine Umgebung mit epistemischen (was geschieht überhaupt?) und possibilistischen (wie wahrscheinlich ist ein Vorkommnis?), mit zeitlichen (durch welche Temporalität zeichnet sich das 99

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Geschehen aus?) und sozialen (wem ist das Geschehen zuzurechnen?) Kriterien. Auf diese Weise markiert die Oszillation ein distinktes »Zeitquantum, einen phänomenalen Augenblick« der Aufmerksamkeit (vgl. Markowitz 1986: 111 ff.). Während das Oszillieren die diskontinuierlichen Wechsel der sinnhaften Orientierung und ihre differenziellen und selektiven Mikroprozesse betrifft, meint das attentionale Alternieren den kontingenten Wechsel der Referenten, auf die die Aufmerksamkeit fokussiert wird. Das Alternieren gehört »zu den fundamentalen Komponenten der pragmatischen Konstitution von Verhaltenskontexten« (ebd.: 61), die auch dann präsent bleiben, wenn sie im Einzelnen unübersichtlich und kaum zu erfassen sind. Das Alternieren bezieht sich erstens auf den Wechsel zwischen einzelnen Referenten der Orientierung bzw. anderen Teilnehmern einer Interaktion. Zweitens bezieht es sich auf die mit dem Wechsel verbundenen Schemata und Funktionen, die es erlauben, zwischenzeitlich von einzelnen Referenten bzw. Teilnehmern abzusehen und wieder auf sie zurückzukommen. Drittens ist das Alternieren dadurch gekennzeichnet, dass es selbst zum Referenten eines anderen Alternierens werden kann. Damit wird die attentionale Orientierung zu einem der fremden Wahrnehmung freigegebenen Verhalten. Markowitz rechnet diese Vorgänge den psychischen Systemen zu, da es ihnen obliegt, ihre attentionalen Aktivitäten von den Intentionen zu unterscheiden und genau diese Differenz als einen »Funktionszusammenhang« zu handhaben (vgl. ders. 1987: 487). Gemäß Markowitz ist sie zwar beobachtungsleitend; nichtsdestotrotz stößt er auf eine weitere Differenz, die sich nicht so leicht zuordnen lässt. Gemeint ist die Differenz zwischen dem Verhalten und dem Wahrnehmen, die weder den psychischen Systemen noch ihrer Interaktion allein zugerechnet werden kann. Vielmehr geht um die Vermittlung zwischen ihnen, um die personale Partizipation der Individuen, die zu sozialen Zwecken beobachtbar werden. Die Differenz zwischen dem Verhalten und der Wahrnehmung kann nicht auf die Individuen reduziert werden, da sie damit überfordert wären, die fremde Wahrnehmung ihres eigenen Verhaltens wahrzunehmen und sich dementsprechend außerhalb ihrer Selbst zu beobachten. Dies müsste jedoch geleistet werden, wenn die Aufmerksamkeit sich an ihren eigenen Orientierungen orientiert. Bemerkt man das Aufmerken eines anderen, wird eine zur Verfügung gestellte Beobachtbarkeit ausgefüllt, die dem Beobachteten nicht mehr zugehören, sondern nur noch als sein mehr oder weniger willkürlich dargebotenes Verhalten zugerechnet werden kann. Dem Beobachtenden entzieht sich die Beobachtbarkeit des Aufmerkens insofern, als dass er das Alternieren des Anderen nicht durchdringen kann und auf seine eigene Wahrnehmung zurückgeworfen bleibt. Auf das Sozialsystem der Interaktion kann die Differenz ebenfalls nicht reduziert werden, da es zwar ein gezeitigtes Verhalten als ei100

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ne informative Mitteilung verstehen kann, aber an seine Grenzen gelangt, sobald es auf die in Anspruch genommene Wahrnehmung zugreifen möchte. Aus all dem folgt, dass die Aufmerksamkeit eine Beobachtungsstruktur entwirft, die auf beide Systemtypen zugleich zugreift, und dass das selektive Aufmerken der Beteiligten deutlich von den attentionalen Koordinierungsleistungen unterschieden werden muss. Davon unberührt werden die Beteiligten weiterhin zwischen ihrer Intentionalität und der sondierenden Aufmerksamkeit und die Kommunikation zwischen ihrem fortgesetzten Prozessieren und dem aufmerkenden Verhalten der partizipierenden Personen unterscheiden, um ihre operativen Systemgrenzen auszuloten. Ebenso wenig wie die attentionalen Koordinierungsleistungen auf die systemischen Operationen zurückgeführt werden können, vermag die Aufmerksamkeit die Systeme zu bestimmen. Wie Markowitz betont, verfehlt sie die Operativität und die Struktur des Bewusstseins. Mit dem zur Schau gestellten Verhalten ist zudem noch keine Kommunikation vollzogen. Stattdessen konfiguriert die Aufmerksamkeit das Verhältnis zwischen den Individuen und das Verhältnis zwischen diesem Verhältnis und der Interaktion: das psychische Sondieren und Wahrnehmen einerseits, das soziale Zurechnen von getätigtem Verhalten andererseits. Nur unter diesen Bedingungen der Aufmerksamkeit partizipiert man an sozialen Systemen. Die Teilnahme bleibt verwehrt, solange das von Markowitz analysierte Repertoire nicht zumindest ansatzweise ausgespielt wird. Unabhängig von den operativ geführten Beobachtungen innerhalb der Systeme trifft man auf einen Bereich der Beobachtung, in dem aus jeder Fremdbeobachtung (Wahrnehmung) eines anderen Systems ein Fremdbeobachtetwerden (Verhalten) resultiert, das weder dem einen noch dem anderen System autonom zugänglich oder von ihnen alleine bedingt ist. Diese Wechselverhältnisse erbringen die nötigen Voraussetzungen, um die an das Verhalten anknüpfenden Erwartungserwartungen und dementsprechend die Strukturen sozialer Systeme zu regulieren. Da in der Attentionalität die Entscheidung darüber gefällt wird, ob die Wahrnehmung eines Verhaltens zu kommunikativen Konsequenzen führt, wird in ihr auch der Unterschied zwischen psychischen und sozialen Systemen markiert. Hier stoßen die Systeme aneinander, hier ist die Oberfläche, an der sie von außen beobachtbar werden. Sie müssen verschieden sein, bevor sie diesen Unterschied reflektieren. Ihre Differenz wird bereits im Aufscheinen der Operationen markiert und wartet nicht darauf, bis die Systembildung abgeschlossen ist und sich zu reflexiven Höhen aufgeschwungen hat, um wahlweise zur Geltung zu kommen oder nicht.4 Sie bleiben also auch dann unterschieden, wenn

4. Um das Verhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen zu klären, 101

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den Systemen ein je eigenes Schema zur gegenseitigen Unterscheidung und Bezeichnung fehlt und wenn sie ihre Differenz intern nicht noch einmal reproduzieren, was den anderen Systemen ohnehin verborgen bliebe. Markowitz hat eine aus der Perspektive des Bewusstseins vorgetragene und ebenso umfangreiche wie verklausulierte Untersuchung zur strukturellen Kopplung vorgelegt, die sowohl die intentionale Struktur des Erlebens als auch die soziale Struktur des Verhaltens betrifft, die aber von beiden nicht in den Duktus des eigenen Operierens gezwungen werden kann. Da es offensichtlich nicht möglich ist, für die Aufmerksamkeit eine eindeutige Systemreferenz anzugeben, liegt der Schluss nahe, sie nicht als eine Systemfunktion zu begreifen.

Konstituieren Wie das den Individuen zugemutete attentionale Oszillieren zeigt, orientieren sie sich in ihrer Umwelt und finden darüber ein Verhältnis zu ihr. Das Alternieren nimmt darauf aufbauend weitere Spezifikationen vor. Während Markowitz die attentionalen Aktivitäten als eine Sonderkompetenz von Subjekten begreift, soll hier weiterhin auf eine Zurechnungspräferenz verzichtet werden. Wie können die Beziehungen der Attentionen nun weitergehend analysiert werden, ohne zugleich einer Systemreferenz und einer Systemfunktion zu unterliegen? Um auf das Sehen und die Sichtbarkeit zurückzukommen: Sobald man aufmerkt, unterscheidet man ein Gesehenes von einem Sehenden und ist in die Beobachtungen seines Sehens eingebunden. Die Aufmerksamkeit ist das replikative Verhältnis, in dem die von den visuellen Systemen prozessierte Visualitätsdifferenz gehandhabt wird. Und nur ihre Handhabung heißt: das Sehen zu beobachten. Dies gilt für das die Lichtprojektionen empfangende Auge ebenso wie für den physiologischen Apparat und den visuellen Kortex. Sobald man umherblickt, unterscheiden sich das Sehen von der Beobachtung und die Visualitätsdifferenz von ihrer attentionalen Koordination. Erführe man nur hingeträufelte und unkoordinierte Impressionen, würde man nie etwas in den Blick bekommen können, weil zwischen ihnen kein Zusammenhang bestünde. Die Attentionalität ist über das bloße Verhältnis des Sehenden und des Gesehenen hinaus diejenige Struktur, in der sich das Sehen

präferiert Luhmann den formalen Wiedereintritt von Unterschiedenem auf einer Seite der Unterscheidung – in diesem Fall: den Wiedereintritt der unterschiedenen Systeme in die mit diesen Unterscheidungen operierenden Systeme. Diese Lösung vermag nicht zu klären, wie die Unterscheidung zwischen den Systemen das jeweils andere System operativ und strukturell bedingt. Aus diesem Grund wird die Theoriefigur des Wiedereintritts bis auf Weiteres suspendiert. 102

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bzw. die visuellen Systeme in einer sichtbaren Welt wissen und sich in ihr orientieren. Daher kann die Aufmerksamkeit nicht wie in den Neurowissenschaften als eine kognitive Funktion von visuellen Systemen begriffen werden, die die zu verarbeitende Information mit ihren Schemata (gemäß Wichtigkeit, Neuigkeit, Gewohnheit etc.) bewertet. Vielmehr sind die Systeme selbst eine Form attentionaler Organisation. Sie kennzeichnet den Moment, in dem die operablen Differenzen der Wahrnehmungssinne ermöglicht und realisiert werden, und sie kennzeichnet zugleich das Moment, das sie mittels anschließender Beobachtungen reproduziert. Hier zeichnet sich ab »unter welchen Bedingungen freie, gleitende oder ungebundene kleine Differenzen zu abschätzbaren, gebundenen und festen Differenzen werden« (Deleuze 1992a: 313), wie diese Bedingungen das Prozessieren stabiler Differenzen kritisch halten und wie daraus weitere Differenzierungen hervorgehen können. Für die Umweltbezüge zwischen den psychischen und den sozialen Systemen heißt das entsprechend, dass sie sich nicht notwendigerweise gegenseitig fremdbeobachten, sondern dass sie im ›Medium‹ des Sinns – und vor allem: vom Sinn – beobachtend koordiniert werden, um ihrerseits sinnhaft prozessieren zu können.5 Um sich ins Sehen zu versetzen, benötigt die Aufmerksamkeit ein gewisses Maß an Energie des Lichts, ein gewisses Maß an Durchsichtigkeit im Diaphanen, eine mindeste Ausbreitung der Beobachtungsbahnen, um die Oberflächenstrukturen erfahren zu können, eine mindeste Kapazität zur Informationsverarbeitung, eine geringste Durchdringung der sichtbaren Welt mit dem Blick. Man kann das Mindestmaß der Beobachtung auch in der von Ulric Neisser vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen präattentiven und attentiven Prozessen entdecken, das heißt in der neuronalen Informationsverarbeitung von Wahrgenommenem, das sich je nach Funktion und Fähigkeit auf der einen Seite dem Bewusstsein entzieht und das ihm auf der anderen Seite zugänglich ist. Denn die Unterscheidung legt fest, dass die Beobachtungen des psychischen Systems diesseits eines Mindestmaßes des Erkennbaren oder des Handhabbaren liegen. Jede Beobachtung des Sehens setzt folglich ein zu überschreitendes Maß des Aufmerkens voraus und mit jedem Maß geht eine Differenz einher, mit deren Hilfe das Sehen konfigurierbar wird. Die verschiedenen Mindestmaße bauen nicht kontinuierlich aufeinander auf, sondern sind ineinander gefügt und miteinander verwoben. Gilles Deleuze bezeichnet dies als Intensität, als eine nicht einschränkbare Differenzierung, in der jede Differenz auf eine andere Differenz zurückgeführt wird (vgl. Deleuze 1992a: 155 f.). Nicht verwechselt werden dürfen die differenzielle Intensität und die

5. Vgl. zum Begriff der Bindung von Sinnverwendungsmöglichkeiten bei der Kopplung von psychischen und sozialen Systemen Luhmann 1984: 300. 103

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Visualitätsdifferenz, denn intensiv ist nicht das Sehen, sondern die Bedingung, unter der es zu Stande kommt und koordinierbar wird. Das Aufmerken setzt folglich nicht allein eine Wahrnehmungsgrenze ins Werk, sondern zugleich die Intensität voraus, die das Maß erst bestimmt: »Die Intensität ist die Form der Differenz als Grund des Sinnlichen« (ebd.: 282). Erst mit ihr sind die Unterschiede in der Qualität und in der Quantität des Sehens gegeben, und erst mit dem Verweis einer maßgebenden Differenz auf eine andere findet es zu seiner Explikationsfunktion. »Die Intensität expliziert sich, entfaltet sich in einer Extension. Durch diese Extension wird sie auf die Ausdehnung bezogen, in der sie außerhalb ihrer selbst erscheint, verdeckt durch die Qualität. Die Intensitätsdifferenz tilgt sich in diesem System oder strebt danach, sich in ihm zu tilgen; sie aber ist es, die dieses System erschafft, indem sie sich expliziert.« (Deleuze 1992a: 189) Man neigt dazu, wie Deleuze ausführt, die Intensität den Qualitäten und den Quantitäten unterzuordnen. Und tatsächlich deuten ein Mindestmaß des Lichts oder der Information verarbeitenden Kapazitäten scheinbar auf nichts Wesentliches, zumindest auf nichts, das der Intensität einen prominenten Platz zuzuweisen legitimierte: Ein für die Wahrnehmung zu kurzer Reiz ist nichtsdestotrotz ein Reiz mit einer bestimmbaren Energie und einer damit zusammenhängenden Information. Man vergisst jedoch, dass das Licht nicht auf seine physikalische Energie, sondern auf die Sichtbarkeit zu beziehen ist. Darauf, dass das dem Sehen angemessene Licht in seiner Explikation inbegriffen ist, und darauf, dass das Sehen mitsamt seines Lichts impliziert wird. Die zu sehen gebenden, physikalischen Eigenschaften des Lichts gehören zu der selben Sichtbarkeit wie das mit ihm Gesehene. Man kann den zu kurzen oder zu dunklen Reiz nur deswegen auf das Sehen beziehen und er kann nur deswegen ›zu kurz‹ sein, weil er den Konditionen der Sichtbarkeit angepasst ist. Auch das Mindestmaß wird folglich von ihr impliziert. Die Intensität ist auf die Sichtbarkeit zu beziehen und kann nicht auf einen variabel einsetzenden, geringsten Wert (mehr oder weniger intensiv) reduziert werden. Um das Sehen zu ermöglichen und aufzuordnen, können jedoch nicht beliebige, intensive Differenzierungen ineinander greifen und aufeinander folgen. Vielmehr muss es einen konsistenten Zug innerhalb der Intensität geben. Eine Intensitätsschwelle muss überschritten werden, die den Modus der Sichtbarkeit evoziert und die Selbigkeit der Beobachtung seines (optischen, neuronalen etc.) Sehens definiert und an der jedes Sehen und jede Modifikation der Visualitätsdifferenz anzusetzen hat.6

6. Vgl. zur Intensität und zum Selben Deleuze 1992: 303. Dabei muss man 104

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Das Problem des Mindestmaßes stellt sich auch für manche kognitionswissenschaftliche Ansätze. Wenn in ihrer Theoriebildung Unklarheit darüber herrscht, auf welcher zerebralen Stufe bzw. in welcher stufenweisen Verteilung die selegierenden, filternden oder reduzierenden anzusetzen Funktionen sind, die die neuronale Steuerung der limitierten Aufmerksamkeit verantworten, herrscht doch Einigkeit darüber, dass mit diesen die Wahrnehmung steuernden Mechanismen das notwendigerweise selektive Sehen des visuellen Systems beginnt. Die Funktionen regulieren die informierte Visualitätsdifferenz und nehmen die Position des Aufmerksamen gemäß der zerebralen Modellbildung ein. Obwohl sie den Beginn des Sehens erst markieren müssen, gehören sie zum selben Sichtbaren der gesamten Informationsverarbeitung. Zweierlei wird deutlich: Erstens ist das Mindestmaß selbst nur eine Funktion der visuellen Systeme, da ihr Sehen beim Unterschreiten eines bestimmten Wertes aussetzen mag, aber nicht verloren geht. Zweitens stößt die Beobachtung des Sehens immer auf eine Kapazitäts- oder Funktionalitätsgrenze, hinter der sich die Visualitätsdifferenz nicht mehr regulieren lässt und das visuelle System sich aufzulösen beginnt. Dies gilt auch für seine Explikationsfunktion. Die Schwelle ist das an der Konstituierung des Sehens beteiligte paradoxe Element: jedes Sehen beginnen zu lassen und somit zu implizieren, ohne dass es diese Schwelle in Funktion setzen könnte. Das Paradox der Konstituierung des Sichtbaren unterscheidet sich grundlegend vom Paradox des blinden Flecks. Denn der blinde Fleck bezieht sich auf die systeminternen Grenzen der Beobachtungsfähigkeit, also auf das Koordinierte und keineswegs auf die Attentionalität und die Implikationen der Sichtbarkeit. Das heißt, die im visuellen

beachten, dass Deleuze die Intensität nicht auf die Beobachtung bezieht, dass er ebenfalls nicht die Visualitätsdifferenz im Sinn hat und dass bei ihm folglich keine Rede von einer Intensitätsschwelle ist (mit einer Ausnahme, vgl. ebd.: 316). Dennoch können aus seinen Untersuchungen zur Intensität einige Rückschlüsse auf das Aufmerken und auf den initialisierenden Zusammenhang der Attentionalität und der Sichtbarkeit gezogen werden. Ein schönes Beispiel für den konsistenten Zug des Hörens in einer unentwegten Differenzierung findet sich bei Michel Serres: »Die Box schützt sich vor ungewöhnlichen Angriffen, ist taub für das, was ihre Toleranzgrenzen überschreitet; das Trommelfell präsentiert sich nach außen als glatte Haut, nach innen als Schleimhaut, als harte und als weiche Haut, in der Mitte der Membran durch eine widerstandsfähigere Armatur getrennt; die akustische Stoßwelle verwandelt sich in ein chemisches Signal, das eine elektrische Information ins Zentrum überträgt […]. Die Argumentationsfigur wiederholt sich unablässig: Das Ohr braucht ein noch zentraleres Ohr, um das zu hören, was die drei Ohren, das Außen-, Mittel- und Innenohr übertragen, welche sich nacheinander hören. Das Zentrum hört. Welches Zentrum?« (Serres 1998: 189) – kein Zentrum hört. Vielmehr gibt die Intensitätsschwelle zu hören. 105

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System erscheinenden Probleme dürfen nicht mit den Problemen des Erscheinens des Sehens verwechselt werden. Das aus der Intensität resultierende Paradox beschreibt Deleuze folgendermaßen: »Die Intensität ist zugleich das Unsinnliche wie das, was nur empfunden werden kann. Wie könnte sie für sich selbst empfunden werden, unabhängig von den Qualitäten, die sie verdecken, und unabhängig von der Ausdehnung, in der sie sich verteilt? Wie aber könnte sie anders als ›empfunden‹ sein, da sie es doch ist, die empfinden macht und die spezifische Grenze der Sinnlichkeit definiert?« (Deleuze 1992a: 292) An der Schwelle wird festgelegt, wie das Sehen seine Explikationen vornimmt. Eine attentionale Einheit besteht somit aus der Visualitätsdifferenz und es besteht aus der Beobachtung, die das Sehende und das Gesehene zumindest eine Weile an der Intensitätsschwelle einrichtet – eben solange, wie das visuelle System operabel bleibt. Die Einheit hat in dem Moment Bestand, in dem sie oberhalb der Schwelle die Beobachtbarkeit des Sehens errichtet. Sie liegt nicht vor den Augen, unter der Nase oder neben den Ohren, sondern im Betrachten und im Wahrnehmen selbst, wo sie die Bestimmungen des Sensiblen vornehmen. Sobald die Beobachtungen einsetzen und insbesondere dann, wenn sie fortbestehen und sich ausbreiten, bilden sie Strukturen aus, in denen das Gesehene und das Sehende unterschiedliche Zustände annehmen: Differenzen in der Farbe, in der Helligkeit, in der Tiefe, in der Form, in der Oberflächenbeschaffenheit. Erst hier erhält man mess-, korrelier- und in Experimenten kontrollierbare Werte, die die Ausbreitung der Beobachtungen, ihrer Bezüge untereinander, die Stabilisierung der Visualitätsdifferenz und schließlich ihre Modifikation voraussetzen. Das bedeutet nicht, dass sich die Beobachtungen in einem intensiven, transzendentalen Raum ausbreiten oder mittels ihrer Ausbreitung einen solchen Raum konstituieren. Man folgt kaum mehr einer rein intensiven Differenzierung, sobald sich eine Beobachtungsstruktur etabliert hat. Die Schwelle gibt es zwar nur unter dem Gesichtspunkt der Intensität, die Grenze operabler Systeme wird jedoch von der sich ergebenden Aufmerksamkeit gezogen. Die Grenze muss immer wieder errichtet und die Aufmerksamkeit muss immer wieder ausgerichtet werden. Die Intensität rührt an ihr und versetzt sie in Schwingung, sodass sie unentwegt variiert wird. Die Grenze zu unterlaufen führt jedoch keine Intensität mehr vor Augen, sondern produziert allenfalls inattentional blindness.7

7. Mack und Rock vertreten die These, dass bewusste Wahrnehmung nur unter der Bedingung der Aufmerksamkeit zu Stande kommt und dass sich diejenigen Dinge vor Augen der Wahrnehmung entziehen, denen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieser Ansatz verkehrt das gewöhnliche Verhältnis und lässt die bewusste Wahrnehmung als eine 106

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Der extensive Raum der Beobachtungen ist kybernetisch und darf nicht mit dem transzendentalen Prinzip der Intensitätsdifferenz verwechselt werden, das Deleuze konstatiert, mit dem »spatium, Theater jeder Metamorphose, Differenz an sich, die alle ihre Grade in der Erzeugung eines jeden umhüllt« (ebd.: 304). Diesem Transzendentalismus kann zur Bestimmung der Attentionalität nicht gefolgt werden. Aus der grundlegenden und unentwegten Differenzierung des Sichtbaren muss eine andere Schlussfolgerung gezogen, muss auf ein anderes Prinzip verwiesen werden. Die Attentionalität stellt die Systemtheorie vor die Frage, wie der bei Markowitz, in den Kognitionswissenschaften und anderenorts auf ein System zugerechnete Selektionsprozess der Aufmerksamkeit vonstatten gehen kann: Woraus wird selegiert? Worauf beziehen sich die Funktionen der Aufmerksamkeitssteuerung? Wie können sie ins Werk gesetzt werden? Wie können sie erfahren, dass es etwas gibt, aus dem es etwas auszuwählen gilt? Wann setzen die Funktionen ein und wann bleiben sie außer Kraft? Und sind sie, weil der Moment ihres Einsatzes wählbar ist, selbst selektiv? Wie auch immer diese Fragen beantwortet werden mögen, der Selektion ist eine Variation vorauszusetzen, die die nötigen Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stellt. Dabei darf man sich nicht auf die Möglichkeiten beschränken, die einem System auferlegt sind, um seine internen Zustände zu bestimmen. Denn es kann nur selegiert werden, insofern ein Selektionskriterium in Betracht kommt; in Betracht zu kommen ist jedoch selbst variabel. Das heißt, Systeme können nur selegieren, sofern sie selbst variiert sind und in Betracht gezogen wurden. Daher hat man es mit einer Variation zu tun, die die Differenzierung der visuellen Systeme und nicht das Spiel bereits festgelegter Möglichkeiten von Systemzuständen betrifft. Der Raum der Beobachtungen von Beobachtungen, das heißt der Raum attentionaler Ausbreitung ist vor allem der variable Raum systemischer Differenzierungen und stellt eine nicht-transzendentale Möglichkeitsbedingung der Systeme dar: Ihn gibt es nur, insofern beobachtet wird. Er ist das, was als einheitliches Niveau bezeichnet wurde. Wenn sich die attentionalen Einheiten auch aus den Beobachtungen des Sehens zusammensetzen und einen variierten Raum etablieren, so sind sie nichtsdestotrotz intensiv. Sie sind nur in zweiter Linie selektiv und die Aufmerksamkeit etabliert nur in zweiter Linie die

Funktion der Aufmerksamkeit erscheinen: »Our results drew us ineluctably to the view that there is no conscious perception at all in the absence of attention and therefore no perceptual object can exist preattentively. […] Our results have led us to the conclusion that there is no explicit perceptual object prior to the engagement of attention, and that the object to which attention is directed or by which it is captured is an object of implicit – not explicit or conscious – perception« (vgl. Mack, Rock 2000: 227). 107

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Systemfunktionen. Zuallererst sind die Einheiten auf intensive Weise variiert. Daher ist die Schwelle, an der sich die Variation ereignet, alles andere als energetisch, informativ oder mental einheitlich. Sie ist einheitlich nur in Bezug auf die ermöglichten und durchgeführten Beobachtungen, die – insofern sie eintreten – eine Distinktion vornehmen und die Grenze der Koordination ziehen. Sie treten ad hoc ein, sie werden die Schwelle übertreten haben und damit induziert, indiziert und installiert sein. Oder sie werden sie nicht übertreten haben und potenziert bleiben; in einer Potenz, die unabsehbar bleiben muss.8 Nicht die Schwelle ist distinkt, sondern die Intervention des Aufmerkens. Nicht die Intensität wird variiert, sondern dank der Intensität die Schwelle, mit der die variable Beobachtbarkeit bzw. Handhabbarkeit des Sehens gegeben ist. Und schließlich sind die Systeme in Relation zu ihren Umwelten selbst noch variiert. Die Schwankungen oder die »Variationswelle« (vgl. Deleuze 1992a: 316) an der Intensitätsschwelle sind es, mit denen die oben erwähnten, ungebundenen kleinen Differenzen gegeben sind. Und die unvermittelten, einheitlichen Attentionen sind es, die sie abschätzen und in die Systeme einbinden und die die Koordination des Sehens in den visuellen Systemen vornehmen. Fällt eine distinkte Attention an – sie kann nur distinkt sein, was nicht heißt, dass das Gesehene oder das Sehende distinkt sind –, geschieht dies in dem Raum, der durch andere Beobachtungen bereits vorgezeichnet ist. Weitere Beobachtungen oder zugleich zu Tage tretende Beobachtungen konfigurieren einen einzigen Raum, insofern sie sich gegenseitig beobachten, das heißt bspw. mit Gibson: insofern sie eine zusammenhängende Oberfläche des Sehens strukturieren. Hier koordiniert und modifiziert die Aufmerksamkeit die Visualitätsdifferenz, die davon abhängt, wie sehr die Schwelle an den Attentionen rührt und wie groß die Variationsbreite ist. Wenn also gesagt wurde, dass das Sehen in seiner Sichtbarkeit verharrt, dann bedeutet dies, dass es den Attentionen gelingt, an andere Attentionen anzuschließen, die Variationsbreite auszuschöpfen und in diesem Sinne eine modulierte Sichtbarkeit für alle Formen des Sehens zu explizieren. Da der Raum nur die Grenzen kennt, die die Attentionen ihm auferlegen, ist er in Abhängigkeit ihres distinkten Auftretens relativ und expansiv. Obwohl er die distinkte Grenze oberhalb der Intensität dar-

8. Entgegen Luhmanns Spencer-Brown-Lesart und den daraus abgeleiteten Beobachtungsordnungen wird für jede Form der System/Umwelt-Differenzierung eine Variabilität vorausgesetzt. Ein naiver Konstruktivismus könnte fragen, wer all das beobachtet, wer die hier vorgenommenen Distinktionen durchführt. Die Frage wäre mit einer Gegenfrage zu beantworten: Was ist dieses Wer und wo tritt es auf, wo entscheidet es sich? – Es entscheidet sich nicht, es wird entschieden. Die Anweisung draw a distinction und ihre Umsetzung entstammen der Intensität. 108

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stellt – eine Grenze ohne eine zweite Seite –, ist der Raum nicht begrenzbar, da eine immer weitere Beobachtung anschließen kann. Der attentional-kybernetische Raum ist eine unbegrenzbare Oberfläche. Und da die Modulation unabschließbar ist, verbleibt die Sichtbarkeit intensiv und unendlich differenzierbar. Dies alles ist nicht so weit von der Systemtheorie entfernt, wie man vielleicht vermuten könnte, denn die von Heinz von Foerster eingeführten Eigenwerte setzen genau diese Unbegrenzbarkeit der Anschlussoperationen und die unendliche Wiederholung jeder einzelnen Operation voraus (vgl. von Foerster 1993c: 106 ff.). Mit der unbegrenzbaren Modifikation des Sehens und der unendlichen Modulation der Sichtbarkeit ist nun auch die doppelte Rolle der Replikation benannt: die räumlichen Explikationen des Sehens und die intensive Implikation des Sichtbaren aufeinander zu beziehen und dabei zugleich variierend und variiert zu sein.

Beobachten Nach den vorbereitenden Ausführungen bedeutet aufzumerken, unter den Bedingungen der Intensität ein Sehen in seiner Sichtbarkeit zu konstituieren. Auf diese Weise wird ein visuelles System in einen beobachtungsfähigen Zustand versetzt, was unweigerlich zu einer replikativen Struktur führt: eine Schwelle der Intensität überschreiten, die Sinnesmodalitäten einsetzen, an der Sichtbarkeit partizipieren, die Beobachtung beginnen, einer Sache gewahr werden und zugleich die Position einrichten, in der sich das Gewahrwerden realisiert. Insofern die Beobachtungen durchgeführt und fortgesetzt werden, durchmessen sie einen kybernetischen Raum und etablieren in ihm eine attentionale Struktur. Da sie die Koordination des Sehens leistet, zeigt sie zugleich das Verhalten der visuellen Systeme und eröffnet die Möglichkeit, die Replikation für das Sichtbarmachen zu analysieren. Das Sehen kann weder auf das Gesehene noch auf das Sehende reduziert werden, da beide davon abhängen, was die Aufmerksamkeit jeweils vermag. Vom Standpunkt eines bloßen Gegenstandes aus kann die Beobachtungsstruktur nicht erklärt werden, da sie nicht nur dasjenige umfasst, das einem Sehenden entgegensteht, sondern darüber hinaus die Bedingungen benennt, unter denen ein solcher Gegenstand für ein System aufscheint. Die Aufmerksamkeit auszurichten und die Visualitätsdifferenz zu organisieren bedeutet zwar auch, einen Gegenstand zu erfassen, es bedeutet aber vor allem, in einer sich jeweils ergebenden Sichtbarkeit zu beobachten und in ihre Aufmerksamkeit eingefasst zu sein. So wenig wie die Beobachtungsstruktur dem erfahrenen Gegenstand unterliegt, darf das Sehen auf ein Sehendes (Organismus, Ich, Person) reduziert werden, das es prozessiert. Wenn das Sehen wie in dieser Studie als die Prozedur der Visualitätsdifferenz begriffen wird, 109

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die sich auf attentionalem Niveau formiert, muss man auf repräsentierende Instanzen, auf die hin das Sehen konvergiert, verzichten: auf die Lokalisierung am Ende des Sehstrahls und auf die Netzhaut, auf den visuellen Cortex und auf das Wahrnehmungsvermögen eines Subjekts. Die attentionale Struktur organisiert die Verhältnisse, die zum Sehen eines Gegenstandes führen und kann von einem gesehenen Gegenstand oder von einer das Sehen ausführenden, die Operationen durchführenden Instanz nicht ersetzt werden. Sämtliche anfallenden Beobachtungen werden ausnahmslos in die Struktur einbezogen, die in Abhängigkeit der Intensitätsschwelle ein einheitliches Niveau definiert. Hier gibt es keine zwei oder mehr Beobachtungsordnungen, die aufeinander aufbauen oder sich gegenseitig reflektieren, sondern nur ein attentionales Niveau für alle Routinen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da die Systeme das Sehen nur aneinander angepasst und ineinander verwickelt beobachten können. Gewiss kann es auch erfahren werden. Was aber sind die Erfahrungen anderes als das Gesehene auf den Standpunkt des Sehenden und von dort aus auf zuvor Gesehenes zu beziehen? Was sind die Erfahrungen des Sehens also anderes als die Handhabung der Visualitätsdifferenz unter bestimmten Vorzeichen? Und was sind sie schließlich anderes als eine zentrierte Form der Beobachtung in einer dezentrierten und extensiven Struktur weiterer Beobachtungen? Jede Beobachtung gehört zur Beobachtungsstruktur visueller Aufmerksamkeit, so wie alles Sehende und Gesehene dem visuellen System. Sowohl zu beobachten als auch beobachtet zu werden ist das Vermögen der Konstruktion von Systemen – von visuellen Systemen und von solchen Systemen, die die visuellen Systeme beobachten, das heißt: die die Beobachtungen des Sehens beobachten. Nur so ist es überhaupt möglich, von optischen oder physiologischen, von zerebralen oder psychischen Systemen des Sehens zu sprechen. Sie sind das Ergebnis dieser beobachtenden Prozeduren. Nichtsdestotrotz sieht man die Gegenstände um sich herum und die Lichtgestaltungen auf der Kinoleinwand, die konturlosen Wesen im morgendlichen Nebel und die wechselnden Figuren der Vexierbilder, wenn es ein Sehen gibt. Und ebenso sehr wird man kaum bestreiten können, dass den gesehenen Dingen immer ein Sehendes zugehört. Wie können nun das Gesehene und das Sehende innerhalb der Beobachtungsstruktur lokalisiert werden, wie können beide aufeinander verweisen und wie drückt sich schließlich die Visualitätsdifferenz aus? Was heißt es, das Sehen zu beobachten? Man wird die Beobachtungen beobachten müssen. Nichts anderes ist bereits im vorherigen Abschnitt geschehen. Da sich der Gesichtspunkt jedoch ändert und die Beobachtungen selbst zum Objekt des Interesses werden, können sie nicht mehr als die Koordinatoren der

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Visualitätsdifferenz und als die Generatoren visueller Systeme aufgefasst werden. Gewiss verlieren sie diese Funktion nicht; und später wird sie innerhalb der Struktur rekonstruiert werden müssen. Allerdings hängt es nicht vom Sehen ab, wie sich die Beobachtungen strukturieren. Daher werden das Sehen und das Sehen in Bildern nur Anwendungsfälle der attentionalen Struktur sein. Bei all dem bleibt der Grundsatz bestehen, dass sämtliche Beobachtungen, insofern sie sich aufeinander beziehen – seien es die Beobachtungen des Sehens im visuellen System, seien es die Beobachtungen der visuellen Systeme –, ein Niveau etablieren. Alle Beobachtungen des Sehens und alle Beobachtungen dieser Beobachtungen handeln bei allen Unterschieden (bspw. zwischen der Seherfahrung und den sie induzierenden neuronalen Aktivitäten) vom selben Sehen, weil sie in der Sichtbarkeit impliziert sind. Dies führt zu einer Struktur, »which have the property of being observable differently by each observer while, nevertheless, being able to support the belief that they are the same« (Glanville 1996: 457) – das Selbe der Retina und des Optikers, das Selbe des Experimentators und der Versuchsperson, das Selbe auf den verschiedenen Beobachtungsbahnen und schließlich das Selbe der Beobachtungen all dieser Beobachtungen. Ranulph Glanville spricht von Objekten der Aufmerksamkeit, die auf Grund von durchgeführten Beobachtungen zu Stande kommen und deren Beobachter wiederum beobachtbar und damit Objekte sind wie die von ihnen beobachteten Objekte selbst. Auf ihrer Ebene werden die attentionalen Einheiten des Sehens konfiguriert, des Sehens unter ›normalen‹ und des Sehens unter pikturalen Bedingungen, wie auf den nächsten Seiten zu zeigen sein wird. Die Beobachtungsstruktur besteht einzig aus diesen Objekten, die sich selbst und gegenseitig beobachten, das heißt sie besteht aus Objektbeobachtungen von Beobachtungsobjekten: »We observe observing. Our observing is not of: it is. If we insist it is of, then it is of observing. We do not observe things. We observe observing. If we insist there should be ›things‹ to be observed, these ›things‹ come about through our constructing. When we insist that our observing is of (some thing), we insist there is an object of observing. Call that postulated thing an Object (with initial capital signifying it is an artefact), the Object of our attention, of our observing. Objects are the artefacts of the Theory of Objects. […] Actually, we observe observing.« (Glanville 1998: 1) Wir beobachten Beobachtungen und die Beobachtungen beobachten uns. Ein attentionales Objekt ist ein Beobachter, der beobachtet werden kann. Wenngleich Glanville unter dem Beobachter häufig dasjenige versteht, was einem sehenden Ich gleicht, das seine Aufmerksamkeit auf etwas richtet, steht seine Konzeption nichtsdestotrotz solchen An-

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wendungen zur Verfügung, die auf psychische Systemreferenzen verzichten, da diese spezifische Zurechnung weder die Logik der Beobachtungen noch den Aufbau ihrer Struktur determiniert. Man ist nur selten der uneingeschränkte Kontrolleur seiner Sinne und seiner Aufmerksamkeit. Und selbst wenn die Kontrolle einmal gelingt, geschehen die merkwürdigsten Dinge. Je mehr man sich auf etwas hinzuschauen bemüht, um so mehr scheinen die Dinge fragend zurückzuschauen, und je mehr man sich auf etwas konzentriert, um so mehr verliert man sich im Feld seiner Aufmerksamkeit. Der Beobachter seines Sehens zu sein, zeigt nur, dass man solange selbst gehandhabt und beobachtet wird, wie das Sehen reicht und die Sichtbarkeit die Beobachter umschließt. Alles verbleibt zwischen den Beobachtungen, aus denen die Beobachter letztlich selbst nur bestehen. Die gröbste Dummheit und die größte Gefahr für die Beobachtungstheorie besteht in der Verwechslung des Beobachters mit dem (eigenen oder transzendentalen) Subjekt. Ein System ist nur ein System, insofern es beobachtet wird, und beobachtet zu werden verlangt notwendigerweise die Ausführung der Beobachtung. Genau auf diese Beobachtungen ist das Objekt der Aufmerksamkeit bezogen. Dabei müssen weder das Objekt noch sein Beobachter über Bewusstsein verfügen – oder besser: als psychisches System beobachtet werden –, denn jedes Objekt kann beobachten und ist offen dafür, beobachtet zu werden. Allem, was beobachtet werden kann, eignet dieser Wechsel: »it applies equally to electrons and to elephants« (Glanville 1975: 74). Das erste Merkmal der attentionalen Struktur ist demnach der Wechsel zwischen der Objektbeobachtung und dem Beobachtungsobjekt, zwischen dem Beobachten und dem Beobachtetwerden. Es bleibt zu beachten, dass es sich um Stellen und Stellungen von Systemen handelt, nicht um Gegenstände oder dergleichen. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wenn sich die Bäume nach der Sonne richten, beobachten sie sie in dem Maße, wie ihnen die Lichtqualität der Sonne inbegriffen ist, auf die sie blindlings rekurrieren. Im Wachsen richten sich die Bäume auf die Sonne. In dem Beobachtungsverhältnis, das die Bäume mit der Sonne eingehen, ist sie das beobachtete Objekt der pflanzlichen Aufmerksamkeit. Sowohl die Bäume als auch die Sonne werden von den Bienen beobachtet, wenn sie sich nach der Sonne richten, um die Blüten der Bäume wiederzufinden. Weitere Bienen richten sich wiederum auf die Blüten, indem sie die Sonnen-Bäume-Beobachtung beobachten, die auch von einem Bär beobachtet wird, der damit zugleich den Standort des Bienenstocks beobachtet. Die Aufmerksamkeit expandiert. In nicht anderer Weise wird die Sonne sehenden Auges betrachtet. Sie unterliegt der Handhabung der Visualitätsdifferenz, in der sie die Position des Gesehenen einnimmt. Weil die Sonne gesehen, das System jedoch beobachtet wird, in dem sie (nicht: dem sie) als Gesehene erscheint, findet der Wechsel zwischen dem Beobachten 112

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und dem Beobachtetwerden innerhalb dieser Handhabung statt und nicht etwa zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen. Vielleicht wird man einwenden, dass all dies wiederum beobachterabhängig ist, und dass die Bienen nicht wissen, ob und wie sie beobachten, und die Bäume nicht wissen, ob und wie sie beobachtet werden. Der Einwand fügt dem Fauna-und-Flora-Arrangement jedoch keinen wesentlichen Unterschied hinzu. Die Sonne, die Bienen und die Bäume werden beobachtet, um zu beschreiben, dass und wie gegenseitige Beobachtungen vorliegen, was als Biene und was als Sonne aufzufassen ist und wie sie sich aufeinander beziehen. Kein Zweifel, dass dies wiederum beobachtet und auch überprüft werden kann. Das Wissen der Bäume um die Sonne liegt in der Beobachtung selbst und sicherlich nicht darin, dass sie ihre Beobachtungskapazitäten rekapitulieren oder reartikulieren. Die Bienen sind nichts anderes als das Beobachten und die Bäume sind dementsprechend ihr Beobachtetwerden, das zum eigenständigen Beobachten der Sonne oszilliert. Einen Beobachter gibt es nur, insofern er als Objekt der Aufmerksamkeit beobachtet wird, und Beobachterabhängigkeit gibt es nur in der damit anfallenden Struktur des Beobachtens und Beobachtetwerdens. Hier stößt man auf ein zweites Merkmal. Welches Objekt auch immer die Beobachtungen durchführt, für es scheint ebenfalls die Sonne. Entscheidend ist, dass es für sich darum wissen muss. Das heißt, ein Objekt bedarf eines Eigenverhältnisses, auf Grund dessen es Fremdverhältnisse eingehen kann. Dies gilt nicht minder für die Bäume: Insofern sie die Sonne beobachten, wissen sie um sie als Beobachtbares. Sie wissen es jedoch nur in dem Fall, in dem sie um sich als systemische Beobachter wissen – um ihre ›von der Sonne affizierbare Pflanzlichkeit‹, wenn man es denn so ausdrücken will. Die Bäume wissen es, indem sie sich selbst beobachten: »in order to know, there must be a knower: and if I am to know, I must know myself« (Glanville 1984: 660). Das zweite Merkmal besteht folglich darin, dass ein Objekt zunächst durch sich beobachtet wird, um als Beobachter und als beobachtungsfähiges Objekt existieren zu können. Es vollzieht die Beobachtung seines Selbst. Der Baum beobachtet sich als Pflanzlichkeit. Er beobachtet sich als Objekt und wird insofern durch sich selbst beobachtet. Das heißt, der Wechsel zwischen dem Beobachten und dem Beobachtetwerden liegt auch beim Selbstverhältnis vor. Nur wegen dieser Eigenbeobachtung ist ein Beobachter auch ein Objekt, das durch ein anderes Objekt beobachtet werden kann; und nur weil sich im Zuge der intensiven Differenzierungen ein eigenständiges Selbes ergibt, kann überhaupt von einem Beobachter die Rede sein. Das Objekt ist zuallererst eine stabilisierte Selbstreferenz: »The least imaginable conditions in which an Object can know anything are when it is the only Object it knows in the Universe. To know it is in the Universe, it must observe itself. 113

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Unless an Object can observe itself, it cannot know it is in the Universe. If it cannot know it is in the Universe, it cannot know anything of the Universe as being of that Universe. If an Object knows some other Object exist, it must also know it exists, itself.« (Glanville 1975: 16) Wenn man vermittels (s)eines Systems ein anderes System beobachtet, muss das System als System seiner selbst gesetzt werden können. Dies bedeutet erstens, dass eine Systembeobachtung einen eigenen Zustand des beobachteten Systems voraussetzt, auf den es – wie auch immer er ausgestaltet sein mag – zurückkommen kann; und es bedeutet zweitens, dass die Beobachtungen, aus denen sich das System zusammensetzt, für sich gesetzt werden müssen. Ein System kann nur deswegen selbstreferenziell sein, weil seine Beobachtungen es auch sind. Die Form, sich im Universum seiner Objektbeobachtungen zu wissen, besteht darin, sein eigener Beobachter zu sein. Eigenbeobachter zu sein bedeutet, sich in sein Universum eingerichtet zu haben, sodass sich andere Objekte auf dieses Objekt ausrichten können. Wer die Welt auf Beobachtungsverhältnisse gründet, ist selbst ein Beobachter seiner Welt und weiß sich im Rahmen seiner Aufmerksamkeit in (s)einer Welt der anderen Objekte. Von Welt zu sprechen setzt Sinn voraus, der allerdings nicht jeder Beobachtung unterstellt werden muss bzw. unterstellt werden kann: Ein Virus, der bestimmte Körperzellen beobachtet, indem er sie befällt und eine biologische Differenz in Funktion setzt, operiert nicht sinnhaft. Ein Fisch, dessen Bewegungen das ihn umgebende Wasser beobachten und eine physikalische Differenz in Funktion setzen, schwimmt nicht sinnhaft, obwohl die Virusattacke und die Fischbewegung ein spezifisches Aufmerksamkeitsniveau erreichen. Das attentionale Objekt (das Virus in Ausrichtung auf Körperzellen) vollzieht eine Eigenbeobachtung und vollzieht sich damit als Objekt seiner selbst unabhängig von sinnhaften Zusammenhängen (das Virus in Ausrichtung auf sich, das sich auf anderes ausrichten kann und auf das andere sich ausrichten können). Sich zu beobachten, muss für ein Beobachtungsobjekt in jedem Fall vorausgesetzt werden, damit überhaupt eine Objektbeobachtung zu Stande kommen kann – sei es in einer notwendigerweise sinnhaften Welt, sei es in einem nicht notwendigerweise sinnhaften Universum. Damit ist der Ausgangspunkt Glanvilles skizziert: Man denke (an) ein Universum, in dem einzig beobachtbare Objekte existieren. Sie können von Beobachtern beobachtet werden, die ihrerseits beobachtbare Objekte sein müssen, um dem Universum anzugehören und Beobachtungen zu vollziehen. Es gibt weder eine Objektbeobachtung noch ein Beobachtungsobjekt außerhalb dieses Universums. Da es so weit reicht, wie die Beobachtungen vorgenommen werden, kann man nicht ausschließen, dass eine Vielzahl von Universen besteht, zwischen deren Objekten keinerlei Beobachtungen stattfinden. Eine Beobachtung verschiedener Universen 114

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kann es hingegen nicht geben, da eine solche Beobachtung in dem einen Universum des zur getätigten Beobachtung gehörenden Objekts stattfände, zu dem alle beobachteten Objekte zählten. Dies gilt auch dann, wenn sich die beobachteten Objekte nicht gegenseitig beobachten. Ein immanentes Universum, eine immanente Welt. Nichtsdestotrotz kann es verschiedene Universen geben.9 Da die Beobachtungsstruktur schnell sehr komplex werden kann und sie schriftsprachlich kaum noch zu fassen ist, wird eine formale Schreibweise ihre Zusammenhänge möglicherweise zu präzisieren helfen. In dem Universum gibt es ein beobachtbares Objekt O. Es kommt dadurch zu Stande, dass es wahlweise durch sich oder durch ein anderes Objekt beobachtet wird und dass aus diesen Beobachtungen ein Zustand des Beobachtetwerdens resultiert, der danach unterschieden wird, ob das Objekt durch sich selbst oder durch ein anderes Objekt beobachtet wurde. Glanville unterscheidet demnach vier Rollen eines Objekts, zwischen den es im Zuge der Beobachtungen wechselt: – – – –

eine Beobachtung, die in eigener Sache P und in fremder Angelegenheit F durchgeführt wird; u. die Rollen, durch ein anderes Objekt beobachtet worden zu sein B, oder durch sich selbst beobachtet worden zu sein E.

Um zu beobachten bzw. beobachtet zu werden, bedarf es zusätzlich eines Mittels, auf das sich die Beobachtungen richten und das für die Selbigkeit der Objektbeobachtungen einerseits und der Beobachtungsobjekte andererseits sorgt. Es ist die Vorrichtung, dank der sich die Objekte miteinander einrichten und aufeinander ausrichten können. Glanville spricht von der Model Facility X, anhand derer eine Beobachtung erst vorgenommen werden kann: »The Model Facility is that in an Object which makes it observable. The Model Facility in an Object is not the Object itself, but must be present as a necessary part of the Object, for the Object to exist« (Glanville 1975: 24). Die Model Facility oder Modellvorrichtung drückt die notwendig anzunehmende Hinsicht von Objektbeobachtungen aus. Die formale Schreibweise für ein einzelnes Objekt Oa, das sich selbst beobachtet, lautet: 〈Oa〉 = [(Xa)Pa] ⇒ Ea. Für ein Objekt Oa, das durch ein anderes Objekt Ob beobachtet wird Fb, lautet die Notation:

9. Die Universen müssen von den Modi (der Sichtbarkeit, der Fühlbarkeit etc.) unterschieden werden, da zwischen ihnen notwendigerweise Beziehungen bestehen und somit Beobachtungsverhältnisse nachweisbar sein müssen. 115

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〈Oa〉 = [(Xa)Fb] ⇒ Ba. Die Notation schlüsselt sich folgendermaßen auf: Das indizierte 〈 〉 Objekt Oa besteht = im ersten Fall aus dem Akt der Beobachtung [ ], durchgeführt durch das Beobachten Pa der Model Facility Xa – »where the brackets ( ) denote an observational operation being made on that which the brackets contain« (ebd.: 16). Die Beobachtung Pa führt zur Rolle des Selbstbeobachtetwerdens Ea. Wenn ein Objekt seine Rolle E erreicht, existiert es (vgl. ders. 1981: 253). Im zweiten Fall besteht = das gleich benannte Objekt 〈Oa〉 aus dem Akt der Beobachtung [ ], durchgeführt von der Beobachtung Fb mittels der gleichen Model Facility Xa, die zu der Rolle führt, von einem anderen Objekt beobachtet zu werden bzw. beobachtet worden zu sein Ba.10 Weitere Merkmale des attentionalen Objekts können nun angeführt werden. Erstens wird es durch die gesamte Notation ausgedrückt. Das heißt, ein Objekt reduziert sich weder auf seine Bezeichnung noch auf die Model Facility noch auf eine einzelne Rolle. Die Notation ist der Ausdruck für das Beobachtungsverhältnis von Systemen. Zweitens handelt es sich in den beiden beobachteten Rollen Ea und Ba um das gleiche Objekt 〈Oa〉, obwohl die Resultate der Beobachtung nicht gleich sind. Zudem sind weitere Beobachtungen Fc oder Fd von 〈Oa〉 möglich, ohne dass sich daran etwas ändert. Das heißt, die selbst- bzw. fremdbeobachtete Modellvorrichtung führt auf vielfachem Weg zum gleichen Objekt. Verantwortlich dafür ist die Modellvorrichtung X, an der sich die Beobachtungen orientieren und die garantiert, dass jede Beobachtung eines Objekts mit der gleichen Indikation dieses Objekts korrespondiert. »The Model Facility is that within an Object which gives the Object integrity; permits its form to continue; maintains it« (Glanville 1975: 24). Wie schon für den Fall des Sehens stellt sich auch hier das Problem der Selbigkeit.11 Sie verschafft sich auch dann Geltung, wenn

10. Glanville nutzt 1975 noch nicht die Variablen P und F zur Unterscheidung einer Eigen- und einer Fremdbeobachtung. Vielmehr notiert er mit P den Beobachter im Objekt 〈Oa〉, das sich entweder selbst beobachtet Pa oder von einem anderen Beobachter Pb beobachtet wird, sodass gilt: 〈Oa〉 = [(Xa)Pb] ⇒ Ba. B steht für »the observed Object’s behaviour« und E bedeutet: »The Object is observed by itself privately, and is its Essence, to itself« (Glanville 1975: 17 f.). Weiterhin muss auf die uneinheitliche und missverständliche Notation in der deutschen Übersetzung (Glanville 1988) hingewiesen werden: Die Fremdbeobachtung im Objekt 〈Oa〉 wird in manchen Fällen mit Fb (vgl. ebd.: 81 ff.) und in anderen Fällen mit Fa angegeben (vgl. ebd.: 65). 11. Glanville spricht vom Selbst im Bezug auf etwas, das sich Selbst und etwas anderes unterscheiden kann (vgl. ders. 1993). Er bezieht es nicht auf die Modellvorrichtung. Das Selbst ist somit das Objekt 〈Oa〉 = [(Xa)Pa] ⇒ Ea. Da die Modellvorrichtung jedoch diejenige Instanz ist, die die Beobachtung sowohl eines anderen Objekts als auch 116

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eine formale Markierung in einem beliebigen Raum durch eine weitere Markierung ergänzt, also markiert wird. Für beide Markierungen, die immer nur Markierungen qua Beobachtung sind, muss der Raum der Selbe bleiben, damit die zweite die erste Markierung betreffen kann; und damit die zweite die erste Beobachtung betreffen kann, muss der Raum mindestens für den Moment der Markierungen auch für den Beobachter der Selbe bleiben. Aus der Selbigkeit der Modellvorrichtung Xa folgt nicht, dass seine Eigenbeobachtung Pa und seine Fremdbeobachtung Fb das Selbe sind und gegenseitige Rückschlüsse zulassen. Ganz im Gegenteil wird man – drittens – mittels einer äußeren Objektbeobachtung Fb nicht erfassen können, zu was die Selbstbeobachtung Pa führt. Man wird nicht erfassen können, welche Schlüsse ein Objekt aus seiner Modellvorrichtung zieht und was das Objekt schließlich für sich Ea ist. Kein Beobachter wird jemals die Selbstbeobachtung eines anderen Beobachters beobachten können. Dies liegt nicht so sehr daran, dass man in niemandem hineinschauen kann – Ea ist keine Black Box12 –, als vielmehr daran, dass jede Beobachtung eines anderen nur in der eigenen Hinsicht relevant zu machen ist. Auch wenn man in jemanden hineinschauen könnte, unterliegt man den eigenen Kriterien, die die beobachteten Kriterien des anderen organisieren. Ea und Ba sind wegen der Abhängigkeit der verschiedenen Beobachtungen Pa und Fb inkommensurabel. Das Resultat einer äußeren Objektbeobachtung gestattet keinen Rückschluss auf die eigene Beobachtung des jeweiligen Objekts. In gleicher Weise besteht für das beobachtete Objekt keine Möglichkeit, von seiner eigenen Rolle Ea auf die Rolle Ba zu schließen, die es für den oder die Fremdbeobachter (Fb, Fc, Fd etc.) spielt. Das Objekt ist in beiden Fällen etwas anderes. Da ein Objekt auf viele Weise fremdbeobachtet, jedoch nur auf eine Weise selbstbeobachtet werden kann, ist es viertens individuell. Unter Abzug aller fremdbeobachtender Einflüsse auf die Modellvorrichtung findet man das Objekt für sich selbst und individuiert, aber auch unerkennbar vor. Insofern es sich bei allen Fremdbeobachtungen durchgehend um ein beobachtetes Objekt 〈Oa〉 handelt, kann es individuell sein; und insofern ein minimal ausgedehntes Universum mit einem einzelnen Objekt denkbar ist – ein ebenso heller wie unerklärlicher Lichtschimmer in der Nacht –, muss es individuell sein. Fünftens schließlich verweisen die Wechsel einerseits im Vollziehen der Beob-

die Beobachtung seiner selbst erst ermöglicht, stellt sich schon mit ihr und nicht erst mit ihrer Beobachtung die Frage nach dem Selben. Die Modellvorrichtungen visueller Systeme verweisen deutlich auf den Modus der Sichtbarkeit. 12. Zur Verwandtschaft des Objekts mit dem Konzept der Black Box vgl. Glanville 1988: 135 f. 117

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achtungen und andererseits zwischen den Rollen des Beobachtens und des Beobachtetwerdens auf eine temporale Funktion. Da ein Resultat nicht in dem Moment vorliegen kann, in dem die Beobachtung im Gange ist, oszilliert ein Objekt 〈Oa〉 zwischen Pa und Ea bzw. zwischen Fb und Ba. Es kann seine verschiedenen Rollen nicht zugleich einnehmen. Entweder beobachtet ein Objekt oder es wird beobachtet, entweder hat man es mit einer Objektbeobachtung (P, F) oder man hat es mit einem Beobachtungsobjekt (E, B) zu tun. Glanville drückt die Oszillation mit einem Phasenwechsel zwischen s und s’ aus. »Unsere Objekte haben demnach folgende Eigenschaften: sie beobachten sich dank eines Modellvermögens (X ) selbst, und sie haben zwei Rollen – Beobachten P und Beobachtetwerden E –, die in alternierenden Halbzyklen s und s’ auftreten. Ferner kann ein Objekt […] ein anderes Objekt beobachten oder durch ein anderes Objekt F beobachtet werden.« (Glanville 1988: 29) Um ein anderes Objekt zu beobachten, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens kann das Objekt 〈Ob〉 ein anderes Objekt nicht beobachten, wenn es im Zustand des Selbstbeobachtens Pb ist. Zweitens kann es die Beobachtung Fb im Objekt 〈Oa〉 nur dann vornehmen, wenn die Rolle des Beobachtens im beobachteten Objekt vakant ist, wenn es sich in der Rolle des Beobachtetwerdens befindet. 〈Ob〉 kann 〈Oa〉 also nur dann beobachten, wenn beide in der Rolle des Selbstbeobachtetwerdens E sind: Wenn Oa in der Rolle Ea und auf Grund seiner Oszillation die Beobachtung seiner Modellvorrichtung [(Xa) ] zugleich freigestellt ist, kann 〈Ob〉 vorübergehend die Rolle übernehmen, die Model Facility im Objekt 〈Oa〉 zu beobachten. Wenn 〈Oa〉 erneut in den Zustand Pa wechselt und damit die Modellvorrichtung blockiert, ist die Rolle des Beobachtetwerdens frei für das Resultat, durch ein anderes Objekt beobachtet worden zu sein: Ba. Die dritte Bedingung fordert, dass die Oszillationen aufeinander abgestimmt sind. Sie benötigen eine temporale und temporäre Synchronisation, die von den internen Oszillationen der beteiligten Objekte abhängt. Notation I folgt der von Glanville vorgegebenen Schreibweise (vgl. ebd.: 81) und zeigt die Sequenz einer Fremdbeobachtung: Notation I sa s´a (s+1)a (s+1)´a (s+2)a

〈O a〉 = Ea ⇐ [(Xa) ] ⇐ [(Xa)Pa] Ea ⇐ [(Xa)Fb] Ba ⇐ [(Xa)Pa] Ea ⇐ [(Xa) ]

syn. syn.

Eb ⇐ [(Xb) ] = 〈Ob〉 ⇐ [(Xb)Pb] Eb ⇐ [(Xb) ] ⇐ [(Xb)Pb] Eb ⇐ [(Xb) ]

sb s´b (s+1)b (s+1)´b (s+2)b

Ein individuelles Objekt ist temporalisiert und komplettiert sich in jeder 118

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zweiten Zeile. Objekt 〈Oa oszilliert im Wechsel von sa zu s´a. Objekt 〈Ob〉 tut es ihm gleich. In (s+1)a bzw. in (s+1)b erreichen beide Objekte zum wiederholten Male die Rolle des Beobachtetwerdens. Nun kann das zweite Objekt das erste Objekt beobachten: Die Beobachtung von 〈Ob〉 nimmt die beobachtende Rolle in 〈Oa〉 ein und oszilliert daraufhin in (s+1)´b und in (s+2)b wie gewohnt weiter. 〈Oa〉 setzt seine Oszillation ebenfalls fort und erreicht in (s+1)´a die Rolle, von einem anderen Objekt beobachtet worden zu sein. Für den Sequenzabschnitt der äußeren Beobachtung oszillieren beide Objekte synchron. Darüber hinaus führt eine Beobachtung nicht allein zu der Rolle Ba für das beobachtete Objekt, sondern auch zu einer damit korrespondierenden Rolle Ab (awareness) für das beobachtende Objekt: »When an observer makes an observation, he creates for himself an awareness«. Die Rolle Ab des beobachtenden Objekts entspricht der Beobachtung von 〈Oa〉 durch 〈Ob〉, die zu einem Resultat Ba des beobachteten Objekts führt. Während E den resultierenden Zustand einer Eigenbeobachtung anzeigt, verweist A auf die ermittelte Fremdbeobachtung nicht in Hinsicht auf das beobachtete, sondern in Hinsicht auf das beobachtende Objekt: »For the observer, the awareness is what he believes the Object of his observation to be« (vgl. Glanville 1975: 21). Demnach lautet die verkürzte Schreibweise für die äußere Beobachtung: Ba ⇐ [(Xa)Fb] ⇒ Ab Bedenkt man, dass die eckige Klammer [ ], die die in Operation befindliche Beobachtung anzeigt, als leere Beobachtung [(X) ] ohne Beobachter F oder P nur wenig sinnvoll erscheint, da die Operation ohne sie nicht vollzogen werden kann; und bedenkt man weiterhin, dass ohne Operation kein Zustand erzielt und daher der Pfeil ⇒ entbehrlich wird, erübrigen sie sich in jedem zweiten Halbzyklus s´, (s+1)´, (s+2)´ etc. Daraus resultiert die alternative Notation II. In Zeile 1 indiziert sie die beteiligten Objekte und in den Zeilen 4 bis 6 beschreibt sie die Sequenz der Fremdbeobachtung: Notation II 1 [(Xa)Pa] ⇒ Ea = 〈Oa〉 [(Xb)Pb] ⇒ Eb = 〈Ob〉 2 sa [(Xa)Pa] ⇒ 3 s´a Ea 4 (s+1)a [(Xa)Pa] ⇒ [(Xb)Pb] ⇒ sb 5 (s+1)´a ⇐ [(Xa)Fb] Ea syn. ⇒ Eb s´b 6 (s+2)a 〈Oa〉 = Ba [(Xa)Pa] ⇒ syn. Ab [(Xb)Pb] ⇒ (s+1)b 7 (s+2)´a Ea Eb (s+1)´b Glanville lässt offen, in welchem Moment Ab vorliegt. Da es aus der 119

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durchgeführten Fremdbeobachtung resultiert, wird es nicht schon fällig werden können, wenn die Operation noch im Gange ist. Vielmehr ist Ab das Korrelat von Ba für das beobachtende Objekt – und nicht allein für den Beobachter Fb –, sodass sie unter den jeweiligen Gesichtspunkten gemeinsam und zugleich den Moment des Fremdbeobachtetwerdens kennzeichnen. Ab fällt in dem Moment an, in dem 〈Ob〉 davon absieht, auf 〈Oa〉 hinzusehen. Dies kann weiteren Einfluss auf seine Selbstbeobachtung nehmen – Glanville spricht vom reprogramming des Selbstbeobachters (vgl. ders. 1975: 82 f.) –, was das Auftreten von Ab in (s+1)b wiederum bestätigt, da ein Einfluss nur im Moment der Operation geltend gemacht werden kann. Die äußere Beobachtung kann in (s+2)´a fortgesetzt werden. Weitere Objekte können hinzutreten. Sie können beobachtet werden, ein Objekt oder beide Objekte 〈Oa〉 und 〈Ob〉 beobachten und sie können Relationen zwischen ihnen errechnen.13 Da immer weitere Objekte hinzugenommen werden können, ist die Beobachtungsstruktur unbegrenzt ausdehnbar. Desweiteren kann ein Objekt nur kurzzeitig und nicht wiederholbar beobachtet werden – der Grund dafür mag in einer für andere Objekte nicht synchronisierbaren, ungleichmäßigen Oszillation liegen –, sodass Objekte auch aus der Struktur herausfallen können. Ihre Expansion hängt in jedem Fall davon ab, inwieweit sich die Objekte aufeinander einstellen. Eine vornehmliche Aufgabe der Attentionalität besteht folglich darin, mit Rücksicht auf die verschiedenen Model Facilities Synchronisierungsleistungen zu erbringen, um die Beobachtungsstruktur des Sehens (oder anderer Koordinationen) aufzubauen. Die visuellen (und anderen) Systeme konfigurieren sich gemäß der erzielten Beobachtungsrollen. Die durchführbaren Beobachtungen geben zudem die Komplexität an, über die ein System verfügt. Je verzweigter und verschachtelter die Beobachtungen aneinander anschließen und je mehr Synchronisationen in der Folge auftreten, um so komplexer ist auch das betreffende System. Obwohl in der notierten Sequenz bereits eine Beziehung zwischen zwei Objekten vorliegt, wurde noch keine strukturelle Komplexität aufgebaut, da ein Objekt fehlt, das zwischen den beiden Objekten eine Relation ermittelt und sie mit seiner Eigenzeit zu synchronisieren versucht, das also die Strukturierung vornimmt und das Verhältnis von 〈Oa〉 und 〈Ob〉 kalkuliert. Komplexität hängt allein von den getätigten Beobachtungen ab und kann nur in Bezug auf die und durch den Bezug der attentionalen Objekte begriffen werden – gleichgültig, ob es sich um die Komplexität eines sehenden Systems oder einer gesehenen Umwelt handelt. Wie wird das Sehen attentional koordiniert? Für eine erste Anwendung der vorgestellten Konzeption soll das einfache Beispiel eines

13. Zu den Relationen vgl. den übernächsten Teil in diesem Abschnitt. 120

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optischen Systems genügen, in dem sich die Strahlungseigenschaften des Lichts als Objekte der Aufmerksamkeit begreifen lassen. Demzufolge erhält man erstens die Funktion 〈Oa〉, das Licht zu emittieren und zu reflektieren. Man erhält zweitens die Funktion 〈Ob〉, das Licht wegen der Linsenkrümmung zu brechen und auf einem Schirm zu sammeln. Beobachtet die Brechungsfunktion das aus allen Richtungen und in alle Richtungen strahlende Licht [(Xa)Fb], führt sie es zu einem in ihrer Hinsicht beobachteten Verhalten: Die weiterhin emittierten und reflektierten Strahlen beugen sich Ba in einem Winkel und konvergieren Ab derart in der Brennweite, sodass eine retinale Projektion möglich wird. Das heißt, die Visualitätsdifferenz des optischen Systems besteht aus den gesehenen und gebrochenen Strahlen Ba und aus ihrer sehenden Konvergenz Ab. Das Sehen des optischen Systems liegt nicht in dem Unterschied zwischen den beiden Objekten, sondern ist mit der Distribution des zugerechneten Verhaltens und des ihm entsprechenden Eigenverhaltens innerhalb der Beobachtungsstruktur gegeben. Das Sehen ist über die gesamte Struktursequenz verteilt, die zu seiner Koordination nötig ist. Das Beispiel erlaubt, zwei bisher verwendete und klärungsbedürftige Formulierungen zu präzisieren. Erstens bedeutet das Sehen zu beobachten, diejenigen Positionen zu ermitteln und aufeinander auzurichten, aus denen sich seine leitende Differenz zusammensetzt.14 Es kommt weder auf Grund der Lichtemission noch auf Grund der Krümmung einer Linse zu Stande, sondern nur in ihrem aufeinander angepassten Bezug. Zweitens ist mit der Struktur, die zur Koordination der Visualitätsdifferenz nötig ist, die attentionale Einheit gegeben, von der zuvor die Rede war. Sie wird in einem differenziellen Feld generiert und zeichnet sich durch ihre Distribution aus. Zieht man neben den optischen Funktionen die Disparation des binokularen Sehens, Richtungsänderungen des Blicks oder die Sakkaden der Augen in Betracht, fügen sich der Struktur weitere Beobachtungen hinzu, sodass die visuellen Systeme von mehr als nur von zwei Objekten koordiniert werden. Wenn man darüber hinaus erfahrungsorientierte, lernfähige Systeme in einer sich ändernden Umwelt zu erfassen versucht, nimmt die attentionale Komplexität weiter zu. In jedem dieser Fälle liegt jedoch die Handhabung des Sehens vor, die durch die es anleitende Differenz Ba / Ab ausgedrückt wird.

14. Dabei bleiben das Gesehene und das Fremdbeobachtetwerden B bzw. das Sehende und das Fremdbeobachtethaben A stets verschieden. Was sich als Gesehenes oder als Sehendes in den Systemen darstellt, vermag die attentionale Struktur nicht auszudrücken. 121

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Verknüpfen Die Beobachtungsstruktur von Ba / Ab zeigt, wie sich das optisch-visuelle System in seinem Licht entfaltet. Bei ihr hat man es folglich mit einer Explikationsfunktion des Sehens in seinem Sichtbaren zu tun. Hieran anschließende Fragen lassen nicht lange auf sich warten. Denn erstens muss verdeutlicht werden, wie sich die individuellen Objekte aneinander anpassen, um mittels dieser Passung die Explikationsfunktion ins Werk zu setzen und um so die attentionale Einheit des visuellen Systems zu Stande zu bringen. Zweitens bedarf es einer Klärung, auf welche Weise die Struktur von der Implikation des Sichtbaren betroffen ist. Da die Passung der individuellen Objekte das Sehen in seinem Sichtbaren gewährleistet, hängen die Fragen eng zusammen. Um sie zu beantworten, wird die Argumentation den von Glanville eingeschlagenen Weg für einen Moment verlassen müssen, da er sich vor allem mit den Beobachtungsverhältnissen zwischen den Objekten und wenig mit den Voraussetzungen ihrer Beobachtungsfähigkeit beschäftigt. Unter rein formalen Gesichtspunkten kann ein System als ein einzelnes, individuelles Objekt begriffen werden. Denn es oszilliert stabil15 zwischen den Rollen des Beobachtens und des Beobachtetwerdens und leistet der Notwendigkeit Genüge, als distinkter und selbstreferenzieller Beobachter auf sich zurückzukommen. Die Oszillation generiert das komplette System, was Änderungen im Objekt bzw. in den Werten der Beobachtungsstruktur nicht ausschließt. Da von einem System jedoch nur die Rede sein und es nur festgestellt werden kann, wenn es (von außen) beobachtet wird, benötigt man ein weiteres Objekt, das es erstens unterscheidet und das ihm zweitens einen Raum zuweist, in dem dieses Objekt überhaupt erst unterscheidbar wird: »Das Universum wird durch mindestens ein Objekt bewohnt: anderenfalls ist es kein Universum und das Objekt kein Objekt. Das Universum ist ein Objekt. Es gibt mindestens zwei Objekte« (Glanville 1988: 80). Das Vorhandensein von zwei Objekten ist zwar notwendig, genügt jedoch noch nicht, um ein System zu konstituieren, da hierfür fremdbeobachtet werden muss. Dies gilt zumindest für die visuellen Systeme. Dessen ungeachtet ist weiterhin von der Eigenbeobachtung P eines beobachtbaren Objekts auszugehen. Seine Selbst- und Fremdbeobachtbarkeit ist erst dann gegeben, wenn seine Modellvorrichtung X zu ihm selbst führt, das heißt: wenn es distinkt und von anderen Objekten verschieden ist. Es ist ein in seiner Oszillation (P, E) unzugängliches Individuum, das seinen Ausdruck in 〈Oa〉 = [(Xa)Pa] ⇒ Ea findet. Daher kann es »ein Kein-anderes-Beobachtendes und Von-keinem-anderenBeobachtetes sein. Solch ein Objekt bewohnt das Universum allein und

15. Vgl. Glanville 1980: 305. 122

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ist anderen unbekannt. Es weiß nicht, daß es das Universum bewohnt, noch weiß das Universum, daß es ein Bewohner ist« (ebd.). Paradoxerweise kann dies nur unter der Bedingung eines weiteren Beobachters Fb festgestellt werden, für den in anderen Phasen das Gleiche gilt. Aus der Paradoxie des Individuums speist sich auch die paradoxe Lage des Systems. Wenn es auch als ein einzelnes Objekt begriffen werden kann, so kann es doch nicht als System begriffen werden, wenn es allein und unbeobachtet bleibt. Bezieht man sich allein auf die durchgeführten und auf die durchführbaren Beobachtungen, die die Objekte indizieren, wird man hier kein Problem, sondern eben nur die Paradoxie entdecken, die mit der Explikation einhergeht. Alles zirkuliert im Einzugsbereich der Beobachtungen und der aus ihnen resultierenden, bezeichneten Objekte. Kann man sich aber mit der Indikation zufrieden geben, die die Objekte kennzeichnet? Ist die Indikation tatsächlich Grund genug, um von individuellen Objekten sprechen zu können und um somit die paradoxe Lage heraufzubeschwören? Die äußere Beobachtung eines Objekts 〈Oa〉 kann von vielen Objekten durchgeführt werden, sodass sie unbegrenzt häufig indizierbar sind. Sowohl die eigene Pa als auch alle äußeren Beobachtungen Fb , Fc , Fd ,… verweisen unabhängig davon, welches Objekt die Beobachtung gerade durchgeführt hat, auf das gleiche beobachtete und bezeichnete Objekt, ohne etwas über seine Individualität in Erfahrung bringen zu können. Seine Indikation ist universell, sie gilt für jede mögliche Beobachtung. Wie es scheint, tritt das Distinktionsvermögen der Beobachtungen an einer anderen Stelle als mit der Indikation zu Tage, die ihre Verschiedenheit lediglich anzeigt. Denn die Indikation ist den jeweils gefundenen Zuständen für Ea und für Ba und der zugehörigen, beobachteten Model Facility nachgeordnet: »The Model Facility is that which makes sure observations made of the same Object are made of the same object« (Glanville 1975: 67). Jede Beobachtung rekurriert auf die Objekthinsichten, die für sie Stabilität versprechen. Die Modellvorrichtungen gewähren die Beständigkeit, das heißt die Kontinuität und Stabilität, derer eine jede Beobachtung bedarf, um selbst wieder und wieder auf das Beobachtete zurückzukommen.16 Trotz aller Verschiedenheit und Verschobenheit der Beobachtungen behalten die Objekte dank der Modellvorrichtungen ihr Selbes. Demnach gewährleistet sie die Individualität und folglich leitet sich aus ihr die konstatierte Paradoxie ab. Jedes Objekt ist distinkt für sich und für jedes andere Objekt, das es beobachten kann. Das Glanvillesche Universum setzt sich zunächst aus den von außen nicht beobachteten und in ihrem eigenen Zustand nicht beobachtbaren, individuellen Objekten 〈O〉 = [(X)P] ⇒ E zusam-

16. Vgl. Glanville 1988: 76. 123

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men, mit denen die von ihnen selbst realisierte Beobachtbarkeit und zugleich der logisch erste Zustand der Aufmerksamkeit gegeben sind. Alle Objekte markieren jeweils eine distinkte Grenze des Beobachtbaren und verweisen damit auf die unentwegte, intensive Differenzierung, die – folgt man Deleuze – den individuellen Objekten vorauszusetzen ist: »Die Intensität ist individuierend« (Deleuze 1992a: 310). Die Objekte sind der Effekt einer »inneren Resonanz« (ebd.: 311) und legen ein Verhältnis fest, in dem sie mittels ihrer Oszillation eine stabile Differenz etablieren, die der Intensität wie eine Stoppregel Einhalt gebietet. Da jedoch jedes Objekt eine Distinktion für sich ist, die von allen anderen Distinktionen je individuell unterschieden werden kann, leistet sie der Intensität nur weiteren Vorschub. Beziehen sich mehrere, individuelle Distinktionen aufeinander, richten sie für sich eine gemeinsame, synchrone Grenze ein, einen alle möglichen Beobachtungen umfassenden ›Resonanzraum‹, der durch die den Distinktionen gemeinsam zukommende Intensität in Schwingung versetzt und durch eine Intensitätsschwelle festgelegt wird. Die Objekte markieren die Distinktionen des Sichtbaren und sind dabei von der Intensität impliziert. Während jedes Objekt einer visuellen Ordnung bereits sichtbar ist, benötigt das Sehen mehr als ein Objekt und mehr als einige Objekte im Zustand 〈O〉 = [(X)P] ⇒ E. Sie allein ermöglichen weder das Sehen, noch ist mit ihnen eine attentionale Einheit, das heißt ein Abschnitt seiner Beobachtungssequenzen gegeben, die aus den Beziehungen zwischen den Objekten resultieren und die die wahrnehmenden und kognitiven Vorgänge organisieren. Entscheidend ist dabei, dass die Fremdbeobachtungen und mit ihnen die Konstitution von Systemen die Intensitätsschwelle voraussetzen. An ihr finden nicht allein die visuellen Systeme und das Sehen ihre Mindestmaße in einer zu dunklen oder blendenden Welt, mit ihr tritt zugleich das Sichtbare auf den Plan, das die Finsternis und das gleißende Licht überhaupt erst zu qualifizieren gestattet. Das Sichtbare ist die Schwelle für das Auftreten der sich gegenseitig beobachtenden Objekte, die die Explikationsfunktion des Sehens konstituieren. Kurz, jeder Beobachter visueller Systeme existiert als individuelles Objekt im expansiven Universum aller bekannten, sichtbaren Objekte an der Intensitätsschwelle des Sehens, die es impliziert. Ein wahrnehmendes System wird von den Beobachtungen mehrere Objekte organisiert, die die Explikationsfunktion ihres Sichtbaren erstellen, das seinerseits diese Funktion erst zu Stande bringt. Wird die Intensitätsschwelle überschritten, etabliert sich ein visuelles System, in dem zum Beispiel ein Blau gesehen wird. Dieses Blau ist weder ein Gegenstand noch die Eigenschaft eines Gegenstandes, sondern vielmehr die Sequenz einer attentionalen Beobachtungsstruktur, das Blau des Sehens. Möglicherweise verändert es sich trotz schwankender Lichtverhältnisse zunächst nicht, es bleibt für eine Weile 124

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das gleiche Blau des empfunden-empfindenden Sehens. In einem solchen Fall liegt eine stabile Beobachtung vor, die trotz der variablen Sichtbarkeit ihre Farbkonstanz bewahrt. Im selben Sichtbaren können weitere Beobachtungen hinzutreten, durch die sich das Sehen ändert – bspw. dann, wenn man die gelbe Raumbeleuchtung bemerkt, die die bei Tageslicht blaue Kleidung nun grünlich erscheinen lässt. Das Gesehene und das Sehende nehmen modifizierte Werte an, das System führt weitere Beobachtungen durch, die Aufmerksamkeit verschiebt sich. So ist bekannt, dass sich die wahrgenommenen Eindrücke wie im Fall der Metamerie deutlich von der spektralen Zusammensetzung des physikalischen Lichts unterscheiden. Ob das Blau für eine Weile unverändert bleibt oder ob sich die Farben wandeln, hängt von der Konfiguration der Beobachtungen ab, die das kolorierte Sehen verantwortet. Auf attentionalem Niveau resultiert die Modifikation nicht aus der Veränderung von Objekten, die zunächst mit genügender Persistenz als blau beobachtet werden 〈Oblau〉 = [(Xblau )Fb] ⇒ Bblau, um anschließend als ein identifiziertes Grün Bgrün zu erscheinen. Sie ergibt sich vielmehr über hinzutretende Beobachtungen des sichtbar Farblichen, die mehr Relationierungen ermöglichen und die Empfindungsvielfalt erweitern. Das Beobachtete besitzt diejenige Variabilität, die das Sehen erfährt. Offensichtlich ist das Arrangement aufwendiger als bei dem optischen System, das weder Farbigkeit noch Farbunterschiede kennt. Die Intensität variiert das visuelle System, es wird bunt. Es erfordert ein attentionales Objekt der Farbigkeit, das in modifizierender Weise fremdbeobachtet und relationiert werden kann. Ob die Beobachtungen das Blau identisch oder modifiziert erscheinen lassen, beruht auf der Modellvorrichtung des ›farbigen‹ Objekts, die die Farbqualitäten aus den Schwankungen des intensiven Lichts herauslöst. Man kann in Anlehnung an Deleuze von einem der Model Facility eingeschriebenen Implikationswert sprechen, der angibt, inwieweit das Sichtbare hervortritt, und der damit zugleich die Beobachtbarkeit eines einzelnen Objekts definiert und seine Selbigkeit sichert. Je mehr fremdbeobachtete Zustände B durch seine Varietät ermöglicht werden, über um so mehr Farben verfügt das System. Das Sehen weitet sich aus, es wird eingefärbt und die Sichtbarkeit steigert ihr Distinktionsvermögen. Je mehr Objekte mit den je individuellen Model Facilities bei der Koordination des Sehens beteiligt sind (ein Objekt der Farbigkeit, ein Objekt der Konvergenz etc.), um so variantenreicher ist das System: »Je komplexer ein System ist, desto mehr spezifische Implikationswerte erscheinen darin« (Deleuze 1992a: 321 f.).17

17. Zum Begriff des Systems vgl. Deleuze 1992: 154 ff. Ohne ihn weiter diskutieren zu wollen, scheint doch zumindest kein Widerspruch zu seiner Verwendung im Kontext dieser Studie zu bestehen: »Ein System muß sich auf der Basis zweier oder mehrerer 125

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Man wird beachten müssen, dass die Model Facility zwar die nötigen Voraussetzungen mitbringt, die Selbigkeit zu gewähren, dass sie aber nicht die innere Identiät des Objekts oder dergleichen markiert. Die Modellvorrichtung ist kein Modell des Objekts im Kleinen, das die Fremdbeobachter nutzen dürften, um den entsprechend modellierten Exemplaren zu ihrer Veräußerung zu verhelfen. Die Modellvorrichtung ist keine Miniatur. Ebensowenig ist sie ein Code nach dem Vorbild der DNS, der sich via Selbstextraktion in den Beobachtern vermehrt und auf diese Weise eine Objektpopulation über das Universum verteilt. Denn das Modell und der Code sind selbst Objekte, die ein Beobachter F mit anderen Objekten identifiziert und die ihrerseits über eine eigene Modellvorrichtung verfügen. Die Model Facility lässt sich ebenfalls nicht als die interne Beschreibung eines Objekts auffassen. Die Selbstbeschreibung ist zwar kein Objekt in dem Sinne des Codes oder des ›kleinen‹ Objekts, da sie ausschließlich mittels Eigenbeobachtungen anfällt und deswegen dem Objekt zugehört. Begreift man die Selbstbeschreibung jedoch als eine Form der Selbstbeobachtung, fällt sie mit der Rolle P zusammen. Begreift man sie als eine Indikation, entspricht sie lediglich dem Term 〈O〉. Schließlich bleibt noch die Möglichkeit, die Selbstbeschreibung als diejenige Instanz in einem Objekt zu begreifen, die es zur eigenen Stabilisierung nutzt, und auf die ein anderer Beobachter F zugreifen kann, um die mit der Stabilisierung verbundenen Regelmäßigkeiten und Unregelmäßigkeiten zu beobachten und darüber das beobachtete Objekt zu identifizieren. Aber auch dieser Lösungsweg stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Erstens ist das beobachtende Objekt durchgängig auf seine eigenen Zustände Ab ⇐ [(Xa)Fb] angewiesen, mit denen es die verschiedenen Momente des beobachteten Objektverhaltens vergleicht. Das Beobachtete hängt für den Beobachter F folglich von beiden Objekten ab. Zweitens entgeht einem externen Beobachter gerade der Moment, in dem ein beobachtetes Objekt ›zu sich‹ kommt, wodurch sich ihm genau dasjenige entzieht, was er der vermeintlichen Selbstbeschreibung zu unterstellen versucht hat. Wie kann sie dann aber noch die Funktion erhalten, das Eigenverhalten und damit die Identität eines Objekts beobachtbar zu machen? Obwohl es nicht möglich ist, die Modellvorrichtung mit einem Objekt zu identifizieren bzw. mit ihrer Hilfe der Objektidentität habhaft

Reihen errichten, wobei jede Reihe durch die Differenzen zwischen den Termen, aus denen sie besteht, definiert wird«. Den geforderten Termen entsprechen die verschiedenen Rollen der Beobachtung, den Reihen entsprechen ihre Zustände in den aufeinander folgenden Phasen. Die Visualitätsdifferenz ist die Differenz »zweiten Grades«, die die Reihen aufeinander bezieht. Zum Zusammenhang zwischen dem System und der Individuation vgl. ebd.: 310 f. 126

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zu werden, bestimmt Glanville die Model Facilities der Objekte als »the form of their own description« (Glanville 1975: 86). Was ist unter einer Selbstbeschreibung zu verstehen, wenn die drei diskutierten Begriffsbestimmungen scheitern? Worin besteht das eigene Recht der Modellvorrichtung, auf Grund dessen sie sich unentbehrlich macht? Was heißt es, eine Vorrichtung für das Modellieren von Objekten und das Beobachten von anderen Objekten zu sein? Die Model Facility als reine Bedingung der operativen Möglichkeiten eines Objekts darzustellen, würde gewiss zu kurz greifen, da sie in die Struktur der Beobachtungen eingebunden ist – und zwar ausschließlich in diese Ordnung: Sie ist in der Operation [(X)P] des Beobachters P inbegriffen und eröffnet dadurch erstens den Bezug auf sich selbst (E); mit der Möglichkeit zur Fremdbeobachtung F eröffnet sie zweitens den Bezug auf andere (A) und von anderen auf sich (B). Obwohl die Modellvorrichtung die Beobachtungen insoweit in Erscheinung treten lässt, hat sie außerhalb von ihnen keine Bewandtnis und kein Vorrecht. Sie ist die selbst bedingte, attentionale Möglichkeitsbedingung. Sie macht nur Sinn auf dem Niveau, das sich mit ihr konstituiert und auf dem die Beobachtungen auf ihre Beobachtungsfähigkeit hin entworfen sind. Das Objekt vergewissert sich qua Eigenbeobachtung der Fähigkeit des Beobachtens und figuriert zugleich als ein beobachtungsfähiger Entwurf. Aus diesem Grunde zirkuliert jedes Objekt in sich und zirkuliert im Fall der Fremdbeobachtung auch in einem jeden anderen Objekt, sie umwinden sich gegenseitig und falten sich ineinander. Dies ist nichts anderes als der Raum, den sich die Objekte gegenseitig zur Verfügung stellen. Sie werden in keinen Raum hineingesetzt – wie abstrakt oder transzendental man sich ihn auch immer vorstellen mag –, in dem sie ihre Distinktionen markieren oder Figuren in einen Grund einzeichnen würden. Vielmehr sind die Objekte mit diesen Distinktionen, mit diesen distinkten Interventionen der Aufmerksamkeit gegeben, die den Raum zugleich erschaffen.18 Sie werden intensiv ausdifferenziert, woraufhin sie den Raum begründen und konfigurieren. Oder sie werden ›eindifferenziert‹, woraufhin sie ihr Distinktionsvermögen einbüßen. So wird die einseitige Grenze eines expansiven und flachen Raums gezogen (nicht zu verwechseln mit einem flächigen Raum oder einer Ebene), in dem Objektbeobachtungen an Beobachtungsobjekte anschließen. Insoweit das Vorhandensein der Objekte den Raum bezeugt und die Beobachtungen ihn durchmessen, bleibt er trotz aller Windungen und Wendungen, trotz aller Variationen, Expansionen und Distributionen er selbst. Die Objekte führen ihn ein; und man wird in ihn eingeführt, indem sie beobachtet werden. Es gibt keine andere Möglichkeit der Beobachtung. Bezieht man

18. Zum Verzicht auf einen vorgängigen Raum vgl. Glanville 1988: 153 f. 127

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ihre Abhängigkeit von der Modellvorrichtung mit ein, kann X näher bestimmt werden: Sie gibt den Raum vor, den die Beobachtungen ergreifen. Die vornehmliche Funktion der Model Facility besteht folglich darin, die Umwindungen und Einfaltungen eines selben Raums für jedes einzelne Objekt und für alle Objekte zu regulieren. Dabei führt sie keine Regeln aus – woher sollte sie diese Regeln auch entnehmen können. Vielmehr führt sie sie ein. Dies geschieht unabhängig davon, wie regelmäßig sie einem Beobachter auch immer erscheinen würden, wenn er sie denn beobachten könnte. Die Model Facility eines Objekts ist die implizite und kreative Regulation der Aufmerksamkeit. Unter der Maßgabe ihres Implikationswerts werden die Regeln der Beobachtbarkeit entworfen, deren Stabilität und Operationalisierung sich oszillierend manifestieren. Insoweit dies zu Grunde gelegt wird, kann die Modellvorrichtung als eine Form der Selbstbeschreibung begriffen werden. 19 Erst wenn die Synchronisation mehrerer Oszillatoren gelingt, prägen sich replizierbare Regeln aus, die die Relevanz gegenseitiger Beobachtungen ausweisen und die als die explizite Regulation von Systemen gelten können.20 Welche Regeln sich zwischen den Objekten etablieren, kann weder vorhergesagt werden, noch kann aus einer angewandten Regel abgeleitet werden, ob sie nicht im nächsten Moment gewandelt erscheint. Die Beobachtbarkeit eines individuellen Objekts

19. Wie Glanville anmerkt (vgl. 1975: 81 f.), erinnert die Model Facility an die Tiefenstruktur in Chomskys generativer Grammatik und an Hjelmslevs Glossematik. Insofern sie als »calculus with an interpretation, through which an observer, projecting his views, can see that of the Object to which his views relate« (ebd.: 24 f.) bestimmt wird, lassen sich ebenfalls Parallelen zum Interpretanten in Peirces kategorialer Semiotik ziehen, dem es obliegt, in vergleichbarer Weise eine Objektbeziehung herzustellen. Solche Parallelen und Ähnlichkeiten erklären nur wenig. Vielmehr ist es erklärungsbedürftig, aus ihnen irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Ein Objekt ist kein Zeichen und ein Zeichen kein individuelles Objekt, das weder sich noch ein anderes Objekt bezeichnet. Ebenso wenig übernimmt es eine bezeichnende Funktion. Es oszilliert, woraus seine Bezeichnung und die Bezeichnung eines anderen resultieren. Dass ein Objekt kein Zeichen ist, schließt nicht aus, ein Zeichen als eine Sequenz von Beobachtungen, das heißt als eine Verknüpfung verschiedener Objekte und somit als konfigurierte Attentionalität zu begreifen. Søren Brier unternimmt unter dem Projekttitel cybersemiotics den Versuch, Semiotik und Beobachtungstheorie zusammenzuführen (vgl. Brier 2000). 20. Heinz von Foerster nennt die systemische Regulation in einer verwandten Weise die Regelung einer Regelung. Dabei bezieht er sich jedoch auf die funktionale, sensomotorische Einheit des Organismus und nicht etwa auf die Attentionalität: »Besonders hervorzuheben ist die doppelte Schließung des Systems, das nun rekursiv nicht nur das verarbeitet, was es ›sieht‹, sondern auch die Tätigkeit seiner eigenen Organe« (von Foerster 1985d: 39). 128

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ist das Potenzial zur Etablierung möglicher Regeln eines Systems. Mit ihr sind noch keine Regeln, sondern nur ihre Variationsbreite oder Variabilität gegeben – »als ob das Objekt einen seiner Teile im Virtuellen hätte und darin wie in einer objektiven Dimension eingelassen wäre« (Deleuze 1992a: 264). Einzig in Abhängigkeit seiner Entwürfe und Gegenentwürfe ist das beobachtete Objekt für ein anderes relevant, und in Abhängigkeit davon, wie sich die Objektbeobachtungen weiter verfolgen lassen, strukturiert sich sein Universum. Wenn ein Objekt von außen beobachtet wird 〈Oa〉 = [(Xa)Fb ] ⇒ Ba, hängt die Fremdbeobachtung Ba nicht allein von Xa ab, sondern unterliegt darüber hinaus der Modellvorrichtung Xb des beobachtenden Objekts 〈Ob. Denn es kann nur unter Berücksichtigung der Hinsichten fremdbeobachten, unter denen es auch sich beobachtet. Das beobachtete Objekt Ba = 〈Oa〉 beruht auf seiner Model Facility, mit der die Objektbeobachtung vorgenommen wird [(Xa)Fb] und auf die sich die Modellvorrichtung Xb des beobachtenden Objekts einstellen muss. »Since an observation of an Object involves both the Object’s Model Facility, and an observer (who exists by virtue of his own Model Facility), there is an interdependence between these two Model Facilities. […] All observations are therefore interactive. The Model Facility of the observer affects what the observer believes the Object to be (the Object’s behaviour): as does the Object’s Model Facility […].The Model Facility of the Object affects what the observer believes the Object to be (the observer’s awareness): as does the observer’s Model Facility. The Model Facilities of both Object and observer thus affect the behaviour and the awareness made by the observation.« (Glanville 1975: 27 f.) Die an einer Beobachtung beteiligten Objekte 〈Oa〉 = Ba und 〈Ob〉 = Ab hängen untrennbar zusammen: Fremdbeobachtet worden zu sein Ba, hängt nicht allein davon ab, in welcher Hinsicht (Xa) beobachtet wurde, sondern es hängt auch davon ab, unter welcher Absicht (Xb) es beobachtet wurde. Und umgekehrt hängt der Zustand, fremdbeobachtet zu haben Ab, nicht allein davon ab, mittels welcher Kapazitäten die Beobachtung durchgeführt wurde, sondern beruht auch auf dem Beobachteten. Die Modellvorrichtungen geben in beide Richtungen die Beobachtbarkeit der Objekte vor, sind also – insofern Beobachtungen überhaupt vorgenommen werden können – angepasst. Jede Beobachtbarkeit fordert die Beobachtungsfähigkeit heraus, der eine eigene Beobachtbarkeit vorausgeht. Die Fremdbeobachtung kommt nur dann zu Stande, wenn die Objekte aufeinander abstellen, indem sich die Model Facilities aufeinander einstellen. Eine äußere Beobachtung verlangt immer eine Verknüpfung vom Typ X ∗ X, die die Explikation reguliert.21

21. Die Schreibweise X ∗ X dient nur der Veranschaulichung. Da sie keinen 129

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Die primordiale Passung erklärt bspw. den Unterschied zwischen zwei Fremdbeobachtungen [(Xa)Fb] ⇒ Ba und [(Xa)Fc] ⇒ Ba des gleichen Objekts 〈Oa〉, denen im ersten Fall Ab (oder: Xa ∗ Xb) und im zweiten Fall Ac (oder: Xa ∗ Xc) entspricht: »Each observer’s observation of the Object is, thus, different« (ebd.: 26). Nichtsdestotrotz behalten alle beteiligten Objekte die gleiche Indikation bei. Daran würde kein Beobachter etwas ändern können. Bevor sich die Objekte beobachtend voneinander unterscheiden, mit diesen Unterschieden weiterhin rechnen und das Sehen errechnen können, differieren ihre individuellen Modellvorrichtungen. Jedes weitere Objekt gleicht sich mit den vorfindbaren Model Facilities unter den Bedingungen des je eigenen Zustandekommens ab, wodurch sich schließlich das attentionale Niveau etabliert, an das (s)ein visuelles System auf spezifische Weise gekoppelt ist. Nichtsdestotrotz kommen die beteiligten Objekte auf sich zurück, wenn sie in die nächste Phase oszillieren. Die Verknüpfung wird momentweise erstellt und wieder aufgelöst, sodass die sich gegenseitig beobachtenden Objekte einer unentwegten Differenzierung ausgesetzt sind. Die Aufmerksamkeit ist metaphorisch gesprochen nervös. Auf diese Weise wird leicht ersichtlich, was es bedeutet, wenn Glanville schreibt: »the observer […] is constantly reprogramming himself through his own Model Facility« (ebd.: 82). Die Visualitätsdifferenz Ba / Ab beruht auf einer äußeren Objektbeobachtung unter den Bedingungen von Xa ∗ Xb. Sie ist einerseits nur mit Verweis auf die Intensität und auf die sie durchziehende Schwelle denkbar, die dem Sichtbaren entspricht, und sie ist andererseits nur durch den die Objekte distinguierenden Unterschied der Modellvorrichtungen fassbar, dank derer die Beobachtungen das Sehen koordinieren. Ein bloß luminöser Erregungszustand verweist zwar bereits auf die Sichtbarkeit, indem bspw. die retinalen Rezeptoren ihre Tätigkeit aufnehmen. Er weist jedoch weder ein Sehendes noch ein Gesehenes aus, solange diese Tätigkeit nicht durch ein Objekt beobachtet wird, das durch ein elektrisches Potenzial – ebenfalls an der Intensitätsschwelle – bestimmt wird. Auch auf diesem Wege zeigt sich, dass das Sehen bspw. der Farbe Blau nicht auf ein einzelnes Objekt reduzierbar ist, sondern die Korrespondenz der Modellvorrichtungen einer Vielzahl von Objekten erfordert. Die retinale Visualität allein kann das Blau nicht erklären. Es erfordert ein höheres Distinktionsvermögen, das über die maßgebende Erregung der besonders für kurzwelliges Licht empfindlichen Zapfen (bei genügender Helligkeit) weit hinausgeht. Denn welche Erregung als maßgebend gelten kann, entscheidet sich durch eine weitere

Aspekt der Beobachtung oder ihrer Rollen ausdrückt, findet sich bei Glanville nichts Vergleichbares. Die in der Verknüpfung rechts stehende Modellvorrichtung soll das beobachtende Objekt anzeigen. 130

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Beobachtung. Die Visualitätsdifferenz von Blau leitet sich aus dem äußeren Beobachtetwerden (Ba) der neuronalen Effekte retinaler Erregungen und dem entsprechenden Zustand (Ab) kortikaler Verarbeitung ab. Die simpelste Farbempfindung benötigt folglich eine konfigurierte Beobachtungsstruktur. Dies gilt nicht minder für die phänomenale Farbwahrnehmung, deren Attentionalität durch Objektbeobachtungen des Gedächtnisses und situativer Umstände reguliert wird; und dies gilt für die Psychologie Gibsons.22 Die von ihm eingeführte Visualitätsdifferenz besteht erstens aus der Extraktionsfunktion für die Information der Umwelt. Diese Funktion wird durch das beobachtende Objekt 〈Ob〉 dargestellt, das phasenweise als Ab auftritt und damit dem Sehenden entspricht. Gibson schreibt dementsprechend: »Der Ausdruck Gewahrwerden (awareness) wird benützt, um die unmittelbare Informationsaufnahme einzubeziehen, ohne besonderes Gewicht auf das Bewußtwerden zu legen« (1982: 269). Die Funktion wird nicht durch das gesamte Objekt ausgedrückt, sondern ausschließlich durch die fremdbeobachtenden Momente von 〈Ob〉. Zweitens besteht die Visualitätsdifferenz aus den Invarianten optischer Anordnungen, die das beobachtete Objekt 〈Oa〉 = Ba bestimmt. Die visuelle Wahrnehmung bezieht sich auf ein »Registrieren ganz bestimmter Dimensionen von Invarianz im Reizfluß und zugleich bestimmter Parameter von Störung«, die in der »umgebenden optischen Anordnung« liegen (ebd.). 〈Oa〉 zu beobachten bedeutet, Beziehungsmuster und Änderungen in Beziehungsmustern zu entdecken. Sie erfordern eine strukturreiche, komplexe Objektbeobachtung Ba, was durch die Theorie Glanvilles gedeckt ist, wie noch zu zeigen sein wird. Treten neue Beobachtungen hinzu, ändert sich zwar nichts an der Individualität und an der Indikation der Objekte. Dennoch wird die gesamte Konfiguration variiert. Wenn die einzelnen Objekte auch unverändert bleiben, so folgt aus der Hinzunahme weiterer Objekte in das attentionale Arrangement nichtsdestotrotz ein Wandel des visuellen Systems, der einerseits aus der gesteigerten Komplexität und andererseits aus der notwendigen Passung der Implikationswerte resultiert. Das physikalische Licht, die retinalen Erregungszustände, die neuronalen Aktivitäten und die zerebrale Topologie legen gemeinsam einen Bereich des Sehens fest und liegen gemeinsam an der Intensitätsschwelle. Das Sichtbare eines Objekts umschließt das Sichtbare eines anderen Objekts und alle beteiligten Modellvorrichtungen müssen vom Selben umschlossen sein, damit sich ein solcher Beobachtungskomplex entfalten und ein Sehen konstituieren kann. In diesem Sinne wird sich ein Replikationswert finden lassen müssen, der die Verknüpfbarkeit der Modellvorrichtungen aufzeigt und damit festlegt, ob ein Objekt fremd-

22. Zu den Funktionen des Sehens in Gibsons Ansatz vgl. Abschnitt 2. 131

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beobachtet werden bzw. fremdbeobachten kann, ob es Eingang findet in die attentionale Struktur der replikativen Visualitätsdifferenz Ba / Ab. Der Wert ist notwendigerweise variabel. Unter dem Gesichtspunkt des Systems ist er identisch mit der Grenze, an der sich die Beobachtungsfähigkeit bemisst. Sie nimmt mit seiner Variabilität zu. Unter dem Gesichtspunkt der Intensität wird er an einer kritischen Schwelle über den Umweg individuell vorgenommener Distinktionen induziert, um diese Grenze erst zu markieren. Wurden bisher die Sichtbarkeit und das Selbe begrifflich eng geführt, so kann nun eine präzisere Bestimmung nachgeholt und festgehalten werden: Während das Sichtbare der Intensitätsschwelle entspricht, bemisst der Replikationswert das Selbe des Sehens und der visuellen Systeme. Es ist als das ›Selbst‹ der selbstreferenziellen Systeme zu verstehen. Der Modus der Sichtbarkeit ist mit jedem einzelnen Objekt bereits auf spezifische Weise gegeben. Von ihrer Modulation kann jedoch erst gesprochen werden, wenn die Objekte Passungsleistungen erbringen, die die eigenständige Beobachtbarkeit aufrechterhalten – und das heißt: die sie replizierbar machen. Zieht man die Objektoszillation in Betracht, wird erkennbar, dass die Visualitätsdifferenz erstens wegen des Replikationswertes wiederholbar bleibt und die visuellen Systeme sich daher reproduzieren können; und dass der Wert zweitens die Modifikation kennzeichnet. Er weist die Veränderung des Sehenden und des Gesehenen aus, ohne ihre gegenseitige Abstimmung aufzugeben. Es zeigt sich erneut, dass die Modifikation des Sehens und die Modulation des Sichtbaren aufs Engste miteinander verbunden sind, da ihr Verhältnis durch den Wert der Replikation bestimmt wird. Die Visualitätsdifferenz ist durchgängig von seinem Selben gekennzeichnet, das Sehen expliziert in Form des attentionalen Arrangements das Sichtbare und das visuelle System wird dadurch schließlich reproduzierbar. Auch wenn es sich permanent ändert, bleibt es das System selbst, während sein Modus replikativ moduliert. Das System gleitet wie die Linie eines Surfers auf einem Wellenkamm an der Schwelle entlang, die dem intensiven Wasser entspringt. Der Surfer expliziert die steigende und zusammenbrechende Bewegung des Wassers, dessen Potenzial seine Linie impliziert. Die Visualitätsdifferenz zu modifizieren ist das Korrelat der Wiederholung systemischer Operationen unter Veränderungs- oder Lernbedingungen, was sich bspw. in den strukturellen Anreicherungen und in der ihnen zugehörigen Invarianten- oder Schemabildung der Systeme niederschlägt. Eine Vielzahl von anderen attentionalen Arrangements ist möglich, deren Implikationen sich weniger dauerhaft anpassen und denen es an Konsistenz mangelt. Insofern sie kein Sehendes und kein Gesehenes errichten, beschreiben sie kein visuelles System, und insofern sie keine Visualitätsdifferenz konfigurieren, mangelt es ihnen an einem zugleich stabilisierten und variablen Replikations132

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wert. Gelingt es nicht, diesen Wert zu etablieren, bricht die Explikationsfunktion zusammen. Vielleicht wird man einwenden, dass bei Glanville erstens weder ein Attentionalitätskonzept noch ein Implikations- oder Replikationswert zu finden sind und dass somit der Bezug zwischen dem Sichtbaren und den Objekten nicht begründet werden kann. Zweitens gibt es keine Anhaltspunkte für die Genese der Objekte, die das Hinzutreten zu und das Verschwinden aus der Beobachtungsstruktur erklärt. Wie Glanville betont, sind die Objekte nicht generativ (vgl. 1988: 76). Sie sind vorhanden und beobachten sich oder sie sind es eben nicht. Der erste Einwand würde zu Recht erhoben werden, insofern er davor warnt, das Sehen und die Sichtbarkeit auf der einen und die attentionalen Objekte auf der anderen Seite zu verwechseln. Weder sind die Objektbeobachtungen mit dem Sehen noch sind die Modellvorrichtungen mit der Sichtbarkeit identisch. Ebenso wenig wird man die Sichtbarkeit und das Sehen in den Objekten unmittelbar wiederfinden können. Die Verwendung der Beobachtungstheorie startet dementsprechend an einem anderen Punkt. Sie wird in dem Moment instruktiv und relevant, in dem die Gesamtleistungen visueller Systeme – zu beobachten, beobachtet zu werden und dabei das Sehen zu koordinieren –, in einer Weise rekonstruiert wird, die den Systemen selbst obliegt. Sie beobachten und sie werden unter Zuhilfenahme der Glanvilleschen Konzeption beobachtet. Über die Komponenten und Funktionen der Systeme vermag die Beobachtungstheorie im Einzelnen nichts zu sagen. Vielmehr liefert sie eine allgemeine Methodologie systemischer Orientierungen. Darin besteht ihre Aufgabe in dieser Studie. Wenn die Visualitätsdifferenz als Ba / Ab richtig beschrieben wurde, ergibt sich notwendigerweise ein Bezug zur Sichtbarkeit, die nicht allein das Sehen, sondern zusätzlich die Objektbeobachtungen impliziert. Und wenn es stimmt, dass das Sichtbare intensiv moduliert wird, so drücken die Objektbeobachtungen die je aktuellen, systemischen Zustände des Verhältnisses zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit aus. Gewiss wird man nicht leugnen können, dass dieser mittels des Implikations- und des Replikationswerts hergestellte Zusammenhang über die Konzeption der Objekte hinausgeht. Daran führt jedoch kein Weg vorbei, da erst zu zeigen ist, unter welchen Bedingungen die Verbindung des Sichtbaren mit den Objekten der Aufmerksamkeit gestiftet und wie diese Ergänzung in die Beobachtungstheorie eingeführt werden kann. Entscheidend dabei ist nicht, ob sie erweitert wird, sondern vielmehr, dass die Erweiterungen ihre Kohärenz nicht gefährden. Um mit der gebotenen Vorsicht zu agieren, werden die beiden Werte homolog zu den zwei von Glanville unterschiedenen Objektebenen eingeführt. Der Implikationswert bezieht sich demnach auf die private Ebene der zwischen P und E oszillierenden Objekte (private level). Jedes Objekt bewegt sich auf einer eigenen, ungeteilten Ebene. Der Replika133

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tionswert bezieht sich entsprechend auf die öffentliche Ebene (public level), die durch F, B und A bestimmt und die von allen beobachtenden und beobachteten Objekten geteilt wird (vgl. Glanville 1975: 29). Von einem Implikationswert kann nur gesprochen werden, wenn sich ein Objekt stabilisiert und damit beobachtbar gemacht hat. Der Replikationswert setzt darauf auf und bestimmt die Ebene des gemeinsam Beobachtbaren. Beide Werte werden ebenso wie die beiden Ebenen über die Modellvorrichtung vermittelt (vgl. ebd.: 86) und ermitteln in dieser Weise die Regulation beobachtbarer Systeme. Der zweite Einwand, der sich gegen die unterstellte ›intensive‹ Genese richtet, speist sich eher aus einem Mangel der Beobachtungstheorie als aus einem ernsthaften Argument. Denn gegen die den Einwand begründende Bedingung, dass die Objekte entweder vorkommen oder nicht vorkommen, wird nicht verstoßen. Es gibt sie weder halb noch ließe sich ein status nascendi beobachten, da sich eine Beobachtung nur auf Objekte beziehen kann, die ihrerseits gegeben sein müssen. Nichtsdestotrotz wirft diese Bedingung die Frage nach ihrer Möglichkeit auf, da Beobachtungskomplexe offensichtlich – wie die spontane Bildung von Systemen und ihre Evolution belegen – erzeugt und wieder aufgelöst werden können. Der Beobachtungstheorie mangelt es folglich an einer Erklärung für die Genese23 der selbst nicht generativen Individuen, ihrer Beobachtbarkeit und des Zirkels der Objektbeobachtungen und Beobachtungsobjekte. An dieser Stelle scheint die Intensität die Problemlage zu erhellen. Ihr Potenzial besteht nicht darin, in die zirkulären Verhältnisse einzugreifen, da sie sich selbst genügen. Dennoch lässt die Intensität sie tanzen und stellt ihnen dabei ihr Selbst zur Verfügung, das sich genügt, oder entzieht ihnen den Boden unter den Füßen. Somit erweisen sich die möglichen Einwände gegen die präsentierten Ergänzungen als haltlos, da sie einesteils möglich und anderenteils notwendig sind. Wenn die Sichtbarkeit nur in modulierter Weise deutlich, das heißt: explizierbar wird und wenn die Systembildung nur unter Einfluss eines Replikationswerts zu begreifen ist, erscheint es problematisch, Implikationswerte zu setzen. War es folglich falsch, einem einzelnen Objekt einen Implikationswert zu attestieren und damit das Selbe des

23. Das gleiche Problem ergibt sich bei der an George Spencer Brown angelehnten Beobachtungstheorie Luhmanns. In einem Kalkül macht es durchaus Sinn, mit der Anweisung Draw a distinction zu beginnen, um zu zeigen, dass jeder Unterscheidung logisch eine Unterscheidung vorausgeht. Interpretiert man die Unterscheidungen jedoch in einem empirischen Sinne, wird man danach fragen müssen, wie sie sozial kreiert, eingeführt, relevant gehalten, permanent durchgehalten oder zwischenzeitlich ausgesetzt und schließlich wieder vergessen werden. Der Formalismus der Systemtheorie bleibt eine Erklärung für diese Genese der das Soziale organisierenden Distinktionen schuldig. 134

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Sichtbaren zu erklären, obwohl noch kein System konstituiert ist, dem das Selbe zusteht? Ist der Modus der Sichtbarkeit erst mit der Verknüpfung der Model Facilities gegeben oder liegt er mit jedem einzelnen Objekt vor, so wie es bisher unterstellt wurde? Zunächst ist anzumerken, dass die Sichtbarkeit nicht moduliert werden könnte, wenn sie nicht all ihre Wendungen implizieren würde. Jedes Objekt muss über ein eigenes ›Wirkungsquantum‹ verfügen, dem die Bestimmung seiner Beobachtbarkeit und seiner Beobachtungsfähigkeit obliegt. Damit kehrt die Argumentation zur Paradoxie des Individuums zurück. Sie bestand zunächst darin, als Objekt beobachtet bzw. als indiziertes Objekt 〈Oa〉 = [(Xa)Pa] ⇒ Ea vorgegeben zu sein, bevor ein System zu Stande kommt, dem die Beobachtungen dieses Objekts zugeschrieben werden können. Nun besteht die Paradoxie darin, das individuelle Objekt an die Intensitätsschwelle zu verlegen, obwohl es eines attentionalen Arrangements bedarf, das sich aus mehreren Individuen zusammensetzt und das die Schwelle erst expliziert. Sie kann nur abgeleitet werden, insoweit die Funktionen der luminösen, elektrischen und neuronalen Potenziale miteinander verwoben sind und sich ebenso ineinander aufgehoben finden, wie jede Modellvorrichtung sich in eine andere faltet. Da es sich bei der Aktivierung der Potenziale jeweils um zu realisierende Differenzen handelt, die auf anderen Differenzen beruhen – jedes Potenzial setzt ein anderes voraus –, ist man nicht allein auf ihre gegenseitige Implikation24, sondern wiederum auf die Intensität verwiesen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die Frage nach dem Implikationswert zu beantworten. Denn in der Replikation X ∗ X ist eine implizte Differenz verborgen, die das System nicht explizieren kann und die von seiner Differenz Ba / Ab und seinen internen Differenzierungen deutlich unterschieden werden muss.25 Die gegenseitige Implikation führt keineswegs zur Identität der beteiligten Distinktionen, wie es unter formalen Bedingungen gilt. Denn einen Gesichtspunkt anzugeben, unter dem ihre Identität bestimmt werden könnte, ist unmöglich. Auch die gegenseitige Implikation führt die Differenzen nur zur Differenz zurück. Wenn ein Objekt ein anderes

24. Glanville gibt dafür eine formale Erklärung: Es »konnte gezeigt werden, daß sich individuelle Unterscheidungen eventuell gegenseitig implizieren, das heißt, sie sind wiedereintrittsfähig und werden selbstreferentiell und schaffen große Netzwerke von Erfahrungen und Wissen, in denen wir uns einrichten« (Glanville 1988: 109). 25. Um diese Differenz kenntlich zu machen, kann man sich auf die primäre und sekundäre Implikation berufen, die Deleuze unterscheidet: »eine sekundäre Implikation, die den Zustand bezeichnet, in dem die Intensitäten von den Qualitäten und der Ausdehnung umhüllt sind, durch die sie expliziert werden; und eine primäre Implikation, die den Zustand bezeichnet, in dem die Intensität an sich selbst, als umhüllende und umhüllte zugleich impliziert wird« (1992: 303 f.). 135

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Objekt beobachtet [(Xa)Fb], wird die sich daraus ableitende Regulation deutlich von derjenigen Regulation unterscheiden, die sich über eine umgekehrt vorgenommene Fremdbeobachtung [(Xb)Fa] ergibt. Die gegenseitigen Beobachtungen sind nicht kommutativ und die Verknüpfungen der Model Facilities sind stets gegeneinander verschoben. Die Objekte unterscheiden sich folglich verschieden voneinander: Xa ∗ Xb ≠ Xb ∗ Xa. Das vom zweiten Objekt beobachtete Verhalten des ersten Objekts ist weder mit dem vom ersten Objekt beobachtete Verhalten des zweiten Objekts identisch, noch gibt es eine Möglichkeit, über das gegenseitig beobachtete Verhalten ein Einvernehmen zu erzielen, da jede weitere Beobachtung die Differenzen regrediert. Die Qualitäten des resultierenden Systems sind demnach von einer je nach Beobachtungsrichtung ausgewiesenen Replikation abhängig. Es gibt weder einen Flucht- noch einen Gesichtspunkt, der das Versprechen einer Identität einzulösen im Stande wäre. Auch in dem Fall, in dem die Objekte sich in einer durchgängigen Sequenz abwechselnd gegenseitig beobachten und somit ihre Synchronisation kontinuieren, erhält man keine Gemeinsamkeit ihrer Perspektiven und keine Aufhebung ihrer uneinholbaren Asymmetrie. Je nach dem, welche Modellvorrichtung die je andere Modellvorrichtung zu replizieren versucht, ändert sich die Explikationsfunktion. Der Modus ist vor allem Modulation. Nichtsdestotrotz bewahrt das auf ihr errichtete System sein Selbes, »das sich vom Differenten aussagt« (Deleuze 1992a: 303). Die fehlende Kommutation zwischen den Objekten beruht auf der intensiven und asymmetrischen Individuation der Objekte selbst, die jeweils für sich an der Schwelle hervorgespült und dort eine Weile distinkt gehalten und perpetuiert werden, ohne von einem anderen Objekt distinguiert werden zu können. Sie sind nur für sich distinkt und können gerade deswegen weitere Beobachtbarkeiten, weitere Beobachtungsrichtungen und weitere Asymmetrien in das allen zugehörende attentionale Arrangement einführen: »Die Individuation ist beweglich, seltsam geschmeidig, flüchtig, hat Fransen und Ränder, weil die Intensitäten, durch die sie hervorgetrieben wird, andere Intensitäten umhüllen, von anderen umhüllt werden und mit allen kommunizieren« (ebd.: 323). Die Intensität umgibt alle Potenziale und alle beteiligten Objekte zugleich. Das Selbe besteht in der replikativen Verschiebung, die die reproduktive Modifikation gewährt. Das produktive Element besteht also gerade nicht in der reproduktiven Teleologie der Systeme, sich zu wiederholen, sondern in der Wiederholung des ›intensiv‹ verschobenen Verhältnisses von Implikation und Explikation. Das Selbe ist kein anderes, das Selbe ist Differenz. Demnach leiten sich der Implikations- und der Replikationswert mitsamt ihrer Objekte aus der Intensität ab, die die gegenseitigen Umhüllungen zur Geltung kommen lässt. Es wäre ein Fehler, den Implikationswert anzuzweifeln, nur weil er sich in Homolo136

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gie zur Paradoxie des Individuums nicht aufgreifen lässt. Das Paradox entstammt der Intensität und der parallelen oder multiplen Individuation sich beobachtender Objekte. So wie der Replikationswert den Grad der Beobachtbarkeit anderer und die eigene Beobachtungsfähigkeit für andere angibt, gibt der Implikationswert den Grad für das Individuum an. Ihre Genese verläuft parallel und erzeugt die Paradoxie. Wenn die Replikation auch das Verhältnis von Implikation und Explikation darlegt, so wird man es dennoch nicht re-symmetrisieren können. Das Verhältnis zwischen dem Sehen und der Sichtbarkeit bleibt durchgängig asymmetrisch. Die Paradoxie des Individuums leitet sich nicht von unterschiedlichen Individuen und ganz gewiss nicht von ihren Indikationen ab, sondern muss in dem Verhältnis der Systeme zu ihrem Selben (replikativ) und in dem Verhältnis dieses Verhältnisses zur Intensität (implikativ) gesucht werden. Die Indikation erklärt nichts. Daher muss jeder Versuch, der das System als bezeichnendes und bezeichenbares Individuum denkt, scheitern, wenn man nicht zeigen kann, auf welche Weise die dafür nötigen Distinktionen gewonnen werden und auf welche Weise sie die Beobachtungen strukturieren. Es wird überdeutlich, dass das Individuum und das System keineswegs mittels einer magersüchtigen Paradoxie des unbeobachtbar Beobachtbaren zu erfassen sind, sondern mittels einer expansiven und replikativen Beobachtungsstruktur, die sich als methodologisches Beschreibungswerkzeug ihrer Verhältnisse eignet.26 Wenn das Verfahren der Systeme darin besteht, Stabilitäten abzugleichen und aufeinander einzustimmen (Instabilität inklusive), wird ihre prekäre Lage in zwei sehr verschiedenen Hinsichten deutlich. Die Objekte und die Beobachtbarkeiten müssen sich nicht allein individuieren, indem sie der Intensitätsdifferenz mit ihrer eigenen beobachtet-beobachtenden Differenz Einhalt gebieten und ihr Potenzial ausschöpfen. Sie müssen sich zusätzlich und permanent – die gelungene Individuation vorausgesetzt – miteinander synchronisieren und ihre Oszillationen in einen Gleichlauf versetzen, wie chaotisch oder regulär er anderen Beobachtern auch erscheinen mag.

26. Wenn Glanville das Konzept auf architektonische und urbanistische, linguistische und kommunikationstheoretische, gestalterische und epistemologische Fragestellungen anwendet, stellt er die Eignung mehrfach unter Beweis (bspw. 1975: 115-171, 1981, 1984, 1995b, 1996). Dies ermutigt dazu, die Beobachtungstheorie auch für den Themenkomplex visueller Aufmerksamkeit und piktural gestützter Kommunikation fruchtbar zu machen. 137

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Beziehen Das Individuum zeichnet sich durch seine Oszillation aus: »An Object observes itself. In its self-observation it maintains its self, cyclically. This is an oscillation« (Glanville 1975: 32). Die Oszillation ist weder mit einem Pendel vergleichbar, das einen Impuls empfängt und in Schwingung versetzt wird, noch findet sie in einem rein topischen Gefüge statt, in dem zwischen zwei Bereichen (Punkte, Linien, Flächen etc.) auch ohne eine temporale Funktion hin und her gewechselt werden könnte. Das Objekt ist vielmehr durchgängig temporal bestimmt: Es oszilliert oder es existiert nicht. Der volle Zyklus s und s’ im Rollenwechsel zwischen der Beobachtung und dem Beobachtetwerden generiert eine eigene Objektzeit – »Each Object has its own time« (ebd.: 35) –, die die für alle möglichen Beobachtungen benötigte Zeit gewährt. Auf welche Weise ein Objekt seine Rollen wechselt, bleibt einem äußeren Beobachter ebenso verborgen wie das von außen unbeobachtbare Selbstbeobachtetwerden E. Die Eigenzeit eines Objekts kann von keinem anderen Beobachter differenziert werden. Er ist lediglich im Stande, Differenzen zwischen (s+2)a, (s+3)a, (s+4)a etc. des beobachteten Objekts festzustellen, wenn die Fremdbeobachtung Fb, die ihrerseits von der eigenen Objektoszillation abhängt, entsprechend lange anhält. Die Synchronisation zwischen ihnen hängt einzig von den generierten Eigenzeiten ab, die außerhalb der Oszillationen – etwas anderes als Objekte ist im Komplex der Beobachtungen unzulässig – nicht anzutreffen ist. Eine allen Beobachtungen gleichsinnig zur Verfügung stehende Zeit vorauszusetzen, also von der Prämisse einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auszugehen, in deren Sinne, in deren Taktung oder in deren Funktion sich alle Beobachtungen synchronisieren, ist beobachtungstheoretisch nicht zu rechtfertigen. Das heißt, man hat es in der attentionalen Struktur mit einer relativen Zeit oder besser – wenn man ihr Distinktionspotenzial ebenfalls berücksichtigt – mit einer relativen Raumzeit zu tun. Wenn sich durch eine Vielzahl von Objekten ein attentionaler Komplex herausbildet, der die Konfiguration visueller Systeme kennzeichnet, bringt er nicht allein die Visualitätsdifferenz zum Ausdruck, sondern verdeutlicht zudem, dass die Sichtbarkeit ebenfalls die Zeit des Sehens impliziert, die sich zur Gegenwart des Gesehenen und des Sehenden verdichtet. Das Sehende und das Gesehene fallen auf Grund der temporal abgestimmten Synchronisierungsleistungen gleichzeitig an. Das heißt, Gleichzeitigkeit gibt es nur unter der Bedingung der erreichten und aufeinander bezogenen Zustände der Attentionalität.27 Daraus kann

27. Eine andere Auffassung vertritt Luhmann: »Wir gehen von einer ebenso trivialen wie aufregenden These aus: daß alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht. 138

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nicht abgeleitet werden, dass jede Form der Synchronisation zwischen zwei Objekten zu ihrer Gleichzeitigkeit führt. So reicht die Synchronie der beiden Objekte 〈Og〉 syn. 〈Oh〉 allein nicht aus, um ihnen Simultanität zu unterstellen. Denn obwohl 〈Og〉 und 〈Oh〉 sich nicht beobachten, können sie synchron verlaufen, wie man von außen Fi wird beobachten können: 〈Og〉 = Bg syn. Ai = 〈Oi〉  〈Oh〉 = Bh syn. Ai = 〈Oi〉 Ein beobachtendes Objekt 〈Oi〉 mag zwar feststellen, jeweils mit 〈Og〉 oder mit 〈Oh〉 synchronisiert zu sein, anderenfalls könnte es keine Beobachtungen vornehmen. Von Gleichzeitigkeit der beobachteten Objekte kann aber nicht die Rede sein, wenn es ihm nicht gelingt, eine Relation zwischen ihnen herzustellen. Davon hängt ab, ob Bg und Bh zur gleichen Zeit beobachtet werden – und zwar in der Form [(Xg)Fi] ⇒ Ai ⇐ [(Xh)Fi] – oder ob das eine beobachtete Objekt 〈Og〉 genau dann besteht, wenn das andere Objekt 〈Oh〉 keinen Bestand hat, und die Beobachtungsgegenwarten demzufolge disparat bleiben. Damit ein Objekt in seinem Universum eine Gegenwart mehrerer Objekte finden oder erfinden kann, muss es die mit ihm synchronen Objekte relationieren. Die errechneten Relationen erzeugen die Gleichzeitigkeit von Objektbeobachtungen, was diverse Temporalstrukturen ermöglicht. Wenn bspw. ein Objekt 〈Oa〉 zweifach durch Fg und Fh beobachtet wird, können die beobachtenden Objekte 〈Og〉 und 〈Oh〉 ihre zeitlichen Folgen miteinander abgleichen. Sie tun dies, wenn sie neben 〈Oa〉 ebenfalls das jeweils andere Objekt 〈Og〉 bzw. 〈Oh〉 beobachten und wenn es ihnen zusätzlich gelingt, 〈Oa〉 mit dem anderen Beobachter zu relationieren. So stellen sie fest, dass die beobachteten Objekte immer zur gleichen Zeit zur Verfügung stehen. In dieser Struktur ist das Universum, das sich aus den für die beobachtenden Objekte erreichbaren Objekten zusammensetzt, von einer immanenten Simultanität gekennzeichnet. Sie bilden gewissermaßen die Meinung aus, sie würden gleichzeitig beobachten. Zu welcher vergegenwärtigenden Struktur ein Beobachter auch neigen mag, die notwendige Voraussetzung dafür ist die Synchronisation eines jeden beobachteten Objekts mit ihm und das simultane Auftreten aller beobachteter Objekte für ihn. Das beobachtende Objekt spannt eine Zeit auf, in der andere Objekte verglichen und Beziehungen zwischen ihnen errechnet werden. In dem Vergleichszeitraum, der gleichbedeutend mit einer Sequenzierung

Gleichzeitigkeit ist eine aller Zeitlichkeit vorgegebene Elementartatsache. Von welchem Geschehen – und wir können auch sagen: von welchem System – auch immer man ausgeht: etwas anderes kann nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft des Referenzgeschehens geschehen, sondern nur gleichzeitig« (Luhmann 1990c: 98). 139

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der synchronen Beobachtungen ist, werden verschiedene Relationen ermittelt. Neben der Identität zweier beobachteter Objekte (Bg ↔ Bh) kann ein Verhalten ein anderes umfassen. Diese formale Implikation ist in beide Richtungen möglich: So kann das beobachtete Verhalten eines Objekts Bg = 〈Og〉 das Verhalten eines anderen beobachteten Objekts Bh = 〈Oh〉 umgreifen, sodass jede Beobachtung von 〈Oh〉 zu 〈Og〉 führt, ohne den umgekehrten Schluss zuzulassen (Bg ← Bh). Es kann aber auch von seinem Verhalten umgriffen sein (Bg → Bh). Wenn beide Beobachtungen sich gegenseitig implizieren, führt dies wiederum zu ihrer Identität. Es bleibt dem beobachtenden Objekt überlassen, die Dauer des Vergleichs anderer Objekte festzulegen. Fällt der Vergleich kürzer aus, als die Beobachtung der einzelnen Objekte andauert, erhält man eine weitere Relation: Falls die Beobachtung von Bg = 〈Og〉 erstens bereits eine Weile im Gang ist, wenn die Beobachtung von und der Vergleich mit 〈Oh〉 einsetzt, und falls zweitens der Vergleich endet, sobald die Beobachtung von 〈Og〉 aussetzt, während Bh = 〈Oh〉 weiterhin beobachtet wird, falls sich die über den Vergleich hinaus jeweils länger beobachteten Bg und Bh in der Vergleichszeit also durchgängig überschneiden, errechnet das beobachtende Objekt eine Konjunktion: Bg ∧ Bh. Schließlich kann der Vergleichszeitraum die sich teilweise überschneidenden Beobachtungssequenzen einzelner Objekte 〈Og〉 und 〈Oh〉 überspannen, sodass sich der Vergleich auf Bg oder auf Bh bezieht und zwischen ihnen eine Disjunktion ermittelt: Bg ∨ Bh.28 Durch den sich in andere Objekte einschaltenden Beobachter expandiert auf verschiedene Weise ein relationales, raumzeitliches Universum. Trotz aller Relationierungen ändert sich weiterhin nichts daran, dass das Universum ausschließlich aus den Objekten und ihren Beobachtungen besteht.29 Es gewinnt an Struktur, wenn die beobachteten

28. Vgl. zu den ermittelbaren Relationen Glanville 1975: 46, 1980: 306 und 1988: 86-88; hier stellt Glanville die Relationen auch grafisch dar. Er betont mehrfach, dass die Konjunktion, die Disjunktion und die Identität auf die formale Implikation reduzierbar sind, wenn man beide Richtungen der Implikation zulässt: »The whole logic is made up of a series of implications. The means by which these logical computations can take place is through the correlation of the observational times of the different Objects« (Glanville 1975: 51). Für die Identität von Bm und Bn gilt zum Beispiel Bm → Bn, Bm ← Bn. Die Konjunktion und die Disjunktion müssen zunächst in entsprechende Phasen dekomponiert werden, damit die Reduktion durchführbar wird. Wichtig ist dieses Verfahren für eine weitere Operationalisierung der Objektbeobachtungen. Es unterstreicht zudem den Vorrang der Implikation. Gleichwohl müssen die formale, vom Beobachter ausgehende Implikation und die nicht-formale, den Beobachter ermöglichende Implikation strikt unterschieden werden. 29. »Our means for computing these relationships […] grows directly from the 140

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und relationierten Oszillatoren ihrerseits Relationen errechnen und die zeitlichen Horizonte dementsprechend diversifiziert werden und sich über Aj, Ak, Al, … verteilen. Die Synchronisation einer Vielzahl von Beobachtungen kann jedoch auch in einem einzelnen Beobachter Ab fokussiert sein. Wenn mehrere Objekte zugleich beobachtet werden und wenn der Beobachter Fb dabei eine Identität zwischen einem Objekt 〈Oa〉 = Ba einerseits und der Relation weiterer Objekte Bg,h andererseits feststellt, spricht Glanville von einem komplexen Objekt.30 Seine Beobachtung Bkomplex dient dazu, die Beobachtung vieler anderer Objekte zusammenzufassen. Damit können zum Beispiel die retinalen Vorgänge beschrieben werden, die sich als ein Beziehungsgefüge identifizieren lassen. Seine Visualitätsdifferenz lautet Bkomplex / Ab. Mit ihm liegt eine Gleichzeitigkeit in einer möglicherweise sehr weitläufigen attentionalen Einheit im dargelegten Sinne vor. Es ist allerdings nicht sicher gestellt, dass die Beobachtungsstruktur durchgängig von etablierten Einheiten gekennzeichnet ist. Viele andere Konstellationen sind möglich. Wenn keine Relationen oder Komplexe zwischen einzeln beobachteten Objekten errechnet werden, ist das Universum durch distributive, lokale Synchronisationen bestimmt. Eine umfassende temporale Ordnung wird sich hier nicht etablieren können. Ebenfalls nicht auszuschließen ist der Fall einer Hybridisierung temporaler Verhältnisse, in dem in größeren Komplexen Gleichzeitigkeiten stabilisiert werden und in dem in lokalen Bereichen singuläre Systembildungen auftreten und wieder verschwinden. Es wird deutlich, wie die Gegenwart eines Systems durch die Gleichzeitigkeit der Objektbeobachtungen entfaltet wird, in der sich zugleich temporale Horizonte eröffnen, die als Funktion des beobachtenden Objekts auftreten.

Modellieren Ohne näher auf die Frage einzugehen, wie die Zeit an der variierenden Intensitätsschwelle mittels des Implikationswerts und der Oszillation initialisiert wird, kann festgehalten werden, dass die Relationen und die temporalisierte Struktur replikativ arrangiert werden. Sie ergeben sich aus einer Verrechnung von Xa ∗ Xb, Xg ∗ Xb, Xh ∗ Xb, mit der sich die auf

formulation of the nature of the Objects in our Universe. This is a direct contrast with the work of most philosophers who invent a special class of inhabitants in their Universe, in order to account for these sorts of computations, called relationships.« (Glanville 1975: 100) 30. Die Schreibweise »Bg,h« zeigt an, dass zwischen den angegebenen Objektbeobachtungen Bg = 〈Og〉 und Bh = 〈Oh〉 eine Relation ermittelt wird, ohne sie näher zu benennen. In dem hier vorliegenden Fall sind alle möglichen Relationen zulässig. 141

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die Beobachtungen zurückzuführenden Systeme oberhalb der Schwelle stabilisieren. Sie gleiten auf der Intensität wie der Surfer, der eine Welle zum Absprung nutzt, um von einer anderen wieder aufgefangen zu werden, und der die unabschließbare Differenzierung der Wellenkämme durch eine eigene Differenz begrenzt. Solange die Oszillation anhält, zieht sich diese Grenze weiter und kommt immer wieder auf sich selbst zurück. Die Aufmerksamkeit als eine kognitive Funktion oder Fähigkeit zu begreifen, mit der man sich in einem gegebenen Raum und in einer vorgängigen Zeit orientiert bzw. mit der man sich über Wasser hält, würde ihren entscheidenden Punkt verfehlen. Die in den Beobachtungssequenzen reproduzierte Visualitätsdifferenz Ba / Ab und die explizierenden, visuellen Systeme hängen von der Replikation ab und bleiben letztlich von der Intensität gekennzeichnet: »In dem Augenblick, in dem sie sich in einem System explizieren (ein für allemal), bezeugen die differentiellen, intensiven oder individuierenden Faktoren ihre Beständigkeit in der Implikation« (Deleuze 1992a: 322). Die Aufmerksamkeit ist intensiv variiert und koordiniert zugleich die Visualitätsdifferenz und damit das System/Umwelt-Verhältnis visueller Systeme. Dies bleibt weiterhin zu berücksichtigen. Sicherlich ist es möglich, Distinktionen vorzunehmen und attentionale Beobachtungverhältnisse herzustellen. Sie werden jedoch nicht einfach gesetzt oder gezeichnet, sondern verlangen im Wesentlichen eine Morphogenese. Zunächst muss eine geeignete Intensität gefunden werden, die distinguierende Schwellen mit sich führt und daraufhin den Beobachtungen gestattet, sich zu verflechten. Wenn zum Beispiel das Grunzen und das Schreien in eine Stimme münden und sich schließlich eine ausgedehnte Artikulation bildet, wird eine solche Morphogenese vollzogen. Sie nutzt eine replikative Differenz und findet eine Regulation und ein Gleichmaß, die reproduzierfähige Objektbeobachtungen ermöglichen. Der Unterschied zwischen dem Modus – in diesem Fall dem Modus des Anstimmbaren oder Hörbaren – und der Aufmerksamkeit liegt darin, dass die Intensitätsschwelle der Stimme den Beobachtungen der Artikulation vorausgeht. Die Stimme zu finden heißt folglich, an der Schwelle oder eine Schwelle zu sein. Die Artikulation zu beginnen zieht die systemische Grenze der Beobachtungen oberhalb des intensiven Grunzens, Stöhnens, Schreiens. Der Visualitätsdifferenz eine spezifische Schwelle zu geben und sie in einer gewünschten Weise zu modifizieren, ist ebenfalls möglich: Das Sehen wird in einem intensiven Element generiert, das Distinktionen induziert, lokale Stabilitäten ausbildet und die dem Sehen zugehörigen Beobachtungen arrangiert. In ihm findet das modulierende Sichtbarmachen statt, durch das sich die regulierte Aufmerksamkeit von Bildern auszeichnet. Obwohl das Sichtbarmachen zunächst verlangt, ein intensives Feld, einen intensiven Bereich oder ein intensives Element zu finden, unterliegt es nichtsdestotrotz einigen Restriktionen. Sie müssen einge142

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halten werden, damit das Sichtbarmachen und nicht irgendeine diversifizierte Sichtbarkeit expliziert wird. Das Sehen in Bildern ist keinesfalls beliebiges Sehen. Nach den bisherigen Ausführungen steht fest, dass mit dem Sichtbarmachen, insoweit man es als eine das Sehen instruierende Modulation begreift, erstens eine Morphogenese von Objekten und zweitens eine darauf aufbauende Regulation des Sehens einhergeht. Drittens wird man auf die Synchronisation aller relevanter Oszillationen nicht verzichten können, da anderenfalls die erzielte Regulation und mit ihr die Explikationsfunktion zusammenbräche, die es erst erlaubt, vom Sichtbarmachen zu sprechen. Da mit einer einfachen Fremdbeobachtung die Visualität eines optischen, projektiven Systems beschrieben werden kann, wird man annehmen müssen, dass sich das Sehen in Bildern von einer Regulation nicht wird erfassen lassen, die nur durch zwei Objekte konfiguriert wird. Die Bedingung dafür lautet, dass weitere Objekte ausschließlich nach Maßgabe der Visualitätsdifferenz hinzutreten können. Jedes am Sehen in Bildern beteiligte Objekt muss sich in das Arrangement einordnen (vierte Restriktion), in dem das Sehende (ein Sehendes Ab) und das Gesehene (ein Gesehenes Ba) aufeinander bezogen sind – wie kompliziert sie auch immer sein mögen. Das Sehen (ein Sehen) gibt es nur, wenn ihre Korrespondenz phasenweise gelingt. Um es zu strukturieren, gilt nach wie vor: »[…] each observation is made only by one observer, of one Object. Thus, each observation is unique, and, leading to a behaviour (and an awareness), it is made only of the observer and the Object. Thus, an observation cannot, in itself, be observed by any observer other than that which makes it, and observation cannot be transmitted.« (Glanville 1975: 91) Um die Attentionalität des Bildersehens zu beschreiben, genügt die mittels der bisher vorgestellten Beobachtungsmöglichkeiten erzielbare Struktur nicht. Den ersten Schritt zu ihrer Analyse geht die Ersetzung von Objektbeobachtungen durch andere Objektbeobachtungen. Das heißt, ein beobachtendes Objekt 〈Ob〉 kann ein Objekt 〈Om〉 an Stelle eines anderen Objekts 〈On〉 beobachten – anders formuliert: 〈Ob〉 setzt eine Objektbeobachtung an die Stelle einer anderen Objektbeobachtung. Dies erfordert eine Beziehung zwischen den beiden Fremdbeobachtungen. Falls der Beobachter eine Relation zwischen den zwei beobachteten Objekten festgestellt hat Bm,n, ist es möglich, das eine Objekt unter der Bedingung dieser Relation als Modell des anderen Objekts zu beobachten. Dem Ersetzungsvorgang liegt eine Modellbildung zu Grunde: »A Model is an Object placed in the role of a Model to another Object by an observer. By being placed in this role, an Object becomes a surrogate Object to another Object« (ebd: 49). Ein Modell 〈Om〉 = Bm = Mm wird von einem Objekt beobachtet, das erstens ein weiteres Objekt beobachtet Bn, das zweitens zwischen beiden eine Relation feststellt Bm,n und das es 143

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drittens in die Rolle des Modells Mm versetzt. Die errechenbaren Relationen erlauben drei Modelltypen zu unterscheiden: Ein Interior Model M . liegt vor, wenn die zu ersetzende Objektbeobachtung Bn das Surrogat logisch impliziert. Wenn umgekehrt das Surrogat Bm die zu ersetzende Objektbeobachtung umfasst, spricht Glanville von einem Anti-Model M. Beruht das Modell auf einer Identität, hat man es schließlich mit einer Language oder Description D zu tun.31 〈On〉 = Bn ← Bm = 〈Om〉 = M . m (Interior Model) 〈On〉 = Bn → Bm = 〈Om〉 = Mm (Anti-Model) 〈On〉 = Bn ↔ Bm = 〈Om〉 = Dm (Description) Welche Relationen errechnet und welche Ersetzungen mit ihrer Hilfe vorgenommen werden, muss für ein weiteres Objekt genau so verborgen bleiben wie jede einzelne Fremdbeobachtung, aus denen sich die Relationen zusammensetzen. Aus diesem Grund muss auch die Schlussfolgerung abgelehnt werden, die Glanville durch den Ersetzungsvorgang ermöglicht sieht: »by use of a surrogate Object, Communication is possible« (ebd.: 42). Er argumentiert, dass die Beobachtung eines Objekts durch ein anderes zwar nicht wieder beobachtet, dass das Ersetzen von relationierten Verhaltensweisen Bm,n,p jedoch von zwei Objekten 〈Ob〉 und 〈Oc〉 parallel geleistet werden kann. Dieses Verhältnis nutzen die beiden Objekte zu einem Austausch ihrer jeweiligen Beobachtungen. Woher weiß der zweite Beobachter, so muss man fragen, welche Objekte der erste Beobachter beobachtet und auf welche Weise er das eine durch das andere Objekt ersetzt, um damit seinerseits weiter operieren zu können? Einen »listening observer« (ebd.) anzunehmen, führt auf attentionalem Niveau nur zu Konfusionen. Gewiss kann der zweite Beobachter 〈Oc〉 das ersetzende Objekt des ersten Beobachters 〈Om〉 = Dm beobachten und es seinerseits durch ein drittes Objekt 〈Op〉 = Dp ersetzen, das der erste Beobachter wiederum mit seiner ersten Fremdbeobachtung Bn vergleichen kann. Dies ist möglich, insofern ihm dieses Objekt noch zur Verfügung und alle nötigen Synchronisationen offen stehen (Bn,p).32 Was hingegen nicht beobachtet werden kann, ist

31. Die hier verwendete Notation weicht von Glanvilles Schreibweise ein wenig ab. Dies hat allein typografische Gründe. Zur Zuweisung von Modellen durch einen Beobachter vgl. Glanville 1975: 49-53 und 98 f.; hier nennt er den dritten Typ noch Language. Den Begriff Description verwendet er in 1980: 307. Aus der Disjunktion Bm ∨ Bn und der Konjunktion Bm ∧ Bn einen Modelltyp abzuleiten, ist nicht möglich, da die Modellierung den konsistenten Schluss vom Modell auf die modellierte Objektbeobachtung erfordert. 32. Vgl. zu den Phasen der Modellbildungen und der Vergleiche zwischen den Objektbeobachtungen Glanville 1975: 43 f.; hier sind nur identische Relationen und dementsprechend Modelle des Typs D vorgesehen. 144

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die Ersetzungsfunktion des jeweils anderen Beobachters selbst, da sie ausschließlich in den Kompetenzbereich der originären Beobachter fällt. Es nützt folglich weder etwas, wenn der zweite Beobachter 〈Oc〉 = Ac das modellierte Objekt 〈Om〉 = Bm des ersten Beobachters beobachtet, noch nützt es etwas, wenn der erste Beobachter 〈Ob〉 = Ab zwischen seinem ersten, ersetzten Objekt und dem dritten Objekt auch noch eine identische Beziehung entdeckt (Bn ↔ Bp).33 Ein Objekt weiß erstens nicht, welche Objekte ein anderer Beobachter beobachtet, und es weiß zweitens nicht, wie die beobachteten Objekte beobachtet werden. Daher wissen sie nicht voneinander, dass überhaupt Modellierungen vorgenommen wurden. Mit den errechneten Werten (Dm / Ab ; Dp / Ac ; Bn,p / Ab) bleibt jede Form des Austauschs oder der Übertragung (Glanville spricht von transmission) und der darauf aufbauenden Konversation oder Kommunikation ausgeschlossen. Um sie zu konzipieren, wird man einen anderen Weg einschlagen müssen. Bedauerlicherweise lässt der Ersetzungsvorgang die Frage unbeantwortet, wie sich die Modellierung inklusive der Rollenübernahme B = M von den errechneten Relationen unterscheidet. Kann jedes in einer Relation stehende Objekt die mit ihm relationierte Beobachtung ersetzen bzw. durch sie ersetzt werden? Demnach wäre Bm bspw. nicht nur das interne Modell M . von Bn, sondern Bn zugleich das Antimodell M von Bm – wie es scheint, eine wenig sinnvolle und praktikable Konstruktion. Die Richtung der Modellierung muss klar zugewiesen werden können und für die Zuweisung müssen klare Bedingungen gelten. Man wird dann zwar immer noch nicht ausschließen können, dass sich verschiedene Objektbeobachtungen gegenseitig ersetzen, so wie eine architektonische Skizze als Modell für einen Bauplan und der Bauplan umgekehrt als Modell für die Skizze dienen kann. Sie fungieren jedoch nicht allein kraft ihrer Beziehung als Modell. Bedeutet das Ersetzen einer Objektbeobachtung nicht, die zu ersetzende Beobachtung in einer anderen Beobachtung aufzuheben? Bedeutet die Ersetzung folglich nicht, dass der Beobachter dem Modellobjekt das Potenzial zuweist, in seiner Fremdbeobachtung zugleich die Beziehung zu einer anderen Fremdbeobachtung auzuweisen, ohne auf diese Fremdbeobachtung aktuell angewiesen zu sein? – »Relationships are often built with the intention of avoiding direct action on one of the observed Objects. When this is so, one has constructed a representation« (Glanville 1980: 306). So unterhält ein architektonisches Modell zum Beispiel eine Beziehung zu einem Gebäude, das noch nicht gebaut wurde. Dies bedeutet nicht, dass die Funktion der Modellierung in der Vorwegnahme liegt, da das Modell ein Modell bleibt, wenn das Gebäude errichtet wurde, und es

33. Vgl. hierzu auch Glanville 1996: 448 f. 145

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auch dann die Funktion noch erfüllt, wenn es nachträglich angefertigt wird. Bevor eine Objektbeobachtung ersetzbar wird, muss eine Modellierung vorgenommen werden, deren Aufgabe darin besteht, ein Objekt als ein qualifiziertes Modell zu bestimmen, das seinerseits die transformierende Operation des Ersetzungsvorgangs, des role taking gestattet. Somit gilt: Wenn sich ein beobachtbares Objekt 〈Om〉 = Bm dazu eignet, an die Stelle einer anderen Fremdbeobachtung Bn zu treten, genügt die Beobachtung des Modells, um auf die Beziehung zu dem zu ersetzenden Objekt zu schließen. Mit anderen Worten, ein beobachtetes Objekt 〈Om〉 gilt dann als Modell Mm = Bm, wenn es als ein einzelnes Objekt in Beziehung beobachtet wird (mit dem Modell M als M . , M oder D ). Es ist ein unter dem Gesichtspunkt des Beobachters strukturreiches Objekt. Wie kann man eine solche allgemeine Regulation, die ersetzbare Fälle instantiiert, wie kann man ein solches symbolisches Prinzip erklären?34 Geht man von der Temporalität der Objekte aus, ergeben sich interessante Schlussfolgerungen für die Unterscheidung der modellfreien und der modellierten Relationen. Die Prämisse besteht im Oszillieren der beteiligten Objekte, über das die Relation zwischen den Objektbeobachtungen Ba,c bzw. Bm,n ermittelt wird und das die jeweilige Beobachtbarkeit belegt. Dies bedeutet für den einfachen, modellfreien Fall, dass das beobachtende Objekt 〈Ob〉 seine Replikationen zwar miteinander in Beziehung setzt (Xa ∗ Xb, Xc ∗ Xb); genauer müsste man sagen, dass das beobachtende Objekt relational repliziert wird. Die jeweiligen Verknüpfungen selbst werden aber nicht miteinander verknüpft oder aufeinander abgestimmt. Das Zustandekommen der Relation Ba,c betrifft nur Ab. Wie der Beobachter mit einem der beiden Objekte verfährt [(Xa)Fb], steht nicht unter dem Einfluss der Verfahrensweise mit dem anderen Objekt [(Xc)Fb], sodass es für die beobachteten Objekte keinen Unterschied macht, ob sie einzeln oder in Relation beobachtet werden. Anders liegt der Fall, in dem sich die Fremdbeobachtung eines Objekts [(Xn)Fb] auf Grund der Beobachtung eines anderen Objekts [(Xm)Fb] erübrigt. Wenn 〈Ob〉 mittels Mm auf Bn schließen kann, muss

34. Vielleicht ist es hilfreich zu betonen, dass es dabei ausschließlich um attentionale Konfigurationen und nicht um Semiotik und somit auch nicht um Zeichen geht. Gleichwohl beschäftigt sich auch die Semiotik mit der Regulation von Objektbezügen, so dass ein enger Dialog nicht ausgeschlossen werden kann – etwa auf Grund folgender Aussage: »Ein Symbol ist ein Repräsentamen, dessen repräsentierende Eigenschaft darin besteht, eine Regel zu sein« (Peirce 1983: 158). Auch die zahlreichen Hinweise Glanvilles zur Linguistik und zur Zeichenstruktur belegen den diskussionswürdigen Zusammenhang (z.B. ders. 1988: 68 f. und 1996), der sich jedoch nicht so leicht herstellen lässt, wie es zunächst scheinen mag. Aufschlussreich hierfür ist die Überlegung von Peirce zum Begriff des Objekts (vgl. ders. 1983: 61). 146

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ein wirksamer Zusammenhang zwischen den Verknüpfungen Xn ∗ Xb und Xm ∗ Xb bestehen, der es erlaubt, mit der Beobachtung von 〈Om〉 etwas über die Beobachtung von 〈On〉 zu erfahren. Sicherlich löscht die Ersetzung Bm = Mm weder das Objekt 〈On〉 noch seine Modellvorrichtung Xn oder das Fremdbeobachten [(Xn)Fb] aus. Die Beobachtbarkeit von 〈On〉 bleibt unangetastet und steht allen Objekten zur Verfügung, wenn seine Distinktion im Universum vorgehalten wird und die Synchronisation mit ihr gelingt. Die temporalen Bedingungen für Xn ∗ Xb dürfen nicht umgangen werden, da anderenfalls jede Replikation ausbliebe. Daraus folgt: Insoweit die äußere Beobachtung des Modells Mm = Bm genügt, um beobachterseits Fb auf die vakante Beobachtbarkeit [(Xn) ] schließen zu können, wird 〈Ob〉 in jeder Phase, in der es mit 〈Om〉 = Mm synchronisiert ist, ebenfalls mit 〈On〉 synchronisiert sein müssen. In der vom beobachtenden Objekt 〈Ob〉 initialisierten Gleichzeitigkeit wird über die Modellbeobachtung ein Zeitfenster geöffnet, das die Phasen von 〈Ob〉 syn. 〈On〉 rahmt. Das Modell übernimmt demnach eine zeitbindende Funktion für seinen Beobachter. Wichtig festzuhalten ist nun, dass diese Funktion nicht allein für Bn zur Verfügung steht. Das Zeitfenster öffnet sich für alle Objektbeobachtungen, die die zeitbindende Funktion erfüllen, das heißt: die synchronisierbar, relationierbar und replizierbar sind. Ob die Präsenz eines zu ersetzenden Objekts bestimmt werden kann oder nicht, ob es also anwesend oder abwesend ist, spielt für das Modell letztlich keine Rolle. Es behält auch dann seine Funktion, wenn das andere Objekt gerade nicht beobachtet wird oder nicht mehr beobachtet werden kann. Ein Modell zu beobachten funktioniert auch unter mutmaßlichen Gesichtspunkten. Die Beobachtung eines Objekts als ein Modell produziert eine ausgedehnte Gleichzeitigkeit, in der ein zu ersetzendes Objekt potenziell mitschwingt. Ein einzelnes, in Beziehung gesetztes Objekt 〈On〉 = Bn zu ersetzen ist demnach ein Anwendungsfall einer allgemeineren Funktion, die für dieses eine Objekt gilt. Das Modell steht an der Stelle eines jeden Objekts, für das es zu stehen vermag. So wird deutlich, dass die Modellierung symbolisch verfährt.35 Aus der konstatierten Funktion leitet sich eine folgenschwere Frage ab, die die bisherige Argumentation in einem neuen Licht er-

35. Charles Morris weist in Das Symbolkonzept (1927) ebenfalls darauf hin, dass eine Relation noch nicht genügt, um von einem Symbol sprechen zu können. Dem Behaviorismus hält er vor: »Lediglich die Tatsache, daß ein sekundärer Reiz die Reaktion hervorruft, die auch ein primärer Reiz hervorrief, macht diesen sekundären Reiz noch nicht zu einem Symbol des primären Reizes« (ders. 1975: 83). Morris diskutiert insbesondere den Unterschied zwischen dem bloßen Ersetzen des einen durch das andere und dem effektiven, symbolischen Einstehen. Bemerkenswert an seinem Aufsatz ist die Diskussion des Symbols unter Beobachtungsbedingungen. 147

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scheinen lässt. Wenn nicht nur Bn, sondern ebenfalls alle anderen Fremdbeobachtungen, die sich in geeigneter Weise zu Bm in Beziehung setzen lassen, ersetzt werden; wenn sich sogar solche Objektbeobachtungen ersetzen lassen, die noch nicht in Beziehung gesetzt wurden: Was bedeutet dann der Ersetzungsvorgang? – Man muss genau beachten, auf was sich die Modellierung bezieht. Sie ersetzt weder das beobachtete Objekt, noch ersetzt sie die aus der Relation entlassene, separierte Fremdbeobachtung. Die Modellbeobachtung macht keine direkte Aussage über die Objektbeobachtung Xn ∗ Xb. Denn eine Objektbeziehung mit einem Modell zu erfassen bedeutet nicht, eine Model Facility oder einen Implikationswert oder einen diese äußere Beobachtung koordinierenden Replikationswert zu ersetzen. Das Modell bezieht sich ausschließlich auf die Relation zu einer anderen Objektbeobachtung. Das heißt, ein Modell zu beobachten repliziert genau die (potenzielle) Relation, die das beobachtende Objekt zwischen dem Modell und einer es erfüllenden Fremdbeobachtung errechnen würde. Solange ein Objekt (als Modell) beobachtet wird [(Xm)Fb], gewährleistet es die dauerhafte Wiederholung einer selbst nicht errechneten Beobachtungsrelation. In die attentionale Struktur wird eine Regulation eingeführt, die in einer strikten zeitlichen Abhängigkeit die Regelmäßigkeit einer potenziellen, relationierten Fremdbeobachtung einschließt.36 Die Modellierung hängt von der Replikation ab. Dabei kommt es nur in zweiter Linie auf die in Beziehung gesetzten und ersetzten Fremdbeobachtungen an. Für die symbolische Funktion des Modells Mm ist entscheidend, dass es die dem Modelltyp gemäße Relation zu einem anderen Objekt ausweist Mm = Bm,n. Der Replikationswert von Xm ∗ Xb sagt gewissermaßen den Replikationswert von Xn ∗ Xb unter Strukturbedingungen voraus. Die replikative Modellbeobachtung genügt dem beobachtenden Objekt 〈Ob〉, um an genau der Replikation teilzunehmen, der es durch andere Fremdbeobachtungen zugleich unterzogen werden würde. Ohne auf Xn angewiesen zu sein, wird die Aufmerksamkeit in einer Weise strukturiert, dergemäß die Oszillation und die Replikation

36. Dies entspricht weitestgehend der Funktion der »Wiederkehr eines Ursprungsreizes«, auf den in der Vergangenheit reagiert wurde, der aber keineswegs »beibehalten und von Zeit zu Zeit hervorgebracht wird«, sondern durch einen stellvertretenden Reiz substituierbar ist. Dieser Funktion steht das aktuelle Erleben des Reizes gegenüber, auf den es ebenfalls zu reagieren gilt – eine Reaktion jedoch, die dem Erlebenden vorbehalten bleibt. Beide Aspekte müssen laut Morris vorhanden sein, um berechtigterweise von einem Symbol sprechen zu können. Er definiert: »Ein Symbol ist irgendein gegebener oder erfahrener stellvertretender Reiz, der zu einer Wiedereinsetzung des Ursprungsreizes in einer Form führt, die nur von der selbst-inklusiven Ansicht aus beobachtbar ist. […] Jede Gegebenheit kann diese symbolische Funktion übernehmen« (vgl. Morris 1975: 89-92). 148

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des Modells die gleichen Werte für B und für A produziert, die die zulässigen Relationierungen hervorbrächten. Die Funktion des Modells besteht darin, das beobachtende Objekt zur Explikation eines einsetzbaren Objekts zu leiten, dessen Relation während der Modellbeobachtung attentional konfiguriert wird (Bm,n / Ab = Mm / Ab). Somit wird ein Beobachter in die Lage versetzt, auf die äußere Beobachtung von 〈On〉 zu verzichten. Man kann die Ausführungen zur temporalen und zur replikativen Funktion des Modells abkürzen; für das Beobachtungsobjekt 〈Ob〉 gilt demnach: Xµ ∗ Xb Ñ Xn ∗ Xb, Xm ∗ Xb Ñ bedeutet: gleich zur gleichen Zeit des Beobachters. Ein Objekt, das von einem anderen Objekt als Modell beobachtet wird Bm = Mm, soll im Weiteren mit dem Buchstaben µ angezeigt werden, sodass gilt: 〈Om〉 = Bm = Mm = Bµ = 〈Oµ〉; daraus ergibt sich auch die Modellvorrichtung Xµ. Wahlweise kann ein als Modell beobachtetes Objekt 〈Oa〉 auch folgendermaßen ausgedrückt werden: 〈Oa〉 = Ba(M) = Ma. Der Ausdruck für die Verknüpfung der Modellvorrichtungen beantwortet noch nicht die Frage, wie die Beziehung zu einem nur potenziell vorhandenen Objekt die Aufmerksamkeit strukturieren kann. Unter der Bedingung, dass die Objekte entweder in ihrem Universum oszillieren und Beobachtungen vornehmen oder dass es sie nicht gibt (weder für sich noch für einen anderen Beobachter), kann von einem potenziellen Objekt nur schwer gesprochen werden. Da die Relation zu ihm selbst nicht hergestellt werden kann, bleibt nur ein prüfender Blick auf die Replikation des Relationierens, die durch die Modellierung ins Werk gesetzt wird. Für den Fall einer modellfreien Relation verläuft die Strukturierung über die Modellvorrichtung des beobachtenden Objekts in Richtung der relationierten Fremdbeobachtungen, die aufeinander abgestimmt werden. So wie es in der Kompetenz des beobachtenden Objekts 〈Oi〉 liegt, die Dauer des Vergleichs zwischen seinen Fremdbeobachtungen Bg und Bh zu variieren, um daraus bspw. Konjunktionen und Disjunktionen zu ermitteln, so liegt es in den replikativen Passungsleistungen seines Implikationswerts Xi, in der Vergleichszeit Strukturen auszubilden. Ihnen verdanken sich die Relationen zwischen Bg und Bh – oder besser: sie sind diese attentionale Strukturierung –, der sich Xi gleichzeitig mehrfach unterzieht. Demnach ist der in der Gleichzeitigkeit des Beobachters aufgespannte Vergleichszeitraum für Bg,h eine Sache der Struktur und die Struktur ist von Anfang an temporalisiert. Die Relationen resultieren aus dieser Aufmerksamkeitsspanne des Beobachters Fi. Zwei einzeln vorgenommene, beziehungslose Fremdbeobachtungen werden nicht in diesem Maße strukturiert, auch wenn sie vom gleichen Beobachter synchron durchgeführt werden. Seine Replikationen stehen in keinem unmittelbaren Wirkungszusammenhang. 149

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Beim Errechnen der Relationen hingegen werden die Fremdbeobachtungen nicht allein parallel reguliert, die Regulationen werden ihrerseits reguliert. Der Regulation einer Regulation obliegt es, den Vergleich zu beginnen und abzubrechen, die Regulation von Xg ∗ Xi durch die Regulation von Xh ∗ Xi zu restrukturieren und schließlich ein Beziehungsmuster aufzubauen. Die Restrukturierung bringt zum Ausdruck, dass über die Modellvorrichtung des relationierenden Objekts 〈Oi〉 mehrere Replikationen vermittelt werden. Auf diesem Wege beweist sich die variable Replikation des Beobachters. Die Regulation der Regulation fällt mit der Variabilität seines Replikationswerts zusammen. Im Fall der Modellierung leistet die Replikation von Xµ ∗ Xb genau dies: Ihr Wert entwirft eine Struktur, die eine Fülle von relationierten Fremdbeobachtungen expliziert, ohne auch nur ein einziges erfüllendes Objekt gefunden haben zu müssen. Man kann bei dieser Form der regulierten Regulation von der Einführung eines Regulators sprechen, der die Reichweite der Modellierung variabel festlegt. Der Regulator erübrigt rückblickend sowohl die errechnete Relation, die vielfach nicht ermittelbar ist, als auch den Ersetzungsvorgang, weil nichts vorhanden ist, das ersetzt werden könnte. Stattdessen muss man dazu übergehen, die Beziehung zu einem ›zu ersetzenden‹ Objekt allein aus den mit der Modellierung einhergehenden Strukturierungsmöglichkeiten heraus zu begreifen. Durch den Regulator wird nichts ersetzt und nichts substituiert. Während die einfache Verknüpfung zweier Implikationswerte Xn ∗ Xb eine Regulation entwirft, die ihrerseits reguliert werden kann – was nichts anderes bedeutet als Relationen Xn ∗ Xb, Xm ∗ Xb zu errechnen –, entscheidet der Regulator von Xµ ∗ Xb über die Variabilität der Replikationswerte. Auf diese Weise koordiniert er die Aufmerksamkeitsspanne eines Systems. Daher kann der Regulator nicht als ein eigenes System begriffen werden: weder als ein von außen applizierbares und steuerndes System noch als ein Subsystem innerhalb eines visuellen Systems, das die Zustände seines Zielsystems (bzw. die Zielzustände seines Systems) dank mehr oder weniger effektiver Homomorphismen programmiert. Der Regulator ist vielmehr die ebenso koordinierende wie virtuelle Instanz von Beobachtungskapazitäten, mit denen die variable Handhabung der Visualitätsdifferenz ins System eingeführt wird. So können zum Beispiel die sensomotorischen Verengungen und Erweiterungen der Pupille 〈Oa〉 als ein Modell beobachtet werden, dessen äußere Beobachtung Fb die möglichen Grade des Lichteinfalls erfasst. Sie repliziert die Variabilität der Visualitätsdifferenz Ba(M) / Ab, wobei Ba(M) = Bµ die regulierbare Schwankungsbreite der Helligkeit strukturiert, ohne dass zugleich jeder einzelne dieser Helligkeitsgrade tatsächlich realisiert werden müsste, um die Wirksamkeit des Modells zu bezeugen. Da die Regulation nicht alle Helligkeitsgrade erreicht, in die das System versetzt werden kann, liegt ein inneres Modell M . vor. 150

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Einem Objekt die Rolle des Modells zuzuweisen, eröffnet die Möglichkeit, verschiedene Zustände für die Visualitätsdifferenz operabel zu halten. Das bedeutet nichts anderes, als dass das auf attentionalem Niveau arrangierte System mit der Einführung der Modellierung vermittels eines Regulators Zugang zu seiner eigenen Information erhält.37 Das Oszillieren der Objekte wählt intensiv induzierte Wahrscheinlichkeitszustände. Auch die Abstimmungen zwischen der linken und der rechten Retina beim binokularen Sehen unterliegen einem solchen Regulator, der dafür zuständig ist, die Verschiebungen der Disparation zu organisieren. Die Modellierung reguliert ein zulässiges Maß der Abweichung und führt sie zusammen. Da ihr Regulator die kombinierbaren Abweichungen miteinander identifiziert, ist das beobachtete Modell eine Beschreibung D. Genau genommen beschreibt es ein komplexes Objekt, das die Disjunktion der disparaten Sinneseindrücke fokussiert. Vergleichbar mit dem weißen Licht ist die Farbigkeit ebenfalls ein als Modell beobachtbares Objekt. Gewiss ist es nicht in dem physikalischen Sinne weiß, nach dem das weiße Licht ein umfangreiches Farbspektrum beherbergt. Denn auch das Weiß unterliegt der Explikationsfunktion des Sehens und ist nur ein möglicher Zustand des visuellen Systems, der keinen anderen Zustand impliziert. Man sieht weder den Ausschnitt eines Spektrums noch alle Farben zugleich, wenn das Modell beobachtet wird. Vielmehr werden immer nur einzelne, jeweils induzierte Erfüllungszustände für Bµ erreicht. Demgemäß hat man es mit einem Antimodell M zu tun, das eine bestimmte Variationsbreite zulässt und die Beobachtung bereits gesehener und neuer Farben zugleich gewährt. Die drei Beispiele genügen, um deutlich zu machen, dass das Sehen kaum auf einen Regulator verzichten kann. Daher muss das mindeste visuelle System in Ergänzung der vorherigen Ausführungen nun mit Bµ / Ab angegeben werden. Ein Modell zu finden führt mit einem Mal eine temporalisierte Struktur ein, in die Relationen zu ›allen möglichen‹ Objekten eingefasst sind – was nur heißen kann: zu allem, was im Sinne des Modelltypus replizierbar ist. In Abhängigkeit von M . und M bzw. D werden homomorphe bzw. isomorphe Strukturierungsmöglichkeiten der Visualitätsdifferenz eröffnet, die von einer einzigen Replikation ausgehen und auf sie zurückbezogen werden.38 So erscheint auf verschiedene Weise die

37. Hier besteht eine Verwandtschaft mit dem Law of Regulatory Models (Conant und Ashby): »Every good regulator of a system must be (contain) a model of that system« (vgl. Krippendorf 1986). 38. Zur problematischen Unterscheidung von homomorphen und isomorphen Modellen vgl. Glanville 1980 und 1982. Die Unterscheidung ist deswegen problematisch, weil Glanville dem isomorphen Modell einerseits eine Vereinfachung der ›zu ersetzenden‹, präfigurierten Objektbeobachtung attestiert, was ungewöhnlich genug ist. Andererseits 151

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Variation des Systems im System, ohne dem System selbst zu erscheinen. Weder wird das Gesehene noch wird das Sehende variiert, sondern einzig die Struktur dessen, was sie koordiniert. Da das Modellobjekt individuell ist, über einen Implikationswert verfügt und wie jede andere ins Oszillieren gebrachte Distinktion von der Intensität abhängig bleibt, explizieren das helldunkle, das divergierende und das farbige Sehen weiterhin die Sichtbarkeit, die unabsehbar und mit aller Macht hervortritt: Wie weitreichend ist die Modellierung? Reagieren meine Pupillen schnell genug, sodass ich nicht geblendet werde oder die Welt sich für einen Moment, für einen entscheidenden Moment verfinstert? Sind die retinalen Projektionen noch abgestimmt oder verliere ich mich schon in meinem irritiert irrenden Blick? Wie kann mich mein zu helles und zu dunkles, mein divergierendes Sehen in der es implizierenden Sichtbarkeit einrichten und wie lange bleibt die explizierende Systemgrenze oberhalb der Intensitätsschwelle stabil? Die Modellierung markiert nicht allein ein distinktes Objekt, das vom Beobachter als ein anderes unterschieden wird. In ihrer Unterscheidung scheint zudem die Differenzierung einer Vielheit von potenziellen, variablen Objektrelationen auf. Insoweit die Modellierung das unsichere Aufscheinen der Relationen als (Un-)Wahrscheinlichkeit verfügbar macht, wird die Intensität in das System – und zwar als Information – überführt. Man kann von einer Variplikation sprechen, von einer Sonderform der Replikation, die das offene Modulieren der Sichtbarkeit ausdrückt. Neben der Modellierung sind weitere Formen der Replikation möglich. Das komplexe Objekt wurde gerade erwähnt. Wenn ein Objekt als ein komplexes Objekt beobachtet wird, soll es als 〈Oκ〉 indiziert werden. Wahlweise ist es auch möglich, ein beobachtetes Objekt 〈Oa〉, das von seinem Beobachter die Rolle des komplexen Objekts K zugewiesen bekommt, mit 〈Oa(K)〉 zu benennen. Es liegt dann vor, wenn seine äußere Beobachtung Bκ identisch mit der Relation zwischen anderen, vom gleichen Beobachter beobachteten Objekten Bg,h ist. Das komplexe Objekt identifiziert somit die Relation zwischen zwei (oder mehr) einfachen Objekten: »The complex Object is an Object like any other in the Universe, to which the observer gives the role of complex Object in relationship to those Objects in the role of simple Objects« (Glanville 1975: 56). Die komplexe Fremdbeobachtung gestattet es erstens, die über mehr als zwei Objekte verteilte Replikation auf eine einzelne Replikation Xκ ∗ Xb zu fokussieren, und sie gewährt zweitens, einen Ausdruck für den Vergleichszeitraum der relationierenden Beobachtung zwischen 〈Og〉

erklärt er den Isomorphismus mit einer Eins-zu-Eins-Repräsentation von nur einigen, aber nicht allen Eigenschaften des präfigurierten Objekts. Wie aber kann ein fremdbeobachtetes Objekt mehr als die eine Eigenschaft B (fremdbeobachtet zu werden) für seinen Beobachter haben? 152

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und 〈Oh〉 anzugeben. Allerdings kann auf einen eigenen Vergleich nicht verzichtet werden, da zwischen dem komplexen Objekt und der Beziehung der einfachen Objekte ebenfalls eine Beziehung errechnet wird: »a Model is an Object surrogate to another Object while a complex Object is an Object which is the ›result‹ of a computation between two other Objects (simples)« (ebd.: 55). Das bedeutet, dass 〈Oκ〉 = Bκ die Beziehungen zu mehreren Objekten zusammenfasst und dass 〈Oµ〉 = Bµ sich immer nur auf ein anderes Objekt bezieht bzw. immer nur einen regulierbaren Zustand annimmt. Im Gegensatz zur Modellierung gibt es beim komplexen Objekt keinen Ersetzungsvorgang, keine erfüllende Fremdbeobachtung und keine Variplikation. Während das Modellobjekt 〈Oµ〉 einen Regulator möglicher Objektbeziehungen einführt, müssen im Komplexitätsfall alle beteiligten Objekte gleichzeitig beobachtet werden. Gleichwohl entlässt die Replikation von Komplexität den Beobachter aus der Pflicht, den weitergehenden Restrukturierungen der einfachen Objekte nachzugehen, da die Rollenzuweisung K eine bestimmte Beobachtungssequenz identifiziert und somit mögliche Restrukturierungen selegiert. Ein komplexes Objekt restrukturiert errechnete Beziehungsmuster und der Beobachter von Komplexität reguliert seine Aufmerksamkeitsspanne. Da auch dies variiert werden kann, wird man trotz des Unterschieds zwischen Bκ und Bµ den Regulator eines komplexen Objekts, wie mit dem binokularen Sehen belegt, nicht ausschließen können. Mit dem Modell eines Modells ist neben der Relation von Relationen eine weitere attentionale Form gegeben. Analog zur bereits eingeführten Konvention soll die Rolle des ersten Modells wie gewohnt mit M und die Rolle des Modells dieses Modells mit T bezeichnet werden. Das als Modell eines Modells beobachtete Objekt soll mit 〈Oτ〉 = Bτ bzw. mit 〈Oa(T)〉 = Ba(T) indiziert werden. Das Modell eines Modells ist ein Modell wie jedes andere auch, geht in einem Punkt jedoch über M hinaus. T zeichnet sich im Unterschied zum einfachen Modell dadurch aus, dass es sowohl ein Modell von M als auch desjenigen Objekts ist, das M erfüllt: »A Model of a Model is thus a Model of two Objects« (ebd.: 54). T ist durchgängig das Modell von M und seiner erfüllenden Fremdbeobachtung. Es ist nur dann das Modell eines anderen Modells M, wenn es von ihm erfüllt wird und wenn M ebenfalls erfüllt wird, wenn also beide tatsächlich als Modell gelten; dabei sind alle Typen zulässig: Sowohl M . und M als auch D können für beide Rollen genutzt werden. Die fortgesetzte Modellierung ist nicht auf zwei Schritte begrenzt. Jede Modellbeobachtung kann ihrerseits durch eine andere Objektbeobachtung im Vorhinein relationiert werden, sodass eine Serie von Modellierungen entsteht, in der jede weitere Modellbeobachtung für alle ihre vorgeordnet Erfüllenden einsteht. In einer Serie von Modellierungen ist die Zusammenfassung (compression) und die Streichung (cancellation) von geeigneten Modellbeobachtungen möglich. Wird eine Serie maximal ge153

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kürzt, resultiert daraus die Dimension aller vorgenommenen Modellierungen.39 Auf diese Weise erhält Glanville ein Instrument, mit dem sehr unterschiedliche Serien vergleichbar werden. Wie weit sie auch reichen bzw. wie umfangreich die Modellierungen auch dimensioniert sein mögen, so ändert sich doch nicht die Funktion des Modells, potenzielle Beobachtungsbeziehungen zu replizieren. Dementsprechend repliziert das Modell eines Modells potenzielle Beobachtungsbeziehungen, die ihrerseits weitere Objektbeziehungen regulieren. Verzichtet man auf die notwendige Präsenz der die Modellierung erfüllenden Objektrelationen, wie es die oben vorgestellte Interpretation tut, kann die Serie keine effektiven Anhaltspunkte mehr für die Beobachtung von 〈Oτ〉 = Bτ geben. Denn die Forderung nach einem durchgängig erfüllten Modell M macht nur noch wenig Sinn, wenn es nicht beobachtet wird. Wird ein Objekt nicht beobachtet und keine Relation dieser Fremdbeobachtung errechnet, kann es auch nicht als Modell beobachtet werden. Stattdessen geht es bei der Serialisierung (und ihren Verkürzungen) um den Umgang mit der Variabilität von Systemzuständen, die über die einfache Modellierung hinausgeht. Durch die Replikation von Xτ ∗ Xb wird der Regulator eines Regulators oder besser: ein variabler Regulator eingeführt. Er legt die Breite möglicher Zustände auf variable Weise fest. Im Unterschied zur einfachen Modellierung M geht die mehrstufige Transformation von T einen Umweg, bevor sie zum Gesehenen B führt. Sie strukturiert nicht nur einen Regulator für alle Farben oder für alle Helligkeitsgrade, sondern einen Regulator, der die Farbigkeit erst noch reguliert, bevor ein bestimmter relativer Wert das visuelle System Bτ / Ab einfärbt.40 Obwohl sich das Modell eines Modells auf zwei (oder mehr) andere Objekte bezieht, kann T bzw. das ihm zugehörige 〈Oτ〉 – im Widerspruch zu Glanville (vgl.1975: 54) – nicht als ein komplexes Objekt bestimmt werden. Denn erstens müssen die bei der Modellierung beteiligten Objekte nicht notwendigerweise gleichzeitig beobachtet werden, sondern nehmen lediglich ihren Platz im Zeitfenster des beobachtenden Objekts ein. Zweitens bezieht sich T nicht auf die Relation zwischen M und einem erfüllenden Objekt, sondern nur auf seine eigene Relation zu M, in dem die Relation zu seinem Erfüllenden vorstrukturiert wird. Auch wenn man weiterhin für die Ersetzungsfunktion votiert, ändert sich nichts daran, dass der Beobachter kein Objekt, sondern nur die Beziehung zu ihm ersetzt, die die Beobachtung des Modells M oder T aufrechterhält. Mittels der Modellbeobachtung werden lediglich die replikativen Strukturierungen vorgenommen, die mit der Relation zwischen dem erfüllenden Objekt und dem Modell hergestellt würden. Seine Re-

39. Vgl. Glanville 1975: 63-66; 1980; 1982. 40. Dementsprechend ist das einfache Modell ein nicht-variabler Regulator. 154

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plikation wird hingegen nicht vollzogen. Dies steht im deutlichen Gegensatz zum komplexen Objekt, in dessen Fall alle beteiligten Objekte im Sinne des Beobachters gleichzeitig oszillieren und beobachtet werden. Wenn die Beobachtung eines Modells genügt, um die Relation zu einem aktuell nicht replizierten Objekt zu errechnen, so genügt die Beobachtung von T, um das Beziehungsmuster von M zu errechnen, in dem eine andere Fremdbeobachtung involviert ist. Ein auf diesem Niveau koordiniertes, visuelles System Bτ / Ab wird wie schon im Fall der einfachen Modellbeobachtung variabel modifiziert. Darüber hinaus durchläuft sein Sehen eine mehrstufige Transformation, bei der das Gesehene allein durch Bτ ausgedrückt wird. Drittens schließlich ist das beobachtende Objekt nicht darauf beschränkt, T mit M zu identifizieren, das heißt, mit T eine Beschreibung (T = D) von M vorzunehmen. Ihm stehen auch das innere und das Antimodell zur Verfügung (T = M . oder T = M). Und selbst im Fall der Beschreibung von M mittels T wird nicht die vom Beobachter errechnete Relation zwischen M und seinem Erfüllenden identifiziert, sondern eben nur die den Modellbeobachtungen T und M zugerechneten Relationen (zum Beispiel: Ba,c,d = Bc(M),d = Bd(T) = D d(T)). Die Attentionalität von Bd(T) = Bτ besteht folglich nicht in der fokussierenden Beobachtung von Komplexität, sondern in der entfaltenden Beobachtung einer Beobachtungsrelation durch ein erstes Modell M und durch ein zweites Modell T hindurch. Mit dem Modell eines Modells erhält man einen Regulator in erhöhter Potenz. Insofern die Beobachtungen über ein beobachtendes Objekt 〈Ob〉 verlaufen, wird in allen replikativen Fällen jeweils ein selbes, attentionales Niveau konfiguriert. Weder das komplexe Objekt 〈Oκ〉 noch das Modell eines Modells 〈Oτ〉 setzen eine höhere Beobachtungsordnung voraus oder führen zu ihr. Kein Objekt ist privilegierter als ein anderes und kein Objekt kann als Beobachter P seiner selbst oder als Beobachter F eines anderen Objekts beobachtet werden. Da durch sie die Strukturen unter der jeweiligen Hinsicht entstehen, kann auch nicht beobachtet werden, wie das Universum für ein beobachtendes Objekt strukturiert ist. Jedes Objekt ist individuell und als Einfaches oder als Komplexes, als Modell oder als das Erfüllende eines Modells beobachtbar; dies gilt nicht minder für ein beobachtendes Objekt. Gleichwohl legt der Beobachter mit den Rollenzuweisungen eigene Prioritäten fest, wodurch er das Universum in der ihm gemäßen Weise strukturiert. Interpretiert man die Objekte der Aufmerksamkeit in einem Sinne, nach dem ihre Beobachtungen die Differenz Bµ / Ab (oder Bκ / Ab oder Bτ / Ab) von visuellen Systemen oberhalb einer Intensitätsschwelle koordinieren, entfaltet sich eine Methodologie des systemischen Strukturreichtums, ohne Vermutungen darüber anzustellen, ob die Systeme sich selbst beschreiben oder über Beschreibungen ihrer selbst verfügen und ob sie damit Zugriff auf ihre eigene Entwicklung erhalten. Stattdessen kann man dank Glanvilles ebenso schlichten wie eleganten Instrumentariums 155

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dazu übergehen, auch die Beschreibungen als eine Facette der attentionalen Strukturierung zu begreifen, die sich ausschließlich durch die Terme der Beobachtungen, der Relationen und der Modelle spezifiziert. Demnach ist die Beschreibung D nichts weiter als ein identifizierender Regulator zur Koordination von Systemzuständen.

Visualisieren Mit den vorgestellten Möglichkeiten der Replikation ist das Feld bereitet, in dem das Sichtbarmachen seine Wirkungen realisieren kann, wie das Beispiel zeigt, mit dem Nelson Goodman die symbolische Bezugnahme der Exemplifikation erklärt: Die im Musterbuch des Schneiders eingeklebten Stoffstücke stehen für diejenigen Stoffbahnen ein, aus denen sie herausgeschnitten wurden und aus denen Hosen oder Kleider genäht werden sollen. Die Muster symbolisieren einige ihrer ›stofflichen‹ Eigenschaften – »Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme« (Goodman 1995: 60) –, ohne allerdings auf jede einzelne Beschaffenheit zu verweisen. Insofern ist die Exemplifikation selektiv. Die Stoffstücke symbolisieren bspw. nicht ihre Größe, ihr rechteckiges Format oder die Tatsache, in dem Buch eingeklebt und neben anderen Mustern angeordnet zu sein. An dem Beispiel des Musterbuchs interessiert augenblicklich weder die Selektion wahrnehmbarer Eigenschaften noch die exemplifizierende Symbolfunktion des Musters. Interessant ist allein die ihnen vorausgehende Bestimmung der Farbe, die als diese eine Farbe sichtbar gemacht wird. Man sieht sie und man sieht im gleichen Zuge, dass es sich bei ihr um diese spezielle Farbe handelt. Damit expliziert das Sehen ein Sichtbarmachen, das ihm auferlegt hat, in anderen Beobachtungsphasen ein identisch Gesehenes wiederholen zu können, ohne die Symbolisierung wiederholen zu müssen. Das Sichtbarmachen besteht nicht darin, dass eine Farbe erfunden und neu zu sehen gegeben wird, dass also etwas sichtbar gemacht wird, das zuvor nicht sichtbar war. Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass man in dem Musterbuch bisher ungesehene Farben entdeckt. Aber dies allein gibt noch keinen Aufschluss über die Explikation des Sichtbarmachens, da man tagtäglich Dinge sehen kann, die man zuvor noch nicht gesehen hat – wie etwa die fettigen Fingerabdrücke auf dem Monitor –, ohne dass damit irgendeine besondere Modulation der Sichtbarkeit einherginge. Vielmehr verdeutlichen die Muster unabhängig von ihrer Neuigkeit, dass es sich bereits beim ersten Hinschauen um ein sehendes Wiedererkennen handelt: Genau dies! Insoweit ist die Exemplifikation nicht selektiv – es steht nichts zur Wahl –, sondern eindeutig. Die sichtbar gemachte Farbe ist eine Ansicht dieser Farbe. Welche attentionale Konfiguration vermag dieser Modulation die ihr entsprechende Explikationsfunktion zu geben? 156

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Die Differenzierung verschiedener Farben benötigt eine Modellbeobachtung Bµ, durch die die möglichen Farben in Beziehung gesetzt werden. Die einfache Modellbeobachtung strukturiert folglich einen Teil der geforderten Aufmerksamkeit. Sie vermag aber nicht allen Anforderungen gerecht zu werden, da Bµ zwar das umfangreiche Beziehungsmuster des farbigen Sehens wiedergibt, so wie es das Helldunkle und das Divergierende in der binokularen Blickführung wiedergab, und damit eine bereits modulierte Sichtbarkeit ausdrückt. Das einfache Modell relationiert jedoch nicht die Attentionalität eines Systems, in dem das Gesehene Bµ zu einer Ansicht von Blau wird, in dem das blaue Sehen mithin expliziert, in diesem Blau gefasst und genau dieses Blau einer gestalterisch zu verarbeitenden Stoffbahn zu sein. Das Sichtbarmachen erfordert die Attentionalität der Farbigkeit und des Hervorhebens dieser Farbigkeit, welche einzelne Farbe auch immer hervorgehoben wird. Es erfordert die synchron einsetzende Regulation des Blaus und seiner Artikulation, die nicht den privilegierten Umgang mit einer besonderen, ausgesonderten Farbe strukturiert, sondern die Farbigkeit selbst einer wiederholungsfähigen Regulation unterwirft. Kurz, das Sichtbarmachen des Musterbuchs benötigt ein Modell M für alle Farben und ein Modell T für die Artikulation ihrer Farbigkeit. Damit rückt die Antwort in Reichweite. Lag bei der Farbigkeit noch ein Antimodell M vor, das wie ein Spektrum von jeder seiner Farben erfüllt wird, hat man es beim Modell T dieses Antimodells mit dem Typ einer Beschreibung D zu tun, die jeden Erfüllungsfall mit dem Beobachteten Bτ identifiziert. Die Replikation von Xτ ∗ Xb übernimmt damit die Funktion eines Indikators, der es gestattet, jede gesehene Farbe als genau diese gesehene Farbe auszuweisen. Von einem Indikator soll nur gesprochen werden, wenn ein Objekt als die Deskription eines Antimodells beobachtet wird. Er versetzt das System Bτ / Ab in den Zustand eines exemplifizierbaren Blaus und expliziert eine Form des Sichtbarmachens, das seine Farbigkeit erst distinguiert.41 Das Gesehene Bτ ist die Ansicht einer bestimmten Farbe. Die aus dem Distinktionsvermögen des variablen Regulators resultierende Ansicht kann mit irgendeinem anderen Blau durchaus identisch sein; so zum Beispiel mit dem Blau des Kleids, das aus dem im Musterbuch dargestellten Stoff gefertigt wurde und mit dem die gleiche visuelle Wahrnehmung BStoff verbunden ist wie mit dem Muster Bτ selbst. In diesem Fall errechnet das beobachtende Objekt 〈Ob〉 eine Relation zwischen den beiden Objekten und stellt eine Identität fest. Da

41. Der Indikator beschreibt die Attentionalität der exemplifizierten Farbe noch nicht vollständig; vgl. Abschnitt 4, S. 175 f. (Fußnote 103). Mit ihm ist die symbolische Bezugnahme der Exemplifikation selbst, wie Goodman sie eingeführt hat, nicht reformulierbar. 157

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das Gesehene des visuellen Systems nicht etwa zwischen zwei identisch blauen Gegenständen liegt sondern vielmehr in der Identität der beiden Farbwahrnehmungen, muss es heißen: 〈Ob〉 beobachtet ein komplexes Objekt 〈Oκ 〉, das die Relation zwischen ihnen identifiziert Bκ ↔ (BStoff ↔ Bτ ), sodass sowohl die mehrstufige Transformation Bτ als auch die Modellbeobachtung BStoff die Einfachen einer weiteren Komplexion bilden. Das komplexe Objekt anzunehmen ist deswegen nötig, weil das Gesehene immer über die Fremdbeobachtung nur eines anderen Objekts konstiutiert wird, wenngleich es Beziehungen zu vielen weiteren Objekten unterhalten kann. Das Gesehene attentional zu koordinieren, bleibt weiterhin von den vielen Gegenständen unterschieden, die man vor Augen hat. Das Gesehene des visuellen Systems ist wie das Sehende lediglich eine koordinierte Instanz in der explizierten Sichtbarkeit. Wenn die einzelnen Wahrnehmungen des Kleids und des Musters auch identisch sind und man zurecht vermutet, in verschiedenen Fällen das gleiche Blau zu sehen, bedeutet dies noch nicht, dass die Aufmerksamkeit des gesehenen Blaus und des zur Ansicht gebrachten Blaus auf die gleiche Weise strukturiert sind. Das Vermögen zur Regulation von Farbigkeit und das Distinktionsvermögen zur Bildung von Ansichten verdankt sich letztlich keinem Sehenden, das blaue Dinge identifiziert, sondern es verdankt sich der die Oszillation von 〈Oτ〉 und 〈Ob〉 induzierenden Intensitätsschwelle, an deren Grenze das Objekt des farbigen Antimodells 〈Oµ 〉 und sein Erfüllendes virtuell mitschwingen. Die Variplikation von Xτ ∗ Xb reguliert ein Sehen, das sich in jeden potenziellen Erfüllungsfall erstreckt und das über alle involvierten Relationen, über die gesamte Variplikation verteilt und zerstreut ist. Dies schlägt den Bogen zurück zu den Eingangsüberlegungen über das Sichtbarmachen. Das mit der sich zur Artikulation aufschwingenden Stimme vergleichbare intensive Milieu des Sehens, das dem Sichtbarmachen vorausgesetzt wurde, zeichnet sich dadurch aus, die unablässige Differenzierung des Intensiven, die von der Oszillation begrenzt wird, an genau der Grenze fortzusetzen, die durch das beobachtende Objekt 〈Ob〉 und das beobachtete Objekt 〈Oτ〉 initialisiert wird. Daher gilt: Auch wenn es im gesamten Universum für das beobachtende Objekt nur ein einziges beobachtbares Objekt gibt, das einen Indikator einzurichten gestattet, so ändert sich nichts an seiner Variabilität und an seinem Potenzial. Vielleicht erklärt dies die besonders starke Bindung der Aufmerksamkeit, die von dem von Yves Klein gemischten International Klein Blue und von anderen singulären Farben ausgeht, die sich permanent selbst zur Darstellung zu bringen scheinen. Die sich zur Ansicht bringende Farbe verdeutlicht zwar das Sichtbarmachen, genügt jedoch noch nicht, um von Bildern sprechen zu können, in denen bspw. gezeichnete, farbige Figuren zu sehen sind. Dafür wird man einen Schritt weiter gehen müssen. Die letzte von Glan158

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ATTENTIONALE OBJEKTE

ville vorgestellte Beobachtungsrolle ist das komplexe Modell. Es kombiniert auf eine hybride Weise Aspekte der Modellierung und der Beobachtung von Komplexität. Weder das komplexe Objekt 〈Oκ〉, dessen Einfache wie gerade vorgeführt als Modell beobachtet werden können, noch das Modell eines komplexen Objekts genügen allein seiner attentionalen Struktur. Ein komplexes Modell liegt dann vor, wenn – erstens das als komplexes Modell Ξ beobachtete Objekt 〈Oξ〉 das Modell eines komplexen Objekts 〈Oκ〉 ist, dessen Einfache Erfüllende eines jeweils weiteren Modells sind. – Zweitens identifiziert das modellierte, komplexe Objekt K sowohl die Beziehung zwischen seinen Einfachen als auch zwischen ihren Modellen: »If the complex Object representation [Ξ] parallels the relationship between the simple Objects and the complex Object, in relating to the representations [M] of the simple Objects, there is complex Model« (Glanville 1975: 57). Somit gelten auch die beiden Modelle als Einfache des komplexen Objekts. Dieser Beobachtungskomplex kann zusammengefasst werden. Gegeben seien erstens zwei Objekte 〈Oe〉 und 〈Of〉, die als einfache Modelle Me und Mf beobachtet werden, zweitens zwei Objekte 〈Oc〉 und Od〉, die jeweils eines dieser beiden Modelle erfüllen, drittens ein komplexes Objekt 〈Oκ〉 = K, das die Relationen der beiden Paare identifiziert, und schließlich viertens die komplexe Modellbeobachtung 〈Oξ〉 = Ξ, die das komplexe Objekt modelliert: Ξ: Be(M),f(M) ↔ K ↔ Bc,d Jede hybride Struktur dieser Art soll als ein komplexes Modell gelten: Mehrere Modelle und ihre Erfüllenden werden gleichzeitig in einem komplexen Objekt konzentriert, das selbst modelliert ist. Für die einfachen Modelle Me und Mf ist weder ein bestimmter noch jeweils der gleiche Modelltyp vorgeschrieben. Daher lässt sich auch nicht ausschließen, dass die von K identifizierten Beziehungen zwischen einerseits Me und Mf und andererseits zwischen Bc und Bd verschieden sind. Entscheidend ist allein die im komplexen Objekt festgelegte Identität ihrer Vergleichszeiträume. Insofern die von K identifizierten Beziehungen den Vergleich nicht über- oder unterschreiten, insofern sich die beiden Relationen also an die vom komplexen Objekt fokussierte Zeit halten, kann Me bspw. ein internes Modell M . von Bc sein, während Mf ein Antimodell M von Bd ist. Mf würde Me umfassen (Me → Mf) und Bc würde Bd umfassen (Bd → Bc). Ebenfalls nicht festgelegt ist der Typus des komplexen Modells. Sicherlich würde es die Koordination erleichtern, für Ξ ausschließlich eine Beschreibung D zuzulassen. Über sie hinausgehend 159

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bleibt die Replikation der Beziehung zum komplexen Objekt und damit zu den durch es vorgenommenen Identifikationen auch dann gewährleistet, wenn das komplexe Modell mehr repliziert als nur seine Beziehung zu Bκ = K (wenn Ξ also ein Antimodell ist). Schwieriger verhält es sich beim Interior Model. Aber auch die Möglichkeit des Falles Ξ = M . muss man konzedieren. In diesem Fall ist zu beachten, dass jeder Erfüllungsfall K für das beobachtende Objekt ein umfangreicheres Beziehungsgefüge zu bieten hat, als die Beobachtung von Bξ zu erkennen gibt, und dass folglich das beobachtende Objekt zu Konsistenzprüfungen der Komplexität von K gezwungen ist. Glanville macht keine genauen Angaben über den Grad der Modellierung von Ξ. Es findet sich kein ausdrücklicher Hinweis darauf, ob das komplexe Modell über den Umweg des komplexen Objekts auch das Modell der beiden Modelle M ist. Ebenso wenig wird ausgeführt, ob unabhängig voneinander drei Modelle beobachtet werden, von denen ein Modell Ξ von einem komplexen Objekt und von denen die beiden anderen Modelle M von seinen einfachen Objekten erfüllt werden. Dennoch verdeutlicht Glanville die Beziehung zwischen den beteiligten Modellen: »Model Objects may be observed to have something in common. This commonness is embodied in a complex Model« (ebd.: 58). Das heißt, Ξ erfasst die identifizierte Relation der beiden Modelle M. Welche Schlüsse können daraus gezogen werden? Wenn die beiden Modelle M Einfache des komplexen Objekts sind und wenn die gesamte Beobachtungssituation eines komplexen Objekts in seinem Modell involviert ist, dann ist das komplexe Modell tatsächlich auch das Modell der beiden einfachen Modelle. Sie können jedoch nicht zeitgleich das komplexe Modell erfüllen, da die Bedingung nicht verletzt werden darf, dass nur ein anderes Objekt modelliert wird bzw. dass ein beobachtetes Modell in jeder Phase nur einen Zustand Bµ oder Bξ erreichen kann. Aus diesem Grund ist das zwischengeschaltete komplexe Objekt 〈Oκ〉 = K besonders wichtig. Es identifiziert nicht allein die paarigen Gemeinsamkeiten der einfachen Modelle und ihrer Erfüllenden. Es identifiziert ebenso den genauen Zeitraum, in dem die möglichen Synchronisationen mit Me und mit Mf zulässig sind. Die Modelle dürfen nur innerhalb der von K bestimmten Zeit erfüllt werden. Verzichtet man auf die zu ersetzenden und erfüllenden Objektbeobachtungen Bc,d und erklärt die Modellierung stattdessen mit Variplikation, übernimmt das komplexe Objekt die Aufgabe, den einzuhaltenden Rahmen mehrerer Regulatoren zu definieren. In ihm können weitere Modelle erscheinen. Das komplexe Modell Ξ reguliert seinerseits genau diesen Rahmen und ist aus diesem Grund nur das indirekte Modell eines Modells. Die Replikation von Xξ ∗ Xb (für einen gegebenen Beobachter Fb) konstituiert keinen variablen Regulator, sondern vielmehr den Regulator für begrenzte und nichtsdestotrotz intern hoch variable Beobachtungsphasen. Die einfachen Modelle M entfalten ihre 160

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vielfältigen Möglichkeiten in der Gleichzeitigkeit des von Ξ geöffneten Zeitfensters. Ein in dieser Weise koordiniertes System vermag seiner eigenen Informationsverarbeitung Grenzen zu setzen, um in ihnen hoch kontingente Zustände zu erreichen. Ist damit nicht die Form von visuellen Systemen gegeben, in Bildern zu sehen? Gelangt das Sehen nicht innerhalb der (selbst-)gesteckten Grenzen zu einem klar umrissenen Gesehenen, das sich in vielen verschiedenen Varianten wieder und wieder zusammensetzt? Und kann das Sehen unabhängig von seinen klaren Umrissen nicht dennoch variiert werden und zu einer neu regulierten, komplexen Objektbeziehung finden? Variiert das komplexe Modell nicht eine reproduzierfähige Objektbeobachtung, die ein ganzes Geflecht von weiteren Variationen gestattet? Die Visualitätsdifferenz des Sehens von Bildern kann mit Hilfe eines Beispiels verdeutlicht werden: Die Farbigkeit wurde bereits als Modell vorgestellt (Me), deren Modellierung zu den Ansichten der Farben überleitet. Daneben kann ein weiteres Modell angenommen werden, das von verschiedenen Gestalten erfüllt wird. Es stellt die Linienführung dar (Mf). Fände man einen passenden Indikator, käme auch sie zur Ansicht. Zwischen diesen beiden einfachen Modellen wird eine Relation errechnet und ihr Vergleichszeitraum identifiziert (K). Welche Erfüllungsfälle Me und Mf auch immer haben werden, sie bleiben für das beobachtende Objekt 〈Ob〉 in der gleichen Vergleichszeit, weder beginnen noch enden sie früher oder später. Da dieser Komplex von Modellen auf verschiedene Weise realisierbar ist, wird er schließlich in einem letzten Objekt Ξ ein zweites Mal modelliert.42 Man erhält hier keine Ansichten von einer Farbe oder von Linien, sondern eine Ansicht von ihren möglichen Beziehungen, von farbigen Gestalten. Man sieht keine sichtbar gemachten Farben und Linien, man sieht vielmehr etwas, das mit modellierten Farben und Linien sichtbar gemacht wird. Das Sehen in Bildern folgt der attentional konfigurierten Visualitätsdifferenz Bξ / Ab, die die Explikationsfunktion des Sichtbarmachens darstellt. Die Aufmerksamkeit des pikturalen Sehens ist intensiv, informativ und symbolisch zugleich: intensiv, weil sie unablässig farbige Gestalten ausdifferenziert; informativ, weil die Differenzierung die Systemzustände bestimmt; und symbolisch, weil permanent regulierte Objektbeziehungen hergestellt werden. Führt die gestaltgebende Linie aus dem Bild heraus oder wird das ihr entsprechende Objekt 〈Of〉 außerhalb des definierenden Zeitraums beobachtet, stößt das Sehen auf nichts weiter als auf eine Linie. Ebenso verhält es sich mit der Farbigkeit und mit allen anderen im Komplex K verbundenen Modellierungen. Werden

42. Glanville analysiert die Übersetzung von einer Beschreibung D in eine andere ebenfalls als komplexes Modell (vgl. 1975: 58). Zum bildlichen Zusammenwirken der Linienführung und der Farbgebung vgl. Edeline 1998. 161

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die Modelle einzeln beobachtet, mag das Sehen in distinkten Formen stattfinden, es findet aber kein Bildersehen mehr statt. Weder das Modell eines Modells T noch das komplexe Objekt K genügen, um von Bildern sprechen zu können. Darauf deuten zumindest die verwendeten Beispiele. Beim Bildersehen schaut man gewissermaßen durch ein frei justierbares Zeitfenster auf einen Komplex von Relationen, in dem simultane Regulatoren ihren Platz finden. Man sieht mittels Modellierungen und man sieht die Beziehungen dieser Modelle mittels eines weiteren Modells. Im Rahmen seiner synchronisierenden Ansicht sieht man alles gleichzeitig. Unter diesen Gesichtspunkten kann die Beobachtung eines komplexen Modells 〈Oξ〉 = Ξ als ein symbolisches Temporalobjekt bezeichnet werden. Die Studie ist einen weiten Weg gegangen, um einen überaus kurzen Ausdruck für das pikturale Sichtbarmachen abzuleiten: Ξ. Die Differenz Bξ / Ab fasst nur die attentionale Struktur zusammen, die einem visuellen System unterliegt, wenn ihm pikturale Ansichten begegnen. Die Visualitätsdifferenz enthält sich jeder Aussage darüber, welche Operationen die optisch-, neuronal- oder psychisch-visuellen Systeme durchführen und welchen Schemata ihre Operationen folgen. Sie beschreibt lediglich die Koordination dessen, was in einem beliebigen visuellen System sieht und was in ihm gesehen wird. Sie beschreibt nicht, was sieht oder was gesehen wird, sie beschreibt nur ihre Koordination. Daher kann die attentionale Struktur keineswegs genügen, um Bilder zu spezifizieren. Das Ergebnis der beobachtungstheoretischen Analyse besteht erstens in der homomorphen Visualitätsdifferenz vom Typ Ba / Ab, die jegliches Sehen erfasst, und zweitens in der Erklärung ihrer auf verschiedenem Wege zu Stande gebrachten Komplexität und Regulation. Wie die Differenz Bξ / Ab konkret realisiert wird, muss erst noch spezifiziert und überprüft und ihre Morphogenese muss erst noch nachgezeichnet werden. Dies wird das Thema des nächsten Abschnitts sein. Inwieweit das Sichtbarmachen kommunikative Funktionen in Anspruch nimmt und die attentional strukturierten, visuellen Systeme von diesen Funktionen gekennzeichnet sind, bleibt momentan ebenfalls noch offen. Obwohl man auf jegliche Form der Kommunikation zwischen den beobachtenden und beobachteten Objekten verzichten muss, gibt es dennoch einen deutlichen Hinweis zur Kommunikativität von Bξ / Ab. Denn das sichtbar gemachte Blau in einem Musterbuch und die pikturale Ansicht aus modellierten Farben und Linien eröffnen kommunikative Anschlussmöglichkeiten, da sie als Darstellungen verstanden werden können. Wenn sich dieser Hinweis bestätigen lässt, heißt das zumindest, dass es Formen des Sehens gibt, die an kommunikative Vorgänge angepasst sind und von ihnen in Anspruch genommen werden können. Diese kommunikativ relevanten Formen des Sehens werden durch die Beobachtung eines komplexen Modells erzeugt. 162

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Sichten und Sichtbarmachen Sichten = Sehen-in Das Sichtbarmachen ist als modulierte Sichtbarkeit zu begreifen, es ist Sichtbarkeit unter bestimmten Bedingungen ihrer Explikation. Daher ist es weder eine Aktivität von Personen noch ein Vollzug von Systemen, weder ein gestalterisches Verfahren noch die besondere Kompetenz, ein solches Verfahren auszuführen oder zu erfinden. Diese Vorkommnisse sind nur insoweit mit dem Sichtbarmachen verbunden, wie sie es explizieren. Kein Künstler und keine Designerin, kein Bild und keine Kommunikation können etwas sichtbar machen. Vielmehr wird es durch eine Sonderform des Sehens expliziert bzw. repliziert, die Sichten heißen soll: Es setzt sich aus der Ansicht (als Gesehenes Bξ oder Ba(Ξ)) und aus der Sicht (als Sehendes Ab) zusammen. Obwohl sich die Ansicht auf die Koordination des Sehens und folglich nicht unmittelbar auf dasjenige bezieht, was man sieht, sollen im Folgenden die Wahrnehmungen dessen, was man in einem Bild erkennt, ebenfalls als pikturale Ansichten begriffen werden. Sie beziehen sich auf alle Werte, die ein visuelles System für ein im Bild Gesehenes ermitteln kann. Die bisherigen Ausführungen gingen von der wenig geprüften Prämisse aus, dass in Bildern wie Fotografien, Gemälden, Comicstrips oder Filmen etwas gesehen wird, was nur und was nur dort gesehen werden kann. Was aber bedeutet es, in einem Bild zu sehen? Zweifellos handelt es sich nicht bei allen Ansichten um einen Fall von Pikturalität. In dem Musterbuch des Schneiders sieht man Ansichten der zu sehen gegebenen Farben und in einer fortschreitenden, sich auf und ab bewegenden Linie sieht man die Entwicklung des Börsenkurses, in den Farben des aufwirbelnden Laubs sieht man den Herbst und in den flimmernden Brechungen des Lichts über heißem Asphalt sieht man den Sommer – »just as we quickly learn to discern shapes in clouds or the face of the Man-in-the-Moon« (Barry 1997: 139) –, ohne dass von Bildern die Rede sein könnte. Auch dieser Sachverhalt zwingt zu einer weiteren Spezifikation des pikturalen Sehens. Das Sehen in Bildern zu klären wird durch den Umstand erschwert, dass Bilder häufig als Gegenstände vorausgesetzt werden, bevor in ihnen irgendetwas gesehen wird. Wie verhält es sich hingegen, 163

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wenn man ein vermeintliches Bild zur Hand nimmt und etwas zu erkennen sucht, jedoch feststellen muss, dass es nichts zu sehen gibt? Angenommen, es liegt die unscharfe, nur schwer bestimmbare Fotografie eines Präsidenten vor, der gerade Opfer eines Attentats geworden ist. Solange man ihn nicht erkennt, sieht man nur Unschärfe. Man kann nicht einmal sicher sein, ob die Aufnahme den Präsidenten oder nichts weiter als verwischte, farbige Flecken zeigt. Handelt es sich um ein Bild, wenn man nur ein Schlierenmuster erkennt oder handelt es sich lediglich um farbiges Fotopapier fern jeglicher Bildlichkeit? Bekäme man einen Hinweis zum Motiv der Fotografie – sei es durch eine schriftliche oder mündliche Äußerung, sei es durch eine zweite, glücklichere Aufnahme des unglücklichen Staatsoberhauptes –, so würde man bei näherem Hinsehen und Prüfung der Verhältnisse möglicherweise den ausschnitthaft und unscharf abgebildeten Kopf des zu Boden stürzenden Präsidenten erkennen und ihn identifizieren können, sich vielleicht wundern, warum man ihn nicht sogleich erkannt hat, und die unklare Darstellung den dramatischen Vorgängen des Attentats zuschreiben. Ist die Fotografie ein Bild des Präsidenten oder ist sie es nicht? Oder mit Nelson Goodmans »When is art?« gefragt1: Ab wann kann von einem Bild und ab wann kann von dem Bild einer Person gesprochen werden? Die Fragen zielen zunächst in zwei Richtungen: Sie beziehen sich auf die abgebildete Person – auf das Was. Und sie beziehen sich darauf, wie die gesehenen Gegenstände (der bildnerische Gegenstand und der Gegenstand im Bild) durch die Vorgänge in den visuellen Systemen ermittelt und ins Verhältnis gesetzt werden – auf das Wie im System. Fragt man nach dem Was des Bildes, nach dem Präsidenten, lautet die Antwort, sobald man sie zu geben im Stande ist, dass er in einer schwer überprüfbaren und nicht eindeutigen Weise abgebildet, aber ohne jeden Zweifel fotografiert wurde und in einer ebenso ungewohnten wie kaum erkennbaren, bildlichen Form vorliegt. Es bedarf zwar einigen Aufwandes, das einmal erkannte Bild als Präsidentenbild zu bestimmen. Dies ist aber bei jeder anderen Fotografie auch der Fall: Ob der Aufwand vom Fotografen während der Aufnahme, von der Redaktion, die die Publikation des Bildes verantwortet, oder von den Rezipienten der Zeitung geleistet wird, macht bezüglich des Bildes keinen Unterschied, da es gesehen und sehenderweise prozessiert werden muss. Der Gegenstand im Bild läuft somit auf das Wie im visuellen System hinaus und darauf, das Bild als bildnerischen Gegenstand und zugleich als einen Gegenstand in ihm zu sehen. Man sieht auf zweierlei Weise. Man sieht die Zeitungsseite, die von der abgedruckten Aufnahme teilweise bedeckt wird; und man sieht in Differenz dazu wiedererkennbare, phy-

1. Deutsch in Goodman 1990: 76 ff. 164

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SICHTEN UND SICHTBARMACHEN

siognomische2 oder andere Muster. Durch fortgesetztes Sehen erhält man diese Differenz des Sehens-in schließlich aufrecht. Wenn man etwas in einem Bild sieht, sieht man zwei Dinge gleichzeitig. Geschieht dies nicht, sieht man kein Bild. Etwas in etwas zu sehen bedeutet, eine Ansicht zu finden oder zu sichten. Wie bereits angedeutet ist diese Form des Sehens zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bestimmung von Pikturalität: Sowohl bei der Wolke, die als Ente gesehen wird, als auch beim farbigen Laub, das als Herbst gesehen wird, findet man sie vor. Vielleicht fällt es einem visuellen System dann besonders leicht, Ansichten zu generieren, wenn es die Gegenstände wie Wolken oder Schatten, in denen etwas anderes gesehen wird, allein verantwortet und wenn sich folglich sein Modus von anderen Aufmerksamkeitsweisen abgekoppelt hat. Vielleicht hat man begonnen, auf Ansichten und ihre Gestaltbarkeit aufmerksam zu werden, als man von einer Anhöhe das Schattenspiel der Wolken betrachtet und festgestellt hat, dass die im Tal entlangfahrende Spur von einer anderen Gestalt war als die Wolke am Himmel. Vielleicht hatte die Wolke die Form eines Jagdtieres, während der Schatten der Waffe glich, mit der man es erlegen würde. Wie es darum auch stehen mag, die Überlegungen verweisen auf einen ebenso schlichten wie wichtigen Sachverhalt des Sehens-in: In jedem Fall, das heißt auch bei einer pikturalen Ansicht, befindet sich das Gesehene dort, wo man es gerade sieht. Im Gegensatz dazu wird Bildlichkeit bisweilen darüber bestimmt, dass das im Bild Gesehene gerade nicht dort zu finden ist, wo man es sieht: »Dem in der Darstellung Dargestellten wird das Da-sein im Bild-als-Bild-Betrachten abgesprochen, notwendig abgesprochen, denn da ist nur der physische Träger« (Brandt 1999: 105). Man muss fragen, was der physische Bildträger ohne ein Bild sein kann. Was oder wie sollte getragen werden, wenn man dort nichts sieht? Welchen Sinn macht es noch, von einem ›Bild‹ zu sprechen, das von allen Ansichten beraubt wurde? Wer so argumentiert, verzichtet letztlich auf das Bild. Der »physische Träger« wird gesehen, dasjenige, das er zeigt, wird gesehen und ihre spezifische Differenz wird vermittels des Sehens prozessiert. Sie kommt nicht beliebig in der Welt oder in den Dingen vor, sondern muss operabel gehalten werden. Dies zu tun, obliegt den visuellen Systemen. Betrachtet man bspw. den Moment, in dem ein belichtetes Fotopapier im Entwicklerbad oder ein Polaroid etwas zu sehen geben, wird besonders deutlich, wie die Differenz zwischen der Trägerschicht und dem Gezeigten zugleich als Ansicht aufscheint und das Papier erst auf

2. Die Wiedererkennbarkeit von Gesichtbildern mit unterschiedlichem Ausdrucksverhalten hat zum Beispiel Julian Hochberg (1972: 78-91) untersucht. 165

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diesem Wege seine Funktion erhält. Das Bild ist kein Gegenstand, zu dem wahlweise etwas Gezeigtes oder Dargestelltes hinzutritt oder nicht. Es ist vielmehr eine »Doppelgestalt« (Waldenfels 1994: 238), die sich im Sichtbaren nur differenziell entfaltet. Der sterbende Präsident ist nicht hinter oder jenseits des Bildes, der Präsident ist ein gesehener Präsident, und zwar ein im Bild gesehener Präsident. Dafür liegt im visuellen System eine spezialisierte Weise der Informationsverarbeitung vor. Es ermittelt dank seiner eigenen Schemata und auf Grund seiner Irritationen den eigenen Zustand des Bildersehens (konstruktivistische Version) bzw. es entnimmt seiner Umwelt die ihm zugängliche Information aus den entsprechend zugerichteten Oberflächenanordnungen (ökologische Version): »Ein Bild ist nicht die Imitation vergangenen Sehens. Es ist kein Ersatz für Zurückgehen und nochmals Anschauen. Was es aufzeichnet, registriert und festhält, ist Information« (Gibson 1982: 300), die einesteils aus den Invarianten des bildnerischen Gegenstands und anderenteils aus den Invarianten in ihm gewonnen wird. Wenn die Systeme keine diesbezüglichen Informationen erarbeiten bzw. verarbeiten, kann in ihrer Hinsicht auch nicht die Rede von einem Bild sein. Von Bildern kann man überhaupt nur sprechen, wenn es auch ein prozessiertes Im-Bild-Sehen gibt. Mit dem Bildersehen sind notwendigerweise nicht-visuelle Vorgänge verbunden: mit einem verkohlten Holzstück ein Gesicht an eine Wand kratzen, mit einem Bleistift einen Kreis auf ein Blatt Papier zeichnen, mit Pinsel und Farbe eine Landschaft malen, mit einem Fotoapparat eine Person portraitieren, mit Filmaufnahmen eine Handlung montieren oder mit einem Computer Architekturmodelle programmieren.3 Ansichten werden entworfen und Dinge oder Sachverhalte werden angesichtig gemacht. Das Sehen hängt in vielen Fällen von den Prozeduren der Fertigung ab4 und die benötigten Instrumente ermöglichen einen variabel erweiterbaren, darstellerischen Bereich der Ansichten. Die Differenz des Sehens-in ist verfahrenstechnisch stabilisierbar und die Möglichkeiten, Ansichten zu finden, werden multipliziert.

3. Zu den sozialen und kulturellen Begleitumständen der »technischen Bilder« vgl. Flusser 1996. 4. Dabei sind nicht-visuelle Wahrnehmungen und körperliche Aktivitäten zu berücksichtigen, wie man bspw. aus Gibsons Ansatz leicht schlussfolgern kann. Auch Wilfrid Ennenbach hebt einen sensomotorischen Aspekt von Ansichtenbildungen hervor. Er beschreibt den funktionalen Zusammenhang zwischen den Bewegungserfahrungen bzw. körperlichen Orientierungen im Raum einerseits und den Links-Rechts-Schemata im Bild andererseits (vgl. ders. 1996). Da die Vermischung der Sinneserfahrungen eher die Regel als die Ausnahme ist, müssen Bilder möglicherweise als ein bereinigter und isolierter Sonderfall des Sehens und seines psychischen, kognitiven Prozessierens begriffen werden. 166

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SICHTEN UND SICHTBARMACHEN

Auf Grund der instrumentellen Prozeduren und ihrer Darstellungsweisen kommen Bilder sehr unterschiedlicher Art zu Stande (wie zum Beispiel die Portraitmalerei), die als Ausgangspunkt für das Verständnis neuer Bildverfahren dienen (wie zum Beispiel die frühe Fotografie, die die Portraitmalerei beerbte), von denen sich wiederum andere Darstellungsweisen ableiten. Die Genese und die Evolution des Bildersehens ist immer schon mit den Verfahren vermengt. Die Koordination des Sichtens hängt mit vielgestaltigen Praktiken und Lesarten zusammen, denen es sich fügt und die den Bildern kaum zu übersehene Bedeutungsmöglichkeiten verleihen: »In the end, they might even be kisses«, schreibt James Elkins (1998: 46). Allerdings bleiben sowohl die technischen Verfahren als auch ihre sozialen Praktiken wirkungslos, wenn sich ihnen das Sehen entzieht und wenn es ihnen keinen pikturalen Wert verleiht. Allein bringen sie weder etwas zur Ansicht noch sind sie im Stande, Bildlichkeit zu klären. So wie man bemüht ist, unscharfe und dem Sehen kaum zugängliche Fotografien zu vermeiden – obwohl das unscharfe Präsidentenbild zweifellos ein Abbild des Präsidenten ist, da das Licht von ihm auf den Film reflektiert wurde –, so sind die Verfahren letztlich darauf angewiesen, in einen Wirkzusammenhang einzutreten, in dem das Sehen zu einem Sichten diversifiziert wird. Um wirksam zu werden, müssen die Visualisierungsverfahren Passungsleistungen erbringen. Dies geschieht, wenn sie in sichtenderweise realisierte, pikturale Inskriptionen münden. Auf diesem Wege werden Physiognomien mit schwarzen Kohlestrichen erfasst, Kreise erhalten Umrisslinien, Landschaften werden als komponierte Ausblicke festgehalten, Personen werden zu anschaulichen Charakteren, Tätigkeiten werden sequenziert und statistische Berechnungen werden blickend durchquert. All diese Vorgänge sind für ein bilderfreies Sehen ungewöhnlich und häufig nicht einmal operabel. Das Sichten entfaltet einen visuellen Bereich mit eigenen Ordnungsqualitäten, in der die gekratzten Gesichtszüge, die gezeichneten Kreislinien, die komponierten Landschaften, die in einer Sequenz festgelegten Handlungen und die zusammengefügten statistischen Daten, kurz: in der Dinge und Sachverhalte hervortreten, die zuvor nicht gesehen werden konnten. Dies allein auf das Gesehene zu beziehen, würde jedoch zu kurz greifen, denn jeder Ansicht entspricht eine Sichtweise. Sobald man sich in der unscharfen Fotografie des Präsidenten auf die Suche nach zu sehen gegebenen Ansichten macht, hat man sich bereits in die pikturale Ordnung eingefügt, in der das zu sehen Gegebene zu sichten ist. Selbst wenn man keine Erwartungen darüber hegt, was es zu sehen gibt, stellt man sich darauf ein, dass es – und zwar im Rahmen des Bildes5 – et-

5. Versteht man dies nicht metaphorisch, sondern im Sinne eines Bilderrahmens buchstäblich, so sollte erwähnt werden, dass auch er unter den gewählten Aus167

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

was zu sehen gibt. Indem das Sehen im von ihm Erkannten verbleibt, um sich dort zum Beispiel auf die Suche nach weiteren Merkmalen des Präsidenten zu machen, steckt es einen ihm eigenen Sichtbereich ab. Ist das Sehen erst einmal auf ein Bild aufmerksam geworden, so ist auch ein Niveau etabliert, das eine multiple und verstrickte Ordnung von pikturalen Formen und Relationen, Blicken und Erfahrungen, Genres und Stilen, Ähnlichkeiten und Absonderlichkeiten zulässt und auf eine erfinderische Weise die Sichtbarkeit expliziert. Das pikturale Sichten verrichtet sein Werk. In gleicher Weise erregen und binden musikalische Töne oder gesprochene Worte, die zu hören, oder zugerichtete Speisen, die zu essen gegeben werden, die Aufmerksamkeit. Indem sie unterscheidbare Sensibilitäten zur Verfügung stellen, rechnen die bildnerischen, die tönenden, die würzenden etc. Gegenstände mit ihrer eigenen Perzeptibilität für das Auge, das Ohr, den Gaumen: Sie sind nichts weiter als die Errechnungen im attentionalen Fokus selbst, in dem ein entsprechendes Sehen oder Hören oder Schmecken ermittelt wird. Bildlichkeit setzt die Operativität und die Orientierungs- und Koordinierungsfunktionen der visuellen, der wahrnehmenden Systeme voraus und führt sie zu einer variantenreicheren Replikation. So wird bspw. das Bildersehen in eine neuronale Visualität eingefügt, um in ihr zerebrale Sonderkompetenzen anzusprechen.6 Das Bildersehen ordnet sich in die Weisen ein, in denen man zu sehen gewohnt ist, an die man sich lernend gewöhnt hat und die man gewohnt ist, durch Lernen zu ändern. Beim Verfertigen von bildnerischen Gegenständen wird mit der visuellen Intelligenz gerechnet. Man geht davon aus, dass auf Grund der gestalterischen Tätigkeiten etwas gesehen und erkannt werden kann und dass die kognitiven Kompetenzen mit dem zu sehen Gegebenen zurecht kommen (oder berechnenderweise nicht zurecht kommen und stark irritiert werden). Man befindet sich nicht mehr allein in einer Welt, in der Wolken, Wasser und Straßenschluchten gesehen werden. Im Sichtbaren werden Wahrnehmungseffekte erzielt (wie bei Vexierbil-

gangsbedingungen sehenderweise ermittelt wird und zur Ansicht gehört. Inwieweit er attentional reformulierbar ist, wird noch zu zeigen sein. Jedenfalls definiert der wie auch immer realisierte Rahmen ein Bildfeld und in ihm eine Sichtordnung, deren Organisation z.B. Meyer Schapiro (1994) untersucht hat. 6. Zu dieser Position vgl. Zeki 1999. Er hebt hervor, dass auf Grund neurobiologischer Erkenntnisse über die konnektiven Interdependenzen im visuellen Cortex die Vorstellung nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, die Sinneseindrücke würden stufenweise verarbeitet und erst allmählich in eine höhere kognitive Ordnung transferiert: »It is no longer possible to divide the process of seeing from that of understanding, as neurologists once imagined, nor it is possible to separate the acquisition of visual knowledge from consciousness« (ders. 1992: 50). Was gesehen wird, wird mit einem Mal und zugleich funktional differenziert gesehen. 168

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dern und in der Op Art), farbliche, kompositorische und andere Regelmäßigkeiten eingeführt (wie bei Gemälden mit oder ohne tiefenräumlicher Gliederung und bei Landkarten) und andere Perzepte erstellt. Wenn auffällige Farben für pikturale Anwendungen verwendet werden – und, was immer vorauszusetzen ist, dies im visuellen System seine Entsprechung und Verwirklichung findet –, re-arrangiert sich das attentionale Niveau und balanciert sich oberhalb der Intensitätsschwelle neu aus. Weder die Materie noch ein Medium werden hier geformt. Vielmehr ereignet sich eine Modulation des Sichtbaren, die das Sehen gestaltet. Was man im Bild zu Gesicht bekommt, lag dem Sehen zuvor fern. Mehr noch: Das Bildersehen verfügt über einen genuinen System/Umwelt-Bezug. Bildlich erzielte Sichtweisen sind nicht nur alternative oder fiktive Versionen für Bekannte (Familienangehörige) und Unbekannte (Präsidenten, Außerirdische) oder gesehene Versionen von zuvor Ungesehenem (Börsenkurse) in der Umwelt eines Wahrnehmenden; und ebenso wenig sind sie auf die in Bildern eingeschriebene Blickführung (Komposition, Montage) und auf die Aufgabe des Wahrnehmenden reduzierbar, genau hinzuschauen, um das zu sehen Gegebene zu erkennen. Vielmehr wird die Beziehung zwischen dem System und seiner Umwelt im Sichtbarmachen neu konfiguriert. Ihre Differenz wird modifiziert, neu verteilt und steht alsbald relativ zu sich selbst. Wegen der Modifikation ist die Frage, ob es die Dinge, Sachverhalte und Handlungsvollzüge im Bild unabhängig von ihrer Visualisierung gibt oder nicht gibt, so irreführend. Einerseits gibt es viele dieser Dinge erst auf Grund ihrer Verbildlichungen, so wie das Ozonloch in der Erdatmosphäre und die schwarzen Löcher in fernen Galaxien vor allem wegen der Satellitenaufnahmen zum Vorschein kommen und so wie es die äußerliche Gestalt von Dinosauriern nur dank der wissenschaftlichen und massenmedialen Rekonstruktionsbemühungen gibt.7 Andererseits gibt es Dinge wie den sterbenden Präsidenten oder den Verlauf eines Börsenkurses unabhängig von ihrer Bebilderung – so sollte man zumindest vermuten dürfen –, obwohl man weder den Präsidenten noch die ökonomische, extrem zeitsensitive Regulation von Zahlungen sieht, die schlichtweg nicht gesehen werden kann. Die Bezüge zu den Dingen außerhalb des Bildes müssen erst hergestellt werden, was nur möglich ist, wenn zuvor zumindest die Bildlichkeit wahrgenommen wurde. Was es gibt und was es nicht gibt, hängt funktional von den Kapazitäten der systemischen Informationsverarbeitung ab. Die Dinge gibt es folglich nur dann, wenn die Systeme entsprechende und entsprechend koordinierte Zustände erreichen – und der wahrnehmungsmäßi-

7. Die pikturale Karriere der Dinosaurier seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat William Mitchell (1998) beschrieben. 169

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ge Zustand von schwarzen Löchern und Börsenkursen ist vor allem bildlich. Ob die Wahrnehmungen sich mit anderen Sachverhalten korrelieren lassen oder korrelieren lassen müssen, ob es sich um fiktionale oder nicht-fiktionale Sachverhalte handelt, sie verdanken sich in jedem Fall ihrer Ansicht. Sie liegen im Bild und es gibt sie daher ausschließlich als Bildsachverhalte. Vom Was und Wie im System zum Wie des Systems: Die Gegenstände im Bild und der bildnerische Gegenstand resultieren einesteils aus der Information des Sehens und anderenteils aus seinem replikativen Aufmerksamkeitsniveau, auf dem ein irritierbares System ebenso gegen seine Umwelt wie die Umwelt gegen das System verschoben wird. Kurz, die Gegenstände im Bild gibt es ebenso wie den bildnerischen Gegenstand auf Grund einer spezialisierten Koordination der Visualitätsdifferenz, die auf beiden Seiten zu zuvor nicht möglichen Resultaten führt. Wie die Attentionalität und das Sehen in Bildern zusammenhängen, soll nun am Beispiel von Gibsons wahrnehmungspsychologischem Ansatz verdeutlicht werden. Es wurde bereits festgestellt, dass das Gesehene mit den Invarianten8 in den optischen Oberflächenanordnungen in der Umgebung des Wahrnehmenden gegeben ist. Für Bilder gilt nichts anderes: »Zugleich mit den Invarianten für die bildlich dargestellte Flächenanordnung gibt es auch Invarianten für die Malfläche selbst, ob sie nun eine verputzte Wand, eine Leinwand, eine Holztafel, ein Bildschirm oder ein Stück Papier ist. Verglasung, Textur, Kanten oder der Rahmen der Malfläche sind in der optischen Anordnung mitgegeben, und man sieht sie auch als solche. Die dargebotene Information ist damit von doppelter Natur.« (Gibson 1982: 303) Mit den Invarianten der Bildfläche und den Invarianten auf der Bildfläche bzw. mit »der Oberfläche des Bildes und der Oberfläche im Bild« (ebd.) sind zunächst zwei Gesehene gegeben, zwischen denen das Sehen wechseln kann. Dies widerspricht scheinbar den Anforderungen der Visualitätsdifferenz, in der ein Gesehenes auf ein Sehendes bezogen wird. Berücksichtigt man jedoch, dass die Invarianten gleichzeitig gesehen werden (vgl. Gibson 1980: XIII), um als Bild gesehen zu werden, und dass sie dabei in Beziehung zueinander stehen, so kann man schlussfolgern, dass sie gemeinsam in einem komplexen, attentionalen Objekt 〈Oκ 〉 = Bκ konzentriert werden, das als das Gesehene des visuel-

8. Gibson unterscheidet vier verschiedene Invarianten: erstens die Invarianten der optischen Struktur bei Änderung der Beleuchtung und zweitens bei Änderung des Beobachtungsstandpunkts, drittens die Invarianten der (binokularen) Stichproben aus der umgebenden optischen Anordnung und viertens die Invarianten der lokalen Störungen in ihr (vgl. ders. 1982: 334 f.). 170

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len Systems fungiert. Da die Beschaffenheit der Bildfläche teilweise mit den Beschaffenheiten im Bild korrespondiert – die Webart der Leinwand und die auf sie aufgetragenen Materialien machen sich im Gezeigten bemerkbar, seine optische Reichweite wird vom Rahmen und vom Format definiert –, und da ihre Invarianten 〈Og〉 = Bg (für die Fläche im Bild) und 〈Oh〉 = Bh (für die Fläche des Bildes) sich demnach in manchen Hinsichten überschneiden, kann ihre im komplexen Objekt zusammengefasste Relation als eine Disjunktion bestimmt werden: Bκ ↔ (Bg ∨ Bh). Dazu vier Anmerkungen: Erstens dürfen die Flächen oder Oberflächen nicht mit einer Ebene verwechselt werden. Sie können gewunden und gebogen, gekrümmt und zerklüftet sein und gelten gleichfalls für Reliefs, Skulpturen und Holografien. Zweitens muss die Unterscheidung Gibsons abgelehnt werden, mit der er die Invarianten näher bestimmt: Die Bildfläche erzeugt nach seiner Auffassung perceptual meaning, während mit den Markierungen auf ihr referential meaning einhergeht (vgl. ebd.: XII). Wenn das Bild als Darstellung etwas bedeuten soll, so muss das visuelle System beide Invarianten zugleich operabel halten und mit einer perzeptuellen Bedeutung ausstatten. Es verfügt nur über »displayed information« (ebd.: XIV), wenn es das Display und die Markierungen gleichsinnig handhabt. Zudem kann an beide Invarianten und nicht nur an die Fläche im Bild eine referenzielle Bedeutung angeschlossen werden. Das heißt, die beiden Bedeutungsformen fallen nicht mit der Unterscheidung zwischen den beiden Invarianten zusammen und können sie daher nicht spezifizieren.9 Drittens ist mit dem komplexen Objekt nur ein allgemeiner Attentionalitätstyp angegeben, der eine weitere Binnendifferenzierung nicht ausschließt. Die Invarianten der Bildfläche und diejenigen auf ihr können selbst als Komplexe auftreten, was allerdings nichts daran ändert, dass die disjunkten Objekte 〈Og〉 und 〈Oh〉 hinsichtlich des komplexen Objekts 〈Oκ 〉 stets einfach sind. Auf welch komplexe Weise das visuelle System durch 〈Oκ 〉 schließlich koordiniert wird – das ist die vierte Anmerkung –, die Struktur des pikturalen Sichtens ist damit noch nicht zufriedenstellend erfasst, da es jegliche Modellierung übergeht. Insoweit Gibson die Invarianten als unanfechtbare Umweltgegebenheiten begreift, verzichtet er

9. Um die Invarianten der Bildfläche und der Fläche im Bild zu kennzeichnen, wird man stattdessen auf die Beobachtungsbahnen im Sinne Gibsons zurückgreifen müssen. Im ersten Fall sind sie in die optische Umgebung eingebunden (wie die Wand, an der das Gemälde hängt) und können dementsprechend gleich erfahren werden. Im zweiten Fall sind die Bahnen stark eingeschränkt, wie auch Gibson hervorhebt. Die Disjunktion zwischen den beiden Invarianten gewinnt andere Werte, wenn man bspw. zu einer Skulptur oder zu einer Holografie wechselt. Zu den Invarianten des Bewegungsbildes vgl. Gibson 1982: 314 ff. 171

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auf einen Regulator, der dem visuellen System eine Handhabe darüber an die Seite stellt, was ihm invariant erscheint und was nicht. Dem Sehenden stehen allein Invarianten oder Komplexe von Invarianten gegenüber und das Sehen prozessiert optische Information, ohne regulieren zu können, was auf welche Weise für es informativ wird. Dies gilt für bildfreies Sehen ebenso wie für pikturales Sichten, wie auch Margaret Hagen feststellt: »pictorial styles succeed as representations only to the extent that they capture invariant information for the objects and scenes pictured« (Hagen 1980c: 22). Darüber hinausgehend argumentiert sie auf der Grundlage der optisch-ökologischen Visualitätsdifferenz, dass das visuelle System auch fluktuierende Varianz erfährt und folglich damit befasst sein muss, die stabilen Invarianten zu diskriminieren. Das Gesehene besteht demnach aus den Invarianten-unter-Absehung-akzidentieller-Aspekte. Das heißt, das System benötigt seitens des Sehenden einen Einblick in das Zustandekommen der Invarianten. Es muss sie vom Varianten unterscheiden und gegeneinander stabil halten, um das Gesehene identifizieren zu können. »Ordinary perception is most probably concerned with the business of picking up invariant information from the permanent properties of the environment. But, it also seems true that the perceiver must be aware of the lawful generation of perspectival families and their members for the perception of novelty, change, and location of self. Both the variant and invariant components of optical structure are determined by the common projective rule, which generates them as a function of object character and transformation.« (Hagen 1979: 200) Hagen bezieht die Konstruktions- bzw. Erzeugungsbedingungen, die sich durch die Verdichtung (geo-)metrischer Strukturmerkmale auszeichnen, in die Replikation der optischen Anordnungen ein: »Each aspect [of an object] is available to the observer as is the generative rule governing them« (1980c: 28). Wenn das Sehen die Fähigkeit besitzt, relevante von irrelevanten Merkmalen zu scheiden, um das Verhältnis zwischen dem Varianten und den Invarianten festzulegen und so die Umwelt adäquat zu erfassen, dann muss es auch möglich sein, das Verhältnis auf verschiedene Weise zu bestimmen und so auf verschiedene Weise von Variantem abzusehen. Das heißt, das (In-)Varianzverhältnis ist selbst variabel. Somit können die Invarianten auch verschiedentlich mit varianten Merkmalen versehen werden, von denen wiederum abzusehen ist. Insofern die Konstruktionsregel bekannt sind und beherrscht werden, ist es ein Leichtes, verschiedene (In-)Varianzverhältnisse als das gleiche Gesehene zu identifizieren. Genau dies geschieht beim Sehen von Gegenständen bzw. ihrer Oberflächenstrukturen in Bildern: Zunächst tritt das bildfrei Gesehene – das beobachtete, attentionale Objekt 〈Oa〉 = Ba – als der unumgehbare Verbund von varianten und invarianten Struktureigenschaften auf, deren Verhältnis im visuellen System 172

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explizit reguliert bzw. generiert wird (Xa ∗ Xb). Wird es nun piktural koordiniert, unterliegt sein (In-)Varianzverhältnis – »relative weighting of variants and invariants« (ebd.: 41) – einer voluntativen Manipulation. Um einen Gegenstand im Bild zu erkennen, werden die Invarianten im Verhältnis zu demjenigen, was sehenderweise von ihnen abgezogen wird, variiert. Das Sehen wird demnach durch eine variantenreiche Regulation koordiniert. Impressionistische Gemälde zeigen ihre Gegenstände bspw. mit einem starken Hang zum Varianten, während Karikaturen eher auf eine zugespitzte Form der Invarianz setzen. Neben den regulierten (In-)Varianzverhältnissen der Oberflächenstrukturen gibt es zwei weitere analytische Kategorien für das wahrnehmungspsychologische Verständnis pikturaler Darstellungen: erstens die ebenen resp. voluminösen Muster im Bild und zweitens den angenommenen Beobachterstandpunkt resp. die angenommenen Standpunkte (bezüglich eines im Bild gezeigten Gegenstandes), die eine jeweilige Anordnung aufweisen. Mit Hilfe der drei Kriterien beschreibt Hagen paläolithische Höhlenmalereien und ägyptische Wandbilder, Tafelbilder und Stiche der Renaissance sowie chinesische Tuschezeichnungen, indianische Kunst, Fotografien und andere Stile.10 Inwieweit ihr Ansatz die Bandbreite der Invarianten ausschöpft, in welchem Umfang er die Vielzahl möglicher Darstellungsweisen zu berücksichtigen vermag – trotz der besprochenen Vielfalt befasst sich Hagen ausschließlich mit dem Erkennen statischer, figurativer Motive bzw. mit den, wie sie es ausdrückt, »mechanics of representation« (1986: 240) – und wie weitreichend und kohärent schließlich die Generative Theory in wahrnehmungspsychologischer Hinsicht ist, braucht hier nicht weiter diskutiert zu werden. Das Interesse ist ein anderes. Hagens Ansatz verdeutlicht im Gegensatz zu Gibsons Ausführungen, dass die Modellierung für die Pikturalität erforderlich ist. Das (In-)Varianzverhältnis wird attentional strukturreich und für das visuelle System informativ variiert und daher als Modellobjekt (Ba = M) beobachtet.11 Ein variplizierender Regulator sorgt für das Sehen im Bild. Eine von ihm abhängige Funktion des visuellen Systems besteht darin, etwas zu sehen, das wie ein Gegenstand außerhalb des Bildes aussieht. Bevor diese Funktion jedoch greifen kann, muss das im Bild Gesehene

10. Vgl. insbesondere Hagen 1986. Hier tritt ihr generativer Ansatz deutlich in den Hintergrund. 11. Die beiden anderen Kriterien übernehmen ebenfalls replikative Funktionen: Während die Flächen- und Tiefen-Dimension die relationierbare Reichweite der (in-)varianten Oberflächenstrukturen, also den Modelltyp betreffen, machen sich die bisweilen voneinander abweichenden Standpunkte bzgl. der dargestellten Gegenstände (manches wird von oben, anderes wird von unten gezeigt etc.) als Beziehungsmuster der zu einem Komplex formierten Oberflächenstrukturen im Bild bemerkbar. 173

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selbst ›aussehen‹. Das heißt, die (Ähnlichkeits-)Beziehung zwischen dem (In-)Varianzverhältnis der Oberflächenstruktur im Bild und einem vermeintlich anderen, aktuell nicht gesehenen Gegenstand hängt durchgängig von der modellierenden Koordinationsweise ab. Eine solche Beziehung kann nur errechnet werden, insoweit es die Varietät des Gesehenen erlaubt. Der Replikationswert bestimmt, inwieweit andere Objekte bzw. (In-)Varianzverhältnisse korrelierbar sind. Dies bedeutet gerade nicht, dass das im Bild Gesehene als regelmäßiges, zum Beispiel metrisch korrektes Modell für etwas außerhalb des Bildes oder an anderer Stelle im Bild oder in einem anderen Bild Liegendes dient, sondern es bedeutet vielmehr, dass das im Bild Gesehene als eine Regelmäßigkeit für das Sehen selbst repliziert wird und damit die Bildlichkeit gewährleistet. Zweifellos wird die Bildfläche ebenfalls modelliert. Denn auch ihr (In-)Varianzverhältnis ist manipulierbar, sie reduziert die ›normalen‹ Beobachtungsbahnen und sie betreibt das Spiel von Ebene und Volumen. Wenn das Gesehene der Bildfläche auch in einem geringeren Maße als das Gesehene im Bild varipliziert wird, so erhält man nichtsdestotrotz einen beide gemeinsam und gleichzeitig fokussierenden Komplex K von Modellobjekten, der selbst als ein (In-)Varianzverhältnis vorliegen muss. Seine Attentionalität zeichnet sich durch die Zusammenfassung von variablen Regelmäßigkeiten des Sehens aus. Wie bereits ausgeführt, identifiziert der Komplex die Disjunktion zwischen Bg (für die Fläche im Bild) und Bh (für die Fläche des Bildes): K ↔ (Bg(M) ∨ Bh(M)), wodurch diejenige Differenz des Sehens-in ausgedrückt wird, die sich aus Hagens Ansatz ableiten lässt. Obwohl die Form des symbolischen Temporalobjekts Ξ noch nicht erreicht ist, erlauben die bisherigen Ergebnisse, den Unterschied zu den verwandten Ansichten von Tieren in Wolken herauszustellen. Zunächst fällt auf, dass die Invarianten Bv (für die Ansicht eines Tieres) in der Wolke nur kurzen Bestand haben. Sobald sich ihr eigenes (In-) Varianzverhältnis Bw (für das Verhalten der Wolke) ändert – sie als Wolke jedoch erhalten bleibt –, verschwindet zumeist auch ihre Darbietung. Sie wird offensichtlich durch das Sehen der Wolke bedingt. Das heißt, das in der Wolke Gesehene wird durch das (In-)Varianzverhältnis der Wolke selbst modelliert (Bw = M) und verschwindet in dem Moment, in dem die wolkige Varietät sie nicht mehr zulässt. Andererseits: Wenn in ihr etwas gesehen wird, das nicht die Wolke selbst ist, verfügt dieses Gesehene über ein eigenes, als Modell beobachtbares (In-)Varianzverhältnis, das zunächst eine Ente und gleich darauf möglicherweise einen Adler offenbart (Bv = M). Man hat es mit einer hybriden und kurzlebigen Struktur zu tun, in der die Wolke nur als Modell (Bw = M) beobachtet wird, wenn in ihr ein weiteres Modell (Bv = M) beobachtet wird. Da sowohl die Wolke zu einem Modell geworden als auch die Oberflächenstruktur in ihr als solche beobachtbar ist, wird das Sehen in einem 174

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Komplex K von Modellen koordiniert. Dieses Verhalten zeitigt zwar auch das Sehen im Bild, im deutlichen Gegensatz dazu sind die Modellbeobachtungen am Himmel strikt voneinander abhängig, da die Modellierungen der Wolke die Modellierungen in ihr bedingen (Bw = M = T) und implizieren (←). Demnach gilt: K ↔ (Bw(T) ← Bv(M)). Das Verhalten der Form in der Wolke wird durchgängig vom Verhalten der Wolkenform impliziert. Im Gegensatz dazu wurde für das Sehen in Bildern eine Disjunktion festgestellt. Damit das Sehen in den Zustand von Ansichten versetzt werden kann, müssen drei Bedingungen erfüllt sein. Die Koordination eines visuellen Systems benötigt für das Sehen-in erstens einen Zugriff auf seine zeitliche Struktur, um festzulegen, wann sich das Gesehene auf eine bestimmte Weise realisiert. Das Beispiel der unscharfen Fotografie hat bereits gezeigt, wie sich das Sehen zeitlich auf das Sichten im Bild einstellt. Es handelt sich nur dann um ein Sehen von und in Bildern und es kann sich auch nur dann um Bilder handeln, wenn sich diese Zeitlichkeit entfaltet. Die Koordination benötigt zweitens einen variablen Zugriff darauf, dass etwas auf verschiedene Weise gesehen werden kann, um zum Beispiel Vergleiche errechnen und Ähnlichkeiten feststellen zu können. Die visuellen Systeme müssen beiden Anforderungen entsprechend reguliert werden, damit eine Doppelgestalt – sei es die Ansicht eines Gegenstands oder eines Handlungsvollzugs, einer abstrakten Form oder eines visuellen Konzepts – gesehen werden kann. Nur die Beobachtung von Komplexität gibt in einer ohnhin temporalisierten Beobachtungsstruktur die Möglichkeit an die Hand, die anfallende Zeitlichkeit (über die Regualtion der oszillierenden Objekte hinaus) informativ zu machen. Und nur die Modellierung von Modellen ermöglicht es, das gleiche Gesehene nicht nur verschieden sehen zu können, sondern diese Verschiedenheit darüber hinaus zu manipulieren und so die Erscheinungsweisen (über die variablen Erscheinungen hinaus) informativ zu machen. Für die Koordination einer Ansicht genügt drittens nicht allein das Vorhandensein beider Beobachtungen. Vielmehr müssen die zeitliche und die modellierende Regulation ineinander greifen und ein Gesehenes generieren. Die Erscheinungsweisen fallen zu einer wählbaren Zeit an. Die Regulation von Ansichten erfordert also die kombinierte Attentionalität von Komplexität K und mehrstufiger Modellierung T.12

12. Um einen Widerspruch zu vermeiden, muss das in Abschnitt 3 (S. 156 f.) angeführte Beispiel für das Modell eines Modells ergänzt werden: Die Ansicht der anhand einer Stoffprobe exemplifizierten Farbe besteht aus dem Komplex eines Modells M für Farbigkeit (das Spektrum aller vom Modell implizierten Farbwerte) und eines Modells D ihrer Artikulation, die die Farbigkeit transformiert. Es bleibt zwar dabei, dass die Probe jede mögliche Farbe beschreibt. Beide Modelle müssen jedoch gleichzeitig vorliegen, da175

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Wenn dies stimmt, kann der mit Hagens Wahrnehmungspsychologie festgestellte Komplex – der Komplex einer Disjunktion von Modellen K ↔ (Bg(M) ∨ Bh(M)) – die zur Diskussion stehende Pikturalität nicht vollständig zum Ausdruck bringen. Einerseits verzichtet er auf die Modellierung von Modellen (zweite Bedingung) und setzt stattdessen nur zwei unabhängige Modelle miteinander in Beziehung. Andererseits verzichtet er auf die Verschachtelung (dritte Bedingung) und berücksichtigt nicht den Eingriff der beobachteten Komplexität K in die Reichweite der Modellierungen – im Gegensatz zur vorgenommenen Bestimmung der Wolkenansicht. Während die Transformationen T der Wolken innerhalb des zeitlichen Rahmens des beobachteten Komplexes verharren, bleibt offen, ob die Erfüllenden der disjunkten Modelle Bg(M) und Bh(M) ebenfalls simultan beobachtet werden, wenn sie beobachtet würden. Eine partielle Überschneidung von modellierenden (In-)Varianzverhältnissen genügt dem pikturalen Sichten noch nicht, da ihre Variplikationen unabhängig von den Vorgaben der fokussierten Disjunktion verlaufen: Ob jeder erreichbare Zustand von Bg(M) und Bh(M) auf den Komplex beschränkt bleibt bzw. ob die erfüllenden Objektbeziehungen über die gleichzeitige Beobachtung ihrer Modelle hinausgehen und auf diesem Wege das gemeinsame Beziehungsgefüge K verlassen, vermag es nicht zu bestimmen. Die Beobachtung von Komplexität definiert nur die Beziehungsmuster der in ihr gefügten Objektbeobachtungen, kann aber nicht ausschließen, dass die Beobachtungen zur gleichen Zeit und außerhalb des Musters weitere Relevanz beanspruchen. Dies ist jedoch problematisch, da die Variplikation einer Ansicht genau die Reichweite einhalten muss, die die identifizierte Disjunktion vorgibt. Außerhalb ihres Beziehungsmusters liegt keine Ansicht mehr vor: Die am Rand eines Gemäldes gesehene Leinwand hört auf, sich in die Farbgebung einzumischen, sie ist nur noch gesehene Leinwand und kein gesichtetes Bild mehr. Ebenso ist die über die gezeichnete Flächenbegrenzung hinaus geführte Linie eines Comicstrips nur noch ein gesehener Strich und keine variable Formgebung mehr. Das heißt, der Attentionalität von K ↔ (Bg(M) ∨ Bh(M)) fehlt ein Kriterium, das die Reichweite der disjunkten Modellierungen auf das Bildsehen begrenzt. Wie zuvor schon Gibson vernachlässigt Hagen, dass die im Bild gesehenen Gegenstände, Sachverhalte und Vorkommnisse einerseits und der gesehene bildnerische Gegenstand andererseits sich gegensei-

mit von einer Ansicht der exemplifizierten Farbe die Rede sein kann: KAnsicht ↔ (BProbe(T) ↔ BFarbe(M)) mit T = D und M = M. Die Farbigkeit muss einen aktuellen Zustand annehmen, um exemplifiziert werden zu können. Die Funktionstüchtigkeit einer Probe als Probe benötigt indes keine Simultanität. Sie behält ihre Funktion auch außerhalb des Komplexes, wenn nicht zugleich beobachtet wird, wofür sie einsteht. 176

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tig begrenzen und ein gemeinsames, komplexes (In-)Varianzverhältnis konfigurieren. Bedenkt man zusätzlich, dass die Oberflächenstruktur des Bildes und die Oberflächenstruktur in ihm dies auf mannigfaltige Weise tun, kommt die nochmalige Regulation der disjunkten Modelle Bg(M) ∨ Bh(M) ins Spiel. Die Ausschnittwahl bei einer Fotografie mit ihren Folgen für das in ihr zu sehen Gegebene, die auf das Format abgestimmte Komposition bei Gemälden oder Zeichnungen, die variable Größe der Einzelbilder bei einem Comicstrip oder die Wahl der Schnitte bei der Filmmontage mit den entsprechenden Folgen für die Erzählform zeigen allesamt, dass die Disjunktion ihrerseits variiert wird, um das Gesehene als Ansicht zu koordinieren. Sie resultiert nicht nur aus einer partiellen Überschneidung und disjunkt aufeinander abgestimmten Variplikation der (In-)Varianzverhältnisse, sie resultiert ebenso aus einer Variplikation dieses disjunkten Verhältnisses. Das symbolische Temporalobjekt Ξ erfüllt die genannten Bedingungen. In seinem Arrangement greifen die beobachtete Komplexität und die Reichweite der mehrstufigen Modellierungen ineinander. Die einfachen Modelle Bg(M) und Bh(M) werden im Komplex K temporal koordiniert und sie erfahren über seine Modellierungen Ξ zudem eine regulative Varietät, die über die Begrenzung der disjunkten Modelle verfügt und keinen bildnerischen Zustand außerhalb von ihr zulässt. Auf diesem Niveau realisiert das Sehen die unterschiedlichsten Dinge und kann sich dennoch sicher sein, das Selbe zu sehen: Pikturalität. Erst mit dem symbolische Temporalobjekt ist die pikturale Ansicht des Sehensin gegeben und operabel gemacht. Es wird deutlich, wie reduktionistisch und trügerisch es ist, sich einzig auf das im Bild Gesehene und auf seine Abbildungsfunktion zu beziehen, um aus ihnen eine für alle Sehenden gültige Bedeutung abzuleiten und damit letztlich die Kommunikativität zu belegen. Erstens ist kaum zu klären, was die einzelnen Sehenden im Einzelnen sehen, wenn sie etwas in Bildern sehen. Daher lässt sich weder plausibel feststellen, welche Bedeutung das Gesehene erhält, noch lässt sich überprüfen, welcher Teil des Gesehenen signifikant wird bzw. welcher Teil unberücksichtigt bleibt. Das Bild des sterbenden Präsidenten kann ›sterbender Präsident‹ bedeuten wie es auch als ›gefallener Mann‹ begriffen werden kann, wenn man weder sieht, dass es sich um einen Präsidenten handelt, noch seine Wunde erkennt. Ebenso kann es die ›Grausamkeit der Attentäter‹ bedeuten wie man darin auch den ›Hochmut, der vor dem Fall kommt‹ erblicken kann. Zweitens sagt die Heterogenität des Gesehenen und ihre nachgeordnete Bedeutungsvielfalt nichts über die Kommunikation und über ihre Operativität, über ihre Zurechnungsweisen und ihre Anschlussmodalitäten aus. Kommunikativ bedingt ist einzig die Form der Aufmerksamkeit, die dem Sehen aufgebürdet wird – so will es zumindest die hier vertretene Auffassung. Wenn in der beschriebenen Weise gesehen und 177

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die pikturale Darstellung zugleich kommunikativ relevant wird, dann ist das Sehen bildkommunikativ gekoppelt. Wie es sich innerhalb der strukturellen Konditionen vollzieht und zu welchen Ergebnissen es kommt, obliegt allein ihm. Drittens gibt man den Bildbegriff auf, wenn er auf die Oberflächenstruktur im Bild reduziert wird, da sie nur einen Bestandteil des attentionalen Komplexes liefert. Beschränkt man sich nichtsdestotrotz für einen Moment auf das im Bild Gesehene, so erlangt die Abbildfunktion viertens immer noch keine erklärende Kraft. Bilder führen interne Sichtweisen bzw. Varianten von bspw. (In-)Varianzverhältnissen ein, die in eine sichtbarmachende Regulation eingebunden sind und die unter anderem kontingente Abbilder zur Verfügung stellen. Vielleicht hat es in anderen historischen Konstellationen und unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen Sinn gemacht, zur Klärung der Pikturalität die Abbildfunktion zu präferieren, weil mit ihr der pragmatische Nutzen, die Dinge zu zeigen, wie sie ›wirklich‹ sind, und die paradigmatische Gestaltungsvorgabe, die ›wahre‹ Natur zu offenbaren, verbunden waren.13 Diese Zurichtung ist jedoch nur ein, wenngleich ein historisch erfolgreicher Anwendungsfall von vielen verschiedenen Möglichkeiten, in Bildern zu sehen und zu sehen zu geben. Die Bestimmung der Pikturalität muss im Folgenden weiter vertieft werden, da die Bilder bisher als gegeben vorausgesetzt wurden, um ihre attentionale Form herzuleiten: als das Sehen des Bildes oder des bildnerischen Gegenstands und als das Sehen im Bild oder des gebildeten Gegenstands. Dass dieses Vorgehen nicht zufrieden stellen kann, ist offensichtlich. Gewiss ist es nicht falsch, Pikturalität in Bildern zu suchen und ein Bild als dasjenige zu bestimmen, wo der pikturale Effekt der disjunkten Oberfläche beobachtet werden kann. Die Aussage ist so richtig, wie eine Tautologie nicht falsch sein kann. Es besteht weiterer Klärungsbedarf. Daher darf nicht der Sonderfall der Abbildfunktion mit ihrer Erfüllungsgehilfin der Ähnlichkeitsbeziehung im Mittelpunkt des Interesses stehen. Vielmehr muss die Frage nach der Morphogenese des Sehens-in beantwortet werden: Auf welchem Wege gewinnt es sei-

13. Die Normativität der Abbildfunktion hinterlässt gewiss heutzutage noch ihre Spuren. So führte die Herausgabe einer Briefmarke durch die Deutsche Post zu einigen Irritationen. Das gewählte Motiv zeigte den Kölner Dom und zeigte ihn wiederum nicht. Zwischen den Zwillingstürmen hatte sich ein dritter Turm eingeschlichen, der den Protest der Dombaumeisterin und des Dompropstes auf sich zog. Sie konnten sich mit ihren Beschwerdebriefen an das zuständige Finanzministerium jedoch nicht durchsetzen. Der Ministerialrat R. ließ sich nicht beirren und vertrat die Auffassung, man könne den Dom auf der Briefmarke eindeutig erkennen. »Alle, die guten Willen haben, sehen darauf eindeutig den Dom«, erwiderte er. Für die Gestaltung der Briefmarke bediente man sich versehentlich der Zeichnung eines nicht realisierten Entwurfs. Zu diesem Vorfall vgl. Frankfurter Rundschau vom 11.08.2001, S. 32. 178

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ne Form? Wenn dies geklärt ist, wird man auf die immer schon vorausgesetzte Gegebenheit von bildlichen Gegenständen verzichten und die Pikturalität ganz auf die systemischen Prozesse zurückführen können. Da sie weder im visuellen und schon gar nicht im sozialen System als Gegenstand prozessiert werden kann, ist die Klärung der Morphogenese schlicht notwendig. Wie also erklimmen visuelle Systeme das Aufmerksamkeitsniveau von Ξ und wie können sie sich dort stabilisieren? Was heißt es für das Sehen, im Bilde zu sein, und welche Bedingungen müssen erfüllt werden, damit es dort für eine Weile verbleiben kann? Da man sie nach wie vor als solche sehen muss, um sie einer näheren Bestimmung zu unterziehen – wie sollte man Bildlichkeit sonst untersuchen können –, ist weiterhin von ihrer operativen Verwirklichung auszugehen. Es ist zu zeigen, wie diese Verwirklichung die konstatierte Form annimmt.

Endogenese und Exogenese Die Differenz des Sehens-in, die Differenz zwischen dem mit dem Bild gegebenen Gegenstand und dem gegebenen Gegenstand des Bildes ist weithin akzeptiert und hat zur Formulierung verschiedener, widerstreitender Versionen Anlass gegeben. Gibson beschreibt sie als die Differenz der Oberflächenstruktur des Bildes und der Oberflächenstruktur im Bild. Waldenfels kennzeichnet sie als Doppelgestalt, die ihre Funktion darin hat, »das Bild als Ding, das sich mitzeigt, und das Bild als Bild, das die Aufgabe hat, anderes zu zeigen« (1994: 238). Man findet die Differenz auch in Husserls Dreigliedrigkeit des Bildbewusstseins, in das sich eine über das pikturale Sehen hinausgehende Zeichenrelation einreiht. Er unterscheidet zwischen: »1) Das physische Bild, das Ding aus Leinwand, Marmor usw. 2) Das repräsentierende oder abbildende Objekt, und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt. Für das letztere wollen wir am liebsten einfach Bildsujet sagen« (1980: 19). Maurice H. Pirenne erklärt in seiner Diskussion der (zentral-)perspektivischen Komposition von Gemälden, dass man beim Sehen der räumlichen Tiefe nicht vollständig von der darstellerischen Fläche absehen kann (vgl. 1970: 113 ff.). William Mitchell lässt sich von der Opposition des Materiellen und des Immateriellen leiten: »Gemälde und Kunstwerke (pictures) sind die konkreten, materialen Objekte, in oder auf denen immaterielle Bilder (images) erscheinen. […] Das Bild (picture) ist das Bild (image) plus der materielle Träger; es ist die Erscheinung des immateriellen Bildes (image) in einem materialen Medium« (2001: 166). Lambert Wiesing geht in seiner Untersuchung über die Sichtbarkeit des Bildes von einer Differenz zwischen der Bildoberfläche und dem Bildgegenstand aus und vertritt die Auffassung, dass Bilder auf ihrer gegenständlichen Oberfläche in paradoxer Weise Sichtbarkeit produzieren: 179

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»Die Bildlichkeit verlangt, daß durch ein Bild eine Form von Sichtbarkeit erzeugt wird, die sich von der Sichtbarkeit ›normaler‹ Gegenstände dadurch abhebt, daß sie – so paradox dies auch klingen mag – nicht die Sichtbarkeit von dem ist, was man sieht. Man braucht nicht davor zurückzuschrecken, dies als die Definition des Bildes zu verstehen: Bilder sind die Gegenstände, auf denen etwas gesehen werden kann, das an der Stelle, wo sich das Bild als Gegenstand befindet, nicht vorhanden ist.« (Wiesing 1997: 160)14 Die Gemeinsamkeiten und Unvereinbarkeiten der verschiedenen Versionen sollen nicht weiter untersucht werden. Stattdessen bietet Wiesings Begriffsfassung die Gelegenheit, die bisher erreichte Position noch einmal zu verdeutlichen und einige Missverständnisse auszuräumen. Die These zur Differenz des Sehens-in lautet: Der Gegenstand im Bild ist ein ausschließlich im Bild gesehener Gegenstand (Invarianz, Gezeigtes, Repräsentierendes etc.) und inhärenter Bestandteil der Ansicht und des Bildersehens (Ba(Ξ) / Ab). Er ist kein vom Bild heraustrennbarer und unabhängig zu setzender Gegenstand. Kurz: Er ist gebildet. Wo sollte er also gesehen werden, wenn nicht genau dort, wo er erblickt wird?15 Eine Fata Morgana sieht man ebenfalls an der Stelle, wo der Blick sie erfasst, und zwar auch dann, wenn man sich der Täuschung bewusst ist. Ebenso sieht man die gespiegelten Gegenstände an keiner anderen Stelle als im Spiegel. Nicht anders verhält es sich bei einem Bild: Es befindet sich mit seinen gezeigten Gegenständen genau dort, wo es sehenderweise erfasst wird. Sicherlich stellt sich die Frage anders, wenn man etwas über die Bedeutung von Bildern erfahren möchte. Wenn das Bild des Präsidenten bedeutet, dass er vor seinem Amtssitz niedergeschossen wurde, so verwechselt man kaum den Ort des Bildes mit dem Amtssitz, genauso wenig wie man das Bild des Präsidenten mit dem Präsidenten verwechselt. Um diesen Transfer herzustellen und um zu fragen, auf was ein Bild deutet, ist es unverzichtbar, die Bedeutung des Bildes zu bestimmen – und genau dies versäumt Wiesing. Obwohl er in aller Deutlichkeit die Gestaltung der Sichtbarkeit und die künstlerische Produktion von rein Gesehenem beschreibt – »jedes Bild muß seine Oberfläche zu einem eigenständigen Phänomen erheben« (ebd.: 161) –, tappt er in die semiotische Falle und vermengt die selbst bedeutsamen Leistungen des Sehens mit den darauf aufbauenden und daran anschließbaren semantischen Verweismöglichkeiten. Das Bild des Präsidenten muss nicht notwendigerweise als Zeichen für einen Präsidenten verwendet oder verstanden werden. Wenn dies dennoch

14. Offensichtlich versteht Wiesing die Sichtbarkeit im Sinne des Gesehenen und nicht als den das Sehen implizierenden Modus, wie es in dieser Studie geschieht. 15. Zur Position Wiesings vgl. auch ders. 1995: 269 ff., wo er sich – Husserl und insbesondere Taine folgend – von dem Widerstreit zwischen der Transparenz und der Opazität an der Bildoberfläche leiten lässt. 180

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geschieht und wenn das Bild bspw. auf Grund einer festgestellten oder mutmaßlichen Ähnlichkeitsbeziehung als Zeichen dient, so spricht man zwar zu Recht von Ikonizität.16 Über Bildlichkeit ist damit allerdings noch nichts ausgesagt. Es bleibt dabei: Bevor ein Bild als Bild auf etwas verweist, ist bereits ein modulierter Verweisungszusammenhang des Sehens selbst konstituiert. Um Bildlichkeit zu beschreiben, beruft man sich häufig – wie auch hier geschehen – auf Gemälde, Grafiken oder andere bildnerische Gegenstände. Sie haben die zu kurzschlüssigen Bemerkungen verleitende Eigenschaft, gerahmt oder auf andere Weise begrenzt zu sein. Man kann sie anfassen und mit sich herumtragen, man kann sie zählen und sich ihrer nicht-bildlichen Rückseite zuwenden. Sie können als Bilder behandelt werden, ohne auch nur das Geringste auf ihnen erkannt haben zu müssen. Daher macht man sich – wie im Fall der unscharfen Fotografie – auf die Suche nach pikturalen Ansichten, obwohl zunächst nicht viel für ein erfolgreiches Bildersehen spricht. Da sich demgegenüber auch pikturale Fälle beobachten lassen, in denen kein begrenzter und zugleich begrenzender Gegenstand vorliegt, liefert er einen nur schlechten Ausgangspunkt für die Bestimmung von Bildlichkeit. Eine Lasershow bspw. besteht einzig aus Lichtgestaltungen. Ihre in den freien Raum projizierten Bilder währen nur so lange, wie die Strahlen emittiert werden. Es gibt kein Papier, das man zerknicken könnte, keinen Rahmen, den man an die Wand hängen sollte, und keinen Monitor, den man vom Staub befreien müsste. Erkennt man bei einem Strandspaziergang gezeichnete Linien im Sand und stößt nach einigem Betrachten auf ein Muster oder auf ein Gesicht, wird man trotz dieser Bildlichkeit keinen korrespondierenden Gegenstand identifizieren können, dessen Ausmaße zugleich das Bild definieren. Man sieht lediglich den Sand und die in ihn eingegrabenen Linien. Sie bestehen selbst aus nichts anderem als aus Sand, der weit über den pikturalen Bereich hinausreicht und der folglich auf pikturale und auf nicht-pikturale Weise gesehen wird. Ein weiteres Beispiel liefern gezeichnete und eingekratzte Ansichten an der Wand einer Höhle, die konturlos in den Höhlenboden übergeht. Muss man deswegen den gesamten Innenraum der Höhle als den bildnerischen Gegenstand begreifen? Oder bindet sich das Sehen nicht vielmehr an den Bereich, in dem gezeichnet und gekratzt wurde, das heißt: in dem die Linien gesehen werden? Das Bild befindet sich dort, wo die Linien verlaufen und wo sie sich von einem anderen Bereich unterscheiden, in dem die gestalterische Wirkung der Linien en-

16. Einen Überblick über semiotische Ansätze zur Bildanalyse gibt Göran Sonesson (1993 und 1994). Einen kurzen Einblick in die zeitgenössische Semiotik der Ikonizität gibt Börries Blanke (1998). 181

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det. Dabei lässt sich der felsige Untergrund nicht komplett von den eingravierten Linien distinguieren, da die Wand bisweilen zum bildnerischen Gegenstand gehört: Ein kleiner Felsvorsprung zieht vielleicht eine verbindende Linie oder eine besonders rauhe Stelle dient als Schattenwurf eines Bisons. Man legt sehenderweise die Oberfläche fest, auf der sich die pikturalen Effekte zeitigen und auf der sich in gleichem Maße ihre Wirkung verliert. Die Ansicht reicht folglich immer nur so weit, wie sich diese Oberfläche erstreckt und wie sich das Sichten in ihr begrenzt. Der bildnerische Gegenstand fügt sich vollständig in das Verfahren des Sehens ein und findet hier seine Grenzen. Verzichtet man darauf ihn vorauszusetzen, stellt sich demnach eine komplementäre Frage: Wie wird die Grenze zwischen dem Bild als materialer Oberfläche und der Oberfläche im Bild gezogen, wie verläuft sie und wie wechselt sie in einen ansichtenfreien Bereich? Ein kurzes Gedankenexperiment gibt möglicherweise weitere Auskunft: Bei einem blauen Farbfleck handelt es sich wie bei der Wand, an der er sich befindet, um einen gesehenen Gegenstand mit Eigenschaften, die gerade genügend Intensität aufbieten, um betrachtet zu werden. Die Intensität der farblichen Qualitäten (Ba / Ab) kann nun bspw. dahin tendieren, eine variable, nicht durchgängig gleiche Bläue des Flecks auszuweisen. Eine Schwankung der Tönung und Helligkeit oder ein Schimmern führen so nicht nur einen anderen gesehenen Wert mit sich, sondern bezeugen zugleich die Modifikation des Sehens (Ba(M) / Ab). Sowohl das Gesehene als auch das Sehende verändern ihren Wert und damit ihre replikative Stellung zueinander. Zunächst scheint dort irgendeine Unregelmäßigkeit an der Wand zu sein, die man fast übersehen hätte. Der Blick – für einen Moment aufmerksam gemacht – erkundet diese Stelle und erkennt eine fast zufällige Gestalt. Nun ist es möglich, den Rand und andere Beschaffenheiten des Flecks zu betrachten, bis man bemerkt, dass er doch nicht so zufällig beschaffen ist, wie zunächst angenommen. Er verfügt über eine Struktur und eine Linienrichtung und sieht wie ein Pinselstrich aus, der beim Anstreichen der Fensterrahmen versehentlich auf der Wand hinterlassen wurde. Der Fleck wird zur Ansicht einer ebenso zufälligen wie vermeidbaren Pinselführung (Ba(T) / Ab). Die Ansicht wird gewonnen, indem das Gesehene in mehreren, miteinander synchronisierten Hinsichten gesehen wird. In gleicher Weise kann man die Spiegelung der untergehenden Sommersonne vom übrigen Gesehenen der Wasseroberfläche separieren oder das Farbspiel der Blätter im Herbst betrachten und dadurch zu saisonalen Ansichten gelangen. Man sieht den Tanz fantastischer, orange-roter Gestalten auf dem Wasser und man sieht den Herbst. Man sieht in der Tat, wie er sich in seinen Farben ausdrückt, man sieht ihn jedoch nicht im Bild. Und so verhält es sich auch mit dem blauen Fleck. Insofern er nur als Ansicht für eine missglückte Pinselführung begriffen wird, ist er 182

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noch nicht bildlich. Obwohl der pikturale Zustand noch nicht erreicht ist, wird die grundlegende Transformation deutlich, die dem Sehen eine Differenzierung zwischen der Wand und dem an sie geschmierten Fleck einerseits und seiner angesichtig gemachten Entstehung andererseits erlaubt. Sobald er darüber hinaus in seiner Bläue und in der spezifischen Nuancierung der Farbtöne, in seiner Linienführung und in ihrer Figürlichkeit erkannt wird, sobald der Fleck mit den ihm zugehörigen, manifesten und zugleich differenzierten Eigenschaften als gestalthaft und gestaltet erscheint, beginnt seine Pikturalität. Sie ist eine stabilisierte Form des Absehens von und des Hinsehens auf die Materialbzw. auf die Oberflächengestaltung (Ba(Ξ) / Ab). Der Farbfleck ist nicht mehr zufällig an der Wand hinterlassen worden und er zeigt auch nicht mehr allein die Breite des Pinsels und die Charakteristik seines Strichs. Der Fleck ist nun ein in sich abgeschlossenes Muster, in dem sich der Blick umsieht und über Oberflächenbeschaffenheiten informiert, die nur innerhalb des Musters gelten, und in dem Ansichten von Dynamik oder Wasserwogen, von Himmelsschleifen oder landenden Flugenten möglich werden. Konrad Fiedler hat dies als »freies selbständiges Gebilde« der Sichtbarkeit beschrieben, das eines Materials bedarf, das »selbst wiederum sichtbar ist, und durch dessen Bearbeitung es möglich wird, jene Sichtbarkeitsgebilde tatsächlich herzustellen«.17 Nichtsdestotrotz muss von dem Material abgesehen werden. Man sieht zwar nicht von der verschmierten Wand ab – würde man dies tun, verlöre man alles aus dem Blick. Man sieht aber davon ab, dass der Farbauftrag lediglich ein Fleck auf der Wand ist. Mit der Morphogenese der bildlichen Form geht unweigerlich eine Modellierung und eine Disjunktion des gesehenen Materials einher. Für den bildnerischen Gegenstand, der mit der aufgetragenen Farbe in einem Segment der Wand gegeben ist, ergibt sich eine erstaunliche Konsequenz. Zunächst ist davon auszugehen, dass von ihm nur die Rede sein kann, wenn das Sehen bildlich verfährt, wenn es in einem gestaltbaren Material also zu einer modellierenden und disjunkten Verschiebung der Aufmerksamkeit gekommen ist. Ansonsten wären sie nur schlichte, gesehene Gegenstände. Diejenigen Stellen der Wand, an denen kein Fleckenbild zu sehen ist, gehören folglich weder in das Bild noch zu seinem Gegenstand. Ebenso fallen andere Stellen aus dem Bild heraus, an denen zum Beispiel einige Farbspritzer zu erkennen sind, die jedoch nicht zur Dichte des Musters passen oder zu weit von ihm entfernt sind. Das Sichten zieht operativ eine Grenze zwischen der

17. Siehe Fiedler 1971: 320 f. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Fiedler diesen Vorgang der künstlerischen Praxis zuschreibt und nicht als Modulation der Sichtbarkeit begreift; mehr dazu in Abschnitt 5, S. 201 f. Auch Wiesing (1997: 151-167) diskutiert Fiedlers ästhetische Konzeption der Sichtbarkeit. 183

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pikturalen und der nicht-pikturalen Oberflächenorganisation. Wo sie endet, wo die pikturale Ansicht ihre Wirkung einbüßt und wo dem Blick die Produktion von Sichtbarkeitsgestaltungen entgleitet, wird im Sehen eine Differenz eröffnet, über die nur das Sichten verfügt. Bilder sind demnach dadurch gekennzeichnet, dass das Sichten die Unterscheidung zum bloßen Sehen mitführt und dass auf diesem Wege die fragliche Grenze der Oberfläche gezogen wird. Man sieht, dass es jenseits der Ansicht nichts mehr zu sehen gibt – zumindest nichts, das sich auf das Sichten zurückbeziehen ließe. Die Fläche im Bild besteht dort, wo das Sichtbarmachen fortwährt, während die Bildfläche überall dort besteht, wo das Sichtbarmachen ins bloß Sichtbare wechselt. Der Wechsel wird auf attentionalem Niveau durch den Wendepunkt oder die Bifurkation zwischen der Beobachtung eines symbolischen Temporalobjekts und anderen Beobachtungsformen der Visualitätsdifferenz markiert. Welche Rolle spielt dabei der bildnerische Gegenstand? Operiert das Sehen jenseits der Grenze, kann es sich, wie gerade angemerkt, nicht mehr um einen solchen Gegenstand handeln. Im Bild sieht man den bildnerischen Gegenstand (als Wandausschnitt mit Farbe) ebenso wenig, weil er dort vollständig in die Koordination der Ansichten eingebunden ist. Wenn man ihn weder außerhalb noch innerhalb des Bildes sieht: Wo zeigt er dann seine Wirkung? Es bleibt nur, ihn als die operative Differenz bzw. als die Grenze des Sichtens selbst zu bestimmen, an der sich das Aufmerksamkeitsniveau des Sehens entscheidet. Das bedeutet: Der bildnerische Gegenstand ist einzig als eine bifurkative Funktion des Sichtbarmachens und nicht mehr als der Rand von anfassbaren, zählbaren Bildträgern zu begreifen. Im Bild zu sehen heißt, innerhalb einer bifurkativ-modifikativen Grenze zu sehen. Sie übernimmt diejenige Funktion, die man gewöhnlich dem bildnerischen Gegenstand zuschreibt. Die Unterscheidung zwischen der Bildfläche und der Fläche im Bild, zwischen dem bildnerischen Gegenstand und dem Gegenstand im Bild wird durch eine operativ gezogene Grenze markiert. Der Rahmen eines Gemäldes oder das Papierformat von Fotografien sind nur zwei von vielen Möglichkeiten, diese Funktion zu erfüllen. Es ist daher nicht völlig falsch, die Bildgrenze mit den körperlichen Ausmaßen eines Trägers zu identifizieren. Darin liegt aber eine auf wenige Gestaltungsweisen reduzierte Sichtweise. Im Fall des Fleckenbildes vermag die Ausbreitung des Farbauftrags allein (unter Verzicht auf die Wand) die Grenzfunktion nicht zu erfüllen, da das Sichten auf diesem Wege erstens den Relevanzbereich des pikturalen Musters nicht bestimmen kann und da ihm zweitens der Übergang in den bloßen Sehbereich verschlossen bleibt. Insofern der gesamte Fleck und nicht nur ein Ausschnitt von ihm in eine Ansicht transformiert wird, benötigt seine Pikturalität ein nicht-fleckiges Wandsegment, das die Ansicht als Ansicht, das heißt als einen Gültigkeitsbereich für

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eine bestimmte Blickführung markiert. Kurz, zur Ansicht gehört notwendigerweise die Festlegung ihrer Reichweite. Da ein Stück der den Fleck umgebenden Wand integral zur Ansicht gehört, da also nicht der gesamte Bereich außerhalb von ihm im bloß Gesehenen Ba liegt, verläuft die modifikative Grenze nicht unmittelbar am Übergang zwischen dem Fleck und der nicht-fleckigen Wand.18 Wie weit die nackte Wand zur Ansicht zählt und wo das Sichtbarmachen seine spezifische Modulation verliert, lässt sich jedoch nicht präzise definieren. Bilder sind folglich nicht scharf umrissen, wie es manche Begrenzungsformen suggerieren. Im Gegenteil, häufig verläuft die Grenze mitten durch einen Bildträger hindurch, und zwar auch dann, wenn er physisch begrenzt ist. Für die pikturale Ansicht des sterbenden Präsidenten sind bspw. viele Bereiche der Fotografie irrelevant. Ob man sie herausschneidet oder abdeckt, macht für die tragische Ansichtenbildung keinen Unterschied, obwohl es als Intervention in das Material zweifellos einen Unterschied macht. Die differenzielle Fläche des Sehens-in zieht sich durch das Foto hindurch. Ihre Grenzziehung fällt mit dem äußeren Rand des Formats oder mit der Erstreckung der metrischen Ebene nur in solchen Ausnahmefällen zusammen, in denen man sich auf den Rand bezieht oder in denen die Ebene in ihren gleichmäßigen, euklidischen Ausmaßen relevant zu machen ist. Die differenzielle Fläche oder Oberfläche umreißt alle Stellen, die sich sehenderweise als Teil einer Ansicht bestimmen lassen. Pirenne hat in seinen Untersuchungen zur räumlichen Tiefe, die man in (zentral-)perspektivischen Bildern sieht, darauf hingewiesen, dass man die Verzerrungen, die unter rein optischen Gesichtspunkten im Bild auftreten, sehenden Auges deswegen nicht wahrnimmt, weil man sich im Regelfall neben der Tiefenansicht auch der ebenen Fläche des Bildträgers bewusst ist: »the actual pattern on the surface of a representational picture must be perceived, as a surface pattern, even though the spectator may only be dimly aware of this, at the same time as the objects represented are seen as scene in depth« (ders. 1970: 113 f.). Pirenne beruft sich auf Michael Polanyi, der das pikturale Sehen von perspektivischen Darstellungen als eine Kontradiktion zwischen der Ebene und der Tiefe beschreibt. Dem legt Polanyi eine weitere Unterschei-

18. Im Paradigma der Gestalttheorie können der Übergang zur nicht-fleckigen Wand und die Grenzfunktion leicht gezeigt werden, denn die Figur des Flecks benötigt einen Grund, der notwendigerweise zur Pikturalität hinzuzuzählen ist. Wenn die Ansicht innerhalb des Farbflecks gefunden wird, verlaufen der Relevanzbereich des Musters und die Grenze zum bloß Gesehenen allein im farbigen Bereich. Dies gestattet den Verzicht auf die umliegende Wand nur deswegen, weil ein Segment des Farbauftrags nun die äußere Begrenzung vornimmt. 185

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dung zu Grunde, die Unterscheidung zwischen der begleitenden und der fokussierenden Wahrnehmung. Pirenne bezieht sich auf die begleitende Wahrnehmung, die die Funktion übernimmt, sehenderweise vom Farbauftrag und der ebenen Leinwand eines Gemäldes abzusehen und sie als eine Ansicht erscheinen zu lassen.19 Damit steht sie im Gegensatz zur fokussierenden Wahrnehmung, die sich auf das einzeln Gesehene konzentriert – sei es auf Aspekte der Ansicht oder auf ihre Gestaltungsmittel. Die begleitende Wahrnehmung integriert Gegensätzliches, die fokussierende Wahrnehmung dissoziiert: »Die Teile einzeln zu sehen, heißt sie fokussiert zu sehen, während zu sehen, wie sie zusammen ein Ganzes bilden, ein Sehen mit begleitender Wahrnehmung bedeutet« (Polanyi 1994: 153). So werden zwei Verfahren des Sehens unterschieden, die den Blick auf ein Bild in entgegengesetzte Richtungen führen. Die Wahrnehmung der pikturalen Ansicht wird vom Sehen der ebenen Leinwand und der auf sie aufgetragenen Farbe begleitet, ohne dass sie sich als Leinwand und als Farbauftrag eigenständige Geltung verschaffen könnten. Tun sie dies, indem man auf dem anderen Wege weit in die farbige Fläche eindringt, lösen sich sämtliche Ansichten auf. Von einem Bild kann man demnach nur unter den Bedingungen der begleitenden Wahrnehmung sprechen. Polanyi argumentiert: »Sagt man (mit Gombrich), man sehe entweder Leinwand plus Flecken oder ein Bild, so übergeht man, dass wir in einem Bild Leinwand plus Flecken begleitend und nicht fokussiert sehen. Solch ein Bild umfaßt sowohl die perspektivische Tiefe seiner Malerei als auch die Flachheit seiner Leinwand, wobei diese beiden kontradiktorischen Eigenschaften als eine verbundene Qualität gesehen werden; und in der Tat ist eben diese Qualität für ein normales Bild charakteristisch. Diese Qualität ist perspektivisch, doch die Perspektive ist gedämpft durch einen Überzug von Flachheit. Und es ist diese Qualität von Tiefe-mitFläche, die ein normales Bild davor bewahrt, täuschend zu werden und es vor Verzerrung bei Seitenansicht schützt.« (Ebd. 154) Es zeigt sich erneut, dass die Pikturalität nur wirksam wird, wenn es gelingt, die Oberflächenstruktur des Bildträgers und die Oberflächenstruktur im Bild gleichzeitig zu sehen, und wenn sie ausschließlich aus dieser Differenz heraus begriffen werden. Die perspektivische Malerei

19. Pirenne beruft sich 1970 auf Polanyis Begriff des subsidiary awareness. Polanyi entgegnet im gleichen Jahr (dt. 1994: 152), Pirenne habe seine Unterscheidung zwischen der begleitenden und der fokussierenden Wahrnehmung – so die deutsche Übersetzung – nur teilweise wiedergegeben und wiedergeben können (vgl. dazu Polanyis Vorwort in Pirenne 1970), was Pirenne zu einer Klarstellung des diskutierten Sachverhalts veranlasst (Pirenne 1975: 461). Zur wahrnehmungspsychologischen Diskussion der mit den Gestaltungsmitteln konfligierenden räumlich geordneten Ansicht vgl. Hochberg 1980 und Haber 1979, 1980. 186

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ist einerseits durch die ebene Leinwand und andererseits durch eine fliehende und verschachtelte Tiefenraumstruktur gekennzeichnet – oder mit anderen Worten: »The represented scene is a set of surfaces at different distances; the picture is a single flat, mottled, lined, or dappled plane surface« (Hochberg 1980: 48). Das bedeutet, der pikturale Tiefenraum wird immer als Darstellung gesehen.20 Anderenfalls hätte man es mit einem vorgetäuschten Raum oder mit einem Fleckenteppich zu tun, denen kein bildlicher Charakter zukommt, weil im ersten Fall der Eindruck erweckt wird, man könne das Gesehene auch in einer nicht-visuellen Weise erfahren (hineingehen, die Wände berühren etc.), und weil es im zweiten Fall als ein ansichtenfreies Gestaltungsmittel erkannt wird. Mithin führt das Sichten innerhalb seiner Grenzen zu pikturalen Regelmäßigkeiten bspw. einer visuellen Raumordnung, die außerhalb der Bilder nicht zu beobachten sind. Insoweit scheint Polanyis Auffassung die hier vertretene Position unmittelbar zu bestätigen. Jedoch geht er von der Gegenständlichkeit des Bildträgers aus, die es gerade zu relativieren gilt. Sein Festhalten daran zeigt sich an der Beziehung der Bildteile zum Ganzen der pikturalen Ansicht, da die Teile bei beiden Wahrnehmungsweisen identisch bleiben: Man sieht sie als eine Ansammlung fokussierter und dissoziierter Flecken oder man sieht sie als einen begleitenden und ›dämpfenden‹ Eindruck innerhalb der pikturalen Ansicht. In beiden Fällen handelt es sich um die gleichen gesehenen Gegenstände. Trotz der veränderten Betrachtungsweise behalten sie die Funktion des bildnerischen Gegenstands. Wie ist dies aber möglich? Die pikturale Ansicht besteht schließlich nicht aus Farbflecken, sondern aus farbigen Figuren und ›gedämpft‹-räumlichen Anordnungen, die allein dem Sehen gegeben sind, während der Fleckenteppich aus bunten Tupfern, Strichen oder anderen zweidimensionalen Mustern besteht, die man bspw. auch abkratzen kann. Berücksichtigt man, dass die Wahrnehmung jeglicher Ansicht entbehrt, sobald sie die Farbe als Farbflecken und die Leinwand als Trägerschicht fokussiert, kann es sich bei den beiden Sehweisen nicht mehr um die gleichen gesehenen Teile handeln. Der bildnerische Gegenstand kann sich nur beweisen, wenn tatsächlich bildlich gesehen wird. Außerhalb dieser Tätigkeit gibt es keine Bildlichkeit und folglich keinen solchen Gegenstand, der die Ansichten notwendigerweise begleitet. Zu fokussieren bedeutet, das Sehen auf ausgewähltes Gesehenes zu konzentrieren und es von ihm anleiten zu lassen. Das gilt für alles, auf das der Blick fällt. Da Polanyi innerhalb des pikturalen Sehens verharrt, scheint es sich so zu verhalten, dass er die fokussierende Wahr-

20. Die Gegenüberstellung der Ebene und der Tiefe dient hier nur als Beispiel und ist keinesfalls paradigmatisch zu verstehen. 187

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nehmung allein auf das, was die begleitende Wahrnehmung vollbringt, und nicht auf das Sehen außerhalb des Bildes bezieht. Fokussiert werden also diejenigen Stellen im Gemälde, die sich als Teile der Ansichten ausweisen. Einen Kaffeefleck auf ihm könnte man ebenso fokussieren, er würde aber sogar im Sehbereich der dissoziierten Flecken vom gestalterischen Material unterscheidbar bleiben. Demnach fungiert nicht jeder beliebige Punkt innerhalb eines Bildträgers als eine fokussierbare Stelle, sondern nur derjenige Sehbereich, der durch die differenzielle Oberfläche gekennzeichnet ist. Da die fokussierbaren Stellen eines Bildes – oder um es kurz zu sagen: die Foki – einen gestalterischen Wert besitzen, können sie nicht von der Ansichtenbildung separiert werden. Insofern liegen die fokussierende und die begleitende Wahrnehmung nicht so weit auseinander, wie Polanyi behauptet. Trotz dieses Einwands gibt seine Unterscheidung einen wichtigen Hinweis: Die Foki sind diejenigen Bereiche, in denen das Sichten verloren geht und die Ansicht sich auflösen kann. Sie sind von einer Auflösungstendenz gekennzeichnet, die sich dann einstellt, wenn man zu genau hinschaut. Dadurch unterscheiden sich die pikturalen Foki von gesehenen, ansichtenfreien Gegenständen, deren operativen Werte durch die Fokussierung eher verifiziert und stabilisiert werden. Die Segmente der Felswand, die für die Ansichten der Höhlenzeichnungen nutzbar gemacht werden, lassen sich zwar in exakt der gleichen Weise näher betrachten wie die übrige Höhle, aber nur diejenigen Segmente, die tatsächlich in eine Büffelansicht oder dergleichen einbezogen sind, können als bildnerischer Gegenstand fokal überschritten und sodann nackter Fels werden. Offenbar gibt es eine Grenze der Auflösung, an der sich die Ansicht verwandelt und ihre Explikationsfunktion des Sichtbarmachens zusammenbricht. Die Auflösungstendenz der Foki darf nicht mit der Grenze verwechselt werden, die das Sichten zieht, um sich vom bloßen Sehen zu unterscheiden. Es ist etwas anderes, innerhalb des Bildes zu sehen, wo es endet, als die Bildlichkeit enden zu lassen. Bezüglich der differenziellen Oberfläche kann von einer äußeren oder exogenen Grenze der Bildlichkeit gesprochen werden. In einem perspektivischen Gemälde trifft man häufig auf Ansichten, die sich nicht vollständig in die räumliche Regulation des Sichtens einordnen lassen, sondern die gestaltete Ebene in den Blick bringen, ohne dass die Ansicht dadurch verloren ginge (eine perspektivlose, frontal gesichtete Hauswand). Innerhalb der Ansichtenbildung wird somit dafür Sorge getragen, dass der Unterschied zum bloßen Sehen (der ebenen Leinwand) markiert wird. Auf diesem Wege wird die exogene Grenze gezogen. An die innere oder endogene Grenze der Foki stößt das Sichten hingegen, wenn die Modellierung endet bzw. neu einsetzt. Bei Gemälden gibt sich die endogene Grenze nicht leicht zu erkennen. Jedes Detail bis hin zu den fokussierbaren Strichen und den 188

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Pigmenten kann in Hinsicht auf die pikturale Gesamtansicht gesehen werden. Im Gegensatz zum Korn einer Fotografie, den Rasterpunkten ihres Abdrucks oder der Lochmaske eines Fernsehmonitors gilt der Farbauftrag häufig selbst noch als Darstellung. Jeder Fleck des Gemäldes wird dann als Ansicht des Gemäldes gesehen. Der Blick verfängt sich in seiner eigenen Bildlichkeit. Greift man zu gröberen Mitteln und zerschneidet das Gemälde, mögen manche Stücke noch piktural erscheinen, da nach wie vor eine szenische Anordnung von Personen, das Arrangement einer besonderen Strichführung oder anderes gesichtet wird. Manche Stücke lassen vielleicht noch erahnen, dass es sich bei ihnen um Fetzen eines Gemäldes handelt. Andere Stücke wirken wie bunte Schnipsel und haben jegliche Bildlichkeit verloren. Dies zeigt, nicht jeder beliebige Ausschnitt ist bildlich und er dient nicht schon deswegen als Fokus, nur weil er zum physischen Bildträger bzw. zum gestalterischen Material gehört, das das Sehen an der inneren Grenze erwartet. Seine Zugehörigkeit zum Bild muss sich auf anderem Wege erweisen. Zudem wird deutlich, dass die Annahme zumeist falsch ist, ein Bild bestünde aus einzelnen Punkten. Wenn man sie sieht, hat man die Pikturalität längst hinter sich gelassen. Man wird die endogene Grenze folglich nicht an jeder beliebigen Stelle aufsuchen können. Die Foki sind keine zufällig oder gleichmäßig verstreute Flecken (Schnipsel) oder Punkte (Pixel), sondern werden immer mit Bezug auf ihre reguläre Verteilung gesehen, was eine funktionierende Modellierung voraussetzt. Solange die Modifikation des Sehens sie aufrechterhält und solange man minimale, einbeziehbare Ansichten entdeckt, verbleibt man im Bilde. Sieht man bspw. zwei einzelne Punkte, ist es schwer, sie als eine Ansicht zu erkennen [ . . ]. Sie bleiben separiert. Ordnet man sie anders an und fügt eine gebogene Linie hinzu, ergibt sich ohne größere Schwierigkeiten die Möglichkeit, in ihnen ein Gesicht zu sehen [ : ) ]. Es stellt sich ein regulatives Schema ein, in dem ein Strich zu einem Mund und die Punkte zu Augen transformiert und in dem Augen und Mund innerhalb eines Gesichts unterschieden werden, sodass man von jeder Einzelansicht zu jeder anderen Einzelansicht übergehen kann – vom Mund über die fehlende Nase hinweg zum Auge (und nicht mehr: von der gebogenen Linie zum Punkt), vom linken zum rechten Auge (und nicht mehr: vom unteren zum oberen Punkt); vom wahrscheinlich zum Gesicht gehörenden Bereich hinüber zu seinem unwahrscheinlichen Bereich, deren Übergang irgendwo zwischen den Zeilen liegt (und nicht mehr: von der oberen zur unteren Zeile). Die Punkte werden zu Augen, der Strich wird zum Mund, das Weiße des Blattes wird zu einem exogen umrissenen Gesicht. Das Sichten zieht seine Grenzen und legt so die Oberfläche fest, in der das Gesicht zu seiner Darstellung findet. Die variplizierende Modellierung zeigt ihre Wirkung. Das gesehene Gesicht erlaubt zwar die Feststellung, dass die Na189

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se fehlt. Wie aber sollte man bei einer nicht-bildlichen Sicht sagen können, dass ein Strich fehlt? Die physiognomischen Merkmale resultieren in ihrer Gesamtheit aus der Variplikation des Sehens. Sie sind nicht unmittelbar mit den Punkten und der gebogenen Linie korreliert. Weder ist das Punktepaar von Beginn an ein Augenpaar, noch wird eine isolierte, gebogene Linie unvermittelt als Mund gesehen; weder liegen zwischen beliebigen Zeilen die nicht-gezeichneten Wangen eines Gesichts, noch markiert ein weißes Stück Papier per se diejenige Stelle, an der eine Nase fehlt. Die modellierende Variplikation und die symbolische Regulation konfigurieren die Gesichts–, die Mund- und die Augen-Foki und erstellen ein Arrangement, das aus Ansichten wie dem Auge, dem Mund, der linken und der rechten Gesichtshälfte, der leeren Mitte und anderem mehr besteht. Nur von hier aus kann man die endogene Grenze erreichen. Da auch eine Gesichtshälfte oder die hinter der eckigen Klammer verborgene Stirn, die in den isolierten Merkmalen keine Entsprechung mehr finden, fokussiert und aufgelöst werden können, läuft die innere Grenze nicht wieder auf das Punkt-Punkt-StrichZeilenabstand-Sehen zu.21 Demnach betrifft sie die Modellierung des disjunkten Komplexes und ihre Funktionalität. Werden die Foki übereinander gelagert, gegeneinander verschoben und ineinander verschachtelt, kurz: werden sie miteinander relationiert, konfigurieren sie den pikturalen Bereich, in dem verschiedentlich gesehen wird. Er ist von einer stabilisierten inneren Grenze gekennzeichnet. Die in ihm gegebenen Verweise auf einen Sehbereich jenseits des Sichtens bestimmen die äußere Grenze der differenziellen Oberfläche. In einem Bild zu sehen heißt mithin, innerhalb der endogenen und der exogenen Grenze zu sehen. Die Foki verharren zwischen ihnen und verfügen über zwei auf sie bezogene Ausrichtungen des Bildlichwerdens. Dementsprechend kennzeichnet das Sichtbarmachen die pikturale Form durch zwei Tendenzen: durch die Endogenese und durch die Exogenese. Die Exogenese legt die operative Grenze des Replikationswerts für das (pikturale) Sichten fest. Da er sich auf die Modellierung des Komplexes bezieht, in dem Disjunktionen identifiziert werden, bedeutet

21. Noch deutlicher wird dieser Sachverhalt bspw. bei der Ansicht einer Blickordnung, die die dargestellten Personen in einem Gemälde miteinander verbindet. Wie soll ein solcher Fokus auf die Farbflecken einzelner, gemalter Augen zurückgeführt werden können? Unabhängig von der Frage, ob Bilder in ihrem Erscheinen bereits zeichenhaft sind, muss man die in der Semiotik durchaus umstrittene Bildauffassung der doppelten Gliederung von bedeutungslosen Bildmerkmalen einerseits und bedeutungsvollen Konfigurationen dieser Merkmale andererseits entschieden ablehnen, da von isolierten Bildmerkmalen nicht die Rede sein kann. Zur doppelten Gliederung vgl. Sonesson 1993: 142 ff. und Nöth 2000: 478 ff. 190

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den Replikationswert zu begrenzen, die zulässige Variation identifizierbarer Disjunktionen festzulegen. Gerade so, als würde man auf einen Grenzpfosten zugehen, der den Schritten bereits vor seinem Erreichen Einhalt gebietet: Langsamer zu werden, ein wenig zur Seite auszuweichen und anzuhalten sind Teile des Gehens, die im Gehen die besondere Stelle des Grenzpfostens herausbilden. Die Replikation des Gangbaren besteht darin, das stete Weitergehen mit dem Stehenbleiben zu korrelieren. Die Endogenese hingegen wird in dem Moment kenntlich, in dem sich die Funktionsweise der Modellierung beweisen muss und das als Ξ beobachtete Objekt dazu tendiert, sein variplikatives Vermögen einzubüßen (stolpern, auf den Knien weiterrutschen etc.). Die Endogenese gleicht der Anstrengung, die Artikulation der Stimme vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Entscheidend ist hier nicht die Differenz zwischen den variablen Schritten und dem Stolpern, dem Verfallen der klaren Stimme in ein unklares Krächzen oder der Wechsel von einer minimalen Ansicht (Ba( Ξ ) / Ab) zu einem schlichten Fleck (Ba / Ab), wie das Beispiel des zu nahen Herantretens an ein Gemälde vielleicht suggerieren mag. Entscheidend ist vielmehr die vorauszusetzende Schwankung der Intensitätsschwelle, die das an ihr gewonnene, attentionale Niveau ruiniert und das Sehen zu einer Neukoordination zwingt – so wie sich die Fortbewegung auf den Knien oder die Verlautbarung im Krächzen wiederfindet und zu einer Neukoordination gezwungen ist.22 Die Endogenese steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Einrichtung der Modellfunktion oberhalb der Intensitätsschwelle und mit der Konstituierung eines Selben für die visuellen Systeme. Der innerbildliche Bereich der Foki wird durch die verschiedenen Werte ausgedrückt, die das symbolische Temporalobjekt annimmt, wodurch es die aktuellen Zustände der visuellen Systeme bestimmt. Diesbezüglich kann man auch von fokaler Information des pikturalen Sichtens sprechen. Damit sie generiert werden kann, sind Endo- und Exogenese notwendigerweise miteinander verbunden. Nichtsdestotrotz können sie getrennt voneinander auftreten. Die Schafansicht in einer Wolke unterliegt bspw. nur der Endogenese. Sie erlangt deswegen keine pikturale Operativität, weil der Übergang zum bloßen Sehen der Wolke nicht in die Ansicht integrierbar ist und somit exogen unbestimmt bleibt. Man sieht das Schaf und die Wolke, in der man es erkennt, andere Wolken und den umgebenden Himmel gleichzeitig, ohne dass das Sehen der ›Träger‹-Wolke vom Absehen des Schafs abhängig wäre. Das gesehene Schaf verfügt über keine Anhaltspunkte, die auf

22. Oder um noch einmal die Metapher des Wellenreiters aufzugreifen: Es verhält sich so, als würde die intensive Welle, auf der er seinen Ritt vollführt, unter ihm zusammenbrechen, und als würde er von einer anderen Welle aufgefangen und mitgerissen werden. »Die Intensitätsdifferenz wird in einem Sturz erfahren« (Deleuze 1995: 52). 191

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den Gültigkeitsbereich seines Sichtens verweisen könnten. Vielmehr besteht das Abhängigkeitsverhältnis genau umgekehrt. Die Ansicht hängt einzig von der Wandelbarkeit der Wolke und ihrem Auflösungsvermögen ab. Da man dazu gezwungen ist, die Foki zusammenzusuchen – dieser Zipfel könnte ein Bein sein, jenes Loch in der Wolke erscheint als Auge und definiert damit den Kopf –, ist die Schafansicht von einer endogenen Unruhe bestimmt. Der umgekehrte Fall einer Exogenese ohne endogene Organisation ist ebenso möglich. Der Blick in einen gewöhnlichen Spiegel ist durch eine äußere Grenze gekennzeichnet, ohne auf eine innere Grenze zu stoßen. Das Spiegelsehen umfasst den Komplex einer Disjunktion aus dem Spiegel und dem umgebenden Raum, nicht aus Modellen. Daher handelt es sich bei ihm um keine Ansicht, die auf einer mehrstufigen Modellierung beruht.23 Das Spiegelsehen markiert jedoch innerhalb des Spiegels, wie weit es reicht und welche Disjunktionen möglich sind, wodurch eine differenzielle Oberfläche konstituiert wird. Diese exogene Bestimmung hat der Blick in den Spiegel dem ungebrochenen Blick voraus. Er kennt allerdings keinen Übergang, an dem sich seine Foki auflösen und das Sehen irritieren würden. Allenfalls löst sich die Disjunktion auf, sodass der Spiegel ein gesehener Gegenstand wie jeder andere wird, an den man sehr nah herantritt. Bilder sind Gesehenes unter Bedingungen exo- und endogener Modulation der Sichtbarkeit, die eine ihnen entsprechende Sicht verlangen. Die pikturale Doppelgestalt, von der Waldenfels spricht – »das Bild als Ding, das sich mitzeigt, und das Bild als Bild, das die Aufgabe hat, anderes zu zeigen« (1994: 238) – erweist sich als die stabilisierte Koordinationsweise der attentionalen Grenzziehungen, in der ein visuelles System über fokale Information verfügt. Wie kann dann aber noch von ›Bildern‹ die Rede sein? Das einzelne Bild, das belichtete Fotopapier, die 24 Aufnahmen einer Filmsekunde, kurz: der bildnerische Gegenstand hat seine Ursächlichkeit und seinen bedingenden Charakter endgültig eingebüßt. Stattdessen leitet er sich von der attentionalen Koordination des Sehens ab und gewinnt nur dank des Sichtbarmachens seinen Sinn. Als gesehenen Gegenstand erkennt man ihn am Rand und überall dort, wo das Sichten den äußeren Grenzwert der Replikation erreicht. Als gestalterisches Material trifft man ihn dort an, wo die innere Grenze instabil wird. So gibt es zwar gesonderte Koordinationsbereiche des Sehens, es gibt aber keine Abstufungen seiner Formen und kein hierarchisches Ordnungsgefüge, das das Bildersehen mit einer beson-

23. Es sind sicherlich Arrangements von Spiegeln denkbar, die die Aufmerksamkeit einer mehrfach modellierten Sicht auf sich ziehen. Das Beispiel befasst sich jedoch mit dem alltäglichen Gebrauch von Badezimmer-, Garderoben- oder ähnlichen Spiegeln. 192

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deren, höherstufigen Qualität ausgezeichnet und dem nicht-bildlichen Sehen voranstellt. Das Sehen verbleibt stets in der Form der Visualitätsdifferenz, die in ihren Konfigurationen und Neu-Konfigurationen nur eine Funktion übernimmt: die Modulation der Sichtbarkeit zu explizieren. Hier gibt es mannigfaltige Beziehungen und Beziehungsmuster, Komplexitäten, einfache und gestaffelte Modellierungen, Variationen und Schwankungen der Intensitätsschwelle, Krisen der Explikationsfunktion. Alles verbleibt auf dem mal ruhigen, mal unruhigen Niveau der Aufmerksamkeit. Was es deswegen nicht gibt, ist eine Ebenendifferenz des Sehens. Daher muss auch Waldenfels’ Stufenmodell abgelehnt werden: »Auf der Stufe der sichtbaren [gesehenen] Dinge stellt sich das, was sich sehen läßt, immer schon in einem bestimmten Wie dar. Es ist eingelassen in die Skalen bestimmter Sehordnungen. […] Auf der zweiten Stufe der sichtbaren [gesehenen] Bilder, die sich selbst und anderes sehen lassen, verweist das Sehen ›im Bild‹ auf ein Wie zweiter Ordnung, nämlich auf bestimmte Bildordnungen. […] Auf einer weiteren Stufe haben wir es schließlich mit künstlerischen Bildwerken zu tun, mit Kunstwerken im weitesten Sinne, das heißt mit Bildern, die nicht nur sichtbar sind und nicht nur etwas sichtbar machen, sondern die Sichtbarkeit als solche mit sichtbar machen.« (Waldenfels 1994: 237 f.) Das Sehen bleibt in und an den Grenzen seiner Aufmerksamkeit stets das Selbe und es wird durchgehend vom Sichtbaren impliziert. Was man auch immer zu Gesicht bekommt, es ist immer nur Gesehenes. Daher muss nicht nur das Stufenmodell zurückgewiesen, sondern darüber hinaus muss der Auffassung widersprochen werden, man könne die Sichtbarkeit wiederum sichtbar machen und »sich auf das Bildmedium als solches« beziehen. Dies ist unmöglich und entstammt einer gewissen Hybris der Ästhetik, privilegierte Gestaltungs- und Sichtweisen mit dem Reflexionsvermögen der eigenen Möglichkeitsbedingungen auszustatten. Man beschwört ein Reales herauf, das zunächst unerreichbar erscheint und erscheinen muss, um anschließend doch noch einen Schatten von ihm zu erhaschen. Solche Mutmaßungen sind ebenso trügerisch wie der Glaube, mittels Bildern auf eine nicht-bildliche Wirklichkeit durchzugreifen. Pikturalität nimmt wie jede andere Form des Sehens an der sichtbaren Welt Teil und fügt ihr eigene Sichtweisen, modifizierte Verhältnisse zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen, eigenständige System/Umwelt-Beziehungen hinzu. Die Bilder ordnen sich weder neben andere gesehene Gegenstände in der Umwelt, um privilegierte Bezüge zu ihnen aufzunehmen – durch den bildnerischen Gegenstand hindurch auf sie zu blicken; sie ihrer Abwesenheit zum Trotz herbeizuzaubern; sie zu bezeichnen, nur weil eine mehr oder minder stark ausgeprägte Ähnlichkeitsbeziehung vorliegt –, noch beruhen sie auf einer besonderen mentalen, imaginativen Kraft des Sehenden. Vor all dem verdankt sich die Bildlichkeit derjenigen Intensitätsschwelle, die die 193

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attentionale Konfiguration des symbolischen Temporalobjekts induziert und impliziert und dabei die Variplikation in ihre Schranken weist. Bei allen Leistungen, die das Sehen vollbringt, bei allen reflexiven Zurechnungen seiner Visualitätsdifferenz und bei allen Windungen und Wendungen seiner Aufmerksamkeit kommt es der Sichtbarkeit niemals näher. Die konstituierende, asymmetrische Differenz des Sichtbaren, die den visuellen Systemen ihre Selbigkeit zuspricht, fällt keinesfalls mit der koordinierten Visualitätsdifferenz zusammen. Bevor sich das Sehen ›selbst‹ erkennt, ist es bereits uneinholbar als Selbes konstituiert. Obwohl die Sichtbarkeit unmöglich gesehen werden kann, sind keinesfalls ästhetische Sehereignisse ausgeschlossen, bei denen die Modulation zum Extrem neigt und in einem besonderen Maße auf die Sichtbarkeit verweist. Ein stabiles Geflecht von Foki kann bspw. auf besondere Stellen im Gemälde ausgerichtet sein, die zugleich als Orientierungspunkte für die Foki und als exogene Singularitäten dienen (z.B. eine dargestellte Lichtquelle, die wie ein Loch im Farbauftrag wirkt, oder die Blickrichtungen dargestellter Figuren, die mit einem ebenen Linienmuster im Bildfeld korrespondieren). Ebenso ist die an das Format angepasste Komposition einer Fotografie exogen bestimmt, da sie innerhalb des Aufbaus einer Ansicht auf ihre Reichweite verweist. Ein weiteres Beispiel liefert eine kräftige, schwarze Kontur, die Figuren umreißt und damit die modellierbare Disjunktion von Linienführung und Figuration bildet: Einerseits modelliert sie die pikturalen Ansichten, andererseits wird sie als verteilter, schwarzer Bereich gesehen, in dem die Modellierung nicht weiter zu replizieren ist und an ihre äußere Grenze stößt. Von hier aus wird vielleicht eine andere pikturale Ansicht erschlossen, sodass die Exogenese innerhalb des Sichtens nicht nur das nicht-bildliche Sehen aufweist, sondern darüber hinaus die Ansichten multipliziert. Ein solcher Effekt lässt sich bspw. auch bei Kippbildern beobachten, die auf einer Differenz mehrerer Ansichten in einer beruhen.24 Der Hintergrund von Passfotos hat eine ambivalente Funktion. Er ist zwar großflächig und nimmt einen weiten Bereich des Papierformats ein, für die Bedeutung des Fotos, physiognomische Merkmale darzustellen, ist er jedoch irrelevant. Nichtsdestotrotz gehört der Hintergrund zur pikturalen Ansicht, da er die Funktion übernimmt, das Sichten exogen zu situieren. Insofern gehört der ebene Bereich zum Bild, aber nicht zum Portrait. Im Unterschied dazu würden sich Übermalungen, die die Physiognomie korrumpieren und ihre Merkmale kommentieren, dem Portrait zugehörig erweisen und sich zugleich an den innersten Rand des Bildes stellen. Eingesetzte Unschärfen und Verwi-

24. Mitchell (1994: 74 f.) spricht von einem multistability effect von Metabildern, die Ansichten von pikturalen Aspekten geben. 194

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schungen erzielen den gleichen Effekt der sich endogen verlierenden Ansichten. Wie die äußere, so ist also auch die innere Grenze gestaltbar. Die Auflösung der Foki und damit die Destabilisierung der endogenen Grenze erreicht man nicht nur durch zu nahes Herantreten, sondern auch durch materiale Gestaltungen, die bei gleichbleibendem Abstand ihr endogenes Verfahren offenbaren. Die impressionistische Malerei ist ein allzu deutliches Beispiel. Auch monochrome Flächen, die sich im Gemälde außerhalb des Bildes stellen, zwingen das Sehen zum Aufund Abschalten der modellierenden Ansichtenbildung. Die innere Grenze wird auf viele Weisen gezogen und dabei stabilisiert und destabilisiert. Eine mindeste Stabilität ist jedoch vorauszusetzen, damit das Sehen die Grenzerfahrungen der Bildlichkeit überhaupt machen kann. Die Endogenese muss nicht nur auf einzelne Details oder minimale Foki eines Bildes bezogen werden. Dazu besteht keinerlei Notwendigkeit. Da sie die Funktionalität der Modellierung und eine bestimmte Art zu sehen betrifft, kann sie auch das Sichtbarmachen eines Gemäldes und darüber hinaus das Sichtbarmachen eines Malstils kennzeichnen. Ausgehend von verstreuten Verwischungen und Verwirbelungen, Flecken und Schraffuren mag sich ein Maler sein Gemälde erschließen, unvorhergesehene Möglichkeiten erschaffen, bei denen die Verbildlichung beginnt, und den vorgesehenen figurativen oder szenischen Ansichten ein ansichtenfernes Gepräge aufzwingen – so wie Deleuze den Ausgangspunkt der Malerei Francis Bacons beschreibt: »zufällige Markierungen setzen (Linien-Züge); einzelne Stellen oder Zonen säubern, ausbürsten oder verwischen (Farb-Flecke); Farbe aus verschiedenen Winkeln und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit hinwerfen« (1995: 62). Bacon begrenzt diese Mittel zwar auf einige Bereiche des Gemäldes und auf manche Phasen des Malens, setzt sich aber unentwegt ihren Wirkungen aus. Er rückt trotz der lokalen Ausdehnung nicht von ihnen ab und unterzieht das gesamte Gemälde ihrem Einfluss. Er nennt die Mittel das Diagramm: Es ist »die operative Gesamtheit der Striche und Flecken, Linien und Zonen« (ebd.: 63) und trägt die doppelte Funktion, die Ansichten hervortreten und zugleich ihre visuellen Koordinaten zusammenbrechen zu lassen. Das Diagramm gibt die Möglichkeit an die Hand, ein Geflecht von Foki zu bilden und es an der Schwelle seiner Auflösung zu halten. Mit ihm ist ein gestalterisches Verfahren gegeben, das die Bildlichkeit stabilisiert und destabilisiert. Deleuze spricht dementsprechend davon, dass es Chaos und zugleich der Keim von Ordnung und Rhythmus ist.25

25. Das Diagramm hat für die Malerei Bacons weit reichende Konsequenzen. Ihre drei Kennzeichen – die isolierte Figur, die Struktur der von ihr abgetrennten Umgebung und die Kontur, die das Verhältnis zwischen beiden herstellt (vgl. Deleuze 1995: 11) – konvergieren in der Farbgebung, in der Tönung oder Modulation der Farbe (vgl. ebd.: 195

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Auf diesem Wege wird ein Schwellensehen instruiert. Dies bedeutet gewiss nicht, dass man die intensive Schwelle des Sichtbaren zu Gesicht bekommt. Vielmehr wird die Visualitätsdifferenz in einen Irritationsbereich geführt, in dem sie eine labile Regulation erfährt und ihre attentionale Ordnung ›ins Schwimmen‹ gerät. Man kann noch nicht – oder: nicht mehr – sagen, jetzt sehe ich Flecken und jetzt sehe ich eine Ansicht, da man zunächst darauf warten muss, bis sich die Lage stabilisiert und das Fleckensehen vom pikturalen Sichten differenziert hat. Das Diagramm ist die gestalterische Möglichkeitsordnung des Bildes, von dem aus die Aufmerksamkeit rekonfiguriert und die Replikation aller beteiligten Oszillatoren gleichsinnig erfasst wird. Es sorgt für die intensiven »allotropen Variationen« (ebd.: 32) der verschiedenen Sichtweisen und für die Herausbildung der Funktionen ihrer Visualitätsdifferenz.26 Was aber geschieht, wenn die Aufmerksamkeit der Intensität nichts entgegenzusetzen hat und noch nicht abzusehen ist, in welcher Konfiguration das Sehen fortan koordinierbar wird? Wenn sie in der unentwegten, intensiven Differenzierung keine Stoppregel findet, die es dem Blick erlaubt, ins Bild zu kommen oder im Bild zu bleiben? Wenn die Aufmerksamkeit der Intensität stattdessen Vorschub leistet? In diesem Fall kann man tatsächlich von einer Tendenz zur Unsichtbarkeit oder von einem Unsichtbarwerden des Sichtbarmachens sprechen, dessen Modulation sich in den Fallstricken der Intensität verfangen hat. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, das Unsichtbare zu begrei-

89 ff.); und das Diagramm wirkt hier als »Modulator« (84), es schlüsselt das Bild auf. Unter attentionalen Gesichtspunkten bedeutet dies, die Modellierung einsetzen zu lassen und den Nullpunkt der pikturalen Replikation festzulegen. 26. Zu diesem Zusammenhang drei Anmerkungen: Erstens bezieht Deleuze die allotrope Variation nicht auf die Modifikation der Sichtweisen, sondern auf die anti- oder präfunktionale Auffassung des Körpers als organlosen Körper: »Er ist ein dichter, ein intensiver Körper. Er wird von einer Welle durchströmt, die gemäß den Variationen ihrer Amplitude im Körper Ebenen oder Schwellen einzeichnet« (ebd.); zum organlosen Körper vgl. auch Deleuze, Guattari 1992: 206 ff. Er ist nicht leer, vielmehr fehlt seinen ›Organen‹ die stabile Organisation, von der aus sie durchgängig bestimmt würden. Stattdessen wird die Organisation vorübergehend und provisorisch (Deleuze 1995: 34) induziert. Dies entspricht zweitens den hier mit Bezug auf Differenz und Wiederholung skizzierten Vorgängen oberhalb der Intensitätsschwelle, an der sich die Attentionalität einrichtet. Drittens wurde oben (S. 77 f.) bereits darauf hingewiesen, dass der Bezug zwischen der Explikation des Sehens und der Implikation des Sichtbaren einer operativen Einheit bedarf, die für die Verwirklichung des Sehens in seinem Sichtbaren sorgt. Im vorliegenden Fall ist sie mit der »Sensation« gegeben, die die vom Diagramm eingeführten Möglichkeiten aufgreift und die von ihm ausgehenden Bereiche und Ebenen im Gemälde umgreift. Insoweit organisiert und reorganisiert die Sensation den Komplex der pikturalen Ansichten: Endogenese des Bildes. 196

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fen. Die erste Auffassung geht mit einem Begriff der Sichtbarkeit einher, der sie mit demjenigen verwechselt, das man zu Gesicht bekommt oder prinzipiell zu Gesicht bekommen kann. Beschreibt man in diesem Rahmen das Unsichtbare als das Negativ des Gesehenen – a) etwas bisher nicht gesehen haben, das nun im Bild sichtbar gemacht wird; oder b) etwas prinzipiell nicht sehen können, das aber wie der blinde Fleck eine konstitutive Funktion für das Sehen übernimmt –, so bezieht man sich lediglich auf die Visualitätsdifferenz und auf ihre Funktionalität. Ein Begriff der Unsichtbarkeit, der nur mit dem Ungesehenen befasst ist und dem Modus der Sichtbarkeit folglich nicht gerecht wird. Es ist zweitens möglich, ihm andere Modi entgegenzusetzen. Demnach läge die Unsichtbarkeit zum Beispiel im Riech- oder Hörbaren, also in der Abwesenheit des Sichtbaren und des Sehens. Auch diese Auffassung führt nicht weit, da zum Beispiel bei einem Duftstoff notwendigerweise vom Unhörbaren, vom Untastbaren, vom Unsichtbaren etc. die Rede sein müsste. Es macht indes wenig Sinn, von der Sichtbarkeit und ihrem Fehlen zu sprechen, wenn gerochen oder geschmeckt, aber nicht gesehen wird. Berücksichtigt man die Prämisse, vom Sehen ausgehen zu müssen, um auf das Sichtbare stoßen zu können, so erscheint es widersinnig, vom Riechen auszugehen, um auf das Sichtbare nicht zu stoßen. Beim replizierten Riechen gibt es keine abwesende Sichtbarkeit. Drittens kann man das Unsichtbare auf den Modus der Sichtbarkeit selbst beziehen. Es liegt dann darin, die Schwelle oder das Selbe der visuellen Systeme neu zu finden und sie wieder zu initialisieren. Die Unsichtbarkeit betrifft die Modulation, die dazu neigt, sich in ihrem intensiven Milieu zu verlieren. Es verhält sich gerade so, als versuchte man, die Stimme zu erheben, und obwohl man erwartet, artikuliert zu sprechen, hört man sich in ein Krächzen verfallen, das zu einem wilden Geschrei anschwillt und in einem Wimmern mündet, aus dem dann erst die Worte hervorgehen.27 Das Unsichtbare liegt demnach in der intensiven Modulation der Sichtbarkeit. Dies ist also das Unsichtbarwerden: Das Bild gelangt an den Punkt seiner Auflösung und die fokale Information des Sehens begibt sich in Unschärfebereiche, wo sich das visuelle System seiner Elemente neu versichern und sich rekonfigurieren muss. Von hier aus erhebt sich die Morphogenese der bildlichen Form.

27. Wenn die Stimme im Unsagbarwerden wieder in den Körper zurückkehrt, bringt die Intensität andersartige Schwellen hervor. Die Modi geraten durcheinander und die Aufmerksamkeit verschiebt sich auf ein neues Niveau. In diesem Sinne findet Deleuze im Unsichtbarwerden der Bilder eine haptische Funktion des Sehens, die er von den taktilen Funktionen (des Malakts) unterscheidet (1995: 94). Im Kino begegnet man der gleichen Problemlage der interferierenden Modi. Gleichwohl sind die Verwicklungen zwischen dem Visuellen und dem Sprachlichen bzw. Akustischen komplizierter und weitreichender als die haptische Funktion des Visuellen; vgl. dazu Deleuze 1991: 289-334. 197

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Die bildliche Form ist weder ein Gegenstand noch eine distinkte Markierung oder eine Vielzahl distinkter Markierungen. Vielmehr ist sie ein gesonderter Bereich attentionaler Koordination mit zwei Grenzen. Im Inneren, in jedem Fokus lauert eine Desorganisation, gegen die es sich zu stabilisieren gilt. Wenn dies gelingt, ergibt sich unmittelbar eine äußere Grenze, die das pikturale Sichten von nicht-pikturalen Sehweisen unterscheidet. Vom Standpunkt des Bildersehens aus werden beide Grenzen vorausgesetzt. Anderenfalls wäre es unmöglich, von Bildern und vom Sehen in Bildern zu sprechen. Vom Standpunkt der Modulation und des Sichtbarmachens aus wird die innere Grenze induziert (Endogenese), die zu einer Neuausrichtung der Visualitätsdifferenz zwingt. Das Verhältnis des Sehenden zu seinem Gesehenen wird in der selben Sichtbarkeit verschoben. Vom Standpunkt des Unsichtbarwerdens aus findet eine intensive Zerstreuung des Selben statt, auf der sich die komplexe Modellierung wiederfinden muss. Hat die Modulation den konsistenten Zug der Intensitätsschwelle wieder erreicht und damit die Selbigkeit der visuellen System bestätigt, ist es ein Einfaches, auf dem erreichten Niveau die Koordinationsweisen des Sehens aufzutrennen und zuzuweisen (Exogenese). Bildlichkeit setzt in dem Moment ein, in dem die Endogenese und die Exogenese beginnt und fokale Information freigesetzt wird. Mit diesem Ergebnis wird die Diskussion des Sichtbarmachens und der Pikturalität des Sehens beendet. Damit kann sich die Studie der Ausgangsfrage zuwenden. Es ist zu klären, wie sich die kommunikativ-pikturalen Verhältnisse unter Berücksichtigung der speziellen Möglichkeiten des Sehens ausgestalten. Zu beachten bleibt dabei, dass das sehenderweise vollzogene Prozessieren von Pikturalität nicht mit ihrem kommunikativen Prozessieren fusioniert. Trotz aller Interdependenzen zwischen den sehenden bzw. wahrnehmenden und den sozialen Systemen – einerseits ist das Sehen jeglicher, auch sozialer Relevanz von Bildern vorauszusetzen, andererseits unterliegt die Entwicklung von Darstellungsweisen und damit auch von Sehformen kommunikativen Prozeduren – operiert jedes System auf seine eigene Weise und kann nur die ihm angemessenen, eigensinnigen (Wahrscheinlichkeits-)Zustände annehmen. Die Information der Kommunikation ist weit davon entfernt, Information der Wahrnehmung zu sein. Dennoch unterliegt das Sehen Effekten der Kommunikation, ohne selbst zu kommunizieren, wie auch die Kommunikation Effekten des Sehens unterliegt, ohne selbst zu sehen. Die Aufgabe besteht nun darin,dieaneinandergewonnenenKonditionierungenzuverdeutlichen.28

28. Gewöhnlich behilft man sich mit dem Codebegriff, um diesen Zusammenhang herzustellen. Aus zwei Gründen muss hier auf ihn verzichtet werden. Erstens bezieht sich der Code auf einen einheitlichen, Information verarbeitenden Prozess; in der Systemtheorie hat man es dagegen mit mehreren, parallel laufenden, sich gegenseitig irritieren198

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Spürt man ihnen nach, wird sich auch die Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage nach der Bildkommunikation ergeben.

den Prozessen zu tun, zwischen denen keine Information übertragen wird und somit auch keine Codierung stattfindet. Zweitens bezieht sich der Code – zumindest wenn es um Fragen der bildlichen Kommunikation geht – auf Zeichen. Etwas zu sehen (wie z.B. eine Ansicht) bedeutet aber noch nicht, dass das Gesehene zugleich als ein Zeichen fungiert. Zu den Codes von visuell realisierten Zeichen vgl. zum Beispiel Eco 1972: 197-249 und Schelske 1997: 146-161. 199

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Koppeln und Schließen Die soziale Kopplungsform des bildlichen Sehens Das Bildersehen unterliegt einer komplexen Modellierung: Das gezeichnete Portrait eines Gesichts charakterisieren weder allein die gestalterischen Elemente noch die Kompetenz, Gesichter erkennen zu können, sondern ausschließlich die Koordination des Sehens, die unter Bezug auf beide eine frei verfügbare Gestaltungsregel gewinnt. Der Schatten der Nase, die Konturen der Mundwinkel, die dunklen Augenhöhlen und der helle Glanz auf der Stirn bündeln sich zu einem Objekt, das als eine variabel einsetzbare Modellierung beobachtet wird. Das Sichtbarmachen eines Gesichts ist der Entwurf eines regulierten Verhältnisses von Varianzen und Invarianzen, das sich aus den Gestaltungen der Flächen und Linien, des Hellen und Dunklen der Bildfläche und aus dem erkenn- und modellierbaren (In-)Varianzverhältnissen des Gesichts im Bild zusammensetzt. Das Sehen wird samt seiner Kompetenzen und Funktionen einer gestaltbaren Regulation unterzogen. Es ist sicherlich keine neue Erkenntnis, dass sich eine auf das Sehen zielende Regulation beobachten lässt und dass sie es zugleich koordiniert. Konrad Fiedler hat diesen Sachverhalt, der die Modulation des Sichtbarmachens zum Ausdruck bringt, in seiner Abhandlung über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit entdeckt und beschrieben: »Es kann sich nicht darum handeln, der künstlerischen Tätigkeit von vornherein Gesetze vorzuschreiben, die von ihr befolgt werden müßten […]. Aber wo immer die künstlerische Tätigkeit sich treu bleibt, da wird sie nicht eher ruhen können, als bis ihre Gebilde in eine Form eingegangen sind, die tatsächlich eine gesetzesmäßige ist. Und da diese Gebilde nur um ihrer Sichtbarkeit willen hervorgebracht werden, so kann sich auch jene Gesetzesmäßigkeit nur in denjenigen ihrer Eigenschaften offenbaren, durch die sie sich dem Gesichtssinn darstellen.« (Fiedler 1971: 324) Was Fiedler noch einer künstlerischen Tätigkeit zurechnet, gilt in dieser Studie als eine spezielle Explikationsfunktion der Sichtbarkeit. Wenn es auch das künstlerische Bestreben sein mag, sich rein auf die Gestaltungsvielfalt des Sichtbaren selbst zu konzentrieren, und darin ihre Erfüllung zu findet, so wird man nichtsdestotrotz beachten müssen, 201

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dass sich die Regulation bzw. die »Gesetzesmäßigkeit« von Sichtweisen nicht allein auf künstlerisch motivierte Darstellungen beschränkt. Die modellierende Regulation erklärt sich nicht ästhetisch, sondern kommt in allen gestaltenden Visualisierungsverfahren zur Geltung, in allen Verfahren, in denen Ansichten erzeugt werden. Die Engführung des Sichtbarmachens mit dem künstlerischen Schaffen ist in doppelter Weise ungenügend. Ansichten sind weder mit irgendeiner Notwendigkeit ästhetisch oder künstlerisch ambitioniert – obwohl sie es zweifelsfrei sein können – noch beschränkt sich die Kunst auf die exquisite Erfüllung der sichtbar machenden Explikationsfunktion. Wenngleich es gravierende Unterschiede im Erfindungsreichtum der mit ihr verbundenen Praktiken geben und die Kunst bestrebt sein mag, ihre »Sichtbarkeitsgestaltungen« im besonderen Maße zu exemplifizieren1 oder das Sehen an seine Grenzen zu führen, so genügt doch ein gewöhnlicher Schnappschuss, um eine Ansicht zu erhalten. Wie es sich mit der Ästhetik des Sichtbarmachens auch verhalten mag, Fiedler beschreibt die Explikationsfunktion mit voller Klarheit und emphatischer Eindringlichkeit: »Das eigentliche Wunder, um das es sich handelt, besteht darin, daß der Mensch auf einem bestimmten Gebiet seiner sinnlichen Natur die Fähigkeit erlangt, in einem sinnlichen Material selbst zu einem Ausdruck zu gelangen« (ebd.: 268). Zugestandenermaßen ist die Begriffslage bei Fiedler von den hier entwickelten Auffassungen weit entfernt. Er versteht die Sichtbarkeit als eine Qualität von Dingen, die man prinzipiell und – bezogen auf die Wahrnehmungsmodalitäten – ausschließlich sehen bzw. als gesehen sich vorstellen kann. Fiedler vermutet im Sichtbarmachen einen einheitlichen, zweigliedrigen Vorgang, der bei der Fähigkeit des Sehens ansetzt, sich von anderen Modalitäten zu isolieren und der reinen Qualität der Sichtbarkeit gewahr zu werden. Hieran schleißt die manuelle Tätigkeit an, die von den Wahrnehmungen ausgehend in einem Zuge »Ausdrucksbewegungen entfaltet« (vgl. ebd.: 273). Insofern man sich in sein Sehen versenken muss, um auf die Sichtbarkeit zu stoßen, und insofern man dem Auge wiederum dasjenige zu sehen gibt, »was das Auge dem Bewußtsein liefert« (ebd.), begreift Fiedler das Sichtbarmachen als einen kontemplativen und reflexiv tätigen Prozess. Nun könnte man schlussfolgern, dass sich in der Differenz dieses einheitlichen Vorgangs, in dem sich eine rezeptive und eine produktive Funktion vorfindet, die Kommunikation mittels Bildern verbirgt: Man gibt dem Auge etwas zu sehen und kommuniziert damit das zu sehen Gegebene. Dem läge jedoch ein armseliger Kommunikationsbegriff zu Grunde, der auf jegliche Sozialität verzichtete und die Kommunikation auf psychische und kör-

1. Die besondere Stellung der Exemplifikation für die Ästhetik heben zum Beispiel Reck 1991: 233 und Scholz 1991: 159 hervor. 202

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perliche Aktivitäten reduzierte. Kommunikation kommt auf diesem Wege nicht in Gang. Die mit dem Herstellungsprozess verbundenen Handlungen oder Absichten, Ausführungen oder Apparaturen machen nichts sichtbar, sie stellen zunächst und vor allem Gesehenes zur Verfügung. Das manuelle Zeichnen, das Filmen oder das Gestalten mittels Grafikprogrammen liegen in der Funktion des schließlich Gesehenen. Begegnet ihnen ein spezialisierter Blick, werden sie Teil der pikturalen Visualitätsdifferenz aus Ansichten und Sichtweisen. Man muss zu dem Schluss gelangen – so ungewöhnlich dies vielleicht klingen mag –, dass das Herstellen und das Rezipieren nichts weiter als die leitenden Koordinaten eines visuellen Systems unter bestimmten Bedingungen sind. Gibson hat gezeigt, dass das Sehen auch ein körperlicher Vorgang ist und dass es sich keineswegs auf den bloßen Empfang und die untätige Verarbeitung von Reizen oder Signalen beschränkt. Konrad Fiedler verlängert das ästhetische Sichten bis in die körperlichen Fertigkeiten der Gestaltung hinein, die ein »durch den ganzen handelnden Menschen vollzogenes Sehen« (ebd.: 324) bilden und die »nichts anderes als die Entwickelung des Sehprozeßes« sind (ebd.: 281). Unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik Fiedlers erweist sich die Zweiteilung des Herstellens und Betrachtens als eine Visualitätsdifferenz – das ›gesehene‹ Herstellen B und das ›sehende‹ Betrachten A. Ihre zweigliedrige Einheit ist die attentionale Einheit der Beobachtung eines komplexen Modells Ξ. Sie gewährleistet, dass die rezeptiven Leistungen der Bildbetrachter und die herstellenden Prozeduren und Praktiken (die körperlichen Aktivitäten und die bildgebenden Verfahren und Techniken) aufeinander abstellen können: zu sichten, was zu sichten gegeben wurde, und dem Sichten zu geben, was nur gesichtet werden kann. Die Produktion und Rezeption sind also nicht deswegen kommunikativ, weil sie die Operationen sozialer Systeme vollziehen, sondern allein weil sie die strukturelle Kopplung der visuellen Aufmerksamkeitsorientierungen angeben. Wurde das Sehen bisher unter den Bedingungen der attentionalen Organisation diskutiert, scheint sich nun eine Möglichkeit zu eröffnen, mit ihr auf die Konditionierung der Kommunikation zu schließen. Die mit der Aufmerksamkeit ausgedrückte strukturelle Kopplung ist keine Einbahnstraße. Es wäre jedoch trügerisch, die Visualitätsdifferenz des Herstellens und des Rezipierens auch als die leitende Differenz eines kommunikativen Systems zu begreifen – Kommunizierendes (A) trifft auf Kommuniziertes (B) –, um auf diesem Wege die strukturelle Kopplung mit einer für alle beteiligten Systeme gültigen Attentionalität zu bestimmen. Weder erfasst eine solche Form die System/UmweltDifferenz sozialer Systeme, noch impliziert die Modulation der Sichtbarkeit die Kommunikation. Da in der Fiedlerschen Visualitätsdifferenz die sozialen Aspekte durchgängig ausgeklammert sind, beschreibt ihre attentionale Beobachtungsstruktur einzig das konditionierte Sehen. Die 203

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Strukturen seines produktiv-rezeptiven Systems, und die Strukturen der sozialen Systeme verfügen über keinen gemeinsamen operativen Bereich. Daher wird man sich ebenfalls davor hüten müssen, Isomorphien in den beteiligten Systemen identifizieren zu wollen. Wenn man davon ausgeht, dass ihre Operationen separiert sind, dann müssen es die Strukturen ihrer Operativität ebenfalls sein. Jede Form des Strukturimports des einen Systems in ein anderes ist auszuschließen. Wegen der strukturellen Geschiedenheit ist es nicht plausibel zu erklären, dass die Kommunikation von sich aus das Sehen konditioniert und dass sie es der Wahrnehmung zur Aufgabe macht, piktural zu sehen. Vielmehr hängt die Anschlussfähigkeit der Kommunikation ihrerseits davon ab, dass das Sehen in einer spezifischen Weise verfährt. Beide stehen demnach in einem Bedingungszusammenhang, der ihnen parallel aufgegeben ist. Wenn die Produktion von Kommunikabilien auf eine bestimmte Rezeption abstellt und die Rezeption dies ihrerseits einrechnet, ändert sich zwar nichts an der Eigenständigkeit des Sehens und Sichtens. Da die Kommunikation jedoch derjenige Vorgang ist, der das Herstellen und das Betrachten einander unterstellen und aufeinander abstellen kann, um aus dieser Konstellation Anschlusswerte für sich zu gewinnen, schlägt sich die Kopplung seitens der Kommunikation in der Erwart- und Unterstellbarkeit des Herstellens auf das Betrachten und des Betrachtens auf das Herstellen nieder. Eine besonders gefestigte Form dieser Ko-Kondition findet Luhmann in der Funktion des Kunstwerks vor: »Immer ist der andere als Beobachter mit im Blick. Auch Betrachter sind an Kommunikation gebunden. Sie rechnen das Kunstwerk einem Künstler zu« (Luhmann 1995b: 131). Um kommunikative Anschlussoptionen zu stabilisieren, binden sich die Erwartungen auf der Herstellungsseite mittels einer eindeutigen Personalisierung und auf der Rezeptionsseite mittels einer disponierten Betrachtungshaltung. Dies gilt jedoch nicht für jede Bildkommunikation. Trotz ihrer Plausibilität ist Luhmanns Beschreibung nicht für alle Fälle instruktiv, in denen die Kommunikation an pikturale Kommunikabilien gebunden ist und in denen sie ohne ihren Einsatz inoperabel wäre. So können in anderen Zusammenhängen bspw. personale Zurechnungen weniger eindeutig, unpraktikabel oder gar unmöglich sein. Bei einer (kunst-) wissenschaftlichen Betrachtung von Höhlenzeichnungen wird man einige Schwierigkeiten mit der personalen Zurechnung bekommen. Die massenmediale Kommunikation der Werbung muss wegen der Abstinenz ihrer Autoren häufig vollständig auf Zurechnungen verzichten. Bei automatisierten Bildgebungsverfahren schließlich gibt es keine Möglichkeit einer personalen Zurechnung mehr. Die Kopplung bleibt in jedem dieser Fälle indes gewährleistet. Was man auch immer erlebt, wenn man Bilder betrachtet, welchen Schrecken und welchen Genuss sie bereiten und welche Erinnerungen und Empfindungen sie begleiten mögen, das Erleben von Bil204

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dern besteht unter kommunikativen Gesichtspunkten zweifellos in der Sicht auf sie. Es besteht darin, zu pikturalen Ansichten zu gelangen. Auch dies ist noch eine Form des Erlebens, das jedes psychische System eigensinnig betreibt. Die von Fiedler beschriebene künstlerische Tätigkeit verweist darauf, dass man die Gestaltungsweisen in einem Bild mitsehen kann und dass sie entsprechend als Gesehenes vorliegen. Und sie verweist darauf, dass man die Gestaltungen beim Gestalten sieht und dass andere sie werden erleben können. So verschiebt sich die Visualitätsdifferenz zur Differenz zwischen dem Herstellen eines psychischen Systems und dem Rezipieren eines anderen psychischen Systems. Da das Gestalten und das Betrachten als Visualitätsdifferenz formulierbar sind, verdoppelt sie sich gewissermaßen. Sowohl Alter als auch Ego können über das Sehen von Ansichten begriffen werden. Ihre Perspektiven sind jedoch gegeneinander verschoben: Ego ist ein Betrachten, das sieht, wie und was gestaltet wurde, und das erwartet, dass gestaltet wurde. Alter ist ein Gestalten, das sein Gestalten mitsieht und erwartet, dass es betrachtet werden wird. Sowohl Ego als auch Alter sind unter der je eigenen Hinsicht das Alter Ego des jeweils anderen. Insoweit stehen sich zwei unterschiedlich disponierte Visualitätsdifferenzen gegenüber, die auf Grund ihrer Erfahrungen und Antizipationen Erwartungen hegen. Das gestaltende Verhalten des einen und das betrachtende Erleben des anderen sind immer noch dem Modus des erlebten Verhaltens unterworfen und gleichen nach wie vor der Visualitätsdifferenz. Insoweit kennzeichnen das Gestalten bzw. Herstellen und das Betrachten bzw. Rezipieren kommunikative Vorgänge nur sehr ungenügend, und zwar auch dann, wenn man die Intransparenz von Alter und Ego bzw. der beteiligten psychischen Systeme zur Kenntnis nimmt.2 Kommunikative Verhältnisse treten erst dann hervor, wenn man vom Sehen absieht und seine Koordination in Betracht zieht; nun jedoch nicht mehr begriffen als die attentionale Koordination der Visualitätsdifferenz, also dessen, das sieht und gesehen wird, sondern vielmehr begriffen als die soziale Koordination dessen, wie ein Verhalten erlebbar werden könnte und wie das Erleben ein erlebbar machendes Verhalten erfahren könnte. Dabei geht es nicht mehr um das Vollziehen des Sehens und um die Explikation des Sichtbarmachens. Es geht ebenso wenig um die Potenzierung eines betrachtenden Sehens im Gestalten (der Produzent antizipiert potenzielle Betrachtungsweisen) oder des

2. Luhmann beschäftigt sich in 1995b: 65-72 mit dem Herstellen und Betrachten. Er fasst sie als einen spezifischen Unterscheidungsgebrauch für Formen auf, die am Kunstwerk beobachtet werden (vgl. ebd. 68). Damit gelingt es ihm, die Möglichkeiten von Rollenbeschreibungen zu überbieten. Wenn man aber fragt, welches System die Unterscheidungen operativ nutzt, fällt man auf psychische Systeme zurück, da sie es sind, die bzgl. ihrer herstellenden und betrachtenden Aktivitäten beobachtet werden. 205

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Gestaltens in der Betrachtung (die Betrachterin rekonstruiert potenzielle Gestaltungsweisen). Stattdessen muss von der Potenzierung ihrer Unterstellbarkeit und von ihren Sinnorientierungen ausgegangen werden. Zuallererst wird also auf die Möglichkeit des Sehens (als die Visualitätsdifferenz Ba(Ξ) / Ab) und nicht auf das abgestellt, das dem Sehen in dieser Form oder über sie hinaus möglich erscheint. In diesem Transformationsfeld setzt die Divergenz des Sehens und der Kommunikation ein. Hier gleiten sie auseinander. Genauer noch ist es zu sagen: Sie treffen sich in diesem zufälligen Feld, das sich in beiden je spezifisch verwirklicht. Das Sehen nimmt eine ebenso ungewöhnliche wie unwahrscheinliche Form der Pikturalität an, während die Kommunikation von der Erwartbarkeit dieses Sehens abhängt, ohne dass seine Form für es operabel würde. Was daraus folgt, wird noch zu zeigen sein. Strukturelle Kopplungen zeichnen sich durch einen Bedingungszusammenhang und durch die Effekte aus, mit denen er sich in den beteiligten Systemen verwirklicht. Für die Bildkommunikation bedeutet dies: Sobald bildlich gesehen wird, wird auch eine Darstellung im und für das Sozialsystem als Mitteilung operabel. Das Herstellen und das Betrachten erscheinen in den sozialen Systemen dank der verstandenen Darstellung als mehr oder weniger gefestigte Schemata der Zurechnung, die möglicherweise auf Personen schließen lassen – es aber nicht müssen und bisweilen nicht können. Jedenfalls sind die Schemata nachgeordnet und können ebenso auf das Unternehmen des beworbenen Produkts, auf eine Werbeagentur oder auf eine Redaktion gerichtet werden. All dies geschieht, während das Sehen im Bild verbleibt. Es wird deutlich, dass die Visualitätsdifferenz der Produktion und Rezeption einerseits und das soziale Korrelat des Pikturalen andererseits nicht zur Deckung zu bringen sind.3 Mit der Kopplung gehen gerade keine Auswirkungen eines beobachtenden auf ein beobachtetes System einher. Sie meint vielmehr den Bedingungszusammenhang der aufeinander abgestimmten Wirkungen und Verwirklichungen. Aufeinander abgestimmt bedeutet, dass die Systeme nur operieren können, wenn sie zugleich operieren, und dass sie, wenn sie operieren, von der gegenseitigen Irritabilität ihrer getrennt erreichbaren Zustände gekennzeichnet sind. Die beteiligten Systeme können die Differenz zu ihrer Umwelt nur stabilisieren, wenn dies mehrfach geschieht und wenn parallel operationsfähige Strukturen aufgebaut werden. Die Gemeinsamkeit der Systeme besteht in der Ko-Konditionierung, die nicht zu kongruenten Umwelten oder zu anderen gemeinsamen Systemeigenschaften, sondern zu inkommensurablen Ergebnis-

3. Vgl. auch die Diskussion zum Aufmerksamkeitskonzept von Markowitz in Abschnitt 3, S. 99-102. 206

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sen der prozessierenden System/Umwelt-Differenzen führt. Dementsprechend lautet die These zur strukturellen Kopplung nicht: Man versteht, dass es sich um die Mitteilung eines Bildes handelt, und kann es deswegen als hergestellt ausweisen und die zugehörigen Attributionen lancieren. Vielmehr geht es darum, dass das Sehen seiner Aufmerksamkeit nach ein bildlich zugerichtetes Sehen ist – was es sehenderweise auch immer verstehen mag, bleibt ihm überlassen und sein Geheimnis –, während die Kommunikation unabhängig von den wahrnehmungsspezifischen und psychischen Vorgängen dank seiner als Mitteilung fungierenden, bildlichen Darstellung operiert. Pikturalität wird in den beteiligten Systemtypen je unterschiedlich prozessiert und ist aus diesem Grunde jeweils etwas anderes. Mittels einer intern prozessierten, symbolischen Regulation können wahrnehmende und soziale Systeme die Kopplungsform des jeweils anderen Systems für ihre eigene Informations(v)erarbeitung nutzen. Die symbolische Regulation entfaltet also ihre volle Wirkung, wenn die parallele Operativität von Systemstrukturen aufeinander angewiesen sind und wenn es nötig wird, Freiheitsgrade für die Handhabbarkeit der einwirkenden Irritationen zu schaffen. Darauf verweist auch Luhmann und spricht in Anlehnung an Talcott Parsons von symbolischer Generalisierung.4 Mit der Generalisierung sind in der Lesart Luhmanns zeichenhafte Wiederverwendbarkeiten gemeint, mit denen die beteiligten Systeme operieren können. Symbolisch meint dabei: »Als Kopplung von Bewußtseinssystemen und Kommunikationssystemen besagt Symbol nur, daß eine Differenz vorliegt, die von beiden Seiten als Dasselbe behandelt werden kann« (Luhmann 1997a: 112). Ein Symbol ist darüber hinaus eine Zeichenform, die in erster Instanz Bezeichnendes und Bezeichnetes unterscheidet und sie in zweiter Instanz als einheitliche Form bezeichnet. Luhmann begreift das Symbol als denjenigen Fall einer Bezeichnung, in dem »ein Zeichen die eigene Funktion mitbezeichnet, also reflexiv wird« (ebd.: 319). Bei dieser formalistischen Fassung des Symbolbegriffs ergibt sich jedoch eine Schwierigkeit. Sie besteht darin, dass mit jeder Bezeichnung eine weitere Form einhergeht, sodass die Bezeichnung einer Form eine zweite Form erfordert. Die »Selbstbezeichnung des Zeichens« ist im strikten Sinne (als eine Form) nicht möglich. In der unterscheidungstheoretischen Fassung Luhmanns kann nur eine weitere Unterscheidung eine zeichenhafte Unterscheidung unterscheiden, sodass sie in ihrem gemeinsamen Verschieden- und Un-

4. Zu Luhmanns Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien vgl. ders. 1975b, 1984: 135–141, 1997a: 316-396 und die Diskussion zwischen Künzler 1987 und Luhmann 1987b, in der Luhmann gegen die Engführung von Sprache und symbolisch generalisierter Medien argumentiert. 207

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terschiedensein ein Symbol oder eine symbolische Zeichenform bilden. Eine Zeichenform kann sich als Form nicht selbst bezeichnen. Wenn sie bezeichnet wird, ist sie bereits eine andere.5 Unabhängig von der Kritik erlaubt die Bezeichnung der Zeichenform – in welchem beobachtungstechnischen Arrangement dies auch geschehen mag –, die Funktion der Einheitsbildung im System in Anspruch zu nehmen, das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem zu manipulieren und auf das Bezeichnende zuzugreifen. In diesem Sinne begreift Luhmann die Symbolisierung als reflexiven Zeichengebrauch. Damit unterscheidet er sich deutlich von semiotischen Ansätzen, in deren Kontext er seine zeichentheoretischen Überlegungen stellt und von denen er sich zugleich distanziert. Folgt man zum Beispiel Charles S. Peirce, so ist das Symbol dasjenige Zeichen, das seinen Bezug zum bezeichneten Objekt auf Grund einer Gesetzmäßigkeit oder Regularität herstellt: »Ein Symbol ist ein Zeichen, das sich auf das von ihm denotierte Objekt aufgrund eines Gesetzes bezieht, das gewöhnlich in einer Verbindung allgemeiner Vorstellungen besteht« (Peirce 1983: 125).6 Peirce bezieht das semiotische Symbol auf ein phänomenologisches System, in dem es eine Verallgemeinerbarkeit und Wiederholbarkeit gewährende und Mannigfaltigkeit bindende Funktion übernimmt (vgl. ebd.: 66). Zudem ist das bezeichnete Objekt selbst »allgemeiner Natur«. Überträgt man dies in die zweiseitige Zeichenform Luhmanns, so ergibt sich für ein soziales System, dass das Symbol kein mehrfach bezeichnendes Zeichen ist, sondern wie jedes andere Zeichen auch in die systemische Operativität integriert und durch seine Allgemeinheit

5. Dass in einer Form (Unterscheidung) nicht mehrere Unterscheidungen getroffen werden können, stellt Luhmann selbst klar: »Bezeichnung ist immer Zeichenverwendung, also Bezeichnung einer Seite (und nicht der anderen) im Kontext einer (perfekt kontinenten) Unterscheidung. Die Bezeichnung der Zeichen als Einheit (Form) einer Unterscheidung erfordert also einen Kontextwechsel, also eine andere Unterscheidung, also eine andere Operation, also Zeit« (ders. 1993a: 59). Wie ein(e) Zeichen(form) sich selbst bezeichnen kann (vgl. ebd.: 67), ist in dem entworfenen Theoriedesign vollkommen ungeklärt und – wie es scheint – auch nicht aufklärbar, da die Bezeichnung einen Beobachter, damit eine Systemreferenz und folglich mehr als die einheitliche Zeichenform verlangt (nämlich: eine Expansion des Kontextes relevanter Unterscheidungen), um symbolisch zu werden. Von der die Form betreffenden Kritik unberührt ist der (und das) praktische Nutzen symbolischer Formen. Hierfür veranschlagt Luhmann den Titel des Mediums. Zu einer Diskussion der Luhmannschen Zeichenkonzeption im Rahmen des sprachlichen Mediums und im besonderen Hinblick auf Saussure und Derrida vgl. auch Stäheli 2000: 137 ff. 6. Einen Überblick über die Semiotik des Symbols gibt Nöth 2000: 178-184. Zu einer vergleichenden Diskussion der Ansätze von Luhmann und Peirce vgl. insbes. Jahraus, Ort 2001. 208

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und Regelmäßigkeit gekennzeichnet ist.7 Es findet seine Funktion darin, das System mit der notwendigen Regelmäßig- und Wiederverwendbarkeit, Allgemeinheit und mannigfaltigen Einsetz- und Beziehbarkeit von Bezeichnungen auszustatten. Das Symbol zeichnet sich im besonderen Maße dadurch aus, dass dies für beide Seiten der Form gilt: Sowohl das symbolisch Bezeichnende als auch das symbolisch Bezeichnete und darüber hinaus ihre semantische Beziehung korrelieren mit dem strukturellen Aufbau und dem operativen (An-)Schließen der Systeme.8 Demnach liegt mit dem Symbol eine Form systemischer Schematisierung vor, die kraft des Operierens als ein wiederholbares, aber nicht notwendigerweise als ein wiederholtes Operieren zu Tage tritt. All dies geschieht, ohne die Zeichenform wiederum als eine Einheit zu unterscheiden und zu reflektieren, was in einem nachgeordneten Schritt nichtsdestotrotz geschehen kann. Wenn es geschieht, verdankt es sich der symbolisch gegliederten Systemstruktur.9 Im Sinne der Systemtheorie überformt das Symbol seine vornehmlich sprachliche Zeichenform und befreit die Zeichen verwendenden Systeme gewissermaßen von der Unerreichbarkeit des Bezeichneten, da sie darauf nicht mehr spekulieren müssen und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die Sinnstruktur richten können. So mag es in formaler Hinsicht möglich erscheinen, die Zeichendifferenz zu überspielen und sie als formale Einheit zu unterscheiden. Dies vollzieht sich jedenfalls im Bewusstsein und in der Kommunikation: auf der einen Seite wahrnehmend und denkend, auf der anderen Seite mitteilend und verstehend. Wie aber – so muss man hinsichtlich der Zeichen verwendenden Systeme fragen – gelingt es ihnen, mittels der Symbole ihre Differenz zu überspielen? Was bedeutet »Dasselbe«, auf das Bewusstsein und Kommunikation jeweils zurückgreifen, und was bedeutet, »daß im

7. Dieser Schritt setzt voraus, dass der Theorietransfer zulässig ist. Ihm scheint jedoch nichts Wesentliches im Wege zu stehen, da Luhmann sich in erster Linie auf sprachliche Zeichen und ihnen folgenden Kommunikationsmedien (vgl. ders. 1997: 324) bezieht, die gemäß Peirce vor allem symbolisch sind: »Ein Wort kann mit dem Urteil eines Gerichts verglichen werden. Es ist nicht selbst der rechte Arm des Sheriffs, doch ist es fähig, sich einen Sheriff zu schaffen und seinem Arm den Mut und die Energie zu verleihen, die ihn wirksam werden läßt. Ist dies nicht für das Urteil des Gerichts im strikten Sinne wahr, ohne jede Metaphorik?« (Peirce 1983: 66) 8. Semantische Aspekte können unter den Bedingungen sinnhafter Systeme selbstverständlich nicht auf die Zeichenform reduziert werden. Zum Verhältnis von Semantik und Struktur sozialer Systeme vgl. Luhmann 1980: 9-71. 9. So viel zunächst zu der Überlegung, das Symbolische als eine Strukturierungsleistung sozialer Systeme zu begreifen. Sie findet im dritten Teil dieses Abschnitts ihre Fortsetzung. 209

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Getrennten die Kopplung des Getrennten präsentiert werden kann« (Luhmann 1988b: 889)?10 Ist es die Zeichenform, die hier wie dort unter je eigenen Prämissen gehandhabt wird? Damit ist das Kopplungsproblem benannt, das darin besteht, dass sich die jeweiligen Systemstrukturen in ihrer operativen Unabhängigkeit und gemeinsamen Bedingtheit als wirksam erweisen müssen. Gemäß Luhmann wird das Problem dadurch gelöst, um es kurz zu sagen, dass die beteiligten Systeme ihre Differenz auf beiden Seiten reflektieren und dadurch erst die nötige strukturelle Stabilität gewinnen, um fortgesetzt und aneinander angepasst zu prozessieren. Dass die Zeichen in Form gebracht werden, ist das Resultat und die Tatsache dieses Vorgangs. Ihre Form ist die erwiesene Wirksamkeit der strukturellen Kopplung und muss sich deswegen nicht nochmals beweisen. Wenn man aber voraussetzt, dass die Systeme ihre Distinktionen operativ getrennt und füreinander uneinsehbar vornehmen: Wie wird die Form realisiert? Auf welche Weise werden die Zeichenformen in den Systemen operabel, und wie können sie einander unterstellen, dass es sich jeweils um dieselben handelt, wie Luhmann sagt, die auf beiden Seiten unterschieden und zugleich symbolisch behandelt, also bezüglich ihrer Zeichenform befragt werden? Woher nimmt die bezüglich der Systeme und ihrer Fomen und Schemata mehrfach geführte Reflexion also ihre Einheit und Gewissheit – die Einheit der beobachteten Differenzen und die Gewissheit, dass sie auf beiden Seiten gleich-einheitlich sind? Es bedarf einer beobachtungstheoretischen Klärung dessen, wie verschieden beobachtende Systeme etwas beobachten können, von dem gesagt wird, es sei für sie gleichrangig oder gleichwertig, gleichsinnig oder gleichförmig, es sei für sie auf ein und dem selben Niveau handhabbar. Wie es scheint, widerspricht diese Annahme gerade den Grundvoraussetzungen der Beobachtungstheorie: Sie geht davon aus, dass die lancierten Unterscheidungen operativ nur dem jeweiligen System zugänglich sind, in dem sie ausgeführt werden (bspw. psychisch und kommunikativ). Dies schließt keinesfalls aus, dass Systeme andere Systeme beobachten. Ganz im Gegenteil kann von Systemen nur gesprochen werden, wenn sie als solche beobachtet werden. Allerdings ist ausgeschlossen, dass dies unter dem Gesichtspunkt des beobachteten Systems geschieht. Jedes beobachtende System beobachtet nach seiner Maßgabe, in seiner Hinsicht und in der eigenen Domäne. Die Vielfalt der Systeme vervielfältigt sich unabschließbar in allen gegenseitigen Beobachtungen. Den Systemen die Beobachtung eines Selben zu unterstellen bzw. ihnen die gegenseitige Unterstellung einer gleichsinnigen

10. An anderer Stelle schreibt Luhmann dementsprechend: »Das Symbolische ist die Fusion dessen, was es als unterschieden voraussetzen muß; es ist die Gestalt gewordene Paradoxie« (2000: 337). 210

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Beobachtung zu unterstellen, ist vom Standpunkt eines beobachtenden Systems kaum zu rechtfertigen, da es ausschließlich die ihm und keinem anderen System gemäßen Unterscheidungen treffen kann. Die Replikation der gegenseitigen Beobachtung ist von jedem Standpunkt aus anders zu bewerten. Dadurch wird die Reziprozität der gegenseitigen Beobachtung einheitlicher Formen gerade ausgeschlossen. Jedes unterstellte System beobachtet ein anderes System auf eine andere Weise. Auch wenn es in einem System verwendete Formen feststellt, unterliegt dies seinem eigenen Unterscheidungsgebrauch, der von keinem anderen Beobachter einzuholen ist – es sei denn unter Maßgabe der eigenen Kontextierungen und Formen. Es ist zutiefst zweifelhaft, dass sich die einmal in Gang gesetzte Divergenz der Systeme wieder auf einen ihnen gemeinsam unterstellbaren, einheitlichen Nenner zurückführen lässt, der ihnen gleichermaßen zugänglich ist und über den sie frei verfügen können. Um dem Dilemma des wiederzuvereinheitlichenden Sinnes nie gleichsinnig beobachtender Systeme zu entkommen, optiert diese Studie dafür, der Unvereinbarkeit der Systemperspektiven Rechnung zu tragen und ihre Formulierung und Formalisierung aus attentionalen Objekten abzuleiten. Danach ist das Selbe nicht Gegenstand einer Beobachtung, sondern das replikative Produkt ihrer Struktur.11 Sie bringt die Koordination der leitenden Systemdifferenzen und ihre aufeinander abgestimmte Differenzierung zum Ausdruck und entfaltet zugleich den Raum ihrer Selbigkeit. Gleichwohl ist das Kopplungsproblem damit noch nicht gelöst. Wie gezeigt wurde, besteht das Symbolische der attentionalen Modellierung darin, durch die Beobachtung eines Objekts als Modell ein Beziehungsmuster aufzubauen, in das sich die Beobachtung anderer Objekte (als Erfüllende eben dieses Modells und seines Musters) einfügen lassen. Weder das andere Objekt selbst noch seine äußere Beobachtung sind jedoch im Stande, sich in das Muster einzupassen. Allein die aus der Perspektive des Beobachters ermittelbare Relation zwischen dem Modellobjekt und ihm erfüllen die gehegten Ansprüche. Etwas als Modell für etwas anderes zu beobachten, kann demnach nicht die andere Beobachtung ersetzen, da ihr Wert auf diesem Wege keinesfalls erreicht wird. Das Symbolische ist vielmehr damit gegeben, dass eine Struktur entworfen wird, in die verschiedene, aber nur bestimmte Beziehungen eingefügt, ausgelöst und wieder eingefügt werden können. Entscheidend hierbei ist das Beharrungsvermögen der Struktur, da sie ihre Geltung auch ohne ein einziges Erfüllendes bewahrt – eben so lange, wie ein Objekt als Modell beobachtet wird. Sehr verkürzt argumentiert wäre es folglich, das Modellobjekt als das Symbol für die Beziehung zu einem anderen Objekt zu deklarieren und damit allein das Symboli-

11. Vgl. hierzu die Ausführungen in Abschnitt 3, S. 131 ff. 211

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sche zu erklären. Symbolisch ist die strukturierende Leistung des eingeführten Musters, das inaktuelle Beziehungen wiederholt, indem es denjenigen Wert repliziert, den sie für einen gegebenen Beobachter hätten, würden sie aktuell ermittelt werden. Dies vermag nicht jede strukturierende Leistung von Objektbeziehungen. Das bloße Errechnen von Beziehungen und die Beobachtung von Komplexität wiederholen sich ausschließlich mit ihrer je aktuellen Wiederaufnahme, die ebenso wenig symbolisch ist wie die wiederholbare Entscheidung, ein Objekt als dieses oder jenes zu beobachten. Unabhängig davon, welchen Wert das beobachtete Verhalten eines Modellobjekts hat und welchen Zustand ein damit korrespondierendes System annimmt, werden der gesamte Gültigkeitsbereich des Modelltyps und der gesamte Möglichkeitsspielraum des Systems aufgerufen. Der so ausgewiesene Möglichkeitsspielraum ist verwandt mit einem wichtigen Aspekt des von Ernst Cassirer vorgestellten Symbolbegriffs, der ein je zum Zuge kommendes Symbol nur aus einem systematischen Funktionszusammenhang heraus und nur innerhalb eines regulativen Ganzen begreifbar macht. Dieser Aspekt soll nun verdeutlicht werden. Cassirer entwickelt einen Begriff des Symbolischen, der das Verhältnis betrifft, in das das Bewusstsein zu seiner Welt tritt. Wessen es auch immer gewahr wird, das Bewusstsein unterliegt den »Modi des Erscheinens« (Cassirer 1954: 85) und ist von einer symbolischen Form gekennzeichnet – zum Beispiel von der Kunst oder von der Sprache –, der gemäß es seine Welt erst aufzufassen in der Lage ist.12 Ein nahe liegender Einwand gegen den anstehenden Vergleich muss zunächst zurückgewiesen werden. Vielleicht möchte man mit einem Verweis auf die Begriffsbestimmung der symbolischen Form – unter ihr »soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird« (ders. 1956: 175) – und in Übereinstimmung mit den semiotischen Interpreten Cassirers entgegnen, dass die symbolischen Formen vor allem zeichenhaft zu begreifen sind und dass es deswegen nicht möglich ist, sich auf ihn zu berufen, wenn es darum geht, auf die symbolische Disposition von Systemstrukturen als die unumgängliche Voraussetzung für Zeichenbildung und Zeichenverwendung aufmerksam zu machen.13 Das semioti-

12. Zum Begriff der symbolischen Form und seiner Stellung in den Schriften Cassirers vgl. Orth 1992. 13. Die semiotischen Interpreten (vgl. zum Beispiel Krois 1984 und Paetzold 1994: 52-65) gehen zumeist und vorwiegend von den drei Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der reinen Bedeutung aus, die sich paradigmatisch im Mythos, in der Sprache und in der wissenschaftlichen Erkenntnis verwirklichen. Zur Kritik der an einer 212

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sche Verständnis übergeht jedoch den entscheidenden Impuls in der Konstitution der symbolischen Formen. Denn die Zeichen gewinnen ihre Bedeutung weder kraft ihres bloßen Auftretens noch allein aus einem reinen Zeichenzusammenhang. Dass jede Pflanze unmittelbar die Herrlichkeit der Natur ausdrückt, dass ein Wort einen Gegenstand bezeichnet und dass die Relativitätstheorie unanschauliche Ordnungs- und Beziehungsverhältnisse entwirft, kann mit dem Einsatz nur rudimentärer oder hoch abstrakter Zeichen zwar gezeigt, aber nicht weiter aufgeklärt werden. In diesem Sinne betont Cassirer, dass »die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird« (ders. 1953a: 42). Dieser Grundfunktion ist es folglich zu verdanken, dass die Zeichen ihren Weg in die symbolischen Formen, in ihren bedeutsamen Zusammenhalt und zu ihrer kulturellen Relevanz finden und dass mit ihnen gedacht (und kommuniziert) werden kann – was weit reichende Auswirkungen auf die Verfahrensweisen und Möglichkeiten des Bewusstseins hat. Es »erschafft sich selbst bestimmte konkret-sinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe« (ebd.: 42 f.) und erschließt sich auf diesem Wege die Funktion darzustellen, was auch immer es darzustellen vermag, und die Freiheit, die gewonnenen Zeichen einzusetzen und zu reproduzieren, wie es ihm beliebt.14 Es kann nicht anders als sich dabei stets (zumindest in Teilen) selbst zu wiederholen. Das Bewusstsein greift verschiedentlich, je nach symbolischer Form bzw. Modus des Erscheinens, auf seine Welt zu. Es ist mit allem, das ihm erscheint, in einer sinnhaften Welthaltigkeit und -haftigkeit verbunden. Eine andere Möglichkeit hat es nicht. Symbolisch daran ist die spezifische Disposition des Bewusstseins, dass sich die Welt in und mit jedem Moment des Erlebens nolens volens zeigt und auf diesem Wege erst wirklich wird. Welche Form Cassirer auch beschreibt, mit dem Symbolbegriff geht das Unternehmen einher, »das Ganze jener Phänomene zu umfassen, in denen überhaupt eine wie immer geartete

Zeichenform orientierten Auffassung der Philosophie der symbolischen Formen vgl. Bermes 1997: 152 f. 14. Die Darstellungsfunktion der sprachlichen Zeichen ist keineswegs gezwungen, es bei den »konkret-sinnlichen Inhalten« zu belassen, wird aber immer wieder darauf zurückgeworfen, sodass man für stark abstrahierende Bestimmungsleistungen andere, nicht-sprachliche Mittel wird finden müssen. Zu den verschiedenen Phasen des sprachlichen Ausdrucks vgl. Cassirer 1953a; zur »Reproduzierbarkeit des Inhalts« vgl. ebd.: 23. 213

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›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt; – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.« (Ders. 1954: 109) Die Sinne sind nicht nur sinnhaft, sie beweisen sich auch unmittelbar in dieser Weise. Für diesen unausweichlichen, zweigleisigen Vorgang hat Cassirer den Begriff der symbolischen Prägnanz gewählt.15 Die Wahrnehmung ist auf Grund der funktionalen und strukturellen Eigenleistungen des Bewusstseins ad hoc sinnhaft gegliedert und weiß darum – als Bewusstsein. Ob man Cassirers durchdringenden Symbolbegriff unumschränkt folgt oder ob man auch ein nicht-prägnantes oder ›unscharfes‹ Erleben und eine diffuse und bedeutungsentgleitende Welt für möglich hält, die diesen Namen strenggenommen zwar nicht mehr bzw. noch nicht verdient, aber nichtsdestotrotz zum Sinn gehört, ist momentan unwichtig und soll phänomenologischen oder anderen bewusstseinstheoretischen Erörterungen überlassen bleiben. Unabhängig von dieser Frage bleibt festzuhalten, dass das Bewusstsein allem, was ihm begegnet, unmittelbar und spontan symbolisch gegenübertritt und dass in seiner strukturellen und funktionalen Disposition die Bedingung des Zeichengebrauchs zu suchen ist. Die Zeichen sind demnach nichts weiter als eine auf die mit spezifischen Aktualisierungs- und Potenzierungschancen verbundene, operationale Form des Bewusstseins. Sein in jedem, auch im nicht-zeichenhaften Vollzug funktional angelegtes, symbolisches Verfahren liegt darin, mit Bezug auf ein Ganzes hervorgerufen zu werden und dieses Ganze in jedem Moment wieder aufzurufen und ihm Geltung zu verschaffen: »Es besteht jenes Verhältnis der ›symbolischen Mitgegebenheit‹, kraft deren ein besonderes, hier und jetzt gegebenes Phänomen nicht nur sich selbst, sondern einen Gesamtkomplex […] vertritt und zur Darstellung bringt« (ebd.: 162). Diesem positiven und produktiven Moment der Wahrnehmung und des Denkens ist einerseits eine »gegliederte Mannigfaltigkeit«, die das einzelne Phänomen in seinem Erscheinen prägt, und andererseits die Verknüpfungsstruktur des Bewusstseins selbst (vgl. ders. 1953a: 40) vorauszusetzen, in der sich das Symbolische prägnant verwirklicht. Das Bewusstsein »steht in mannigfachen Sinnverbänden, die systematisch unter sich wiederum zusam-

15. Die zentrale Stellung der symbolischen Prägnanz für das Verständnis der Philosophie der symbolischen Formen wird häufig betont. Sie fällt mit der Grundfunktion des Bedeutens zusammen, worauf bspw. Krois (1988: 22 f.) hinweist. Er bestimmt die symbolische Prägnanz als »das Transzendentale in Cassirers Philosophie«. Die einzelnen Facetten der symbolischen Prägnanz hat Oswald Schwemmer (1997: 69-125) mit einem anthropologischen Interesse untersucht, das zum Teil Widerspruch provoziert. Zur symbolischen Prägnanz vgl. Cassirer 1954: 230-237. 214

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menhängen, und die kraft dieses Zusammenhangs jenes Ganze konstituieren, das wir als die Welt unserer ›Erfahrung‹ bezeichnen. Welchen Komplex man immer aus dieser Gesamtheit der ›Erfahrung‹ herauslösen mag – ob man das Beisammen der Phänomene im Raume oder ihr Nacheinander in der Zeit, ob man die Ding-Eigenschaftsordnung oder die Ordnung von ›Ursachen‹ und ›Wirkungen‹ betrachten mag – immer zeigen diese Ordnungen eine bestimmte ›Fügung‹ und einen gemeinsamen formalen Grundcharakter. Sie sind so geartet, daß von jedem ihrer Momente ein Übergang zum Ganzen möglich ist, weil die Verfassung dieses Ganzen in jedem Moment darstellbar und dargestellt ist.« (Ders. 1954: 222) Das aktuelle Erleben ist dank seiner bedeutsamen Vielheit sinnerfüllt und sinngesättigt, was wiederum auf vielfache Weise geschehen kann. Das Bewusstsein wiederholt mit jedem seiner Züge eine sinnhaltige, vielgestaltige Welt, indem es sie spontan »wiederherzustellen« (ders. 1953a: 42) und zu stabilisieren in der Lage ist. Es weiß die Beziehungen zu seiner Welt zu bestimmen und es vermag, systemtheoretisch gewendet, auf Grund seiner basalen, operativen Beschaffenheit den Grad seiner eigenen Informiertheit zu bestimmen, indem es zwischen den ihm zustehenden Formen wechselt und wählt. Das Einzelne entfaltet auf vielfältige Weise die (Bedeutungs-)Einheit einer Vielheit und zeigt sie unmittelbar auf. Damit ist der erwähnte, auch bei der attentionalen Modellierung beobachtete Aspekt des Symbolischen benannt. Wessen das Bewusstsein auch immer gewahr wird, es bestimmt es erstens in eigener Hinsicht und vernimmt es zweitens in der einheitlichen Funktion einer Vielheit. Dies gilt auch für die Modellbeobachtung, da jedes beobachtete Verhalten eines Modells Bµ, Bτ, Bξ eine Aufmerksamkeitsspanne öffnet und eine Vielzahl möglicher Objektbeziehungen gewährt.16 Das Symbolische verfügt darüber, wie dem Bewusstsein etwas als etwas gegeben ist. Ihm geht es nicht allein darum, was wie informativ ist und welche Form gerade eingesetzt wird, sondern vor allem, auf welche Weise die Information zu Stande kommt, also wie informativ etwas ist und wie die Formung zu Wege gebracht wird. Das Symbolische ist das Wissen zur Bestimmung, das als eine dem System zugängliche

16. Für das beobachtende Objekt ist das beobachtete Modell die Vielheit aller möglichen Objektbeziehungen, was sowohl für den nicht-variablen als auch den variablen Regulator bzw. für die ein- und die mehrstufige Modellierung gilt. Die vereinheitlichende Grundfunktion des Bedeutens oder Prägens, die alles Erscheinende ein und demselben Sachverhalt zugehörig erscheinen lässt, ist auf attentionalem Niveau mit dem Replikationswert X ∗ X zu erklären: »An observation made without proper regard for the Model Facility is meaningless, that made with proper regard for it is meaningful. […] For an observation to have Meaning, it must be related to the Object of observation. […] The action of an observer observing on the Model Facility creates Meaning« (Glanville 1975: 25 f.). Eine Modellbeobachtung ist dafür allerdings nicht nötig. 215

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Regulierung seiner Zustände zu begreifen ist: »Soll diese Integration, soll diese Erfassung des Erfahrungs-Ganzen von einem Einzelmomente aus, möglich und durchführbar sein: so bedarf es bestimmter Gesetze, die den Übergang von einem zum andern regeln« (ebd.: 236). Dies gilt bereits für die einfache Farbwahrnehmung, die der Ordnung ihrer Farbigkeit unterliegt oder die, wie Cassirer ausführt, als einem Ding zugehörig erscheint, in dessen Funktion sie steht. Im ersten Fall ist eine gesehene Farbe ein Einzelfall der Farbigkeit (zum Beispiel der Farbigkeit eines Spektrums, einer Palette oder eines Musterbuchs), im zweiten Fall ist die gesehene Farbe die einzelne Eigenschaft eines räumlich geordneten Gegenstands, der sich vermittels seiner Farbe in der Wahrnehmung darstellt: Sie sieht von den Lichtreflexen und Schattierungen ab, um den Gegenstand rein in seiner farbigen Eigenschaft zu erkennen.17 Die gesehene Farbe unterliegt hier der Bewusstseinsstruktur des Ding/Eigenschaft-Schemas der räumlich orientierten Wahrnehmung, »die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört« (ebd.: 235). Ob es hilfreich ist, für jede Regelhaftigkeit des Bewusstseins den Begriff des Symbolischen zu verwenden, wie Cassirer es tut, kann bezweifelt werden. Es ist fraglich, ob das Bewusstsein auf jeden seiner Zustände zugreifen und ihn symbolisch handhaben kann bzw. ob es seiner Aufmerksamkeit gemäß unentwegt modellierend verfährt. So stimmt es zwar, dass sich eine gesehene Farbe in die Eigenschaftsverhältnisse eines Gegenstands einordnet und man sie als zu diesen Gegenstand zugehörig wahrnimmt (ein gesehenes Rot als Eigenschaft eines Gegenstands oder als eigener, gesehener Gegenstand). Damit ist aber noch nicht geklärt, ob die Farbe die Gesamtheit der Eigenschaftsverhältnisse in ihrer Vielfalt funktional vereint und dem Bewusstsein zugänglich macht. Wenn man im Vorübergehen etwas Rotes auf der Straße erblickt, vielleicht ein achtlos weggeworfenes Stück Papier, dann hat man den Eindruck eines roten Gegenstands gewonnen und sich seinem Ding/Eigenschaft-Schema eingefügt. Da der Eindruck jedoch nur sehr kurz war, ist es nicht möglich, auf weitere Eigenschaften zu schließen. Die Beobachtung ist nicht variplikativ. Man weiß bspw. nicht, wie sich das gesehene Rot unter anderen Lichtbedingungen verhält und welches Rot dem Gegenstand ›eigentlich‹ eignet. Ein Rot zu sehen und damit eine bestimmte, stabile Wahrnehmung verwirklicht zu haben bedeutet noch nicht, dass es zugleich als eine bestimmte Tönung von Rot erscheint. Es ist nicht als ein Rot von vielen Tönungen oder als ein Rot

17. Zur Farbwahrnehmung und zu den anderen Sinnesmodalitäten vgl. Cassirer 1954: 144-164. 216

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von vielen verschiedenen Farben erschienen. Das heißt, es ist nicht als Farbe erschienen. Man muss Cassirer widersprechen, wenn er schreibt: Das »hier und jetzt gegebene, das momentane und individuelle Rot gibt sich uns nicht nur selbst zu eigen, sondern ist uns als ›ein‹ Rot, als Exemplar einer Species, die durch es vertreten wird, bewußt« (ebd.: 157). Um in dieser Weise zu sehen, müsste man das Rot als genau dieses Rot zunächst bestimmen, um von ihm aus diese und jene Beziehungen zu anderen Nuancierungen oder zu anderen Dingeigenschaften herzustellen. Man müsste das Rot eben als Modell beobachten. Die Attentionalität der einfachen, nicht-modellierenden Objektbeobachtung belegt, dass auch in der schlichten, nicht-symbolischen Wahrnehmung eine Regulation am Werke ist (Passung der Objekte), die das Rot als »eben dieses« ausweist und es mit der für das Ding/Eigenschaft-Schema nötigen Konstanz versorgt – was Cassirer nicht für möglich hält. Ihm ist folglich entgegenzuhalten, dass eine symbolisch zu nennende Regulation erst mit dem Auftritt des Regulators der Aufmerksamkeit gegeben ist. Wenn die von ihm beschriebenen Bewusstseinsfunktionen auch dafür verantwortlich sind, dass ein Ganzes zur Darstellung kommen kann, und wenn die Art, in der sie in jedem Einzelmoment geltend gemacht werden, auch die Vorlage dafür liefert, wie sich dem Bewusstsein etwas darstellt, so muss man nichtsdestotrotz auf den Unterschied zwischen der Struktur des Bewusstseins und seinem Restrukturierungsvermögen beharren. Eine Funktion nur zu erfüllen ist etwas anderes als eine Funktion aufzurufen. Trotz der Kritik ist Cassirer die Einsicht zu verdanken, dass beide Funktionen auf einer psychischen Ebene und untrennbar in demselben strukturellen Bereich bzw. in derselben operativen Struktur hervortreten. Das Symbolische bezieht sich dabei auf die zum Einsatz kommenden, systemischen Kompetenzen zur eigenen (Re-)Strukturierung. Es soll als die Disposition eines Systems begriffen werden, im operativen Vollzug eigene Zustandsbestimmungen intern zuzuordnen und festzulegen. So kann man ein Rot als den Ausdruck für eine Gefahr, als das Hinweiszeichen im Straßenverkehr oder in einem Visualisierungsverfahren als die abstrakte Zuordnung für physikalische Eigenschaften eines für das Auge unergründlichen Materials sehen; und so können eben auch Bilder gesehen werden. Ihren Ausdruck finden die verschiedenen Verhältnisse, in denen das Bewusstsein seiner Welt oder genauer: seiner Umwelt gegenübertritt, in den Spezifikationen ihrer attentionalen Koordination. Einer pikturalen Ansicht gewahr zu werden bedeutet, dass man sie wiedereinsetzen, wiedererkennen und wiederholen können wird, und das bedeutet wiederum, sehenderweise eine prä-semiotische, symbolische Regulation auszuführen; dies auch dann, wenn sie ad hoc kre-

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iert und wieder vergessen wird. Ob sie für zwei Sekunden oder für ein Jahrhundert gilt, ändert nichts an ihrer operativen Mächtigkeit. Die Diskussion mit Cassirer hat aber nicht nur die symbolische Regulation des Bewusstseins gezeigt. Da die von ihm konstatierten symbolischen Formen (Mythos, Sprache, Kunst, Wissenschaft etc.) immer auch eine unleugbare kommunikative Funktion haben, wird zudem deutlich, dass die psychische Verfahrensweise sozial gekoppelt ist. Sobald die Wahrnehmung in der Form des Sehens-in auftritt, ist das visuelle System an Kommunikation gebunden, da mit dem Bildersehen darstellerische Mitteilungsoptionen und kommunikative Anschlussmöglichkeiten eröffnet werden. Das Sehen-in ist auch dann sozial gekoppelt, wenn es gerade fern jeder Kommunikation zu Stande kommt. Durchblättert man allein das Familienalbum und betrachtet die eingeklebten Fotografien, sieht man in einer Weise, die sozial induziert ist. Für das pikturale Sehen macht es keinen Unterschied, ob man allein ist oder im Kreis seiner Freunde die abendliche Diashow über sich ergehen lässt. Für die anfallende Kommunikation macht es hingegen sehr wohl einen Unterschied, ob sie piktural verfährt oder nicht.

Die symbolische Regulation sozialer Systeme Der zu Beginn der Studie vorgestellte Begriff der Kommunikation deutet darauf hin, dass sie sich in Abhängigkeit von ihren kontingent aktualisierten Wahrscheinlichkeitszuständen selbst restrukturieren kann. Im Rahmen seiner Kontingenzen vermag ein soziales System weitere Zustände wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher zu machen, also den Anschlusswert zu erhöhen oder zu reduzieren. Da das Verstehen ihn festlegt, wird man es untersuchen müssen, um die Restrukturierungsmöglichkeiten pikturaler Kommunikation beschreiben zu können. Da ein System überdies wiederholt auf Bilder oder genauer: auf ein bildliches Prozessieren zurückkommen kann und da es dabei nicht an eine einzige Darstellungsweise gebunden ist, vollziehen seine Operationen wie schon die psychischen Systeme eine symbolische Regulation. Es eröffnet einen eigenen Spielraum, um die Möglichkeit des Sehens-in mehr oder minder erwartbar zu machen. Demnach kommt es auf die symbolische Performanz an, wenn es herauszufinden gilt, wie sich die Kommunikation unter pikturalen Bedingungen verhält. Wie die Symbolisierung in Funktion tritt, erklärt die Attentionalität der modellierenden Regulation. Sie macht kenntlich, wie ein Strukturmuster mehr oder weniger variabel repliziert wird und wie es sich, in Abhängigkeit des Modelltyps, trotz verschiedener Realisierungsvarianten immer um das selbe Niveau handelt. Insofern es zulässig ist, die attentionale Beobachtungsstruktur mit einem sozialen System zu korrelieren – dies kann nicht die Gesamtheit des Systems und seiner Prozedu218

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ren, sondern nur manche seiner Grundzüge aufdecken –, ergeben sich einige Aufschlüsse für die Kommunikation. Ihre Attentionalität besteht darin, Alter und Ego als Objekte begreifen, die sich gegenseitig beobachten. Genauer müsste man sagen, das Alter Ego als Modell beobachtet. Wird ein soziales System auf einem solchen Niveau repliziert, schließt jeder aktuelle Zustand eine Mehrheit verschiedener Werte ein bzw. er ist diese Mehrheit oder gegliederte Mannigfaltigkeit, um es mit Cassirer auszudrücken. Die Verwandtschaft mit der Kontingenz aktueller Sinnvollzüge ist unverkennbar. Wenn sich das System reproduziert, entfaltet es seinen Spielraum, und wenn es eine diesem Spielraum entsprechende Struktur etabliert, reproduziert es ebenfalls seine Varietät. Das System reproduziert sich in seiner temporalisierten, variantenreichen Struktur. Es handhabt die Varietät seiner erreichbaren Zustände und es hält sie damit in jedem Moment wiederholbar. Auf dieses Sinnorientierungswissen kommt es an. Ein symbolisch aktualisierter Zustand dient nicht nur als mitberücksichtigter Ausgangspunkt für weitere Zustandsbestimmungen oder -änderungen. Der Zustand ist zudem davon gekennzeichnet, dass über seine weitere Entwicklung verfügt und dass sie manipuliert wird. Auf diesem Wege erhält das System die Möglichkeit, seine Zustände festzulegen, sich also über die Wahrscheinlichkeit des reproduktiven Procedere hinaus für sich selbst wahrscheinlicher (oder auch unwahrscheinlicher) zu machen. Kurz, mit der Modellierung geht eine dem System zugängliche Informations(v)erarbeitung einher. Nur so können Irritationsbestände aufgenommen werden. Indem das System sich und letztlich auch die Wiederholbarkeit seiner Varietät reproduziert, also Erwartungen immer wieder (mehr oder weniger) erwartbar macht, führt es zugleich interne Regelmäßigkeiten ein. Sie benötigen weder vorgeschriebene Konventionen noch ungeschriebene Gesetze, sie benötigen allein eine wiederholbare und in der Wiederholung sich bestätigende Varietät. Das System symbolisch zu regulieren, vollzieht sich somit praktisch oder es vollzieht sich nicht. Sich bestätigende Erwartungsstrukturen sind regelmäßige Sinnorientierungen. Nicht allein die generalisierten Kommunikationsmedien zeigen, dass ein Sozialsystem symbolisch konfigurierbar ist. Bereits der zweigeteilte Ring, der im antiken Griechenland als Unterpfand für ein zu gewährendes Gastrecht diente und auf dessen Wortstamm der Begriff des Symbols zurückgeht, belegt die Modellierung der Erwartungserwartungen. Der zerbrochene Ring bindet, insofern er als Unterpfand verstanden wird, Erwartungen und strukturiert ihre Wiedereinsetzbarkeit. Er fungiert als dasjenige, was man mit Luhmann als die »Erzeugungsregel für Einzelerwartungen« (1987a: 83) beschreiben kann. Erwartbares wird zur Verfügung gestellt und Sozialbeziehungen (der Gastfreundschaft) werden präfiguriert. Der Ring gewinnt den Status eines regulären und regulativen Zeichens der Gastfreundschaft. Durch 219

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die performative Verwirklichung in der Kommunikation wird er zu einem symbolisierenden Gegenstand. Ihn in solcher Weise zu verwenden oder sich auf seine regulierende Wirkung berufen zu können, verdankt sich folglich dem System, in dem er diese Funktion ausspielen kann. Der hier zum Zuge kommende und auf die manipulierbare Varietät des Strukturreichtums hinauslaufende Modellbegriff weicht deutlich von dem Begriff des Modells ab, über das ein System qua Selbstbeschreibung verfügt und das dem System zur eigenen Identifikation und zur von ihm selbst ausgewiesenen Orientierung dient. Diesem Begriff folgt indes Luhmann, wenn er schreibt: »die Leitung des Systems setzt ein Modell des Systems voraus« (1981b: 19) und wenn er ihn in den Kontext simplifizierender Selbstvergewisserungspraktiken stellt. Sie werden von einer symbolisch konfigurierten Struktur nicht zwingenderweise benötigt. Vielmehr geht sie ihnen voraus, da ein eigenes, internes Modell oder eine Selbstbeschreibung nur gelten, insofern sie wiederholbar sind, insofern sie Regelmäßigkeiten einführen und insofern sie Möglichkeitsspielräume generieren und handhabbar machen; kurz, insofern sie als Modell disponiert sind und als Symbol fungieren. Die modellierte Struktur erübrigt sowohl das Modell des Systems im System als auch die modellhaften Sinnvorschläge, über die sich das System identifiziert. Es benötigt keine privilegierten Einrichtungen, an der sich seine Aktivitäten orientieren oder durch die sie ausgerichtet werden. Damit wird keinesfalls die Möglichkeit zu Selbstbeschreibungen ausgeschlossen. Ebenfalls kann man nicht ausschließen, dass sie im System Wirkungen zeitigen. Ob sie den Sinn eines Systems ausrichten und ob sie tatsächlich das Selbst selektiv beschreiben, hängt jedoch davon ab, welche Funktionen die Beschreibungen letztlich in der entsprechend disponierten Struktur übernehmen. Das Selbe des Systems verdankt sich nicht den Selbstbeschreibungen, sondern einzig der modellierenden Form ihrer Restrukturierungskompetenzen. Die Schlussfolgerungen aus den zurückliegenden Überlegungen zur symbolischen Regulation des Sehens und der Kommunikation lauten: Die sozialen Sinnorientierungen variieren im Abstellen auf die pikturale Visualitätsdifferenz, die die Gestaltungen Egos und die Betrachtungen Alters erfasst. Da es viele Möglichkeiten dafür gibt, wie Erwartbarkeiten eines bildlichen Sehens erwartet werden, ist die Unterscheidung zwischen dem Gestalten und dem Betrachten selbst modelliert. Damit haben sich im Vergleich zur Position Luhmanns einige Abweichungen ergeben, die nun zusammengeführt werden können: Erstens ist ein Symbol zunächst kein Zeichen. Symbolisch ist diejenige Struktur eines Systems, die ihm regelmäßige Wiederverwendbarkeiten zur Verfügung stellt, indem ein vielgestaltiger Geltungsbereich für die eigene Regulation eröffnet wird. Er wird mit der Reproduktion des Systems wiederholt, und das System wiederholt sich in ihm. Insofern ein soziales

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System über Zeichen verfügt, setzen sie diese Struktur voraus.18 Die Wiederverwendbarkeiten beziehen sich auf die Möglichkeiten, Erwartbares zu erwarten. Sie beziehen sich auf die Möglichkeiten zu verstehen und zeugen von einer ausgeführten Kommunikation. Sie bezeugen, dass eine Operation vollzogen wurde oder zu ihrem Ende wird finden können. Anderenfalls würden keine Zeichen hervorgebracht werden. Weil ein operativ erfolg- und folgenreiches Verstehen nicht blindlings voraussetzbar ist, kann man sich zweitens nicht mit der Wiederholbarkeit von strukturierten Möglichkeiten und mit der Wiederholbarkeit des Systems im Rahmen dieser Möglichkeiten begnügen. Die Überlegungen zur Attentionalität haben gezeigt, dass die Modellierung zwar Beziehungsgefüge konstituiert, dass sie dies aber nur kann, insofern ihre replikative Beobachtungsstruktur synchronisiert ist. Dies setzt die Oszillation der attentionalen Objekte voraus. Die Modellierung ist folglich selbst wiederholt. Wenn die Verhältnisse angemessen beschrieben wurden, die ihrer Attentionalität den Anlass zur Synchronisation der beteiligten Oszillatoren (Objekte) geben und damit die Modellierung begründen, wird sich das System mitsamt seiner Struktur nur differenziell wiederholen können. Die symbolische Performanz garantiert daher die Wiederholbarkeit von Vorkommnissen im System und die Wiederholbarkeit des selben Systems, ohne dass es sich als Selbes identisch wiederholen müsste – oder könnte. Die dritte Abweichung leitet sich aus diesen Konstitutionsbedingungen ab und betrifft die strukturierende Funktion von Alter und Ego. Damit verstanden werden kann, müssen sie sich auch aufeinander verstehen. Sie müssen füreinander wahrscheinlich sein. Sie sind dies aber nicht als sich verhaltende und erlebende Systeme, sie sind dies als gebundene Erwartbarkeiten, die im Zuge ihrer kommunikativen Aktualisierung verrechnet und zum Beispiel auf eine soziales Fremdverhalten erlebende Person zugerechnet werden. In diesem Sinne schreibt Luhmann: »Der Künstler selbst muß sein entstehendes Werk so beobachten, daß er erkennen kann, wie andere es beobachten werden. Er kann dabei aber nicht wissen, wie andere (welche anderen?) das Werk in ihr Bewußtsein aufnehmen werden. Aber er wird in das Werk selbst die Führung der Erwartungen anderer einbauen und sie zu überraschen versuchen.« (Ders. 1995b: 71) Ob ein Künstler (Ego) tatsächlich so verfährt, ist nicht in jedem Betrachtungsfall (Alter) überprüfbar. Nichtsdestotrotz kann Kunstkommunikation betrieben werden. Für sie genügt die an den Kommunikabilien festgestellte, künstlerisch gestaltende Tätigkeit, die in vielerlei Hin-

18. Heißt das nicht auch, dass ein kommunikativ wirksames Zeichen nur ein Symbol sein kann? 221

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sicht bestimmt werden kann. Sie wird darüber ermittelt, welche Erwartungen von der pikturalen Form des Sehens erwartet werden. Alter und Ego sind diejenigen strukturellen Momente, an denen sich die sozialen Sinnorientierungen des Zu-sichten-Gebens und des Zu-sichtenNehmens ausrichten. Dabei kann zunächst offen bleiben, was auf welche Weise gesehen wird. Strukturell entscheidend ist einzig die Erwartung, dass das pikturale Sichten wird erwartet werden können. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Experimente, bei denen man Primaten hat malen lassen und deren Ergebnisse als Bilder ausgewiesen wurden. An die Resultate richtete sich die Erwartung, sie würden auf eine bestimmte Form der Wahrnehmung abstellen. Wenn so erwartet wird und wenn die erwartete, sinnorientierende Sehform als eine darstellerische Mitteilung fungiert, dann ist bildlich verstanden und bildlich kommuniziert worden. Demgemäß sind die Erwartungen nicht im bildnerischen Gegenstand oder »Werk«. Sie gehen vielmehr mit dem Sehen zu Werke und aktualisieren sich in der piktural prozessierenden Kommunikation, die sich mittels der von ihr ausgewiesenen Darstellungen weitere Operabilität zusichert, die wiederum zur Ansichtenbildung herangezogen wird. Pikturalität liegt also vor, wenn das Sehen und die Kommunikation aneinander gekoppelt Strukturgewinne erzielen und stabilisieren, die ohne den jeweils anderen Prozess weder erreichbar noch ausschöpfbar sind. Dies führt zu der vorangestellten Prämisse zurück, die symbolische Regulation sei die verbindende oder koppelnde Funktion der Wahrnehmung und der Kommunikation. Dass das bildliche Sehen symbolisch verfährt, ist ausreichend geklärt worden. Die Erwartungsstruktur wird symbolisch reguliert, insoweit die Kommunikation auf die aus dieser Sehform resultierenden Darstellungen in vielfältiger und nichtsdestotrotz gegliederter Weise zugreifen kann – gegliedert jeweils unter dem Gesichtspunkt eines gegebenen Sozialsystems. Das Sehen und die Kommunikation erlangen über ihre parallel laufenden, symbolischen Regulationen operative Freiheitsgrade, die sie für das Prozessieren der Bildlichkeit jeweils benötigen. Wenn kommunikativ erwartet würde, dass man eine sehr bestimmte Ansicht sieht, die alle anderen Möglichkeiten des Sehens ausschließt, wird ein soziales System sehr bald seine Struktur einbüßen und abbrechen. Und wenn die Wahrnehmung nicht modellierend verfahren würde, könnte sie keine Bilder sehen. Kurz, die beiden Vorgänge stabilisieren sich gegeneinander und hängen dabei von der Symbolisierung ab. Dabei bleibt es der Wahrnehmung überlassen, welcher Ansicht sie gewahr wird, und der Kommunikation bleibt überlassen, welche Kommunikabilien sie prozessiert. So kann man bspw. ein Bild sehen, obwohl es sich sozial um ein Schriftstück oder um das Verkaufsobjekt einer Auktion handelt. Oder man sieht kein Bild, obwohl die Kommunikation eine solche Sichtweise nahe legt. Beteiligt

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man sich, so wie im ersten Abschnitt exemplarisch vorgeführt, an der Gestaltung einer Collage, die beim besten Willen keine Ansicht zu erkennen gibt, bastelt man bestenfalls, gestaltet aber kein Bild; nichtsdestotrotz werden Anschlussmöglichkeiten an eine bildliche Darstellung gewährt. Kurz, die visuellen und sozialen Prozesse bleiben in ihrer Informations(v)erarbeitung selbstständig. Die vierte Abweichung von Luhmanns Vorgaben betrifft das Kopplungsproblem. Die Operationen der strukturell gekoppelten Systeme verfahren nicht symbolisch, weil auf beiden Seiten etwas als das Selbe behandelt wird. Vielmehr rekurrieren die beteiligten Systeme in ihrer je spezifischen Weise auf die Visualitätsdifferenz, weil ihre Attentionalität ineinander gefaltet ist. Das Sehen und die Kommunikation sind miteinander gekoppelt, weil sie sich mit der Selbigkeit des anderen kreuzen und weil sie daraus in ihrer je eigenen Manier Restrukturierungen ableiten, mit denen ihnen ihr Selbes zugänglich wird. Damit dann auf die andere Seite zu schließen und sich als die andere Seite dieser einen Seite zu reflektieren, ist eine von vielen Möglichkeiten, die den Systemen dank ihrer eigenen Restrukturierungskompetenzen an die Hand gegeben sind. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der Kopplung letztlich die Strukturvorgaben eines operativen Komplexes für einen anderen Komplex beschrieben werden. Die Operativität des einen Systems ›ist‹ die strukturelle Kopplung eines weiteren Systems. Die Visualitätsdifferenz gibt vor, an welcher Form sich die Kommunikation orientiert, und die Kommunikation gibt vor, dass Bilder wie ein erlebbares und erlebbar machendes Verhalten gesehen werden können. Die Operativität der Bildkommunikation zu untersuchen ist nur möglich, wenn man voraussetzt, dass sie im Gange und eine hinreichende Erwartbarkeit des Bildersehens gesichert ist. Für alle Kommunikabilien gilt Entsprechendes: Musikalische Kommunikation rekurriert auf die Erwartbarkeit des Musikhörens und -spielens (analog zur Visualitätsdifferenz), schriftliche Kommunikation rekurriert auf die Erwartbarkeit eines lesenden Erlebens und schreibenden Verhaltens (ebenfalls als Differenz) und Fußball spielende Kommunikation benötigt gesicherte Unterstellungen des Erlebens und Ausführens von Körperbewegungen und -techniken. Bildlichkeit und Musik, Schrift und Fußball teilen dieses allgemeine Erfordernis. Ihnen ist ebenfalls gemeinsam, dass ihre Mitteilungschancen mit der je spezifischen Potenz des Erlebens und Verhaltens korrespondieren. Die Frage ist nur: Wie verwirklichen sie sich kommunikativ? Bei einem Spiel wird man sich gegebenenfalls auf das Reglement berufen, um ein körperliches Verhalten erwartungsstrukturiert als eine Mitteilung verstehen zu können. Wie aber fungieren Musik, Schrift und Bildlichkeit in der Kommunikation? Dass sie über die Mitteilung kommunikativ werden, scheint unstrittig. Denn

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Schrift zu verstehen heißt zu verstehen, dass etwas schriftlich mitgeteilt wurde.19 Eine mögliche Antwort besteht darin, einzelne Bilder wie einen fotografischen Abzug oder einzelne Schrift- und Musikstücke als Mitteilungen zu verstehen. Für einen solchen Vorschlag spricht, dass die Kommunikativität von Formularen und Briefen, Rechnungen und Lehrbüchern oder Liedern und Sinfonien wegen ihrer beschreibbaren Praktiken spezifizierbar und unterscheidbar ist. Worüber erhalten sie aber ihre Einheit und Individualität – wenn nicht über die Kommunikation selbst? Mit welchem Recht spricht man bezüglich der Kommunikation von Liedern und Gemälden? Wie kann von einer mitteilenden Rechnung und von einem mitteilenden Kunstwerk die Rede sein? Luhmann beruft sich auf Michel Serres und auf das Quasi-Objekt, um eine Einheit zu kennzeichnen, die die Funktion einer vielfältig wiederholbaren Identifikation von Bildern oder Spielbällen übernimmt.20 Damit gibt er den wichtigen Hinweis, dass Mitteilungsweisen kommunikativ entwickelt und ausprobiert, gegebenenfalls verworfen oder stabilisiert werden. Mit ihnen lassen sich wegen der bewährten und problemlos zu reaktivierenden Erwartungsstrukturen weitere Kommunikationen schnell durchführen. Das Genrekino weiß davon Geschichten zuhauf zu erzählen. Es besteht folglich ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen der Kommunikation und ihren Kommunikabilien. Leicht zu erkennen ist er auch bei medizinischen Visualierungsverfahren wie etwa den Röntgenbildern. Sie mussten ihren Wert für die medizinische Diagnostik zunächst unter Beweis stellen, um überhaupt erst ihr soziales Wirkfeld finden zu können. Sie taten dies, indem sie einen neuen Gegenstandsbereich zur Verfügung stellten: die richtige Identifikation innerer Defekte bei geschlossenem Körper. Auf diese Weise entstand ein Wissen, das ohne die bildlich-darstellerische Funktion keinen Bestand hätte haben können. Dies führte zu der gängigen Praxis, dass die Bilder mitteilen – insofern sie medizinisch verstanden werden, also bestimmte

19. Um Missverständnissen vorzubeugen sei darauf hingewiesen, dass die Mitteilung im Sinne des ersten Abschnitts (vgl. S. 45 f.) begriffen wird. Demnach geht es bei der Frage nach den schriftlichen oder anderen Mitteilungsformen nicht allein darum, womit etwas dargelegt wird. Es geht immer auch um Informationschancen. Das heißt, dass das herkömmliche systemtheoretische Schema von Mitteilung und Information (wer teilt was mit; bzw.: womit wird was mitgeteilt) hier nicht zur Anwendung kommt. Der Grund liegt in dem zu engen Verständnis der Information, die mit dem Was auf Sachzusammenhänge und auf semantische Aspekte reduziert wird. Obwohl hier auf das Beobachtungsschema Information/Mitteilung verzichtet wird, wird nicht geleugnet, dass mitteilende Kommunikabilien mit seiner Hilfe beschreibbar sind (vgl. zum Beispiel Stanitzek 1996). 20. Zum Quasi-Objekt vgl. Luhmann 1995b: 81 f., 1996b: 177 f. und Serres 1987: 344 ff. 224

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Ansichten von körperlichen Zuständen erwartbar machen und erwarten lassen –, wie es um die Gesundheit des Patienten steht.21 Die Kommunikation stabilisiert sich also an den und in den Kommunikabilien, die sie ihrerseits ausbildet. Die Operationsfähigkeit oder Operabilität von Darstellungen wird anhand von Strukturierungs- und Verstehensleistungen vollzogen. Da Luhmann trotz des Hinweises auf das Quasi-Objekt verschweigt, wie sich der Zusammenhang zwischen der Kommunikation und ihren Kommunikabilien konstituiert, hat er dem Problem zwar einen Namen gegeben, gelöst ist es indes noch nicht. Wie für das pikturale Sichten gezeigt, besteht die Einheit der Bildlichkeit in den operativen Grenzen, zwischen denen das Sehen verfährt. Von ihnen leitet sich das Sehen eines einzelnen Bildes ab. Wenn ein soziales System an der in dieser Hinsicht zunächst unspezifischen Visualitätsdifferenz orientiert ist, kann von einem individuellen Bild folglich noch nicht die Rede sein, das automatisch als Mitteilung dienen könnte. Es ist solange unzulässig, von einem anschlussfähigen Gemälde oder Kunstwerk zu sprechen, bis geklärt ist, worin die kommunikative Operabilität ihrer Individualität besteht. In einem künstlerischen und ästhetischen Kontext mag die individuelle Distinktion durchaus einen besonderen Wert erlangen: »Die Einheit des Kunstwerks liegt letztlich in seiner Funktion als Kommunikationsprogramm, wobei das Programm so einleuchtend sein kann, daß es jede Argumentation erübrigt und die Sicherheitdes Schonverständigtseins vermittelt«(Luhmann1986b: 628).22 Wenn sich das Kunstwerk demnach gerade durch seine Differenzen markierende und abgrenzbare Individualität auszeichnet und die Reproduktion des Kunstsystems im besonderen Maße davon abhängt, bedeutet dies noch nicht, dass jeder Fall von bildlich gestützter Kommunikation Einzelbilder ausweisen muss. Das Fernsehprogramm scheint andere Erwartungen an seine Kommunikabilien zu pflegen. Es liegt ein Unterschied darin, eine Mitteilung als bildlich verfasst oder die (bildlich verfasste) Mitteilung als ein bildliches Exemplar zu verstehen – so wie ein Unterschied darin liegt, schriftlich zu kommunizieren oder in der schriftlichen Kommunikation mittels einzelner Textstücke zu operieren, die in ihrer Einheitlichkeit einen Eigenwert besitzen. Einem einzelnen Bild oder einer einzelnen Bilderfolge muss der sie unterscheidende Typus des Verstehens vorangestellt werden. Zuallererst ist also zu klären,

21. Zu den sozialen Aspekten medizinisch genutzter Visualisierungsverfahren vgl. Burri 2001; zur Konstituierung wissenschaftlicher Gegenstandsbereiche durch den Einsatz von Visualisierungsverfahren vgl. Snyder 2002. 22. Luhmann diskutiert, wie die Werke im Laufe der Ausdifferenzierung und Evolution des Kunstsystems die Funktion ihres besonderen Eigenwerts und ihrer besonderen Individualität erhalten (vgl. S. 645 ff.). Bei ihm stehen folglich Systemfunktionen zur Debatte, während hier nach systemfähigen Operationen gefragt wird. 225

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wie die Kommunikation bildlich verfährt, bevor erklärbar wird, wie es ihr gelingt, ein einzelnes Bild bzw. Differenzen zwischen einzelnen Bildern zu prozessieren und sich mittels dieser und mit diesen Differenzen zu reproduzieren. Die Frage lautet also: Wie kann pikturales Verstehen verstanden werden? Bevor die Frage nach dem pikturalen Verstehen weiter erörtert wird, muss ein schwieriges Problem angedeutet werden, dessen Reichweite noch nicht ganz absehbar ist. Es handelt sich um die immer wieder faszinierende Thematik der Zeit: Wann wird verstanden? Die Frage stellt sich, weil der Moment des Betrachtens eines Gemäldes oder der Moment des Lesens eines Buchs wegen der getrennten Systeme und ihrer verschiedenen operativen Bereiche nur die Aktualität der Rezipienten kennzeichnet. Inwieweit fallen diese Momente aber ins Gewicht, um die Aktualität der Kommunikation zu bestimmen? Würde eine Kongruenz beider Aktualitäten nicht bedeuten, sich auf das Erleben und somit auf die Zeit des Bewusstseins zu berufen, um die Zeit der Kommunikation zu bestimmen? Luhmann nähert sich dem Problem über die bereits erwähnte Prämisse, dass alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht, wenn es geschieht. In diesem Sinne argumentiert auch Cornelia Bohn, die in ihrer Untersuchung über Schriftlichkeit und Gesellschaft den Moment des Lesens als Moment des Verstehens interpretiert.23 Damit wird sowohl die Aktualität des Erlebens als auch die Aktualität des Kommunizierens gekennzeichnet: »Wir können jetzt überlieferte Texte lesen. Aber auch in der Schriftlichkeit trifft die Gebundenheit jeder Systemoperation an ihre eigene Aktualität und an die gleichzeitige Aktualität ihrer Umwelt zu. […] Informationen und Mitteilungen werden nicht für den zukünftigen Gebrauch als solche aufbewahrt. Vielmehr wird die Unterscheidung von Information und Mitteilung erst im Akt des Verstehens getroffen. […] Schließlich beruht die operative Gleichzeitigkeit darauf, daß alters Mitteilung erst dann zur Mitteilung wird, wenn ego sie als Mitteilung versteht und die Information in der Kommunikation erst als mitgeteilte Information zur Information wird. Für die Kommunikation heißt das: Alles Verstehen stellt Gleichzeitigkeit her.« (Bohn 1999: 124 f.) Davon ausgehend ist es jedem beteiligten System überlassen, weitere Beobachtungen (Bezeichnungen) vorzunehmen; etwa darüber, wann ein Text geschrieben wurde. Bohn lässt keinen Zweifel daran, dass die Kommunikation zeitliche Diskriminationen (vorher/nachher) der gelesenen Schriften vornehmen muss, um weiterhin operationsfähig zu bleiben (vgl. ebd.: 128). Überprüft man jedoch, wie dies geschieht, dann ist man auf das Lesen und Schreiben zurückgeworfen, auf die »getrennten Verstehens- und Mitteilungsrekursionen« (ebd.: 147) von Ego und

23. Einige Anmerkungen zur Bildlichkeit finden sich in Bohn 2001: 340-345. 226

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Alter. Bohn belässt es folglich beim (verstehenden) Erleben und (mitteilenden) Verhalten. So werden die kommunikativen Aktivitäten lediglich auf die Kopplungsform, nicht jedoch auf den Umgang mit ihr im sozialen System zurückgeführt. Die Trennung der doppelten Rekursion und ihre Verteilung auf Alter und Ego zeugt davon, dass Bohn verteilte psychische Systeme, aber eben kein distribuiertes soziales System beschreibt, in dem Alter und Ego nur noch strukturierende Funktionen übernehmen. Die Frage ist nun: Hat Alter den Text in der Vergangenheit geschrieben – unabhängig davon, wie und wann Ego dies zur Kenntnis nimmt – oder hat er ihn erst dann in der Vergangenheit geschrieben, wenn Ego aktuell versteht, dass eine Mitteilung vorliegt? Wenn er ihn in der Vergangenheit geschrieben hat und Ego dies nur aktualisiert, dann wird eine aufgeordnete Zeit vorausgesetzt, in der die Aktualisierungen verschiedenartig und in unterschiedlichen Momenten stattfinden können. Dann muss das System zur Steuerung seiner zeitlichen Verhältnisse zwar Bezeichnungen der Zeit vornehmen, die Operationen laufen aber in einer gesicherten Zeit ab und verschwinden in ihr, ohne dass die Zeit verschwände. Was geschieht, geschieht gleichzeitig, und Gleichzeitigkeit folgt auf Gleichzeitigkeit in einer gleichen Zeit, in der das, was geschieht, heraufzieht und vergeht: »Operativ wird die Zeit immer schon dadurch aktualisiert, daß die Autopoiesis des Systems von Moment zu Moment fortschreitet« (Luhmann 1990c: 108). Die Zeit ist bereits vollständig in Funktion gesetzt und die Gefahr einer Konfusion der Zeiten und einer aktuellen Überforderung der Systeme ist allein schon wegen des natürlichen Laufs der autopoietischen Dinge abgewehrt. Mithin ist die temporale Diskrimination nachrangig und für den operativen Vollzug entbehrlich. Das Verstehen würde keine Gleichzeitigkeit herstellen, sondern nur eine von verschiedenen Systemen konzedierbare Gegenwart markieren. Die Bezeichnungen der Zeit gründen sich hier auf der Zeit der Bezeichnungen und müssen von nun an nur noch mit selbstgestellten Schwierigkeiten kämpfen. Was bliebe in diesem Fall von der operativen Eigenzeit der Systeme übrig? Die Systemtheorie antwortet darauf, dass die Eigenzeit mit den Beobachtungen (Unterscheidung/Bezeichnung) zugleich konstituiert und kenntlich gemacht wird. Mit der Unterscheidung zwischen der Mitteilung und der Information ist eine solche Form des Beobachtens gegeben, die Bohn dem Lesenden zurechnet. Wenn also alles vom Verstehen Egos abhängt, um die Zeit zu konstituieren, in der die Vergangenheit Alters aufgerufen wird, und wenn es unabhängig von Egos Verstehen keinen Unterschied macht, in welcher Zeit Alter den Text geschrieben hat, dann wird ihm die Zeit seiner Rekursivität entzogen. Unter dem Gesichtspunkt Egos fallen zwar die eigene Gegenwart und die vergangene Gegenwart Alters gleichzeitig an, aus deren Perspektive wiederum das Lesen Egos in einer unabsehbaren Zukunft stattfindet. Dies 227

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geschieht aber ausschließlich unter den Gesichtspunkten Egos und eben nicht mehr unter den Gesichtspunkten Alters, die aus der Rechnung herausgekürzt werden. Letztlich wird alles entbehrlich, was Alters Operabilität auszeichnet. Was bliebe in diesem Fall von der Kommunikativität und von den Rekursionen des Schreibens und Lesens noch übrig? Was bliebe vom Schreiben und Lesen übrig? Was bliebe von der Eigenzeit systemischer Operationen übrig? Auf die erste Frage kann man antworten: Es bliebe übrig, sie zu erwarten und sich in ihrer Erwartbarkeit zu orientieren. Zur zweiten Frage lässt sich sagen: Es bliebe übrig, die Zeit ins Auge zu fassen, die durch diese Orientierungen aufgespannt wird. Letztendlich strukturieren sie die Operativität der Kommunikation und damit auch ihre Zeit. Für die eigene Informations(v)erarbeitung benötigt ein System erreichte Zustände, abgeschlossene Operationen. Es muss auf seine Operationen warten, es muss warten, bis verstanden worden und bis sie zu ihrem Ende gekommen sind. Die Aktualität des Systems fällt folglich nicht mit dem Akt oder Vollzug der Operation zusammen, sondern mit dem Zustand, den sie hinterlässt, um an ihn neu anzusetzen. Wechselt man indes die Perspektive, ergibt sich ein anderes Bild: Da vorherige und nachfolgende Zustände ineins operativ kalkuliert werden, ist die Aktualität unter dem Gesichtspunkt der Operation vorher und nachher zugleich. Dies heißt aber gerade nicht, dass die vorherigen und nachfolgenden Zustände gleichzeitig anfallen. Man wird nachher nur erwarten können, es habe ein Vorher gegeben, und vorher wird man erwarten müssen, dass es ein Nachher wird geben können. Operativ ist das System in diesem Vorher-Nachher-Verhältnis aufgespannt. Demnach wird in ihm die Zeitspanne genau dieses Verhältnisses reproduziert, in das sich die Aktualitäten einschreiben. Wenn sich Erwartungen mit Erwartungen synchronisiert haben und wenn damit rückblickend erwartbar war, dass das Lesen und das Schreiben bzw. die pikturale Visualitätsdifferenz würden erwartet werden können, dann wird eine zugleich heraufziehende und vorübergehende Zeitlichkeit initialisiert. Indem das System in seiner re-pro-duktiven Schleife diejenigen Momente ansteuert und kontingent fixiert, von denen sie wiederum ausgeht, indem seine Operationen also weiteren Operationen Möglichkeitsräume zur Verfügung stellen, werden die Wechselzustände und die Zustandswechsel bestimmt. Die operative Eigenzeit wird selbst zu einem operativ immer wieder aufgegriffenen, probabilistischen Aspekt des Systems. Ein Zögern in der Stimme genügt, eine übereilte Verlautbarung reicht aus, um mit abgewandelten Erwartbarkeiten rechnen zu müssen. Kurz, die Systemzeit ist Information.24 Daran sind das Erleben und das Verhalten gekoppelt und Alter

24. Um es noch einmal zu betonen: Die Systemzeit ist auch ohne eine geson228

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und Ego sind ihre Kopplungsfiguren. Aus diesem Grund können das verstehende Lesen und das mitteilende Schreiben – von wem außer von psychischen Systemen sollte man das Lesen und Schreiben erwarten können? – unmöglich die Aktualisierung der Kommunikation betreiben. Es geht folglich nicht mehr um die Frage, wann verstanden wird, sondern eher darum, welche Zeit anfällt, wenn verstanden worden ist. In welcher Zeit sich die Reproduktion des Systems ereignet und wie seine Wiederholungen die Möglichkeit weiterer Wiederholungen ausdifferenzieren, muss hier unbeantwortet bleiben. Deutlich wird indes, dass eine Operation nicht nur geschieht und von einer anderen Operation abgelöst wird, die sie zusätzlich bezeichnet. Hinge die Relevanz einer Operation tatsächlich nur von einer folgenden Operation ab, deren Relevanz ihrerseits von einer nachfolgenden Operation geltend gemacht würde, müsste man auf diese Operation warten, damit sie die Operationen ihrer Vergangenheit beobachtet und erlöst. Damit verschiebt sich die Beobachtung des Systems in die Aktualität einer unabsehbaren Zukunft, in der es sich verliert. Da die sozialen Systeme nichtsdestotrotz zu operieren und eben nicht zu verschwinden scheinen – zumindest vorerst nicht –, wird man fragen müssen, was unentwegt verloren geht. Die Systemtheorie antwortet darauf: Die vergangene Gegenwart eines schreibenden Alter verschwindet ebenso wie die aktuelle Gegenwart eines lesenden Ego. Die verstehende Gegenwart der Unterscheidung von Information und Mitteilung wartet ebenso wie die beobachtende Gegenwart der Unterscheidung von Operation und Beobachtung darauf, wieder verstanden und beobachtet zu werden. Verlangt dies nicht eine temporalisierte Systemstruktur? Die Erwartungserwartungen und das Verstehen als ihr Operator zeigen, dass das vergangen-zukünftige Verfahren System hat, und sie zeigen vor allem, wie es verfährt. Indem sie es zeigen, verdeutlichen sie zugleich, dass das System weder eine an Zeitpunkte gebundene Gegenwart noch den Transzendentalismus des Unterscheiders benötigt, für den die Operationen und Beobachtungen (Bezeichnungen) gleichzeitig anfallen. Stattdessen benötigt es die Rekursionen des Verstehens. Man kann es nicht anders sagen: Die Aktualität der Kommunikation ist zeitlich gestreut und die Gewissheit je gegenwärtiger Systemzustände geht verlo-

derte Thematisierung und ohne eine elaborierte Semantik informativ. Auf attentionalem Niveau entspricht dies dem Regulator, der dem System die eigene Zustandswahl zugänglich macht. Für ein ohnehin temporal strukturiertes System resultiert aus diesem Zugang die temporalisierte Information. Tritt eine Semantik der Zeit hinzu (sich für den nächsten Tag verabreden, Zukunftspläne schmieden, Unternehmensziele festlegen), kann sich das System zeitlich steuern. Informativ wird die Zeit aber wiederum nicht durch ihre Thematisierung, sondern durch die neu entworfenen Erwartungen. Attentional hat man es dann mit einem variablen Regulator zu tun. 229

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ren. Diese Erkenntnis befreit bspw. von den Zwängen der Sequenzialität und Linearität. Es gibt nicht nur eine Verstrickung von Reihen aufeinander folgender Zustände, die sich als Vorgänger und Nachfolgende bestimmen. Ebenso muss man mit einer Verschachtelung von Zustandsänderungen und mit Erwartungsstrukturen rechnen, die sich auf viele Zustandswechsel auswirken und so ganze Reihen definieren, ohne selbst aktualisiert worden zu sein; gegebenenfalls aktualisieren sie sich völlig überraschend, also hoch informativ. Die Zustandswechsel und Wechselzustände folgen komplexen, zeitsensitiven Festlegungen. Die Information ist eben nur die aktuell-kontingente Bestimmung von systemischen Anschluss- und Änderungsmöglichkeiten, die ein Wahrscheinlichkeitsmanagement im Zufälligen etablieren. Sie heftet sich nur in Ausnahmefällen an die Fährte einer linearisierbaren Zeit – und dies auch nur, wenn sie sich in dieser Weise hat etablieren lassen.

Das pikturale Verstehen der Kommunikation Mit den bisherigen Ergebnissen können wir zur Ausgangsfrage zurückkehren: Wie prozessiert die pikturale Kommunikation? Es wurde geklärt, in welcher Form das Sehen vorliegt, um von der Kommunikation in Anspruch genommen zu werden, und es wurde geklärt, auf welcher operativen Grundlage sie daraus Informationen gewinnt. Das heißt, im Weiteren ist von der sozialen Koordination der pikturalen Visualitätsdifferenz auszugehen: Es besteht die Erwartung, dass so gesehen werden kann, und es wird erwartet, dass so wird erwartet worden sein. Wenn sich dies einstellt, wenn eine Erwartung erwartet worden ist und wenn sie sich damit wird erwartbar gemacht haben, dann hat eine Strukturierung stattgefunden, dann ist verstanden worden und dann erreicht das System einen Wahrscheinlichkeitszustand für die Unterstellbarkeit eines konkreten Bildersehens. Von hier aus kann mit Erwartbarkeiten gerechnet werden, die sich leichter erwarten lassen, da nun klar ist, dass die Unterstellung nicht aus der Luft gegriffen war. Ob erwartungsgemäß gesehen wird oder nicht, macht für das soziale System keinen Unterschied. Es macht erst dann einen Unterschied, wenn eine Revision des Erwartbaren erwartbar, wenn das System also irritiert wird. Ob die Zustände des Systems für das System mehr oder weniger wahrscheinlich sind, beruht darauf, wie verstanden und wie die temporalisierten Sinnorientierungen restrukturiert werden. Da die immer währende Unterstellung der bloßen Form des Sehens-in das System in Redundanz ersticken würde, müssen Spezifikationen vorgenommen werden. Es ist also die Erwartbarkeit von einzelnen Ansichtenbildungen gefragt. Die Information des sozialen Systems besteht in dem Maße, wie die Erwartung von pikturalen Foki – oder besser: von fokaler Information – rekursiv erwartbar gemacht werden kann 230

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oder erwartbar ist. Da sich die fokale Information auf das Sehen und die Wahrnehmung bezieht, benötigt man einen korrespondierenden Begriff für die Kommunikation. In Anlehnung an schriftliche Kommunikabilien soll im Folgenden deshalb von pikturalen Inskriptionen gesprochen werden. Der ebenso banale wie weit reichende Unterschied zwischen den schriftlichen und bildlichen Inskriptionen liegt in der zu erwartenden Ansichtenbildung. Wenn ein soziales System strukturell von der fokalen Information abhängt, dann muss es auch mit bestimmten Ansichten rechnen können. Auch im Schriftfall geht es zunächst nur darum, dass etwas lesbar und schreibbar gemacht wird. Bevor man verstehen kann, was beschrieben wird, muss man verstanden haben, dass etwas geschrieben wurde. Dementsprechend operiert die bildliche Kommunikation mit bestimmten Ansprüchen an die Wahrnehmung, die ihr Wiedererkennungsleistungen abverlangen. Ihre Inanspruchnahme übernimmt die Mitteilung. Indem die Kommunikation bestimmte Sichtweisen dauerhaft erwartbar macht und an sich bindet, legt sie sich zugleich auf Mitteilungsweisen fest. Nicht alles, was gesehen wird, mag man erwartet haben, und nicht alles, was man erwartet hat, mag gesehen werden. Damit aber erwartet werden kann, dass erwartet wurde, etwas Bestimmtes zu sehen, sind die pikturalen Inskriptionen auf invariante Ansichten angewiesen und dementsprechend spezifiziert. So kommt es, dass man sehr schnell bestimmte Ansichten erkennt, ohne zu wissen, um was es sich im Einzelnen handelt oder was eine Darstellung bedeuten mag. Der umgekehrte Fall, in dem man kaum etwas zu Gesicht bekommt, obwohl der kommunikative Eigenwert eindeutig ist, lässt sich ebenfalls beobachten. Wenn in einem Fernsehbericht Personen unerkannt bleiben und nichtsdestotrotz vorgefallene Geschehnisse schildern sollen, um damit ihr Expertenwissen oder ihre Zeugenschaft unter Beweis zu stellen, filmt man sie gelegentlich bei Gegenlicht, dunkelt ihre Physiognomie bis zur Unkenntlichkeit ab und verfremdet überdies noch die Stimme. So werden fast schwarze und dennoch spezifische Ansichten von anonymisierten Personen zu sehen gegeben. Visuell mögen die Bilder entleert sein. Kommunikativ sind sie nichtsdestotrotz relevant, weil sie erwarten lassen, dass Tatsachen berichtet werden, deren Zeugenschaft zurechenbar ist. Die Form des Berichts verlangt bisweilen, dass man nichts mehr sieht, damit noch gesehen werden kann, dass es sich um einen Bericht handelt. Wie reguliert die Kommunikation ihre pikturalen Inskriptionen? Um dies zu beschreiben, soll nun auf die Symboltheorie von Nelson Goodman zurückgegriffen werden, da sie für das Verständnis des Bildverstehens sehr instruktiv ist. Goodman hat darauf aufmerksam gemacht, dass Buchstaben im deutlichen Gegensatz zu bildlichen Darstellungen unabhängig von der gewählten Typografie eindeutige Buchstaben bleiben. Das gilt auch dann, wenn man die Buchstaben wegen der 231

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handschriftlichen Tücken nicht sofort identifizieren kann. Ihre vielfach möglichen Inskriptionen lassen sich eindeutig einer Klasse bzw. einem Charakter oder – um es mit Peirce auszudrücken – einem Typ zuordnen. Jedes geschriebene und sogar jedes gesprochene »A« bleibt ein A und wird nicht nur deshalb, weil es undeutlich geschrieben wurde, zu einem anderen Buchstaben. Das bedeutet, dass alle Inskriptionen äquivalente Replikas sind. Ihre Charaktere sind disjunkt. Wenn man davon ausgehen kann, dass eine Inskription genau einen Charakter erfüllt, spricht Goodman von endlicher bzw. effektiver Differenzierung.25 Nimmt man noch die syntaktischen Kombinationsregeln für das Zusammensetzen der Inskriptionen hinzu – insofern sie zulässig sind und geltend gemacht werden –, erhält man ein wirksames Schema möglicher Inskriptionen. Sie gewinnen ihren Wert nur in Relation zu diesem Schema. Mit ihm reguliert die Kommunikation, wie artikuliert (geschrieben) oder wahrgenommen (gelesen) werden kann. Im Gegensatz zur Schrift verfügt ein pikturales Schema nicht über disjunkte und effektiv differenzierte Charaktere. Vielmehr ist es dicht geordnet, wodurch die Möglichkeit gleichwertiger Inskriptionen ausgeschlossen wird.26 Um dies zu erklären, geht man gewöhnlich von gegebenen Bildern aus: »Eine Marke gehört zu einem Charakter, der durch Farbe definiert ist, zu einem anderen, der durch Gestalt definiert ist, und zu weiteren Charakteren, die durch Größe und Position definiert sind« (Schantz 1998: 98). Einerseits erfüllen die Inskriptionen eines Bildes mehrere Charaktere, wodurch sie sowohl ihre Disjunktivität

25. Die Definition lautet: »Zwei Charaktere K und K’ sind effektiv differenziert dann und nur dann, wenn sich für jede Marke m, die nicht zu beiden gehört, festlegen läßt, daß m entweder nicht zu K oder daß m nicht zu K’ gehört« (Goodman, Elgin 1993: 167). Eine Marke ist irgendeine Markierung, die sich als die Inskription eines Charakters erweisen kann, aber nicht muss. (In diesem Fall tut sie es selbstverständlich.) Wenn in dieser Studie anstatt von Marken von Inskriptionen gesprochen wird, dann wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass ihre kommunikative Wirksamkeit im Mittelpunkt des Interesses steht. Eine Marke kann hingegen irgendein gesehener Gegenstand ohne jegliche kommunikative Funktion sein. Zur Disjunktivität und zur effektiven Differenzierung der Charaktere vgl. auch Goodman 1995: 128-133. Zu der nun folgenden Bestimmung der Pikturalität mittels Goodmans Symboltheorie vgl. auch Scholz 1991: 90-110. 26. Da es um die Verwendbarkeit pikturaler Inskriptionen geht, macht die technische Reproduzierbarkeit von Bildern an dieser Stelle keinen Unterschied. Identische oder abweichende Reproduktionen lassen sich zwar auch zu einem Schema sortieren, das sogar disjunkt und effektiv differenziert ist – wie etwa bei den unbegrenzbar vielen Abzügen von den Aufnahmen auf einem fotografischen Film, deren Abzüge genau einer Aufnahme zugeordnet werden können. Pikturalität spielt bei dieser Zuordnung jedoch keine Rolle mehr. 232

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als auch ihre Differenziertheit einbüßen. Andererseits kann das pikturale Schema durch eine unbegrenzte Vielzahl von Charakteren ergänzt werden, wodurch es seine Dichte gewinnt.27 Man muss mit immer neuen Inskriptionen rechnen, die zu immer neuen Charakteren sortiert werden können. Daher können syntaktische Kombinationsregeln nicht zur Anwendung gelangen. Dies schließt allerdings nicht aus, dass Inskriptionen zusammengesetzt werden können, wie jeder beliebige Film zeigt. Obwohl die filmische Montage einzelne Einstellungen kombiniert, folgt sie keiner Kombinationsregel voraussetzbarer Charaktere. Der Grund liegt in der Bildung von Ansichten, die zunächst als Inskriptionen verstanden werden müssen, um überhaupt Charakteren zuordbar zu sein. Dies mag zu Anweisungen einer für bestimmte Zwecke geeigneten Gestaltung führen, aber eben nicht zu einer regelmäßigen und eingeschränkten Kombinatorik innerhalb des Schemas. Insofern dürfen Kameraeinstellungen nicht mit Worten oder anderen Teilen von Sätzen verwechselt werden. Einen Buchstaben etwas größer oder kleiner zu schreiben macht syntaktisch keinen Unterschied, während die Länge einer Einstellung zu variieren deutliche Unterschiede produzieren kann. In einem pikturalen Schema »kann keine Marke grundsätzlich als nicht-wohlgeformt ausgeschlossen werden. Dies gilt für einfache und zusammengesetzte Inskriptionen. Während nicht jedes Gekritzel ein Kandidat für einen Buchstaben ist und bei weitem nicht jede Aneinanderreihung von Buchstaben, Satzzeichen und Verkettungssymbolen Wörter und Sätze ergibt, läßt sich eine entsprechende klare Aufteilung in wohlgeformte (und daher sozusagen erlaubte) und nicht-wohlgeformte (unzulässige) Zeichen bei Bildern nicht durchführen.« (Scholz 1991: 94) Gewiss wird man daran angepasst sehen müssen. Geschieht dies, so verweist die Dichte der Schemata darauf, dass die fokale Information innerhalb der dem Sehen gesteckten Grenzen in vielerlei Hinsicht gewonnen werden kann. Es ist erwartbar, dass der Blick – hat er erst einmal einen pikturalen Sehbereich erobert –, sich weder auf einzelne Ansichten beschränken noch unter klar abgrenzbare Kriterien sortieren lässt. Ob das Sehen tatsächlich so verfährt, ist eine andere Frage. Wegen der fokalen Information ist jedenfalls damit zu rechnen, dass weitere Inskriptionen relevant werden, die die Einführung weiterer Charaktere erfordert. Das bedeutet, dass man viele sich überschneidende Kri-

27. Die Definition lautet: »Ein Schema ist syntaktisch dicht, wenn es unendlich viele Charaktere bereitstellt, die so geordnet sind, daß es zwischen jeweils zweien immer ein drittes gibt« (Goodman 1995: 133). Weiter heißt es, dass ein dichtes Schema »in extremer Weise undifferenziert« ist. 233

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terien wird erwarten müssen, unter denen pikturale Ansichten ermittelt und nach denen sie sortiert werden können. Die Kommunikation muss sich darauf einstellen, wenn sie Bildkommunikation sein will. Man kann von einer relativ hohen Kopplungssensitivität zwischen dem Sehen und der Kommunikation sprechen. Sie führt nicht nur zu spezifizischen Inskriptionen, sie zwingt darüber hinaus die sozialen Systeme, die sich auf Pikturalität einlassen, zu hoher Irritabilität. Es muss darauf Rücksicht genommen werden, dass die Wahrnehmung mehr (und bisweilen auch weniger) realisiert, als erwartet werden kann. Es müssen ständig Anpassungen daran vorgenommen werden, welche fokale Information noch (oder nicht mehr) ermittelt werden könnte. Umgekehrt werden der Wahrnehmung unbegrenzt viele Wiedererkennbarkeiten zur Verfügung gestellt. Daher ist ein soziales System zu Einschränkungen gezwungen. Die Erwartbarkeit der Grenzen, zwischen denen das Sehen seine pikturalen Ansichten hervorbringt, muss reduziert werden. Nicht jeder Grad der attentionalen Modellierung von Ξ wird also zur Strukturierung der Kommunikation herangezogen. Man wird damit rechnen müssen, dass – je nach kommunikativem Zusammenhang und sozialem System – nicht jedes symbolische Temporalobjekt zu Inskriptionen anschlussfähiger Darstellungen führt. Das berühmte Beispiel einer auf Papier gebrachten Linie, die im ersten Fall als die Aufzeichnung eines Elektrokardiogramms fungiert und die in einem zweiten Fall den Fudschijama zeigt, gibt näheren Aufschluss über den erwartbaren Modellierungsgrad.28 Verwendet man die Linie unter medizinischen Gesichtspunkten, ist nur die Verlaufsform des Diagramms relevant. Ob man darin ein Gebirge oder etwas anderes sieht, ist zwar nicht auszuschließen, kann aber vernachlässigt werden, wenn es darum geht, brauchbare Inskriptionen zur Bestimmung des körperlichen Befindens zu ermitteln. Verwendet man die Linie hingegen unter ästhetischen Gesichtspunkten, beschränkt sich die Darstellung nicht auf die Verlaufsform: »Jede Verdickung oder Verdünnung der Linie, ihre Farbe, ihr Kontrast mit dem Hintergrund, ihre Größe, sogar die Eigenschaften des Papiers – nichts von all dem wird ausgeschlossen, nichts kann ignoriert werden« (Goodman 1995: 212 f.). Ebenso ist es möglich, Röntgenaufnahmen aus ihrem medizinischen Verwendungskontext zu nehmen und sie in anderer Hinsicht zu betrachten, weil man sich für ihre Kontraste oder ihre geisterhaften, grauen Schleier interessiert. Goodman spricht davon, dass manche Aspekte, die unter medizinischen Gesichtspunkten noch charakter-kontingent waren, nun charakter-konstitutive Züge erhalten. Die relative Fülle des Schemas nimmt hier zu. Der umgekehrte Fall ist ebenso möglich, sodass man sich

28. Eine gezeichnete Linie als Beispiel für die Verschiedenheit von Darstellungsweisen zu nutzen, findet sich bereits bei Cassirer 1927 und 1954: 232 f. 234

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auf nur wenige Aspekte beschränken kann, die inskriptiv relevant gemacht werden. An der mangelnden Disjunktivität und Differenziertheit der pikturalen Charaktere ändert sich dabei nichts. Obwohl die Dichte des Schemas von seiner relativen Fülle unabhängig ist, kann man Wechselwirkungen zwischen ihnen nicht ausschließen. Wenn ein Stadtplan aus deutlich voneinander unterscheidbaren Farbflächen besteht, liegt ein disjunktes Schema vor. Es ist zudem differenziert, wenn jede Farbfläche trotz gelegentlicher Helligkeitsschwankungen einem Charakter zugeordnet werden kann. Auf dem Stadtplan findet man zusätzlich schwarze, in ihrer Breite schwankende Linien, die die Farbflächen voneinander trennen und in der Legende nicht verzeichnet sind. Nimmt man sie zu den zulässigen Inskriptionen hinzu, verliert das Schema für die schwarzen Bereiche seine Disjunktivität und Differenziertheit. Wenn man außerdem geneigt ist, die nicht effektiv differenzierbaren, helleren und dunkleren Stellen mehreren ebenfalls nicht verzeichneten Charakteren zuzuordnen, etabliert man wegen der zunehmenden Fülle ein durchgehend dichtes Schema. Von all dem wieder abzusehen führt zu den disjunkten Charakteren zurück, führt aber auch dazu, auf Bildlichkeit zu verzichten. Die relative Fülle zu steigern oder zu reduzieren bedeutet auf attentionalem Niveau einen vergrößerten bzw. verkleinerten Strukturreichtum der Modellbeobachtung. Visuell wird damit der Bereich der uneinschränkbaren Ansichtenbildung erweitert oder vermindert. Kommunikativ erhält man die Möglichkeit, die eigene Irritabilität zu verändern, da die Menge gebräuchlicher oder gar zulässiger Charaktere im System durch das System regulierbar wird.29 Im deutlichen Unterschied zur schriftlichen Kommunikation kann dies bei jeder Mitteilung und von Operation zu Operation variiert werden. Es verhält sich ein wenig so, als würde man beim Schreiben neue Buchstaben und die ihm zugehörigen Kombinationsregeln erfinden dürfen und dennoch verständlich bleiben. Es verhält sich indes nur sehr eingeschränkt so, weil die bildliche Kommunikation kein Alphabet kennt. Die Zuordnungswahl der Inskriptionen zu einem oder zu mehreren Charakteren und die Wahl beider, die Wahl ihrer Kombinationen, die Wahl eines Repertoires, aus dem die kombinierbaren Inskriptionen und Charaktere ausgewählt werden, und schließlich die Wahl der Menge von Charakteren ist einem piktural operierenden System zugänglich und für es informativ. Wird von der Variabilität der Fülle Gebrauch gemacht, soll von Pikturalisierung bzw. von Diagrammatisierung der Kommunikation gesprochen werden. Einerseits heißt das: Die Kommunikation kann sich

29. Die Irritabilität des Systems als einen Sachverhalt seiner eigenen Regulation zu behandeln schließt keineswegs aus, dass es auch Irritationen erfährt, die sich seines Zugriffs entziehen. 235

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von jeder weiteren Inskription überraschen lassen. Sie kann die Irritabilität so weit steigern, dass es letztlich nur noch um die Frage geht, welche Ansichten noch erwartbar gemacht werden können. Umgekehrt kann die Irritabilität so weit reduziert werden, dass die Kommunikation nicht mehr bildlich operiert und jeder Versuch vergebens ist, die Disjunktivität und Differenziertheit der Charaktere aufzulösen. Entsprechend wird die Kommunikation nicht mehr über die Orientierung an pikturalen Ansichten strukturiert. Für ein soziales System ist längst nicht alles bildlich, was in apparativen Visualisierungsverfahren erzeugt wird und in Magazinen und auf Monitoren schillernd bunt erscheint. Auch Verkehrszeichen sind in diesem Sinne nicht piktural, weil ihre Charaktere wohl unterschieden sind. Wenn die Reduktion nicht zur Preisgabe der Bildlichkeit führt, sondern ein System nur darauf bedacht ist, den Möglichkeitsbereich der Inskriptionen einzugrenzen, tendiert es zu invarianten Mustern dessen, was zur Ansicht kommen kann. Die visuellen Stereotypen der Massenmedien sind von dieser Tendenz gezeichnet. Das System stellt sich darauf ein, dass das Sehen fokale Information zu erzeugen und einzuschränken in der Lage ist, um sich auf diesem Wege seine darstellerischen Mitteilungen zu spezifizieren und sich zu regulieren. Es ist nicht nötig, von vorgefertigten Fotografien, Gemälden, Skulpturen oder anderen pikturalen Gegenständen auszugehen, um ihre Kommunikativität zu bestimmen. Dies würde auch keinen Sinn machen, da ein soziales System keine Hände und keine Augen hat, um sie zu ergreifen und in den Blick zu nehmen. Vielmehr kommt es darauf an, wie verstanden wird und wie die verschieden verstandenen Darstellungsweisen beschrieben werden können. Genau dafür bietet die Theorie Goodmans ein reichhaltiges Repertoire von Unterscheidungsmöglichkeiten. Sie dient also vor allem dazu, die symbolische Regulation der Kommunikation zu bestimmen. Bisher heißt das: Um bildliche Darstellungen zu verstehen und um bildlich zu operieren, strukturiert und restrukturiert sie sich über die Zu- und Abnahme dicht geordneter Inskriptionen. Wenngleich diese syntaktischen Aspekte eine wichtige Rolle spielen und bisweilen unterschätzt werden, kann man es bei ihnen nicht belassen. Sie machen nur Sinn – zumindest im Hinblick auf die verwendete Theorie –, wenn man die semantischen Aspekte hinzunimmt. Die Charaktere und Inskriptionen fügen sich nur in die Schemata ein, insofern sie als Prädikate oder allgemeiner: als Etiketten für etwas fungieren, auf das sie zutreffen. Sich auf Goodman zu berufen, kann folglich nur plausibel gemacht werden, wenn man die symbolischen Bezugnahmen berücksichtigt. Nun verhält es sich so, dass die semantischen zusammen mit den syntaktischen Aspekten Symbolsysteme konfigurieren. Sie bestehen aus einem Schema, das mit einem Bezugnahmegebiet oder einer Sphäre korreliert ist. Dies führt zu der Schwierigkeit, dass man es mit verschie236

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denen Systemen zu tun hat. Wie aber verhalten sich die sozialen Systeme und die Symbolsysteme zueinander? Sicherlich kann ausgeschlossen werden, dass ein Symbolsystem rekursiv, reproduktiv oder temporalisiert ist. Vielmehr sind seine Funktionen als diejenige Systematik und als dasjenige Raster zu begreifen, mit denen das Verstehen operiert und seine Anschlussfähigkeit sichert. Die Symbolsysteme kennzeichnen demnach die Modellierbarkeit des Verstehens. Ihre Funktionen sind die kommunikativ erfundenen Regularien der Kommunikation. Dies gilt für die syntaktischen ebenso wie für die semantischen Aspekte. Insoweit ist die Zeichenform (Bezeichnendes/Bezeichnetes) durch die Form des Symbolsystems (Schema/Sphäre) ersetzbar, mit der sich das Sozialsystem in vielgestaltiger Weise organisiert. Damit ergibt sich ein erklärungsbedürftiger Zugriff auf die Symboltheorie. Wenngleich Goodman die soziale Funktion der Symbolsysteme anerkennt – »Der Mensch ist ein soziales Wesen, Kommunikation ein Erfordernis für den gesellschaftlichen Umgang, und Symbole sind die Medien der Kommunikation« (1995: 236 f.) –, präferiert er eine andere Systemreferenz, als hier vorgeschlagen: »Der primäre Zweck ist Erkenntnis an und für sich; Brauchbarkeit, Wohlgefallen, Zwang und kommunikative Nützlichkeit, alle hängen von ihr ab« (ebd.). Goodman lässt keinen Zweifel daran, dass es ihm um die Beschreibung des Wissens derjenigen geht, die wahrnehmen und denken und – in seinem Verständnis – verstehen und kommunizieren können. Er beschäftigt sich mit dem Vermögen psychischer Systeme, ihr eigenes Wissen zu klassifizieren und zu organisieren. Wie aber kann die Systemreferenz von der Wahrnehmung und vom Denken zur Kommunikation verschoben werden? Die Intervention lässt sich über zwei Begriffe bestimmen. Gemäß Goodman steht erstens qua Konvention fest, welche Symbolisierungen und damit letztlich auch welche durch Symbolisierung hervorgebrachte Tatsachen gültig und gängig sind. Die Konventionen bleiben dabei kontingent und sind potenzielle Fälle »konfligierender Versionen« (ders. 1990: 152). Goodman und Catherine Elgin führen aus, dass man eine Version übernimmt und sie stillschweigend benutzt und anerkennt bzw. dass man sich für eine Version entscheiden muss: »Fast immer wird der eine oder andere Standpunkt übernommen. Die bloße Feststellung, daß sich viele alternative Versionen konstruieren lassen, gibt uns keine einzige an die Hand. Eine Zeitlang müssen wir einige Dinge als beständig ansehen. […] Ein Wechsel des Standpunktes bewirkt eine Neu-Sortierung« (dies. 1993: 134 f.). In dieser sozialen Tatsache kann man den Anlass vermuten, der Luhmann zu seinen zahlreichen Semantikstudien bewogen hat. Aber auch ohne diesen Hinweis wird man bemerken, dass Konventionen die Angelegenheit und letztlich auch das Resultat sozialer Praxis sind. Im Rahmen der Systemtheorie heißt das eben, dass sie sich kommunikativ etablieren und bewähren müssen. Da sich die Kon237

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ventionen zudem gemäß der Funktionalität der Symbolsysteme organisieren – und zwar unabhängig von ihrem Erfolg, ihrer Langlebigkeit oder ihrem Nischendasein –, kann man in dieser Organisationsweise schließlich ein Verfahren kommunikativer Regulation erkennen. Der zweite Begriff, über den der Zugriff bestimmbar wird, ist das Verstehen. Goodman und Elgin beziehen es zunächst in einem sehr weiten Sinne auf kognitive Tätigkeiten »einschließlich Wahrnehmung, Abbildung, Emotion und auch Beschreibung« (ebd.: 16). Sie fassen es aber auch in einem engeren Sinne als das »Verstehen eines Symbols« (ebd.: 160) auf, das in Bezug auf sein geltendes System erweitert, verbessert oder relativiert werden kann.30 Ein Symbol scheint von unterschiedlichen Personen auf verschiedene Weise erkenn-, begreif- und interpretierbar zu sein und beschränkt sich daher keineswegs auf ein gänzlich unabhängiges, je individuelles Verständnis. Weder die Relevanz noch die Vielfalt bewussten Auffassens können bestritten, müssen aber durch das kommunikative Verstehen ergänzt werden. Es lässt erst erwarten, dass man sich verständlich ausdrücken kann – worin die Freiheit anderer, variierender oder gar fehlgehender Ausdrucksmöglichkeiten und Auffassungen notwendigerweise eingeschlossen ist. Das kommunikative Verstehen nimmt vor allem die nötigen Strukturierungen dafür vor, dass andere Ausdrucksweisen anderes auf andere Art verständlich machen. Nur vor diesem Hintergrund werden Äußerungen oder Kritzeleien überhaupt erst als Symbole oder symbolische Zeichen begreifbar. Die Kommunikation versteht keine Symbole – dies bleibt den psychischen Systemen überlassen –, sondern konfiguriert und modelliert vielmehr auf symbolische Weise Sinnorientierungen. Dies tut sie derart, dass die artikulierten und wahrgenommenen Äußerungen oder Kritzeleien als Wiedererkenn- und Wiederverwendbarkeiten wiederholt unterstellt werden können; inbegriffen aller Wechselzustände und Zustandswechsel, die diese strukturierende Wiederholung erfährt. Das symbolische Zeichen erweist sich wie schon bei Cassirer als ein Anwendungsfall symbolischer Regulation. Nun kann jedoch hinzugefügt werden, dass es der doppelt geführten, symbolischen Operativität psychischer und sozialer Systeme bedarf: »Überzeugungen und Erwartungen liefern Kategoriensysteme oder Arten, die strukturieren, was wir wahrnehmen. Und die von ihnen hergestellten Strukturen sind vielfäl-

30. Zwischen dem Verstehen als »kognitives ›Vermögen‹ in einem umfassenden Sinne« und dem Verstehen dessen, »was im kognitiven Prozeß erreicht wird«, lassen Goodman und Elgin noch eine weitere Begriffsbestimmung zu. Demnach ist das Verstehen der Prozess, die Fertigkeiten »zur kognitiven Erzeugung und Wiedererzeugung einer Welt, von Welten oder einer Welt von Welten zu gebrauchen« (dies. 1993: 213). Wird man fragen dürfen, ob der Begriff damit überlastet ist? 238

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tig« (ebd.: 17). Wenn man ein Symbol versteht, dann versteht man es in Abhängigkeit von der kommunikativen Leistung, ein Schema (von etikettierenden Inskriptionen) und eine korrespondierende Sphäre (von möglichen und alternativen Erfüllungen) zu prozessieren. Eine Konvention ist nichts weiter als die vorübergehende Stabilisierung dieses Verhältnisses und kann dem nun doppelläufigen Verstehen keinesfalls mehr vorausgesetzt werden. Die Beweislast des Verstehens hat sich damit umgekehrt. Die semantische Beziehung zwischen den Etiketten der Schemata und der Sphäre wird durch die Bezugnahmen hergestellt. Goodman spricht allgemein von Etiketten (labels) und reserviert das Prädikat für verbale Sprachen. Es wird häufig hervorgehoben, dass Goodman zwei grundlegende Arten der Bezugnahme unterscheidet: Die Denotation und die Exemplifikation. Die Denotation bezieht sich auf jeden Gegenstand und auf jedes Vorkommnis, das eine Inskription erfüllt: Eine Partitur denotiert ein Konzert, ein geschriebenes Wort seine Aussprache; ein Text denotiert das von ihm Beschriebene und ein Bild von einem Vogel nimmt in Abhängigkeit des Gebrauchszusammenhangs auf einen einzelnen Vogel Bezug, auf alle Vögel seiner Art oder auf keinen einzigen Vogel, weil es einen solchen Vogel möglicherweise nicht geben kann; ein Name denotiert seinen Träger31 und eine Variable ihre Werte; ein Befehl denotiert seine Ausführung und eine Bitte, ihr zu entsprechen. Die Denotation erfordert folglich keinen bestimmten Zustand und keinen bestimmten Status seiner Erfüllungsgegenstände: »Denotation is a two-place semantic relation between a symbol and the objects to which it applies. A symbol denotes whatever complies with, or satisfies, or is an instance of it« (Elgin 1983: 19). Die Begründungsprobleme dieser Relation können hier übergangen werden. Festzuhalten bleibt indes, dass die Erfüllungen gemäß Goodman in Erfüllungsklassen geordnet sind und auf diesem Wege ein Symbolsystem konstituieren. Zwischen seinem Schema und dem ihm zugehörigen Bezugnahmegebiet gibt es verschiedene Korrelationsmöglichkeiten, die das Auftreten dessen organisieren, um das es semantisch geht. Eine Inskription ohne Erfüllungsgegenstand ist vakant; komposit sind solche Inskriptionen, die in zusammengesetzter Form Erfüllungsgegenstände haben; von Ambiguität der Etiketten spricht Goodman, »wenn sie zu verschiedenen Zeiten oder in verschiedenen Kontexten verschiedene Erfüllungsgegenstände hat« (1995: 142). Ein Charakter ist ambig, »wenn irgendeine seiner Inskriptionen es ist; aber auch wenn jede Inskription eines Charakters eindeutig ist, ist der Charakter so lange ambig, bis alle seine Inskriptionen dieselbe Erfüllungsklasse haben«

31. Martin Seel (1995) führt aus, dass auch Fotografien wie Eigennamen verwendet werden können. 239

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(ebd.: 143). Das Bild des Vogels ist bspw. deswegen ambig, weil es in einem Moment von jeder beliebigen geflügelten Kreatur erfüllt wird und im nächsten Moment Katzenfutter denotiert. Ebenso wie es Charaktere mit unterschiedlichen Erfüllungsklassen geben mag, können schließlich verschiedene Inskriptionen mit gleicher Erfüllung unterschiedlichen Charakteren zugehören. Die symbolischen Zuordnungsweisen zwischen einem Schema und seiner Sphäre sind vielgestaltig. Sie können keineswegs auf einzelne Typen, wie etwa auf den Typus sprachliche Äußerungen – zeitliche Varianz der Erfüllungsklassen, reduziert werden, mit dem man die Entwicklung semantischer Felder kennzeichnen kann. Gleichwohl ist er wegen seiner Zusammensetzungsmöglichkeiten (im Schema), wegen der Unterschiede in einzelnen Erfüllungsklassen und schließlich wegen der Verschiebungen zwischen ihnen (in der Sphäre) für die Kommunikation informativ. Luhmann scheint diesen Typus der semantischen Wandelbarkeit zu präferieren, insofern man bei der zeitlichen Varianz in historischen Dimensionen denkt.32 Damit nur eine Möglichkeit symbolischer Regulation berücksichtigt. Über sie hinaus sind alle anderen Korrelationsmöglichkeiten zwischen einem Schema und seiner Sphäre ebenfalls für ein soziales System informativ, da es über die Wahl syntaktischer und semantischer Aspekte und über die Wahl der jeweiligen Zurichtungen Einfluss auf die eigenen Zustandswechsel erhält und da eine Änderung der Wahl und der Zurichtungen selbst einen Wechselzustand markiert. Der Bezug zwischen dem Schema und der Sphäre eines pikturalen Symbolsystems bestimmt sich über die syntaktische Dichte, die mit einer semantischen Dichte korreliert ist. Auch in semantischer Hinsicht fehlen den Bildern also die Disjunktivität und die effektive Differenziertheit. Semantische Disjunktivität ist dann gegeben, wenn die Erfüllungsklassen disjunkt sind und wenn »es nicht die geringste Überlappung zwischen den Anwendungsbereichen« (Scholz 1991: 100) der Charaktere gibt. Kurz, jedem Charakter steht eine eigene, wohl unterschiedene Erfüllungsklasse zu. So werden zum Beispiel die Standorte der Bücher in einer Bibliothek – hoffentlich – überschneidungsfrei von den Signaturmerkmalen denotiert. Ihre Differenziertheit ist dann gegeben, wenn sich die semantischen Zuordnungen zumindest theoretisch durchführen lassen. Auf all das verzichten die Erfüllungsklassen der Bilder, da sie sich durchgängig überschneiden können. Das Bild des Vogels mag auf einen einzelnen Vogel verweisen und damit zur Klasse der Tiere im Garten gehören, es mag alle Tiere einer bestimmten Farbe denotieren oder die Leichtigkeit der Lüfte bedeuten; dies jeweils in Ab-

32. Zu der Frage, wie die Semantik mit der Erwartungsstruktur zusammenhängt, vgl. Stichweh 2000. 240

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hängigkeit der unterstellbaren Ansichten. Wie bei Verbalsprachen liegen bei Bildern ebenfalls ambige und semantisch dichte Symbolsysteme vor. Während die semantische Dichte der Sprache jedoch durch die Zusammensetzung der Charaktere eine Regulation von Bezugnahmeoptionen erfährt, muss man bei pikturaler Kommunikation damit rechnen, dass über die relative Fülle weitere Erfüllungsklassen ergänzt oder getilgt werden können.33 Das dichte Schema und sein dichtes Bezugnahmefeld müssen nicht in all ihren Facetten tatsächlich aktualisiert werden. Entscheidend ist allein, dass die Charaktere und ihre Erfüllungsgegenstände dicht geordnet sind. Dies gilt auch für die semantische Dichte der Verbalsprache. Es genügt so zu verstehen, dass entsprechende, andere Bestimmungen erwartbar waren oder erwartbar werden. Dadurch erklärt sich auch die Selektivität der Bezeichnungen, mit der Luhmann die kommunikative Information begründet. Laut Luhmann schließt die mit einer Bezeichnung eingeführte Unterscheidung alles aus, was nicht bezeichnet wird. Darunter fällt aber nicht alles Beliebige – eine Selbstbeschreibung im Rechtssystem schließt nicht unmittelbar die Differenz zwischen Kleopatras Geflüster in Caesars Ohr und der morgendlichen Begrüßung beim Bäcker aus –, sondern all dasjenige, das als Alternative zur Verfügung steht oder stehen könnte. Das heißt, die Bezeichnung legt eine Präferenz für eine semantisch dichte Erfüllungsklasse bzw. für eine Verbindung zwischen mehreren Erfüllungsklassen fest und nimmt in ihr bzw. in ihnen eine Gewichtung vor. So gewinnt die Bezeichnung ihren informativen Wert. Goodman gibt sich mit der Denotation nicht zufrieden. Er stellt ihr die Exemplifikation an die Seite. Sie verkehrt das Verhältnis zwischen dem Etikett und demjenigen, auf das es zutrifft. Das Prädikat ›ein schönes Kleid‹ denotiert ein Kleid, das als schön beschrieben wird. Ein Bild von einem Kleid fungiert ebenfalls als ein Etikett, das ein Kleid denotiert. Vielleicht bezieht sich das Bild auf etwas anderes als auf seine Schönheit, denotiert es aber dennoch. Dient das Kleid nun als ein Beleg, um zu zeigen, wie sein Stoff nach einem zu wilden Tanz beschaffen ist, dann nimmt es auf diese Eigenschaft oder genauer: auf das zu ihm gehörende Etikett Bezug. Von einer bestimmten Beschaffenheit zu sein, trifft auf das Kleid zu. Es exemplifiziert, ›zerknittert‹ zu sein. Dies aber nicht als ein verbalsprachliches Prädikat (»Jetzt schau dir mal an, wie zerknittert mein schönes Kleid ist!«), sondern vielmehr als Eigenschaft des Kleids bzw. als ein mit dem Kleid selbst hervorgebrachtes Etikett.

33. Goodman spricht in einem allgemeinen Sinne von der Tilgung und Ergänzung von Merkmalen, die sich nicht auf die Zu- und Abnahme der relativen Fülle beschränken; vgl. 1990: 27-29 (mit Bezug auf die Wahrnehmung) und 1995: 158-166 (mit Bezug auf die Funktionalität der Symbole). 241

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»Die Exemplifikation, die alles andere als eine Spielart der Denotation ist, verläuft […] nicht vom Etikett zu dem, auf das das Etikett zutrifft, sondern von etwas, auf das das Etikett zutrifft zurück zum Etikett (oder zu dem mit diesem Etikett verknüpften Merkmal [im gewählten Beispiel also: vom zerknitterten Kleid dazu, ›zerknittert‹ zu sein]). Exemplifikation behandelt in der Tat Denotation, durch Umkehrung, kann jedoch nicht mit der Konversen der Denotation gleichgesetzt werden; denn die Exemplifikation wählt aus und besteht nur zwischen dem Symbol und einigen, aber nicht den anderen Etiketten, die es denotieren, oder Eigenschaften, die es besitzt.« (Goodman 1987: 91 f.) Auf das Kleid mögen sehr viele Beschreibungen zutreffen und es mag noch mehr Eigenschaften besitzen, die sich nur schlecht beschreiben aber umso besser auf andere Art denotieren lassen.34 Die Exemplifikation wählt eines der denotierenden Etiketten aus und bezieht sich auf es. Das Kleid wird zur Inskription eines Etiketts, das es instantiiert und symbolisiert. Es wird sein eigener, singulärer Regelfall und als solcher kommunikativ behandelbar. Die Exemplifikation ist indes nicht auf einzelne Vorkommnisse beschränkt. Das klassische Beispiel Goodmans liefert die Stoffprobe eines Schneiders, die manche der auf sie zutreffenden Etiketten (von einer bestimmten Webart zu sein u.a.m.) exemplifiziert.35 Ein viele Stoffproben umfassendes Musterbuch kann als ein exemplifikatives Symbolsystem beschrieben werden. Einem Orchester den Kammerton A vorzugeben, der für die gegenseitige Abstimmung der Instrumente genutzt wird, ist ebenso ein Fall der Exemplifikation wie der Bezug eines Gemäldes zur Farbwahl oder zum Malstil, die es zur Ansicht bringt und so erst den Rückschluss auf einen Künstler gewährt. Lässt man die Signatur unbeachtet, sind personale Zurechnungen ohne ein exemplifikatives Verstehen der auf eine Person zutreffende Etiketten kaum möglich. Aber auch wenn man die Signatur für eine Zurechnung hinzunimmt, bleibt ihr Informationswert weit hinter den piktural instantiierten Etiketten zurück.36 Überdies erklärt die Exemplifikation, wie die bei einer Ansichtenbildung vorgenommenen Grenzziehungen in die Kommunikation

34. Von Eigenschaften zu reden, kann – wenn man streng argumentiert – zu einigen Schwierigkeiten führen. Daher präzisieren Goodman und Elgin: »In einer strikt nominalistischen Darstellung wird die Rede von besessenen Eigenschaften durch die Rede von instantiierten Etiketten ersetzt. Ein Symbol exemplifiziert dann ein Etikett, das es instantiiert und auf das es Bezug nimmt« (dies. 1993: 35). 35. Zu diesem Beispiel siehe Goodman 1995: 59 f.; vgl. ebenso die Ausführungen in Abschnitt 3, S. 156 f. und in Abschnitt 4, S. 175 f. (Fußnote 12). 36. Nicht nur aus diesem Grund müssen die Bezugnahmekapazitäten der verbalsprachlichen von anderen Symbolsystemen deutlich unterschieden werden: »We neither have nor know how to invent a verbal vocabulary sensitive enough to capture all of the nuances exemplified by musical and pictorial symbols« (Elgin 1983: 77). 242

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überführt werden. Wie im vierten Abschnitt ausgeführt, markiert die äußere Grenze des Bildersehens, wo es endet und sich von einem ansichtenfreien Sehen unterscheidet, während die innere Grenze das Bildersehen auflöst. Da bei Bildern notwendigerweise beide Grenzen gezogen werden müssen und da die Kommunikation nur über diese Form des Bildersehens strukturiert wird, muss sie auch stets mit beiden Grenzen rechnen. Orientiert sich ein soziales System an der exogenen Grenze, rechnet es zunächst damit, dass der Unterschied zwischen einem bildlichen und einem nicht-bildlichen Bereich gesehen werden kann. Hieraus leitet es seine Inskriptionen ab, wodurch man sich bspw. veranlasst sehen kann, einen Rand um eine Zeichnung zu ziehen. Dieser Rand denotiert nichts, exemplifiziert aber sehr wohl einen kommunikative Gültigkeit beanspruchenden Sehbereich und legt insoweit fest, auf welche Weise die fokale Information (des Sehens) erwartbar gemacht werden kann. Auf diesem Wege erlangt eine Bildgrenze seine soziale Bedeutung. Sie gestattet es, Bereiche für Ansichtenbildungen zu distinguieren, ein Bild von einem anderen Bild zu unterscheiden und letztlich Einzelwerke identifizierbar zu halten. Die etikettier- und zurechenbare Einheit eines Films, eines Gemäldes oder einer Skulptur verdankt sich der exemplifizierten, exogenen Grenze des pikturalen Sichtens. Was geschieht jedoch, wenn die Kommunikation auf die endogene Grenze verweist? Was geschieht, wenn sich ein soziales System an der Auflösungstendenz des pikturalen Sichtens orientiert? Zunächst kann dies bedeuten, dass sich die Inskriptionen auflösen. Wenn nicht mehr damit zu rechnen ist, dass bildlich gesehen werden kann, können sich Alter und Ego nicht mehr aufeinander beziehen. Sie verlieren ihre bindende Funktion und laufen asynchron, die innere Rekursion des Verstehens bricht zusammen und die Bildkommunikation endet. Wenn die Inskriptionen hingegen aufrechterhalten bleiben, wird mit dem endogenen Schwellensehen gerechnet, an das sich die Kommunikation bindet. Wird dieser Zustand exemplifiziert, ergibt sich für die Kommunikation keineswegs die eigene Desorganisation, da sie Restrukturierungen vorzunehmen in der Lage ist. Was aber geschieht, wenn ein Noch-nicht-Sichten und ein Nicht-mehr-Sichten erwartet wird? Es werden weder ein Absehen von etwas noch eine vorübergehende Blindheit exemplifiziert. Vielmehr wird ein Etikett instantiiert, das auf das Nicht-Sichten zutrifft. Sich auf ein solches Sehen zu beziehen exemplifiziert eine Null. Sie darf nicht mit dem Schweigen oder der Ruhe verwechselt werden, die mit Vakanzen operieren. Die semantische Erfüllungsklasse ist nicht leer oder vorübergehend ausgeräumt. Vielmehr beherbergt sie einen Nullpunkt, keine Leere, sondern die Startbedingung des Koordinierbaren in einer äußersten, intensiven Anspannung. Wenn die Kommunikation sich phasenweise an einem die Null exemplifizierenden Nicht-Sichten orientiert, setzt sie ihre Sinnorientierun243

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gen aus und muss abwarten. Hier angelangt kommuniziert nicht einmal mehr die Kommunikation. Die Endogenese führt die Kommunikation folglich an die Schwelle, an der ihre Inskriptionen und damit ihre Zurechungspunkte verschwinden oder an der die Orientierbarkeit der Struktur aussetzt. Trotz der zahlreich vorgestellten Facetten symbolischer Regulation sind die Möglichkeiten der Form Schema/Sphäre noch nicht erschöpfend dargelegt. Über die Unterscheidung zwischen der Denotation und der Exemplifikation hinaus unterscheidet Goodman zwischen buchstäblichen und metaphorischen Bezugnahmen: »Eine Metapher entsteht dadurch, daß man ein Schema von Etiketten zur Sortierung einer gegebenen Sphäre auf die Sortierung einer anderen Sphäre (oder derselben Sphäre auf andere Weise) überträgt« (ebd.: 94). Eine metaphorische Exemplifikation kennzeichnet Goodman als Ausdruck: »Der Ausdruck bezieht das Symbol auf ein Etikett, das es metaphorisch denotiert, und damit indirekt nicht nur auf den gegebenen metaphorischen, sondern auch auf den buchstäblichen Bereich dieses Etiketts« (1995: 94). Komplex wird die Sachlage dadurch, dass Denotationen und Exemplifikationen (buchstäblich und metaphorisch) gemeinsame Bezugnahme konstituieren und in Bezugnahmeketten organisiert sind.37 Mit ihnen beschreibt Goodman die ästhetische Darstellungsweise, die sich durch eine »multiple und komplexe Bezugnahme [auszeichnet], bei der ein Symbol mehrere zusammenhängende und aufeinander einwirkende Bezugnahmefunktionen erfüllt, einige direkte und einige durch andere Symbole vermittelte« (1990: 89). Von hier lässt sich eine Brücke zur systemtheoretischen Diskussion des Kunstwerks schlagen. Die Bezugnahmeketten bzw. der Komplex ineinander verschachtelter, denotierender und exemplifizierender Bezugnahmen korrespondieren mit dem Terminus der Kompaktkommunikation, mit dem Luhmann das Kunstwerk zu fassen versucht und den Georg Stanitzek folgendermaßen interpretiert: »Die im Kunstwerk angebrachten Unterscheidungen sind ›integriert‹, sind als Komponenten einer Komposition aneinander gebunden; sie verweisen aufeinander, ›verschränken‹ sich, beobachten sich gleichsam wechselseitig und machen nur in dieser Beobachtung ›ihren‹ Unterschied« (1996: 45). Wie weit diese wechselseitigen Beobachtungen reichen, hängt wiederum von den Inskriptionen und ihren zulässigen Kombinations- und Zuordnungsregeln ab. Die Kommunikation findet und erfindet die Regeln über die

37. Zu den Spielarten und Kombinationen der Bezugnahmen vgl. Goodman 1987: 85-145, 1990: 83-86, 1995: 53-97, 215-222; ebenso Goodman, Elgin 1993: 93113. Die umfangreichsten Ausführungen macht Elgin 1983. Gérard Genette (1992: 120) schlägt vor, die Bezugnahmen durch die Evokation (metonymische Exemplifikation) zu erweitern. 244

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mannigfaltig realisierte Form Schema/Sphäre, mit der sie ihre eigene Operativität anreichert – und zwar in Abhängigkeit der in Anspruch genommenen Wahrnehmung und der genutzten Darstellungsweisen. Die syntaktische Dichte verweist darauf, dass die pikturalen Inskriptionen im Unterschied zur Schrift hoch informativ sind. Die Kommunikation orientiert sich daran, dass das Sehen gemäß der Form des symbolischen Temporalobjekts Ξ verfährt, wodurch erwartbare Sichtweisen gebunden, also Inskriptionen prozessiert werden. Erst auf diesem Wege kann semantisch orientierender Sinn kommunikativ strukturierend wirken. Solange er noch nicht gefunden ist, bleibt die semantische Erfüllung vakant und die Erfüllungsklasse leer. Bildkommunikation kann folglich auch ohne einen thematischen, sachlichen oder ›inhaltlichen‹ Bezug operieren. Nun wird auch kenntlich, warum der Unterscheidung zwischen der Beobachtung und der Operation für die Bildkommunikation keine große Relevanz zugemessen wurde: Eine leere Erfüllungsklasse lässt keine unterscheidenden Bezeichnungen zu. Sobald jedoch ein Bezugnahmegebiet gegeben ist, muss mit semantischer Dichte gerechnet werden. Sie formiert das Bezugnahmegebiet, in dem die Selektionen der sozialen Systeme vorgenommen werden. Erst so kann von den Bezeichnungen die Rede sein, auf die Luhmann für den Beobachtungsbegriff zurückgreift. Die Ausführungen zur Symboltheorie zeigen deutlich, wie die Kommunikation verfährt, wenn sie bildliche Darstellungen als Mitteilungen versteht. Das von Goodman und Elgin zur Verfügung gestellte Repertoire erlaubt, weit mehr über den Zugriff auf Kommunikabilien zu sagen als die von Luhmann selbst angeführten Begriffe der Form (und ihres Mediums) und der Bezeichnung (und ihrer Unterscheidung). Gleichwohl muss man beachten, dass Goodman und Elgin keine Kommunikativität beschreiben. Die verschiedenen Aspekte der Symboltheorie müssen zunächst mit der Struktur sozialer Systeme in Beziehung gesetzt werden, um ihren hier reklamierten, analytischen Wert ausspielen zu können. Kommen wir zum Schluss und klären abschließend, wie die symbolische Regulation in den Korpus der Systemtheorie aufgenommen werden kann. Dies geschieht am besten mit einer Unterscheidung. Eine mit der Symboltheorie spezifizierte Darstellungs- bzw. Mitteilungsweise soll als Darstellungsformat bezeichnet werden. Seine symbolische Regulation handhabt einen Möglichkeitsraum, dessen Varianten nicht durchgespielt werden müssen, damit sich die Vielfalt der möglichen Züge bewährt. Mit dem Darstellungsformat ist die Kontingenz einer Mitteilung gegeben. Es kennzeichnet also die Weise, wie kommunikativ verstanden werden kann. Die Mitteilung bezieht sich demhingegen darauf, wie verstanden worden ist. Ein soziales System stellt sich mit dem Darstellungsformat folglich seine eigene Verstehbarkeit zur Verfügung. Neben dem Darstellungsformat benötigt man einen Begriff, der die dem 245

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

System zugänglichen Zustandswechsel kennzeichnet, die sich aus den verschiedenen Möglichkeiten ableiten lassen, eine Mitteilung künftig verstehen zu können. Dafür kann auf den in der Systemtheorie geläufigen Terminus der Anschlussfähigkeit bzw. des Anschlusswerts zurückgegriffen werden. Er gibt an, wie mit weiteren (Un-)Wahrscheinlichkeitszuständen zu verfahren ist. Man erhält auf diesem Wege die Unterscheidung zwischen dem Darstellungsformat und seinem Anschlusswert, die die spezifizierte symbolische Disposition kennzeichnet, die vorliegt, wenn ein System mittels Kommunikabilien operiert. Die Unterscheidung weist ihr Potenzial, ihre Operabilität aus. Über Kommunikabilien im Allgemeinen und Bilder im Besonderen kann man festhalten, dass die mit ihnen vorgenommenen Mitteilungen als strukturierte Erwartungsbindungen auftreten, deren verstehende Regulationen über Darstellungsformate laufen, mit denen wiederum operative Anschlusswerte einhergehen.38 Das Verhältnis zwischen dem Anschlusswert und dem Darstellungsformat auf der einen Seite und der Information und der Mitteilung auf der anderen Seite kann man mit dem Verhältnis vergleichen, das zwischen dem Verlauf und den Regeln eines Spiels besteht. Für den Vergleich wird man ein Spiel wählen müssen, dessen Regeln sich im Verlauf des Spielens ändern. Die Änderungen werden durch den Spielverlauf selbst vorgenommen. Um dies koordinieren zu können, wird man Vorrichtungen annehmen müssen, die das Verhältnis zwischen dem Verlauf und der Regeländerung regulieren. Aber auch diese Vorrichtungen unterliegen ihrerseits laufenden Anpassungen und intensiven Irritationen.

38. Da die Unterscheidung zwischen dem Darstellungsformat und dem Anschlusswert die potenzielle Seite einer aktuell durchgeführten Operation beschreibt und da sie damit der generellen Form aktuell/potenziell des Sinns genügt, lässt sie sich auch dann problemlos in den systemtheoretischen Begriffsapparat integrieren, wenn man der zurückliegenden Deutung der kommunikativen Operation nicht folgt. 246

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KOPPELN UND SCHLIESSEN

Glossar Attentionale Einheit – temporär stabile Struktur bestehend aus attentionalen Objekten, in der eine Visualitätsdifferenz konfiguriert wird. Ein einzelnes Objekt kann keine attentionale Einheit bilden. Attentionales Objekt – oszilliert zwischen den Zuständen »Beobachten« und »Beobachtetwerden« eines Systems. Das Objekt bezieht sich allerdings nur auf die Beobachtungen, nicht auf das System. Ein einzelnes Objekt oszilliert zwischen den Zuständen »Selbstbeobachten« und »Selbstbeobachtetwerden«. Zusammen mit einem weiteren Objekt kann es die Zustände »Fremdbeobachten« und »Fremdbeobachtetwerden« annehmen. Um ein System zu konfigurieren, werden mindestens zwei Objekte benötigt, in deren Struktur eine Fremdbeobachtung vollzogen wird. Jedes Objekt ist individuell. Endogenese – das gestalterische Verfahren des Sichtbarmachens, das sich auf die innere Grenze des Sehens von Bildern bezieht. Es gibt die Tendenz an, den Replikationswert des symbolischen Temporalobjekts gegen Null zu führen und seine Attentionalität an der Grenze der Auflösung entlangzuführen. Exogenese – das gestalterische Verfahren des Sichtbarmachens, das sich auf die äußere Grenze des Sehens von Bildern bezieht. Es gibt die Tendenz an, den Replikationswert des symbolischen Temporalobjekts dem Replikationswert einer nicht-bildlichen Form des Sehens beliebig nah anzunähern. Die attentionale Struktur der nicht-bildlichen Form setzt sich aus Objekten zusammen, die im symbolischen Temporalobjekt modelliert werden. Implikationswert – bezieht sich auf die Modellvorrichtung und gibt den Grad der Beobachtbarkeit für ein einzelnes Objekt an. Komplexes Modell 〈Oξ〉 = [(Xξ)Fb] ⇒ Bξ = Ξ – ein Objekt, das als ein komplexes Modell beobachtet wird. Das komplexe Modell vereint Eigenschaften des komplexen Objekts und des Modells. Es ist das Modell eines komplexen Objekts, das die Beziehung verschiedener Modelle identifiziert. Komplexes Objekt 〈Oκ〉 = [(Xκ)Fb] ⇒ Bκ = K – ein Objekt, das als ein komplexes Objekt beobachtet wird. Dank seiner Beobachtung wird die Relation zwischen anderen Objektbeobachtungen identifiziert. Dabei werden alle anfallenden Objektbeziehungen gleichzeitig errechnet.

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

Modell 〈Oµ〉 = [(Xµ)Fb] ⇒ Bµ = M – ein Objekt, das als ein Modell beobachtet wird. Die Modellbeobachtung repliziert die Beziehung zu weiteren Beobachtungen, die zwischen dem Modell und anderen Objekten errechnet werden können. Sie repliziert die Beziehung auch dann, wenn die anderen Objekte nicht beobachtet werden. Das Modell erstellt folglich ein Beziehungsmuster. In Abhängigkeit des replizierten Musters werden verschiedene Modelltypen unterschieden. Modell eines Modells 〈Oτ〉 = [(Xτ)Fb] ⇒ Bτ = T – ein Objekt, das als das Modell eines Modells beobachtet wird. Es ist auch dann das Modell T eines Modells M, wenn das modellierte Modell aktuell nicht beobachtet wird. Folglich erzeugt die Beobachtung des Modells T ein variables Beziehungsmuster, in dem das Beziehungsmuster zum Modell M (incl. seines Beziehungsmusters) repliziert wird. In diesem Fall kann auch von Variplikation gesprochen werden. Modellvorrichtung – hierauf richten sich die Zustände des Selbst- und Fremdbeobachtens eines attentionalen Objekts. Die Modellvorrichtung legt die Selbigkeit eines Objekts fest. Regulation – bezieht sich auf die Verknüpfung der Modellvorrichtungen verschiedener Objekte im Fall von Fremdbeobachtungen. Die Regulation beschreibt die Koordination von Systemen durch ihre attentionale Struktur. Eine einzelne Fremdbeobachtung bringt eine einfache Regulation hervor. Die errechnete Relation zwischen mehreren Objektbeobachtungen bringt eine gleichzeitige, über die Objekte verteilte Regulation hervor. Mit Hilfe des komplexen Objekts wird die verteilte Regulation in einer einzelnen Objektbeobachtung zusammengefasst. Das Modell ermöglicht die Regulation von Regulationen (Beziehungsmuster statt einzelner Beziehungen) und entwirft auf diesem Wege einen Regulator. Mit dem Modell eines Modells erhält man schließlich einen variablen Regulator. Replikationswert – gibt den Grad der Beobachtbarkeit bei Fremdbeobachtungen an. Er bestimmt die Verknüpfbarkeit der Modellvorrichtungen der an der Beobachtung beteiligten Objekte. Symbolisches Temporalobjekt Ξ – ein komplexes Modell, dessen modelliertes komplexes Objekt eine Disjunktion von Modellen identifiziert. Das komplexe Modell kennzeichnet die Attentionalität des Sehens von Bildern. Visualitätsdifferenz – besteht aus den beiden Instanzen des Sehenden und des Gesehenen, die in jedem visuellen System vorkommen.

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GLOSSAR

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

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266

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LITERATUR

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BILDKOMMUNIKATION. ANSICHTEN DER SYSTEMTHEORIE

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Zˇizˇek, Slavoj (1995): »Der audio-visuelle Kontrakt – der Lärm um das Reale«; in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 43 (3), 521-533.

268

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transcript Kultur- und Medientheorie

Georg Christoph Tholen,

Manfred Riepe

Gerhard Schmitz, Manfred

Bildgeschwüre

Riepe (Hg.)

Körper und Fremdkörper im

Übertragung – Übersetzung –

Kino David Cronenbergs.

Überlieferung

Psychoanalytische Filmlektüren

Episteme und Sprache in der

nach Freud und Lacan

Psychoanalyse Lacans

2002, 224 Seiten,

2001, 442 Seiten,

kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-89942-104-3

ISBN: 3-933127-74-2

Torsten Meyer Annette Keck,

Interfaces, Medien, Bildung

Nicolas Pethes (Hg.)

Paradigmen einer pädagogi-

Mediale Anatomien

schen Medientheorie

Menschenbilder als

2002, 266 Seiten,

Medienprojektionen

kart., zahlr. SW-Abb., inkl.

2001, 456 Seiten,

Begleit-CD-ROM, 26,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-89942-110-8

ISBN: 3-933127-76-9

Christian Bielefeldt Hans-Joachim Lenger

Hans Werner Henze und

Vom Abschied

Ingeborg Bachmann: Die

Ein Essay zur Differenz

gemeinsamen Werke

2001, 242 Seiten,

Beobachtungen zur Inter-

kart., 25,80 €,

medialität von Musik

ISBN: 3-933127-75-0

und Dichtung April 2003, 308 Seiten,

Susanne Gottlob

kart., 25,80 €,

Stimme und Blick

ISBN: 3-89942-136-1

Zwischen Aufschub des Todes und Zeichen der Hingabe:

Wolfgang Kabatek

Hölderlin – Carpaccio – Heiner

Imagerie des Anderen im

Müller – Fra Angelico

Weimarer Kino

2002, 252 Seiten,

April 2003, 226 Seiten,

kart., 25,80 €,

kart., zahlr. SW-Abb., 25,80 €,

ISBN: 3-933127-97-1

ISBN: 3-89942-116-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

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transcript Kultur- und Medientheorie Nikolaus Müller-Schöll,

Nikolaus Müller-Schöll (Hg.)

Marianne Schuller (Hg.)

Ereignis

Kleist lesen

Eine fundamentale Kategorie

September 2003, ca. 300 Seiten,

der Zeiterfahrung

kart., ca. 25,80 €,

Anspruch und Aporien

ISBN: 3-89942-105-1

Oktober 2003, ca. 300 Seiten,

Claudia Lemke, Stephan

ISBN: 3-89942-169-8

kart., ca. 26,80 €,

Münte-Goussar, Torsten Meyer, Karl-Josef Pazzini,

Georg Jongmanns

Landesverband der Kunstschulen Bildkommunikation Niedersachsen (Hg.)

Ansichten der Systemtheorie

sense & cyber

August 2003, 268 Seiten,

Kunst, Medien, Pädagogik

kart., 26,80 €,

September 2003, ca. 280 Seiten,

ISBN: 3-89942-162-0

kart., zahlr. Abb., inkl. Begleit-DVD, ca. 25,80 €,

Timo Skrandies

ISBN: 3-89942-156-6

Echtzeit – Text – Archiv – Simulation

Marianne Schuller,

Die Matrix der Medien und ihre

Gunnar Schmidt

philosophische Herkunft

Mikrologien

Oktober 2003, ca. 400 Seiten,

Literarische und philosophi-

kart., ca. 28,00 €,

sche Figuren des Kleinen

ISBN: 3-89942-151-5

September 2003, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €,

Christoph Engemann

ISBN: 3-89942-168-X

Electronic Government – vom User zum Bürger

Meike Wagner

Zur kritischen Theorie des

Nähte am Puppenkörper

Internet

Der mediale Blick und die

Oktober 2003, ca. 130 Seiten,

Körperentwürfe des Theaters

kart., ca. 13,80 €,

Oktober 2003, ca. 250 Seiten,

ISBN: 3-89942-147-7

kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-158-2

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transcript Kultur- und Medientheorie Jörn Rüsen (Hg.)

Saskia Reither

Zeit deuten

Computerpoesie

Perspektiven – Epochen –

Studien zur Modifikation

Paradigmen

poetischer Texte durch den

Oktober 2003, ca. 400 Seiten,

Computer

kart., ca. 26,80 €,

Oktober 2003, ca. 250 Seiten,

ISBN: 3-89942-149-3

kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-160-4

Christoph Ernst, Petra Gropp, Karl Anton Sprengard (Hg.)

Eva Erdmann (Hg.)

Perspektiven interdisziplinä-

Der komische Körper

rer Medienphilosophie

Szenen – Figuren – Formen

Oktober 2003, 334 Seiten,

Oktober 2003, ca. 350 Seiten,

kart., 25,80 €,

kart., zahlr. SW-Abb., ca. 26,80 €,

ISBN: 3-89942-159-0

ISBN: 3-89942-164-7

Tanja Nusser, Elisabeth Strowick (Hg.) Rasterfahndungen Darstellungstechniken – Normierungsverfahren – Wahrnehmungskonstitution Oktober 2003, ca. 350 Seiten, kart., farb. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-154-X

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