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German Pages 350 Year 2015
bilden mit kunst
Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen e. V. (Hg.)
bilden mit kunst
bilden mit kunst Der Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen e. V. dankt dem Land Niedersachsen, der VGH-Stiftung sowie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung der vorliegenden Publikation und des Kongresses bilden mit kunst, der vom 12. bis 14. Juni 2003 im Künstlerhaus in Hannover stattgefunden hat.
Veranstalter des Kongresses: Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen e. V., Hannover Konzept: Sabine Fett Organisation: Sabine Fett, Sabine Beck, Dorlis Oberrauter Öffentlichkeitsarbeit: Sabine Beck Herausgeber der Publikation: Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen e. V., Hannover Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Torsten Meyer, Hamburg Innenlayout: Torsten Meyer Titelbild: Ulrich Puritz Lektorat: Adrienne Gräfe, Hamburg Satz: Adrienne Gräfe, Torsten Meyer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-207-4 Sofern nicht anders angegeben, liegen die Rechte der Abbildungen und Texte bei den AutorInnen. Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany
Inhalt Die Rückkehr zur Bildung ist pädagogisch geboten – ein Fortschritt. Grußwort | 9
Christian Wulff Kongressdokumentation bilden mit kunst | 11
Narciss Göbbel bilden mit kunst: Behauptung, Kongress, Buch, ... – eine Anleitung | 13
Sabine Fett, Torsten Meyer Keywords: Kunst – Politik – Säkularisierung / EinBildungen – Gedächtnis/-räume – Kontexte
Kunst und ästhetische Bildung zwischen Kulturstaatsforderung und Säkularisierung | 17
Bazon Brock Kunst und Bildung. Lösungen für Ich-starke Persönlichkeiten | 31
Karl-Josef Pazzini Performative Verfahren in einer Gesellschaft des Übergangs. Tanz, Malerei und allerlei Gedächtnistheater in der Renaissance und anderswo | 49
Hanne Seitz ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum (Eine Demonstration) | 65
Ulrich Puritz Keywords: Kultur – Bildung – Kunst
Bildung ohne Kultur ohne Bildung? | 83
Dorothea Minderop Provokation als Bildungsprinzip | 93
Jürgen Oelkers Analyse der Wirksamkeit von pädagogischen Prozessen | 115
Richard Münchmeier Keywords: Autonomie / Vermitteln – Ver-Handeln – Anwenden
Kunstpädagogik als Kunst der Anwendung? | 125
Michael Lingner Von Kunst aus-bilden | 135
Eva Sturm
Zwischen Kunst und ihrer Vermittlung: »Ästhetische Operationen« | 149
Pierangelo Maset KünstlerInnen als PädagogInnen. Überlegungen am Beispiel des Projektes VitaBasteln von Ressource:Kunst e.V. | 155
Carmen Mörsch Keywords: Ästhetische Forschung / Erfahrung – Kunst-, Musik-, Museumspädagogik
Wie man auf den Vogel kommt. Aspekte eines Konzeptes ›Ästhetische Forschung‹ | 167
Helga Kämpf-Jansen Wozu Kunstpädagogik? Zur kognitiven Bedeutung ästhetischer Erfahrung | 177
Alexander Piecha Kunst und Kunstvermittlung in der Schule. Möglichkeiten des Denkbaren und Machbaren | 185
Clemens Höxter Bilden mit Musik. Zwischen der Inszenierung ästhetischer Erfahrungssituationen und systematischaufbauendem Musiklernen | 197
Christian Rolle Schätzen lernen – Kinder und Kunst im Museum | 217
Renate Dittscheidt-Bartolosch Keywords: Transfer / Kunst – Bildung – Arbeit / Markt – Verwertung
Chancen und Formen des Transfers künstlerischer Handlungsformen in die Erwerbsarbeit | 229
Gerda Sieben Dienst und Leistung. Personalentwicklung für »creative industries« | 243
Andrea Knobloch Ästhetisch-Künstlerische Bildung als Dienstleistung | 251
Michael Fink
Keywords: Kunst – Medien / Bildung – Kommunikation / Darstellung
Medienkunst statt Medienkompetenz? | 265
Udo Thiedeke Bilden im Neuen Medium: mit Kunst | 277
Torsten Meyer Hypermediales Ethnographieren | 287
Stephan Münte-Goussar Keywords: Kunst/schulen – Medienzeitalter – Schnittstellen – sense | cyber
Netzwerk miraculum | 299
Rainer Strauß Sehreise über das Mehr. Versuch einer Legende am Rande einer verwischten Karte | 309
Anne Möllers, Britta Schiebenhöfer Abstract: bilden mit kunst | 315
Burkhard Sievers animato [lat.-ital.] lebhaft, belebt, beseelt | 319
Deliane Rohlfs sense&cyber. Eine Bilanz in einzelnen Aspekten | 329
Sabine Fett Keywords: Bildungen – Personen / Institutionen – Subjekte / Orte / Namen – Biografien
AutorInnen | 341
Die Rückkehr zur Bildung ist pädagogisch geboten – ein Fortschritt. Grußwort »Die Rückkehr zur Bildung ist pädagogisch geboten – ein Fortschritt«, schrieb Hartmut von Hentig 1996 und meinte damit, Bildungsmodelle zu reflektieren und neu zu denken. Gerade heute muss Bildung umfassender und jenseits ihrer Institutionalisierung gesehen werden und geschehen. So gilt es, das Fortschreiten kognitiver Spezialisierungen in Schule und Beruf mit der Schaffung persönlicher wie sozialer Erfahrungs- und Bezugsräume zu verschränken. Zweifellos verfügen die Künste als Bildungsanlass und Erfahrungsraum über Medien, Methoden und Werte zur Aneignung von Welt. Aber erst in der Verknüpfung mit Lehr- und Lernanstrengungen können ihre individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungs- und Innovationsressourcen ausgeschöpft werden. Deshalb ist, gerade auch im Zeitalter eines inflationären Medienkonsums, die Förderung von Kunst und ihrer Vermittlung eine notwendige und gut angelegte Investition. Neben den auch weiterhin erforderlichen kommunalen Anstrengungen im Bereich der kulturellen Bildung nimmt Niedersachsen darin seit vielen Jahren seine eigene Verantwortung wahr. Die bislang erfolgreiche Kreativitätsförderung in diesem Bereich müssen und wollen wir auch weiterentwickeln. Denn die kulturelle Bildung mit Kindern und Jugendlichen hat sich den kreativen und selbstbestimmten Menschen zum Ziel gesetzt. In der heutigen Auseinandersetzung mit Kunst sowie mit allen Formen von Kultur liegt nicht nur die Voraussetzung für eine künstlerische Eigenentwicklung, sondern auch für eine zukünftige eigenständige Denk- und Lernfähigkeit in einer Wissensgesellschaft. Da aber ästhetische und kognitive Kompetenzen der Menschen einander bedingen, sollten deren optimale Ausbildung und Förderung immer im Gleichklang geschehen.
Christian Wulff
Kunstschulen sind hierfür unverzichtbare und professionell arbeitende Einrichtungen, deren humanistische Kultur- und Bildungskonzepte ein Land zukunftsträchtiger und reicher machen. In der besonderen Partnerschaft von Kunst und Bildung gehen Kunstschulen ein produktives und kreatives Bündnis ein. Indem sie künstlerischen Potenzialen im Denken, Gestalten und Handeln Raum geben, grenzüberschreitendes Arbeiten und ein nachhaltig wirkendes authentisches Erleben fördern, tragen sie zur zeitgemäßen Entwicklung einer individuellen, ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung bei. Denn mit ihren vielfältigen ästhetisch-künstlerischen Angeboten für Kinder und Jugendliche aktivieren Kunstschulen junge Menschen zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung. Damit aber in der Auseinandersetzung mit den Künsten der nie abgeschlossene Prozess der Bildung lebendig und offen gehalten werden kann, müssen Gelegenheiten für einen künstlerischen und kreativen Eigen-Sinn existieren und anerkannt werden. Denn nur so kann den ästhetischen und künstlerischen Prinzipien und Kräften, unabhängig von Nutzenaspekten und ökonomischer Verwertbarkeit, gefolgt werden. Sie sind Voraussetzung dafür, dass sich die Wirksamkeit der kunstpädagogischen Prozesse entfalten kann. Mit dem Kongress bilden mit kunst hat der Landesverband der Kunstschulen die Zeichen der Zeit erkannt und die Vermittlung der Künste nicht nur in ihrer kulturpolitischen, sondern auch in ihrer bildungspolitischen Bedeutung im Kontext eines zu erweiternden Bildungsbegriffs diskutiert. Eine kreative Allianz von Bildung und Kunst kann allerdings nie ganz unproblematisch und konfliktfrei sein. Vielleicht erwächst aber gerade daraus ein fruchtbares Spannungsverhältnis. Kunstschulen und Landesverband wirken mit ihrer Arbeit in Niedersachsen daher an der Entstehung und Belebung eines kultur- und bildungspolitischen Kraftfeldes mit, das Innovation und Synergien ermöglicht, die unser Land dringend benötigt. Hannover, im Dezember 2003
Christian Wulff Niedersächsischer Ministerpräsident Schirmherr des Kongresses bilden mit kunst
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Kongressdokumentation bilden mit kunst Die enorme Herausforderung der Planung, Durchführung und Auswertung eines überregionalen Fachkongresses hat sich für unseren kleinen Verband gelohnt. Hierfür sei allen Mitwirkenden gedankt. Das dokumentierte Ergebnis kann sich sehen lassen, die geistig-konzeptionelle Anstrengung der theoretischen Gedanken ebenso wie die organisatorischen Mühen der Betreuung von Referenten, Teilnehmern und Medien. Die Bildungswirkung der während des Kongresses dargelegten Theorieansätze, Praxisbeispiele und Diskussionsergebnisse erhält in Form der vorliegenden Dokumentation eine erweiterte, textgesicherte und erinnernd vertiefende Chance, insbesondere für die PraktikerInnen in den Kunstschulen. Sie, die Dokumentation, eröffnet die Möglichkeit von Aneignung, Reflexion und Kritik im Arbeitszusammenhang vor Ort. Der Anstrengung des Begriffs in den Vorträgen folgen die Übungen des Begreifens, Erkennens, Widerlegens mittels der eigenen Begrifflichkeit in der täglichen Übersetzungsarbeit für die kunst- und kulturpädagogische Praxis. Kulturelle Bildungsprozesse in den Kunstschulen werden dadurch identifizierbarer, planbarer und insbesondere unter Gesichtspunkten der Qualität verantwortbarer. Und vor allem: Die Professionalisierung der eigenen Arbeit erweitert sich um eine weitere Disposition zur Kritikfähigkeit und damit zur Standortbestimmung im Kontext der theoretisch hergestellten Bezüge zur aktuellen Bildungsdebatte. Der qualitativ nachhaltige Beitrag der Kunstschularbeit zur Verbesserung der Bildungsarbeit wird darüber hinaus den Fachwissenschaften an den Universitäten bei Lehrenden und Lernenden ebenso dokumentarisch verdeutlicht wie den engagiert für das Fach Kunst an den Schulen streitenden Kunstpädagogen.
Narciss Göbbel
Das Ausbildungs- und Berufsfeld Kunstschularbeit gewinnt dadurch an studienrelevanter Legitimation durch wissenschaftliche Anerkennung seiner Leistungen. Der Kooperationsfähigkeit der außerschulischen kulturellen Bildungsarbeit im System der Bildung wird daher mit dieser Dokumentation eine hoffentlich lang anhaltende Wissens- und Bewusstseinsbrücke gebaut. Mögen viele gleich Gesinnte sich beim Gang über die Brücke begegnen.
Dr. Narciss Göbbel Vorstandsvorsitzender des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen e. V.
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Sabine Fett, Torsten Meyer
bilden mit kunst Behauptung, Kongress, Buch, ... – eine Anleitung bilden mit kunst – impliziert eine Behauptung, nämlich die, dass die wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit Kunst bildende Wirkung habe. Für die Kunstschulen in Niedersachsen ist diese Behauptung Konzept: bilden mit kunst heißt das (2001 neu formulierte) »Konzept Kunstschule«. Es definiert das Selbstverständnis der Kunstschulen als kulturelle Einrichtungen, in denen Bildungsprozesse in Gang gesetzt werden mit, an, durch, über ... Kunst. bilden mit kunst – so auch (und demzufolge) der Titel des Kongresses vom 12. bis 14. Juni 2003 im Künstlerhaus in Hannover. Der Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen stellte mit dieser Veranstaltung die ästhetischkünstlerische Praxis in einen Kontext von Bildung, der zurzeit vor dem Hintergrund einer Marginalisierung des Kunstunterrichts im schulischen Curriculum zu sehen ist. Und das heißt, dass das Ästhetisch-Künstlerische an Bedeutung im Allgemeinbildungskanon verliert. Der Kongress bilden mit kunst behauptet dem gegenüber die Anerkennung eines erweiterten Bildungsbegriffs, der der informellen und nicht-formellen Aneignung von Wissen, Erfahrung und Kompetenz einen der formellen Bildung einen gleichwertigen Stellenwert einräumt und der nicht nur auf ökonomisch verwertbare »Outputs« abzielt. bilden mit kunst – ist auch einem weiteren Anlass des Kongresses unterstellt. Das Modellprojekt sense&cyber, durchgeführt an vier niedersächsischen Kunstschulen, fand seinen Abschluss im April 2003. Das Projekt, gefördert durch das Land Niedersachsen und den Bund, untersuchte im Rahmen des Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung über drei Jahre hinweg Konzepte, Methoden und Inhalte des Umgangs mit neuen Medientechnologien in der außerschulischen kulturellen Bildung.
Sabine Fett, Torsten Meyer
bilden mit kunst – auch als Frage nach Qualität, Relevanz und Wirksamkeit von Bildungsprozessen in Auseinandersetzungen mit Kunst verstanden – wurde in Vorträgen, Theorie-Praxis-Gesprächen und einer Podiumsdiskussion verhandelt: Der Kongress reflektierte die Bedingungen, Funktionen und Wirkungen ästhetisch-künstlerischer Bildung in ihrer Komplexität und Vieldimensionalität und unter Einbeziehung angrenzender und sich überschneidender Zugänge aus Kultur, Geschichte, Pädagogik, Politik und Wirtschaft. bilden mit kunst – die Komplexität der Zugänge zum Thema im performativen Rahmen des Kongresses verwirklicht sich noch einmal anders in der Konzeption der vorliegenden Veröffentlichung. Ein in Auftrag gegebener Vortrag fokussiert, wenn er gehalten wird, oft noch andere Aspekte als im Vorfeld der Kongressplanung gedacht und besprochen wurden. Außerdem: Ein Vortrag hört sich anders an, als sich seine Verschriftlichung liest. AutorInnen überarbeiten ihr Thema nach der Veranstaltung, nehmen die eine oder andere Differenzierung vor, formulieren vielleicht um ... usw. Unser Vorschlag, das Lesen zu strukturieren, trägt dem medialen Wechsel (Ohr/Auge) und seinen Folgen Rechnung und versucht in einer neuen Konstellation von sieben Untergliederungen, unabhängig von der Form des Veranstaltungssettings, inhaltliche Cluster zu bilden. Dennoch: Irgendwie hängt immer alles mit allem zusammen. Und es gibt immer Überschneidungen, die auch noch ganz andere Ordnungen denkbar werden lassen. Wir haben keine stringenten Abgrenzungen vorgenommen und in thematischen Überschriften festgezurrt, sondern lockere Reihen von »keywords« zur Förderung der Übersichtlichkeit eingestreut, über die die Leserin oder der Leser sich auch hinwegsetzen darf (was er oder sie sicherlich auch ohne diese ausdrückliche Erlaubnis tut). Sabine Fett Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen e. V. Torsten Meyer Universität Hamburg
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[keywords] Kunst Politik Säkularisierung EinBildungen Gedächtnis/-räume Kontexte
Bazon Brock
Kunst und ästhetische Bildung zwischen Kulturstaatsforderung und Säkularisierung* Säkularisierung Säkularisierung ist der Begriff, mit dem man seit dem 18. Jahrhundert auf der Ebene der Durchsetzung von Verfassungsstaaten die Trennung von Staat und Kirche bezeichnet, also eine Differenzierung auf den Ebenen von Staat und Gesellschaft, Gesellschaft und Gemeinschaft. Neben den erfolgreichen sind auch deren ungute Fortsetzungen über die linken und rechten totalitären Gesellschaften bis in die heutigen Kulturkämpfe bekannt. Säkularisierung ist auch bis heute mindestens der Hälfte der Welt noch nicht gelungen, denn die sakral-rechtlich organisierten Gesellschaften bestehen darauf, die Säkularisierung nicht zu akzeptieren. Seit Ajatollah Khomeini 1979 seine erneuten Versuche im Iran unternahm, ist das Thema auch für die ganze Welt von größerem Interesse. Aber obwohl die vor 200 Jahren mit der amerikanischen Verfassung von 1776 und allen weiteren in Frankreich und Europa festgeschriebenen Vorgaben der Säkularisierung – unabdingbare Voraussetzung für das Verständnis eines Verfassungsstaates und dessen Folgerungen gleichzeitig als Rechtsstaat, Sozialstaat und Kulturstaat – nicht für Jedermann evident sind, darf die daran geknüpfte und seit dem 18. Jahrhundert geforderte Säkularisierung im Hinblick auf die Trennung von Kultur und Staat bzw. sogar Gesellschaft und Kultur nicht in Frage gestellt werden. Würde die Säkularisierung im kulturellen Bereich nicht vollzogen, ergäben sich aus dem gegenwärtigen Verständnis der multikulturellen Gesellschaften unauflösbare Konflikte und Absurditäten – das wäre dann auch das Ende des Kulturstaats. Denn die Folge wäre, dass alle staatlichen und städtischen Kultureinrichtungen, wie zum Beispiel Museen, dem multikulturellen Selbstverständnis entsprechen müssten: Bei angenommenen 18 dominierenden Kulturgruppen in der Bundesrepublik würden demnach die 12 Monate der Bespielbarkeit einer Kunsthalle oder eines Museums durch 18 geteilt werden müssen, so dass jede kulturelle Entität 15 Tage lang in einem Museum ausstellen könnte, also vom 1. bis zum 15. Januar die Kurden, vom 16. Januar bis
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zum 4. Februar die hier lebenden Portugiesen etc. Man käme zu der Feststellung, dass ein Museum nicht mehr aufrechtzuerhalten wäre, da es unmöglich ist, innerhalb von 16 Tagen Ausstellungen auf- und abzubauen. Es wäre also undenkbar, unter den tatsächlichen praktikablen Vorstellungen von multikultureller Gesellschaft die Kulturinstitution Museum am Leben zu erhalten. Gleiches gilt auch für andere Bereiche, zum Beispiel Universitäten oder Altersheime. So verweist die Forderung der türkischen Community in Köln auf Unterhaltung von eigenständigen Altersheimen für Türken und Kurden, und zwar auf räumliche Distanz, so dass diese niemals die Chance hätten, sich irgendwo in der Innenstadt von Neuköln zu begegnen und Kulturkampf zu treiben. Kulturstaatsforderungen Jeder erhebt Kulturstaatsforderungen so, wie er es in den letzten 40 Nachkriegsjahren in der Bundesrepublik gewohnt war, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Der Kern der Problematik ist die scheinbar aus humanitären Gründen befürwortete Orientierung jeder Lebensgemeinschaft in einer Gesellschaft, die wiederum eine staatliche Verfassung an ihrer kulturellen Identität hat. Unter Verweis auf das Grundgesetz und die dort gewährten Religions-, Versammlungs-, Kulturfreiheiten etc. wurde es geradezu zu einer Pflicht, seine eigene kulturelle Identität als Angehöriger einer Minoritätenkultur öffentlich in den Rang einer Verfassungsforderung zu erheben. Zunächst mit guten Gründen akzeptiert, wurde nicht bedacht, welche Konsequenzen daraus schließlich für eine multikulturelle Gesellschaft entstehen würden, nämlich die vollkommene Dysfunktion aller eingespielten staatlich und kommunal organisierten kulturellen Institutionen. Säkularisierung im Hinblick auf Kultur Wie die Forderung nach der Säkularisierung im Hinblick auf die Trennung von Kirche und Staat ist im 18. Jahrhundert die Forderung nach der Säkularisierung der Kultur erhoben worden. Vier Aktivitätsfelder haben damals die Säkularisierung vollzogen: der Fernhandel, die Diplomatie, die Künste und die Wissenschaften. Kulturen Kulturen sind Beziehungsgeflechte zwischen Menschen, die durch Kommunikation zustande kommen und dem Aufbau von Erwartungen im Hinblick auf die Verbindlichkeit dienen, mit der die Erwartungen auch eingelöst wer-
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Kunst und ästhetische Bildung zwischen Kulturstaatsforderung und Säkularisierung
den. Das heißt, wenn ich zu einer Kultur gehöre, kann ich von deren Mitgliedern wissen, wie sie auf meine Aussagen, wie sie auf meine Propositionen reagieren werden, ich kann also mit ihrer Reaktion rechnen. So kann das Mitglied einer jugendlichen Mafia-Bande genau kalkulieren, wie alle anderen, die dazu gehören, sich verhalten und hat deswegen einen Vorteil gegenüber denjenigen, die nicht zu der Kultur gehören, also nicht antizipieren, nicht mit dem Verhalten der zu der Bande der Kultur Gehörenden rechnen können. Dieser Aufbau von Verbindlichkeit in den Erwartungen war das entscheidende Leistungskriterium, und darin sind alle Kulturen gleich leistungsfähig. Sie umfassen auch alle die gleichen Aufgabenstellungen, zum Beispiel die Entwicklung einer Kosmologie, die Entwicklung eines Herkunftsmythos, die Begründung von Selbstreflexion in der Anlage von Herrschaftsverhältnissen innerhalb eines Verbundes (Chefs, Priester etc.). Die Leistungsfähigkeit einer jeweiligen Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft war seit dem 18. Jahrhundert allgemein bekannt. Auf der Ebene des Vergleichs von Kulturen gibt es daher keine Möglichkeiten zu sagen, einige Kulturen seien leistungsfähiger als andere. Sie leisten, insoweit sie Kulturen sind, für ihre Mitglieder das Gleiche, indem sie den Herrschafts-, Gottes- und den Todesgedanken etc. beantworten müssen. Wissenschaft Seit dem 18. Jahrhundert ist es unmöglich, für seine Arbeit als Wissenschaftler kulturelle Legitimierung einzufordern, zu erbitten oder sich auf sie zu beziehen. Wer sich auf die Zugehörigkeit zu einer britischen Kultur im Hinblick auf die Tatsache beruft, dass er Chemiker ist, wird ausgelacht. Es gibt keine britische Chemie, es gibt eine Chemie, die auf die gleiche Weise von Menschen betrieben wird, die in Britannien, Argentinien wie in Süd- und Nordamerika leben oder in Malaysia bzw. in Polen ansässig sind. Wissenschaftsentwicklung war und ist gleichbedeutend mit vollständiger Abkopplung von kultureller Legitimität, da es kein Argument mit dem Hinweis auf eine kulturelle Identität für den Status oder die Arbeitsmöglichkeit als Wissenschaftler gibt. Fernhandel Gleiches galt für die Fernhändler. Über die eigenen Grenzen ihrer Lebensgemeinschaften hinweg Verbindungen aufrecht zu erhalten, war ihnen nicht gelungen. Wenn sie je Verbindungen im Namen ihrer kulturellen Identität
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aufrechterhalten hätten, wäre es nie zu einem Austausch zwischen Florenz und Nowgorod gekommen, zwischen denen fünf große kulturelle Grenzen zu überschreiten waren. Fernhändler konnten sich per se nicht mehr für ihre Aktivität auf kulturelle Identität, auf Zugehörigkeit zu einer Kultur berufen und auf die Regeln, die in diesen Kulturen galten. Die Künste Seit dem 18. Jahrhundert hatte man einen der bedeutendsten Beiträge zu der Säkularisierungsdebatte dadurch geliefert, dass man die Künste komplett aus den Kulturen ausklammerte. Seit dem 18. Jahrhundert gehören die Künste nicht zum kulturellen Ausdruck einer Gemeinschaft. Künste per se als moderne Kunst gibt es erst 600 Jahre in der Welt – es gab sie bei uns im Mittelalter nicht, in den römischen und griechischen Antiken nicht, und auch nicht in den restlichen Welten, weder in China noch in Japan oder Afrika. Seit 600 Jahren erst existiert dieses Phänomen, und es wird, wie Hegel und andere meinten, auch historisch begrenzt bleiben und nach kurzer Zeit wieder verschwinden. Die Ausklammerung der Künste aus der Kultur aber bedeutete den größten Entwicklungsschub für eben die Betätigung von Künstlerinnen und Künstlern und für das Verständnis von deren Rolle. Der Künstler Damit kommen wir zur Ausgangslage des Problems der Säkularisierung, sozusagen zur funktionalen Betrachtung. Was bringt es eigentlich ein, dass jemand sich nicht mehr in den Ansprüchen genügt, die er an andere stellt? Was für einen Nutzen hat es, wenn jemand vor andere hintritt und sagt, nicht weil ich jetzt hier als Repräsentant einer Kulturgemeinschaft, einer mächtigen, auch bewaffneten Macht stehe, weil ich Delegierter, Approbierter, Promovierter etc. bin und die Macht dadurch habe, Sie bei Weghören zu bestrafen oder bei Zuhören zu belohnen, müssen Sie mir zuhören? Sondern wenn ich sage, hinter mir steht nichts – bekanntes Diktum der Künstler des 18. Jahrhunderts: Hinter uns steht nichts, kein Volk, keine Partei, keine Gruppierung, keine Akademie, keine Kollegenschaft. Wir machen ein »Wunder« perfekt, dass uns jemand zuhört, obwohl wir nicht die Macht haben zu belohnen und zu bestrafen, und dass man unseren Aussagen in besonderer Weise Aufmerksamkeit schenkt, sei sie nun als Bild formuliert oder als Buch oder anders vorgetragen. Gerade weil wir nicht durch den Zwang definiert werden, Repräsentanten einer Gemeinschaft zu sein, welcher Ebene auch immer, und nicht vorführen müssen, dass wir schon ungeheure Erfolge hat-
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ten – Abverkauferfolge, Einschaltquoten etc. –, sondern weil wir schlicht und einfach aus der Tatsache heraus argumentieren, dass jeder andere, zu dem wir sprechen, in derselben Lage ist wie wir. Das heißt, der Künstler kann sich nicht als bloßer Repräsentant einer Gemeinschaft, einer Kultur oder einer Kollegenschaft definieren, sondern er muss jetzt und im Augenblick reagieren, in dem er in den sozialen Kontakt mit dem anderen tritt, so wie es ihm seine Möglichkeiten oder seine Fähigkeiten erlauben. Das war ein ungeheuerlicher Entwicklungsschritt. In der Kunst, in der Diplomatie und im Fernhandel, von dem man heute als globalisierter Ökonomie spricht, aber das Gleiche meint, ist die Säkularisierung in dieser Form vollzogen worden. Wie schon angedeutet, haben im Prinzip auch die Wissenschaften auf die Zugehörigkeit zu einer Kultur verzichtet, gleichwohl andere Bedingungen hinzukamen. Es war deshalb ein ungeheurer Schritt, weil sich plötzlich eine trennscharfe Definition für die Rolle des Künstlers ergab. Im Unterschied zu allen anderen sozialen Bereichen, aus denen heraus agiert wird und deren Repräsentanten sich immer in Bezug auf die Rollen bestimmen, die sie gerade spielen, als Abgeordnete, Delegierte etc., ist es für den Künstler bedeutungslos, was er macht. Einstein sagte, ich mache Mathematik und spiele Geige, beides ist für mich gleichermaßen künstlerischer Ausdruck. Völlig unabhängig davon, was er produziert, ist Künstler derjenige, der für seinen Aussagenanspruch keinerlei Begründung anführen will oder muss, um Aufmerksamkeit zu finden, der also seine Aussagen ausschließlich durch sich selbst begründet und vertritt. Eine typische Aussage: Ich stehe hier und sage. Nicht ich als Vertreter einer Kirche, einer mächtigen Investorengruppe, einer Partei, eines Kollegengremiums, mache ein State of the art, gerichtlich beglaubigt etc. Oder ich als jemand, der von einem Gremium promoviert und habilitiert wurde, habe die Autorität, jetzt im Namen eben derer, die mir diese Möglichkeiten geboten haben, mich zu integrieren. Einen Künstler, der sein Zeugnis hervorhebt – einen brillanten Abgang von der Akademie – und sagt, deswegen sollten meine Bilder angeschaut und als großartig befunden werden, wird jeder auslachen. Was immer der Künstler anführen würde zur Begründung seines Anspruchs »hersehen, hier ist etwas«, würde abgelehnt. Es sei denn, dass ein Mann, eine Frau, also ein Individuum einer bestimmten Zeit, den Anspruch erhebt, etwas ausschließlich aus der Tatsache heraus zu begründen, als Einzelner den Versuch zu machen, in Konkurrenz zu den großen Gremien und Gemein-
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schaften zu treten, die sich mit Weltinterpretationen, mit Erkenntnissen etc. auseinandersetzen. Die Frage ist nämlich, wieso kann ein Einzelner überhaupt noch etwas über das Ganze, dessen Bestandteil er ja ist, wissen und formulieren, und zwar so, dass es für alle anderen von Interesse ist. Die Tatsache, die dahinter steht, wurde lange Jahre euphemistisch fehlinterpretiert. ›Selbstverwirklichung‹ Man hat es als ein Privileg der Künstler angesehen, sich nicht autorisieren lassen zu müssen, sondern kraft eigener Fähigkeit, Kreativität etc. sprechen zu können. Es wurde als eine Art Selbstverwirklichungsprivileg von Individuen anerkannt, die völlig unabhängig von der Meinung anderer Gruppen, von Institutionen und vom Markt waren. Etwa das Selbstverwirklichungsprivileg der Bohème, der Dandys als typisches Beispiel aus dem späten 19. Jahrhundert. Die Vorstellungen, die man damit verband, haben sich so verselbstständigt, dass bis 1990 das Selbstverwirklichungsmodell sogar für alle sich nicht als Künstler verstehende Individuen unserer Zeitgenossenschaft vorbildlich für das gelungene Leben gewesen ist. Es ist sprichwörtlich, dass die Volkshochschulen auf die Nachfrage für ihr Angebot an Kursen die Antwort erhielten: Ich komme nur und nehme es nur wahr, wenn diese Tätigkeit mir bei meiner Selbstverwirklichung hilft. Die Entscheidung für ein Angebot basierte also auf der Entwicklung einer solchen individuellen Statur, sprich einer Persönlichkeit, die Autonomie und Freiheit als Unabhängigkeit repräsentiert, obwohl doch jedermann weiß, dass man nicht autonom ist. Menschen sind per Natur soziale Wesen, können also gar nicht autonom sein und schon gar nicht unabhängig. Denn wir merken doch, dass wir unser Leben nicht reproduzieren können, ohne in Abhängigkeiten von irgendwelchen auch noch so abstrakten Bedingungen zu stehen. Nichtsdestotrotz hat sich die Selbstverwirklichung als eine Art Leitbild aus dieser 18. Jahrhundert-Definition des Künstlers als einer, der ausschließlich durch sich selbst das legitimiert, was er sagt und macht, entwickelt. Mit dem Künstler ist die Sehnsucht nach Selbstverwirklichung dominantes Ziel aller kulturellen Aktivitäten wie auch jener geworden, die sich seit dem 18. Jahrhundert gar nicht mehr kulturell verstehen wollten. Letzteres war eine Art von volontaristischer Bemühtheit, Attitüden zu übernehmen, die bei den Künstlern so interessant zu sein schienen, dass die Öffentlichkeit in Gestalt von Feuilletons oder der Yellow Press darauf einging und die Merkwürdigkeiten und Allüren solcher Personen als interessanten Gegenstand des sozialen Klatsches ausstellten.
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Individualisierung In dem Maße, wie diese Entwicklung als bloßes Epiphänomen dargestellt wurde, war aus der Selbstverwirklichungs-Bohème, aus der angeblichen Autonomie und Freiheit von Individuen, mit ihrem Leben tun und lassen zu können, was sie wollten, schon längst – sozusagen als Effekt der verqueren Darstellung (sozialpsychologisch könnte man das gut begründen) – ein unabdingbarer Anspruch der Gesellschaft gegenüber den Individuen auf Individualisierung erhoben worden. Es herrschte Individualisierungszwang, ja Individualisierungsterror, soweit die Menschen gerade diesem Zwang auf Individualisierung, aus welchen Gründen auch immer, nicht nachkommen wollten oder konnten. Verantwortung Entsprechend dem Selbstverständnis eines Individuums in einem Rechtsstaat, Kulturstaat, Sozialstaat trifft der Einzelne Entscheidungen und übernimmt für deren Folgen die Verantwortung. Im Zuge der Entwicklung der Gesellschaften, vor allem unter dem Leitbild der Demokratie und mit den eigenen Ansprüchen als kulturell entfaltete Persönlichkeit und auf Wahrgenommenwerden als Individuum, zeitigt dieses Modell mitunter bizarre Folgen und Wirkungen, beispielsweise um sich ökonomischer Konsequenzen zu entziehen. Es gibt harte ökonomische Zwänge, die dafür Voraussetzung sind, dass dieses ursprünglich einmal als Leitbild einer kleinen Sondergruppe von Staatengründern, Religionsstiftern, Künstlern etc. entwickelte Modell, fälschlich als Selbstverwirklichung bezeichnet, bekannt gemacht worden ist und für die gesamte westlich entfaltete Industriegesellschaft verbindlich wurde. Damit ist das Interesse von jedermann an den Künstlern, die per definitionem alles, was sie tun und sagen, durch sich selbst begründen, schlagartig gestiegen. Denn woher sollte ein normaler Zeitgenosse ein Beispiel dafür nehmen können, wie man gegenüber den Zumutungen des Lebens seinen Anspruch auf Individualität, auf Persönlichkeitsentfaltung, darauf als Einzelner ernst genommen zu werden in der Massengesellschaft formuliert? Woher sollte er die Beispiele nehmen, wenn nicht aus dem Bereich der Kunst? Mit anderen Worten, die seit ungefähr 20 Jahren enorm gewachsene Orientierung der Alltagsmenschen auf die Sozialcharaktere der Künstler liegt unter anderem darin begründet, dass man sich ein Vorbild dafür verspricht, wie man den Anforderungen auf Individualisierung gewachsen sein kann, wie
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man als einzelnes kleines Menschchen gegenüber den jeden Tag beschworenen großen Sachzusammenhängen und -zwängen, den evolutionären und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und der dauernd beschworenen Schicksalsmächtigkeit psychisch und faktisch bestehen kann. Und darauf eben nicht mit einer Depression, nicht mit einem Zusammenbruch seines Selbstwertgefühls zu antworten und sich Hals über Kopf wieder einem totalitären Regime zu überantworten, sondern tatsächlich die gewünschte Aufgabe auch zu übernehmen. Anders gesagt, wir erleben jetzt, dass durch die Säkularisierung, die Trennung der Kultur vom Staat, die durch die Multikulturalität erzwungen wird, weil multikulturell organisierte Gesellschaften die kulturellen Institutionen nicht mehr aufrechterhalten können, der Individualisierungszwang gegenüber jedermann verstärkt wird. Und dass jedermann sich an denen orientiert, die von ihrer Rolle, von ihrem Selbstverständnis her diese Position entwickelt haben, nämlich den Künstlern. Er wird versuchen – mehr oder weniger ist das im Alltag nachvollziehbar –, die Vorgaben der Künstler für eine Orientierung auf das, was man nicht kann, in einer Weise produktiv zu machen, die wir dann für kulturell wertvoll halten können. ›Ohne Leitbild‹ Das hat enorme Konsequenzen. Will man heute auf der Ebene einer Volkshochschule, geschweige denn der Universitäten, den Nachfragen der Teilnehmer der Kurse begegnen, muss man sich auf das Beispiel der Künstler berufen – es gibt kein besseres. Die Politiker als Leitbild, Ärzte und andere, die zwar in den sozialstatistischen Hierarchieabbildungen vorkommen, versagen dagegen. Für deren immer häufiger beschworene Formulierung und Einsicht »Es tut uns leid, da können wir nichts machen«, brauchen wir keine Machtrollenprätention, da bräuchten wir höchstens das Beispiel der bekannten Ohnmacht. Und wo ist die Definition der Typologie der Ohnmacht als Haltung des Unterlassens, als Tat etc. entwickelt worden? In der Kunst. Problematisierung Jedes Kunstwerk, das seit 100 Jahren produziert wird, stellt die Frage, wieso kommt jemand auf die Idee, dass es Kunst sein könnte. Mit anderen Worten, das Artefakt bietet eine Vorgabe der Problematisierung, die für die Gesellschaft wichtig ist und auf die sie natürlich normalerweise durch Ideologisierung, theologische oder kulturelle Antworten fundamentalistischen Typs zu-
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rückgreift und damit wirklichkeitsuntauglich wird, die Wirklichkeiten verleugnet. Die Wirklichkeiten bestehen für Menschen, auch angesichts der scheinbar harmlosesten Natur, in einer klimatischen Breite, als den angenehmsten Zustand des irdischen Daseins, ausschließlich aus Problemen, etwas Anderes kennen sie nicht. Es gibt keine andere Möglichkeit, ihr Weltverhältnis zu definieren, außer in seiner Problematik: Woher bekommen sie etwas zu essen und zu trinken, wo erhalten sie sozialen Schutz oder Schutz vor anderen, wie organisieren sie sich überhaupt, auf welche Weise bieten sich für sie Möglichkeiten der Gesellung mit anderen? Wo immer der Mensch hinschaut, besteht sein Leben aus der Fähigkeit, etwas vermeintlich Selbstverständliches zu problematisieren. Spätestens mit dem Augenblick der Pubertät oder der Beendigung der Schulausbildung muss man das Leben unabhängig von der Anleitung der Eltern und deren Mitteln zu Wege bringen. Unlösbarkeit von Problemen Die künstlerische Arbeit im Konkreten entwickelt sich ja ausschließlich an der Fähigkeit Einzelner, die sie immer als eine Form von Unvermögen, von Nichtkönnen, von bezweifelbarer Fähigkeit darzustellen vermögen. Alle Auseinandersetzungen des Künstlers mit sich in Gestalt des Herstellens von Artefakten ist die Entwicklung einer Problemstellung, die nicht gelöst werden kann. Das heißt, die Künstler waren die Ersten – und das machte ihre Rolle vor 600 Jahren so bedeutend –, die die gesamte Orientierung auf die Welt ausschließlich unter Anerkennung – darin waren sie gute Christenmenschen – der kollektiven individuellen Unfähigkeit von Menschen auf dieser Erde anerkannten, nicht mit Problemen durch ihre Lösung fertig zu werden, sondern mit Problemen fertig zu werden, indem sie sie als prinzipiell unlösbare (wie das Todesproblem, das Ewigkeitsproblem etc.) anerkannten und dann lernten, mit diesen prinzipiell unlösbaren Problemen umzugehen. Spezialisierung – Dilettantismus Moderne Gesellschaften sind, in dem Maße, wie jeder nur noch für andere zählt, indem er sich als Spezialist auf einen kleinen Bereich und dann wieder in weitere Untergliederung ausweist, durch Arbeitsteiligkeit gekennzeichnet. Es reicht nicht mehr, ein Spezialist als Mediziner zu sein, sei es als Nephrologe und unter Nephrologen wieder derjenige, der sich speziell auf die Nebennieren und darin wieder speziell auf die Semipermeabilität der Zellwände ausrichtet. Es reicht in der Hinsicht nicht, dass man sagt, hierin bin ich kompetent, denn es ist schlechterdings unmöglich, sein Leben unter dieser Vor-
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gabe zu bestreiten. Je mehr Spezialisierung uns die Gesellschaft abverlangt, damit wir überhaupt noch mitspielen, desto größer wird auch der Anteil des universalen Dilettantismus, der dafür verantwortlich ist, wie wir unser Gesellschaftsleben einrichten. Das heißt, im Rahmen der Spezialisierung lässt sich kein Entscheidungsprozess in einer entfalteten Demokratie, auch nicht durch Experten oder Fachleute, steuern. Das ist prinzipiell unmöglich, denn jeder nimmt nur in dem Maße teil, wie er auf eine Urteilsfähigkeit, eine Entscheidungs- oder kognitive Kompetenz zurückgreift, die sich gerade nicht durch seine Spezialisierung ergibt. Die Frage ist, wie kann eine Gesellschaft sich überhaupt noch steuern, wie sind überhaupt noch Entscheidungen in bestimmten Konsequenzen denkbar, wenn jede Entscheidung eigentlich und notwendigerweise nur von dem kollektiven Unverstand getragen werden kann. Wir verstehen von der Welt null Prozent, soweit sie etwa Nebennierenrinden-Aktivitäten eines bestimmten Typs betrifft. Wenn wir das aber nicht leisten, spielen wir schon gar keine Rolle mehr, haben wir keinen Beruf mehr. Außer dem Künstler, denn das ist der Universaldilettant schlechthin, insofern er nicht mehr auf bestimmte Problemlösungen spezialisiert ist, sondern generell – und daher universal – auf die Darstellung der Unmöglichkeit, einem solchen Anspruch wie, dies ist ein Kunstwerk, dies ist harmonische Vollkommenheit, zu antworten. Kunst als Darstellung unlösbarer Probleme Die Künstler sind durch ihre Bereitschaft, nicht auf ihrer Lösungskompetenz zu bestehen, Hokuspokus zu betreiben, zu diesen Spezialisten als ArtefakteHersteller geworden. Und nicht, weil sie sagen, nun ist die Welt in Ordnung, nun haben wir ein Sozialwesen ganz eigener Dignität geschaffen, wie etwa eine Rathausplatzgestaltung oder etwas Ähnliches. Sondern sie stellen gerade die prinzipielle Unlösbarkeit der großen Probleme – und ein Problem ist nur dann groß, wenn es nicht lösbar ist – in der Bedeutung für die Menschen dar, wodurch jedes Kunstwerk, jedes große Kunstwerk zumindest, eine Darstellung eines unlösbaren Problems ist. So dass also ein Meister wie Raffael, der um 1517 Probleme formuliert, durch einen anderen, der 20 bis 30 Jahre später zu Hochform aufläuft, wie Michelangelo, in der Lösung dieser Probleme nicht übertroffen werden kann. Stattdessen artikuliert der neue Meister in seiner Fähigkeit seinerseits Probleme, die durch keinen Nachfolger geklärt werden können, damit dann schließlich zum Ende des Jahrhunderts ein Mann wie Caravaggio seine Großartigkeit darin behauptet, dass er seinerseits
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Problemstellungen formuliert, die von niemandem im Bereich des Malens, des Architekturentwurfs etc. lösbar sind. Mit anderen Worten, es gibt keinen Fortschritt der Entwicklung und Fähigkeit, etwas immer besser, perfekter zu tun, sondern jeder Schritt in der Kunst ist gleich unmittelbar zur Gegenwart, die die Gegenwart der Menschen ist und die geprägt wird durch das allgemeine Empfinden der Ohnmacht der Menschen vor etwa den Gewalten der Natur (das war damals ein stehender Ausdruck). Niemand konnte durch Regenmacherzauber glauben, man bekomme die Kräfte der Natur in den Griff. Man konnte die Götter nicht beschwören, schon gar nicht den Christengott oder den Judengott, indem man ihm Schlachtopfer bot – das hatte sich längst als überholt herausgestellt. Man konnte nur noch auf der Ebene bestehen, dass man sagte, die Erhabenheit des menschlichen Geistes angesichts der Ungeheuerlichkeit prinzipiell unmöglicher Lösungen für Probleme, oder auch vorweg noch des prinzipiellen Unverständnisses gegenüber den Fragen der evolutionären Entwicklung, besteht darin, dies auszuhalten. Und die Ausgehaltenheit der Probleme sind die Kunstwerke, jedes Kunstwerk ist die Formulierung eines Problems. Könnte jemand es lösen, käme der Nächste, der es als gelöstes Problem interessanter darstellt, und man würde nie wieder auf die Bilder, die Skulpturen gucken müssen, die vorher gemalt oder dargestellt wurden. Aber in der Bildenden Kunst gilt, mit einer unglaublichen Gegenwärtigkeit der Probleme des 15. oder 16. Jahrhunderts, eine Bestätigung unserer eigenen heutigen Fähigkeit darin zu sehen, die Zumutungen der Welt in einem solchen Zusammenhang als Kunstwerke zu profilieren. Lehrbarkeit von Kunst Wenn zum Beispiel der Kunsterzieher seinem Schüler sagt, »jetzt bist du ein kleiner Könner oder zunächst ein Nicht-Könner, und nun bilde ich dich aus, damit du ein kleiner Könner, dann langsam ein Geselle des Metiers und dann ein Meister wirst, so dass dich dann alle schätzen werden, weil du eine Blume oder einen Ochsen darstellen kannst«, wird er bei dem Schüler keinen Eindruck hinterlassen. Wenn er aber dem Schüler sagt, dass er im Unterschied zu dem, was ein Fotograf, die Tagespresse oder das Medium Fernsehen etc. vorgibt, mit seinen Äußerungen zeigen kann, dass dahinter Probleme stecken, die keineswegs mit der Perfektibilität der Konturlinien und der Ausfüllung der Freiflächen durch malerische Valeurs zu lösen sind, sondern die prinzipiell dem menschlichen Dasein eigen sind, in welcher Dimension –
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einer theologisch bedeutsamen oder kulturell gewichteten Position – auch immer, dann wird der Kunstpädagoge die Aufmerksamkeit seines Schülers erhalten. Insbesondere dann, wenn es sich um einen Jugendlichen handelt, der gerade an der Fähigkeit zur Problematisierung, noch der selbstverständlichsten, sein regstes Interesse findet. Die Voraussetzung dafür, wie man das macht, wie man aus der Problematisierung seines Weltverhältnisses etwas kulturell Wertvolles, etwas erkenntnisbegrifflich Bedeutsames, philosophisch Interessantes macht, liegt in der Kunst. Die Kunst ist eine einzige lange Kette der Formulierung von Problemen, die man mit keiner meisterlichen Perfektibilität durch noch so viele Jahre Farben anrühren und akademischer Trainingsanleitung je bewältigen wird. Das Kennzeichen der Kunst ist immer, dass ihre Positionen als bedeutende außerhalb der Möglichkeiten bestehen, die durch spätere nachfolgende und damit bessere und größere Leistungen nicht aufgehoben werden. Zwar hat es das in der Kultur natürlich auch gegeben, und zwar anfangs der Kunstgeschichte, die erst 1819 begründet worden ist. Damals um die Mitte des 19. Jahrhunderts haben die ersten Theoretiker noch gedacht, romanische Skulpturen seien typische Zeugnisse für eine kollektive Unfähigkeit, eine frei stehende Figur zu formulieren, da die Bildhauer keine Ahnungen von den griechischen und römischen Überlieferungen hatten. Die romanische Skulptur war also nur ein Vorgriff auf die Fähigkeit, in der Gotik dann endlich eine frei stehende Nischenfigur zu entwickeln. Deshalb glaubte man also, die Romanik nur als eine Vorform der Entwicklung von Könnerschaft oder von Nicht-Könnerschaft zur Könnerschaft zu sehen. Man bewertete es als ein Unglück in der Menschheitsentwicklung oder, wenn es germanisch gedacht wurde, als Neubeginn nach der Völkerwanderung. Es hatte seine Bedeutung nur im Hinblick auf das später Nachfolgende. Diese Auffassung gibt es heute nicht mehr auf der Welt. In der Kulturgeschichte findet sich nirgendwo, dass ein Artefakt oder Artefakt-Serien aus irgendwelchen Epochen als bloße Vorgänger möglicher späterer Entwicklungen gelten, sondern die Kunstwerke haben ein eigenes Recht und sind durch keine späteren einholbar.
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Kunstschulen Im Rahmen der Praktikabilität solcher Säkularisierungsvorstellungen im Bereich der Kultur scheinen privat betriebene Kunstschulen wirkliche Vorgriffe auf das zu sein, was mit einer erzwungenen und schließlich auch unabwendbaren Säkularisierung der Kultur zu Tage treten wird. Anstatt sich an den institutionalisierten Formen der Kulturförderung zu orientieren, sollte längst der Anspruch erhoben worden sein, die Avantgarde der säkularisierten Kulturentwicklung zu sein. Das bedeutet auch, vor allem im Hinblick auf Förderungen, sich von dem Mechanismus des Fälschens zu befreien. Denn jeder, der im Bereich der Wissenschaft und Kultur heute Anträge stellt, muss bereits bei Antragstellung behaupten, er hätte etwas Wesentliches getan, was er nur noch tun müsste, wenn er das Geld bekäme. Wenn aber alles längst erkannt ist, was er denn mit dem Geld erkennen will, dann braucht er ja gar nicht mehr zu forschen. Gemäß der berühmten Frage, warum muss man auf den Mond fliegen, wenn die Totalsimulation die Mondfahrt erst ermöglicht. Denn wenn die Totalsimulation auf Erden möglich ist, kann man sich die Kosten für die reale Mondfahrt sparen. Das ist ein typisches Beispiel für Säkularisierungsproblematiken. Betreiber privater Kunstschulen sollten also angesichts dessen, was allen anderen später abverlangt werden wird, ihr Bewusstsein stärken. Das heißt, Angriff von Seiten der Gesellungsformen künstlerisch kooperierender Leute gegen die immer noch erzwungene kulturelle Institutionalisierung und Kulturstaatsforderung, die dazu führt, dass Theaterdirektoren, Institutsleiter, Ordinarien etc. ihre eigenen Positionen in dem Maße für geheiligt halten, in dem sie sie als kulturell legitimieren. Das Einnehmen einer derartigen Position schließt auch die offensive Betonung der Leistungsfähigkeit ein, unter völlig reduzierten, nicht mal low-, sondern no-budget-Bedingungen zu produzieren. Es ist ja unvermeidlich, mit 28 Millionen in einem Theater ein Stück auf die Bühne zu bringen. Dagegen steht, etwas unter no-budget-Konditionen vorzutragen, dass es, wenn auch nur von ein paar Menschen angesehen wird, ohne dass ihnen weder Belohnung noch Strafe in Aussicht gestellt worden ist. Weil es beispielhaft ist und interessant ist zu erfahren, wie die Macher aus ihrer Ohnmacht, aus ihrer Unfähigkeit oder Beschränktheit heraus, das zu Sehende erreichen. Denn nicht nur die Aktiven, auch die Betrachter, erfahren doch jeden Tag ihre Beschränktheit und Mängel, und Letztere wollen von
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anderen Menschen wissen, wie sie damit bei sich selbst umgehen und nicht, wie sie sich außerhalb dieser Bedingungen stellen. Das gesamte kulturelle Selbstverständnis in der Einheit von Kultur-, Sozialund Rechtsstaat muss aufgelöst werden. Im sozialstaatlichen Bereich geschieht es aktuell bereits. Rechtsstaat, Sozialstaat, Staatlichkeit prinzipiell, Verwaltungsfähigkeit finden nur noch unter Anerkennung unlösbarer Probleme statt. Ausschließlich im Kulturbereich glaubt man, sich immer noch verstärkt absichern zu müssen auf dieses uralte Kulturstaatsmodell. In Zukunft werden Menschen nichts mehr gemeinsam haben, das bisher ihr Selbstverständnis bestimmte, wie etwa gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Kultur, zu einer Religion, zu einer Sprachgemeinschaft etc. Wenn Menschen in Zukunft etwas gemeinsam haben, sich also mit Gründen aufeinander einlassen, dann ist es die Fähigkeit, sich gemeinsam auf Probleme einzulassen, die aber für keinen lösbar sein werden. So werden zum Beispiel theologisch interessierte Menschen nicht mehr an den Bekenntnissen von Glaubensgemeinschaften, sondern an der Gottesfrage interessiert sein, aber unter dem Gesichtspunkt, dass der Glaube prinzipiell ein nicht lösbares Problem für die Menschen darstellt. Also gilt es, sich für die Fähigkeit zu rüsten, sich gemeinsam auf etwas einzulassen, das sich als ungeheuerliche Zumutung für alle Menschen mehr oder weniger durchsetzen wird, nämlich die Abdankung an die Allmachtsfantasien, die bisher das westliche Modell beherrschten. Was auch immer man herausgreift, die Probleme nehmen zu, das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns auch in zehn Jahren noch über ökonomische und ökologische Probleme hinwegtäuschen können, wird sehr gering sein – außer im Kulturbereich. Um so wichtiger ist es daher, dass es bereits Gemeinschaften gibt, die das Unmögliche antizipieren – wie eben die Kunstschulen.
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Überarbeitete Fassung des Vortrags, gehalten am 12. Juni 2003 auf dem Kongress bilden mit kunst des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen im Künstlerhaus in Hannover.
Karl-Josef Pazzini Hamburg, den 26. Oktober 2003
Kunst und Bildung. Lösungen für Ich-starke Persönlichkeiten1 Als ich den Titel für den heutigen Vortrag vorschlug, wusste ich noch kaum, was ich vorzutragen beabsichtige. Ich schrieb ein Abstract. Und als ich es dann wieder las, wusste ich nur andeutungsweise, welche Einbildungen dem Schreiben zugrunde gelegen hatten, was ich mir vorgestellt hatte zu sagen. Es kamen soeben verschiedene Ichs zu Wort. Schon ist das eine aufgelöst.
Nick Waplington, Biennale Venedig 2001
Krieg Als ich begann zu schreiben, lautete das dann so: Ichstärke hat Kosten und Folgen. Wir leben wie immer in einer Zeit von Kriegen. Vor kurzem war einer davon in Form des Irakkrieges deutlich wahrnehmbar. Hierzulande wird der Krieg anders geführt. Er findet seinen Ausdruck im Angriff auf die nachwachsende Generation, in der Verschärfung des Grabens zwischen »arm« und »reich«, in der Rationalisierung, also in der Unterwerfung von Relationen zwischen Menschen und in Raum und Zeit in geschlossene kausale, teleologische Ketten, ferner in dem Versuch das Zufällige auszuschalten, das nicht Zweckmäßige zu meiden, schlank zu produzieren und zu sein. Das, was in unseren Breiten früher Kriege bewirkten, wird gegenwärtig z. T. durch Sparen, Rationalisierung, immerhin weniger blutig, aber nicht ohne Grausamkeit inszeniert und exekutiert. Dabei geht es nicht um eine Klage darüber, dass weniger Ressourcen zur Verfügung zu stehen scheinen, sondern um eine Kritik an den Kriterien und den bürokratischen Folgen, mit denen das Sparen betrieben wird. Dabei passieren die Fehler, die passieren müssen, wenn man von der Vorstellung ausgeht, man könne unmittelbar eins werden mit der Vorstellung,
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die man sich von sich und der Welt macht, wenn man die richtigen Mittel wählt: Es kommt also zu Kollateralschäden, denn das Zentrum ist nicht zu treffen, weil dort nichts ist. Einfacher ausgedrückt: Man schießt systematisch daneben. Das ist aber kein Fehler, der zu vermeiden wäre, sondern ist den Denk- und HandMcGee, Barry; Powers, Stephen; Janes, Todd: Street lungsformen inhärent, wenn man die in der Einbildung Market (2000) (Detail), geronnenen Bilder, die nur Zwischenstation sein könBiennale Venedig 2001 nen, als fest umrissene Entitäten nimmt. Ein solches Bild ist das vom autonomen, starken Ich. Gesprochene Wörter kann man nicht abschießen. Nur denjenigen, der sie spricht, oder denjenigen, an den sie adressiert sind. Solche Wörter, aber auch Bilder im Flug, nicht einmal moving targets, konstituieren aber Nick Waplington, Biennale Venedig 2001 das, was als Ablagerungsstätte von Identifikationen das Ich genannt werden kann. Je mehr Einbildungen dort abgelagert werden, umso stärker erscheint es, wie wir schon aus den Wildwestfilmen und deren Parodien, den Italowestern wissen. Solche Ichformen sind nicht mehr zu einer Logik der Konfrontation als Auseinandersetzung fähig, sondern agieren in der Logik der Rache, deren Anlässe konstruiert werden, deren scheinbare Notwendigkeit dadurch heraufbeschworen wurde, dass viele autonome und starke Ichs fundamentale Relationen aus Blindheit zerstört haben, Chaos produziert haben, in dem sich jeder nur noch bedroht fühlen kann. Starke Ichs sind gute Ziele von und Zentren für Rationalisierung – im ökonomischen (etwa als Ich-AG) wie im psychologischen Sinn. Die Deregulierung, also die unbedachte Abschaffung, die das Symbolische nicht respektierende Umwandlung von Beziehungen, hat nur noch ein paar wenige orientierende Signifikanten, die aber durch fehlende Einbindung in hierarchisierte, relationale, kulturelle Bezugsebenen gänzlich entleert und isoliert worden sind. Das Geld, resp. das Kapital können so nur noch die eine Seite ihrer befreienden und entbindenden Potenz entfalten, die darin besteht, eine Logik der Akkumulation und der Beherrschung seiner Ströme zu exekutieren. Aber gerade wegen ihrer Einseitigkeit wird sie nicht gelingen. Die entfaltende Kraft bricht zusammen in der Form des puren Machterhalts. Dazu wird rationalisiert, als etwas mit Gründen versehen, was abgründig ist. Das kann man auch als fundamentalistisches Denken bezeichnen.
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Diese imperiale Tendenz zur Bemächtigung ist eingeschrieben nicht nur im Konzept der Nation, sondern auch in Vorstellungen vom Individuum, vom Subjekt, am deutlichsten in der Version des autonomen, starken Ich. Mit solchen Vorstellungen haben wir als Pädagogen zu tun, hier werden wir politisch, auch ohne professionelle Politiker zu sein.2 Wahrnehmbarkeit Die Entwicklung der Aufklärung verlangt Pädagogen gegenwärtig ab, anders über ihr Wissen zu denken, andere Abgrenzungen von dem, was wahnhaft sein kann, zu versuchen und damit auch unser Konzept von Institution und von Grenzen zu ändern, von Einkleidung, Investitur und Investition. Bildung zu fördern, heißt dann, dafür zu sorgen, dass Grenzen, Funktionen, durch die Grenzen generiert werden, Relationen, die im Prinzip der Wahrnehmung nicht zugänglich sind, symbolisch das Niveau des Wahrnehmbaren erreichen. Es geht um die Generierung von Stützen in der Wahrnehmung, das Aushalten von nicht Fassbarem, nicht Vorstellbarem. Es geht um Respekt vor der Gabe des Symbolischen, um dessen Inszenierung. Also gilt es, die Frage nach der Einkleidung zu stellen, nach den Erscheinungsweisen von Konzepten, die ein soziales Band generieren helfen, das unter Menschen natürlicherweise, im Sinne von »von selbst«, nicht existiert. Nicht einmal sexuelle Beziehungen funktionieren von selbst oder natürlich. Natürlich ist auch nicht ein friedlicher Umgang miteinander, dieser selbst muss aggressiv und in Kultivierung von Aggressivität erst hergestellt werden. Dazu reicht öffentlich auf Italienisch annoncierte Friedensliebe nicht, »pace«, weil »peace« amerikanisch klingt und außerdem so aggressiv. Es steht an, Aggressivität so weiterzuentwickeln, dass sie es erlaubt, Zusammenhang so herzustellen, dass Ausund Einschlussmechanismen transparent und bestreitbar werden, so dass die Generationenfolge nicht abreißt.
aus: Weibel, Peter (Hg.): Phantom der Lust. Visionen des Masochismus in der Kunst. Neue Galerie Graz an Landesmuseum Joanneum, München: belleville Verlag Michael Farin 2003
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In der Regel müssen dazu, wenn vielleicht auch bald nicht mehr, zwei Menschen unterschiedlichen biologischen Geschlechts kopulieren und, was noch schwieriger ist, unterschiedliche und andere symbolische Plätze als vorher einnehmen. Es geht um die Schwierigkeit, eine Autonomie zu denken und zu leben, die in der individuellen Isolation nicht lebbar ist. Autonomie ist nicht Errungenschaft, sondern Schicksal des aufgeklärten Menschen, der erkennt, dass niemand da ist, der ihm die Gesetze gemäß eigener Machtvollkommenheit gibt, sondern dass alle daran mitwirken, auch die Abwesenden, die Toten, und sich in diesem Prozess der Gesetzgebung vorfinden. Es gilt also eine Autonomie anzustreben, die nicht zur Unfruchtbarkeit und Zerstörung des von uns nicht Beherrschten führt. In diesem Prozess braucht es Stützen im Symbolischen, die in ihrer Komplexität der komplizierten Aufgabe angemessen sind, so dass das Imaginäre beispielt und ein Fundament im Realen sich vermuten lässt. Hier hätte also eine pädagogische Befassung mit Kunst eine anspruchsvolle Aufgabe. Ichstark Die Rede von der Ichstärke, entwickelt vor allem im Exil der Psychoanalyse vorwiegend im kulturellen Umfeld der USA, ist ein gefährliches Konzept, das es zu reformulieren gilt. Die ichstarke Persönlichkeit hat große Ähnlichkeit mit der Idee der Nation im Kleinen. Stärke kann in beiden Seiten, dem Individuum und der Nation, nur in dem Grad der Auflösung von Befestigungen in Beziehungen realisiert werden. Gerade das Gegenteil ist in der Geschichte Europas immer wieder inszeniert worden. Auch jetzt müssen die kleinsten staatlichen Gebilde auf dem Balkan erst einmal zur Nation werden, damit diese im Rahmen der EU wieder abgeschafft werden können. Kaum jemand hat untersucht, ob deren fehlende nationalstaatliche Identität ein Mehr gegenüber der veralteten Idee nationaler Identität ist. Dass diese Formen gewaltsam im Bürgergkrieg explodierten, kann auch ein Effekt des Aufeinanderprallens mit den nationalstaatlich soliden europäischen, ehemals sowjetischen und nordamerikanischen Staaten gewesen sein. Ichstarke Persönlichkeiten aufzubauen, das ist ein Ziel der Pädagogik seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Eigentlich – so hat man den Eindruck – schon immer. Aber das stimmt nicht.
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Nicht Ich-starke Bildung Bildung ging nie von der Ichstärke aus oder wollte sie erzielen. In Rahmen von Bildungskonzepten ist die Rede von Subjekten und deren Autonomie. Das Subjekt ist aber das, was sich unterlegt, was unterlegt ist, die Basis bildet, was unterlegen ist, was unterworfen ist. Alles das. Das Subjekt bezeichnet eine Kluft, einen Hiatus, eine Differenz, bzw. das Subjekt »ist« eine Kluft.3 Der Mensch versucht Zugang zu finden zum Ding an sich, zur absoluten Wahrheit, zur Unmittelbarkeit. Das, was der Mensch wahrnehmen kann, ist aber phänomenal, also nur in dem Bereich auffindbar, der in Erscheinung tritt. Dass etwas unzugänglich bleibt, lässt eine Sphäre entstehen, die zwischen dem liegt, was erscheint (phänomenal ist) und dem, was unzugänglich ist (noumenal aus: Weibel, a. a. O. ist). In dieser Kluft konstituiert sich als Relation das Subjekt. Ein so verstandenes Subjekt ist jeweils ein Akt, der immer wieder verschwindende Vermittler.4 Eine Erscheinungsform desselben ist der Lehrer, der, wenn er sich für den hält, der alles Relevante weiß und über alle relevanten Fertigkeiten verfügt, in der Tat dann ein »verkommenes Subjekt« ist. Als verschwindender Vermittler hat er die Funktion, die Übertragung immer wieder aufzulösen, er ist der wahre Störer, stört er zu wenig, müssen das die Schüler tun. Eine andere Erscheinungsform ist das Ich, das, wenn es sich für stark hält, nur ein Clown oder ein Terrorist sein kann. Hält das Subjekt sich aber jenseits dieser Alternative – Terrorist oder Clown – in Form eines starken Ichs für autonom, dann ist es tendenziell als wahnsinnig zu bezeichnen. Das ist nun der Normalfall. Deshalb ist die entscheidende Aufgabe des Subjekts (aber auch der Nation), sich aus der Stärke und Gewissheit der Isolation in Beziehungen symbolischer Art hinauszuarbeiten, Beziehungen, die an der Stelle der Festungen entstehen, die aus der imaginären Vollkommenheit des Bildes von sich selber, des Ichs, resultieren.5 Eine Vorstellung und Förderung des starken Ichs steht dem im Wege. Denn das Ich ist eine Einbildung. Wenn jemand sagt: »Ich denke, dass es sich so und so verhält ...«, dann kann man gewiss sein, dass nun Einbildungen fol-
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gen, mitgeteilt werden, und erst in dieser Mitteilung lösen sich diese Einbildungen partiell auf, wenn das Individuum, das redet, sich nicht unbedingt nur Gleichgesinnte sucht, die dann antworten: »Genau!«. Pädagogen wird in der Folge der Rationalisierungsbestrebungen nahe gebracht, die eigenen Einbildungen besonders treffend zu machen. Garantie dafür ist eine verkürzte Wissenschaftlichkeit auf einer eingeschränkt empirischen Basis. Sie werden angehalten, dafür zu sorgen, dass die geäußerten Einbildungen genau so ankommen, wie sie gemeint waren (Evaluationsdruck). Wissen wird dabei wie eine Substanz gedacht, die man verabreichen kann. Modell Mathematik
»Ich will die Bonbons!«
Werbespot Zazoo, vgl. www.zazoo.be (Juni 2003)
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Die Fachlehrer, die am weitesten von dieser Vorführung von Einbildungen entfernt sind, sind dementsprechend auch die am besten gehassten, die Mathematiklehrer. Sie verbreiten ein abstrakt konstruiertes Sprachsystem, dessen Rezeption gerade daran scheitert, dass es Einbildungen zum Scheitern bringt. Mathematik ist die reinste sprachliche Konstruktion, die die menschliche Kommunikation hervorgebracht hat. Deshalb wird sie auch oft so falsch gelehrt, als sei sie das Natürlichste von der Welt, als könne man sie eigentlich, wenn man bei klarem Bewusstsein sei, bestens nachvollziehen. Sie aber produziert am ehesten das, was man ein Subjekt nennt. Wenn man sich den Axiomen und Regeln, die oft den Einbildungen der Anschauungen widersprechen, nicht unterwirft, nicht anfängt, mit den Elementen, Regeln und Mengen zu spielen, dann zerschellen die Einbildungen ganz schnell. Frust ist das Resultat. Bildung scheitert. Die Herausforderungen der Kunst sind strukturell denen der Mathematik ganz ähnlich. Allerdings scheinen die Axiome, die Regeln der Kunst sinnlich, selbst in der Konzeptkunst. Im Unterschied zur Mathematik reflektiert die Kunst, was die Mathematik wegen der geforderten Schlüssigkeit, Widerspruchsfreiheit und Eleganz – und deshalb auch tendenziellen Wahnhaftigkeit – weglässt: die Materialität als Thema und Verfahren, die Medialität, den Dreck und die Widersprüche. Aber es werden keine geringeren
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Sprünge verlangt als in der Mathematik. In der Regel erscheint die Sinnlichkeit der Kunst oft als Hindernis, manchmal als produktiver Widerstand, zuweilen als Verführung zum Verständnis, aber fast nie als unmittelbare Erscheinung von Sinn und Lebenshilfe. Wenn sie als Hilfe erscheint, handelt es sich oft um Kitsch, kurz Angstabwehr. Kompensatorisch funktioniert Kunst nur als eine zweite Chance der Zumutung, nicht weil es etwas zu sehen, zu fühlen, zu hören, zu begreifen, zu schmecken gibt, sondern weil die Verführung, die darin liegt, angenommen wird und dennoch nicht immer und zugleich in eine Pari-passu-Situation, in eine schrittweise Substitution von Sinn und Verständnis gebracht werden kann. Dreck und Luxus Gerade wegen des Drecks, der Reste, der Arbeit an der Medialität und mit dieser, also der Beschäftigung mit Zwischenräumen, Beziehungen, Kontexten, Prozessen, Abfällen, Verlusten, Verschwendungen, Überschreitungen kann Kunst zur Lösung von Festungen beitragen, mit Metaphern das metonymische Spiel neu eröffnen, Bildungen ermöglichen. Insofern ist Kunst Luxus. Luxus aus der Not heraus. Gegen solchen Luxus sind die sparzwänglerisch operierenden Kultus- und Wissenschaftsministerien ausgerichtet. Sie schlagen in den Lehr- oder Bildungsplänen vor: Man unterrichtet Kunst lediglich als distanziertes, historisches oder systematisches Objekt, jedes Kunstwerk, jeden künstlerischen Prozess kann man so klein kriegen.
aus: Weibel, a. a. O.
Dagegen spricht manches. Will man also Bildungen ermöglichen, dann wird der Bezug des Lehrenden zur Kunst bedeutsam, und zwar als Vorführung einer Relation, Verführung zu einer Beziehung, Inszenierung einer Lösung, im Sinne einer Auflösung, einer Analyse festgezurrter Metaphern. Gleichzeitig versuche ich mit diesem Text, eine Vorführung zu geben, wie denn dieser Bezug sich darstellen lässt. Ich möchte eine Position in diesem Feld umreißen, exemplarisch, freilich nicht in dem Sinne, dass man dieses Verfahren direkt als Muster nehmen könnte. Lediglich im Sinne einer Übersetzung auf die eigenen Möglichkeiten, Interessen und Bezüge hin. Diese müssen freilich, wenn man Kunstpädagogik im Auge hat, noch reflektiert werden an den spezifischen Aufgaben, Obliegenheiten der jeweiligen Institution.
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Educational Complex Es gab im letzten Jahr eine Tagung im Wolfsburger Kunstmuseum mit dem Titel Educational Complex. Ich finde diesen Titel nach wie vor sehr anregend, um über den Zusammenhang von Kunst und Bildung nachzudenken. Es geht jedenfalls um etwas Zusammengeknüpftes oder Zusammengeschlagenes. Leicht bedrohlich.6 Eine Gesamtheit, die nicht ganz durchschaubar, aber da ist. Dann gibt es noch den allgemeinen Sprachgebrauch, von der Psychoanalyse dorthin gewandert, »Komplexe haben«. Das meint dann mittlerweile meist »Minderwertigkeitskomplexe haben«. Es könnte also auch angesprochen sein, dass Pädagogen sich minderwertig fühlen oder sind oder dafür gehalten werden. In Deutschland scheint beides der Fall zu sein. Während in allen umliegenden Ländern Lehrer und Ärzte in der Skala der angesehensten Berufe auf Platz 1 und 2 stehen, halten nur 6 % der Deutschen den Lehrerberuf für einen sozial angesehenen Beruf. Ich gebe offen zu: Ich habe auch so einen »Educational Complex«: »Organisierte Gesamtheit von teilweise oder ganz unbewussten, stark affektbesetzten Vorstellungen und Erinnerungen«, schreiben Laplanche und Pontalis im Vokabular der Psychoanalyse,7 »Ein Komplex entsteht auf der Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen der Kindheitsgeschichte; er kann alle psychologischen Ebenen strukturieren: Emotionen, Haltungen, angepasste Verhaltensformen.« Ich muss hier abkürzen: Lesen Sie zur Frage, warum die Pädagogen oder das Pädagogische leicht als minderwertig erscheint, Adornos Aufsatz von 1965 Tabus über dem Lehrerberuf.8 Das weiter auszuführen wäre zu komplex. Vorteilnahme Stattdessen eine Anmerkung: Insbesondere in der deutschen Gesellschaft gibt es immer wieder erwachsen scheinende Menschen, die ganz tief in ihrer Schulzeit hängen geblieben sind, vielleicht weil sie sich gegen deren Zumutungen nicht wehren konnten, weil diese so geartet waren, dass kein Widerstand als Voraussetzung einer lustigeren Lebensführung entwickelt werden konnte. Sie verbleiben in einer dauernden Abwehr – z. B. Gerhard Schröder: »Die Lehrer sind alle faule Säcke.« Es passiert nun, dass einige dieser Leute
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mit der Kunst anbandeln, Künstler werden oder damit nach einiger Zeit keinen Erfolg haben oder eben, und das ist eigentlich die genialste Lösung, beides tun, mit der Kunst anbandeln – Kunst hat ja ein Moment von Naivität9 – und sich mit dem ehemals als Aggressor Ausgemachten identifizieren, d. h. sie werden pädagogisch in Reinform – ohne Kunst. Auch solche finden sich unter Kunstpädagogen, egal wo sie arbeiten. Damit das nicht so auffällt, nennen sie sich Kunstvermittler, und wenn sie das sind, betonen sie immer wieder den außerschulischen Charakter ihrer Tätigkeit, erst recht habe das nichts mit Didaktik zu tun. Darin sind sie dann den Künstlern verwandt, die es für eine Zumutung halten, wenn ihre lehrende Tätigkeit an Kunsthochschulen als solche bezeichnet wird. Das ist auch der tiefere Grund dafür, so nehme ich an, dass man die besten Vorlagen zur Analyse gut gemeinter, lebendiger und kitschiger Didaktik kaum in der Schule findet. In der Schule findet man eher die zwanghaft organisierte Form. Johannes Bilstein wies kürzlich darauf hin, dass schon in den ersten Künstlerbiographien dieselben dafür gerühmt werden, »dass sie ihre Kunst von niemandem erhalten und gelernt haben. ›Nullo doctore nobilis fuit‹ preist schon Plinius den Bildhauer Silanion: [...] Die Berufung auf ein mit Stolz betontes Autodidaktentum gehört bis heute zu den wichtigsten StandardKlischees aller Künstler-Geschichten. Auf der anderen Seite jedoch wird es gerade den ganz aus sich selbst heraus entstandenen Künstlern immer wichtiger, selbst wiederum Schüler zu haben.«10 Aber das wäre ein eigener Vortrag. Einbildungen ins Offene bringen Kunst, so meine These, bringt Einbildungen, auch die oben skizzierten, ins Offene, weil und wenn sie nicht mit den normalisierten Einbildungen und abgelagerten Identifikationen übereinstimmt. Sie kann das Ich in Schwingungen versetzen, das Ich, das schon Kant verstanden hat als eine ständige Aktion von zu sammelnden Vorstellungen, von Vergleichungen und Verbindungen, gerade dann, wenn diese auf Anhieb nicht gelingen. Das Ich gerät in ein dauerndes Gleiten. Wenn man dies stillstellen will, muss man entweder dumm oder stark werden. In fast allen Konzeptionen des Ich, so auch bei Roman Jakobson, dem Sprachwissenschaftler, der das Ich als Shifter versteht, der anzeigt, dass da etwas ist, zu dem die Person in existentieller Beziehung steht, ist es ausgezeichnet mit dem Zwang zur Wiederholung, wenn es denn die Beherrschung seiner selbst nicht aufgeben will. Mit dieser Wiederholung konfrontiert Kunst gerade dann, wenn sie irritiert, sie macht deutlich, dass
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selbst das Sensorium, die Wahrnehmung auf der Suche nach der Realitätsprüfung, so angelegt ist, dass etwas wieder gefunden werden soll, das einmal nützlich, sinnvoll, genussreich, angenehm gewesen ist, und es notfalls dort auffindet, wo nichts dergleichen wahrzunehmen ist. Dieser Leerlauf der Gewohnheit (ein modularisiertes, evaluierbares Curriculum könnte man auch als Leerlauf der Gewohnheit bezeichnen) macht aufmerksam auf beginnende Wahnbildung, es entsteht zeitweise Sinnverlust und die Chance zur Bildung neuer Metaphern. Anwendung Das ist das, was ich andernorts als Anwendung an und von Kunst bezeichnet habe: »Kunstvermittlung ist Anwendung« und »Ohne Anwendung keine Kunst«. Und hinzu kommt jetzt: Damit dies gelingt und indem dies gelingt, wird das Ich als starkes und autonomes gelöst in ein vielleicht starkes soziales Band hinein, d. h. in einen Diskurs. Damit behaupte ich, dass Kunst substanziell nicht existiert, sondern nur relational, indem sie in einer Beziehung vorkommt, hervorkommt. Sie findet statt in einem intermediären Raum, zwischen Medien und durch Medien. Sie entsteht in einem Prozess der Übersetzung. Die sedimentierten Werke oder die Kristallisationsformen künstlerischer Arbeit brauchen, der Partitur ähnlich, eine Aufführung, Performance.11 Das geschieht in Übertragung und Bildung. Wie erwähnt: Es muss schon ein Komplex da sein,12 bevor intentional eine Beziehung zu gegenwärtiger Kunst aufgebaut werden kann. Und dieser Komplex, diese Ansammlung von Bildern, ist unverfügbar. An diesen kommt man intentional nicht heran. Wenn der Komplex nicht vorhanden ist bei denen, denen ich etwas »von Kunst aus« (wie Eva Sturm sagt) vermitteln will, dann ist die Art und Weise der Vermittlung egal, das Vermittelte wird kunstfremd abgelegt, etwa als Information, als Knabberzeug für festliche Gelegenheiten, als Erinnerung an eine interessante Vermittlerin, an eine nicht so stressige Schulstunde oder einen wirklich gut klimatisierten Museumsraum. Das ist immerhin etwas, und vielleicht bleibt ein Zugang zur Kunst offen. Vielleicht gelingt es aber auch, in pädagogischen Prozessen den Zugang zu öffnen, sozusagen einen Komplex aufzubauen. Ein Komplex umfasst vielfache Identifikationen, Bilder, mit allen sich gegenseitig beeinflussenden Imagines, und bietet dadurch ein Skript, das das Indi-
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viduum anleitet, als »Einzeldarsteller das Drama der Konflikte« (Lacan) zu spielen, also gerade das aufzuführen, was nicht schon gewiss ist. Zum Beispiel: Ich möchte mitten in die Vorführung eines solchen relationalen Geschehens einsteigen. Es handelt sich hierbei um den Fall eines Kunstpädagogen, der an einer Universität versucht zu lehren und zu forschen. Ich teile Ihnen Ausschnitte aus den noch auszuwertenden transkribierten Interviews mit, qualitative Sozialforschung: Lasso Überschrieben habe ich diesen Teil der Transkription mit »Lasso«. Der universitäre Kunstpädagoge beginnt also so: »Ich gehe davon aus, dass Ihnen klar ist, dass es in der Nutzung von Medien (und die sind immer dabei, bei der Vermittlung) um Verführung und Rhetorik geht, dass Kompetenz ein relationales Geschehen ist, eine Art Wettlauf, ›competere‹ = gemeinsam auf etwas hinstreben, dass Medien Trennmittel sind, dass man eigentlich nicht genau begreifen kann, wo ein Medium anfängt und aufhört, dass man kaum präzise greifen kann, was der Inhalt der Medien sei, etwa abgegrenzt von deren Form.« Er spreche gleichzeitig fortwährend von Bildung. Deshalb arbeitet jener Kunstpädagoge immer wieder an anderen Formulierungen, sucht Formulierungen in der Kunst und lässt sie einfallen. (Da bekommt man ein Stückchen des Komplexes zu Gesicht). Eine mögliche Formulierung wäre das Lasso, gibt er zu verstehen. Eine Metapher für das, was Medien seien, aber auch was Bildung sei. Zum Lassowerfen brauche man viel Übung. Das sei ein bestimmendes Moment von Kunst. Er fährt fort, und ich schreibe mit: »Darauf wäre ich nicht gekommen, hätte ich nicht das Medienprodukt, den Videofilm, der ursprünglich ein 36mm Film ist, der Finnin Sala Tykkä (2000) auf der Biennale in Venedig (2001) gesehen. Ich werde den Film dann bei meinem nächsten Vortrag zeigen«, gibt er zu Protokoll und fährt fort: »Damit möchte ich auch hinweisen auf eine der vielen Qualitäten von künstlerischen Medienprodukten: Sie bieten Attraktoren, Aufenthaltsräume und Zeiten für zerstreute, zunächst nicht einmal allesamt bewusste Gedanken, Assoziationen. Sie machen etwas fremd, indem sie zu formulieren helfen, manchmal sogar zwingen.« Es mache ihm geradezu Vergnügen, dass er dabei dauernd übersetze und es zwar partiell, aber nicht ganz mit dem übereinstimme, was er gerade zu formulieren versuche. U. a. sagt er dann, dass er im Vortrag das dann so formulieren werde:
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»Bevor ich Ihnen den Film zeige, erzähle ich Ihnen meine Überlegungen dazu, die natürlich nicht nur durch den Film ausgelöst wurden, denen er aber als Kristallisationskern, als Herausforderung, als Spielpartner, als Container, auch als Versicherung diente. Eine Läuferin, sie findet sich also im Diskurs, nähert sich einem Gebäude, das ich beim ersten Sehen zunächst für eine Schule, vielleicht eine Turnhalle hielt. Sie klingelt. Das ist also vielleicht doch die Hausmeisterwohnung. Sie kommt nicht rein. Sie bleibt draußen. Sie muss um das Haus herumgehen. Der direkte Zugang ist versperrt. Sie ist dann immer noch getrennt von einem Geschehen wie durch ein Interface. Sie nimmt dennoch stark daran teil. Ein Teil ihrer Anteilnahme ist Bewunderung eines Könnens, einer Kompetenz. Sie ist im Verhältnis zu dem Könner drinnen, den sie beobachtet, dem sie ein Klingelzeichen gegeben hat, draußen, ein Laie. Sie nimmt dennoch teil.« Zum besseren Verständnis der weiteren Transkriptionen schiebe ich nun die Projektion des Films ein. Nach dem Zeigen des Films werde er dann so fortfahren, sagt der Kunstpädagoge: »Ich setze die nicht chronologische Erzählung meiner Einfälle fort: Schule verbürgt immer noch die für eine bürgerliche Gesellschaft notwendige Laizität. Das heißt, Schule hat dafür zu sorgen, dass man zunächst zum Laien wird, denn nur diesem kann sie eine aufgeklärte Professionalität erschließen, die dadurch kreativ wird, dass sie in Kenntnis der gewohnten Kombinationen (Borniertheit, ungebildete Subjektivität) Kritikfähigkeit (an diesen) erlangt und Vorurteile befragen kann. Das heißt, die Schule ist idealtypisch eine Institution, die der Verallgemeinerung dient und mit den die Gesellschaften tragenden symbolischen Systemen und medialen Gewohnheiten bekannt macht, an diese heranführt und deren Phantasmen dann erst durchkreuzen kann. – Gerade bei Letzterem ist Kunst möglicherweise förderlich.« Sie löse das imaginäre Ich auf, fügt er noch hinzu, dieses Ich, das aus den vorangegangenen Identifikationen gefestigt worden wäre. Es werde aufgelöst in einen weiteren Zusammenhang. Da er zwar als jemand spreche, der mit der Lehrerausbildung zu tun habe, aber es sich bei dem geplanten Vortrag um einen Vortrag im Rahmen von Kunstvermittlung auch im außerschulischen Bereich handele, werde er fortfahren:
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»Das ist strukturell dort nicht viel anders. Denn alle Institutionen, die ihr Geld wert sind, leben von Trennung und Neukombination. Ich habe das in diversen Aufsätzen und Büchern genauer herausgearbeitet. Der Prozess der Heranführung an Kunst selber ist zugleich einer der Freisetzung, der Autonomisierung und Vergesellschaftung – in Anerkennung von Fremdbestimmung, denn ohne dass man fremde Stimmen hört, sehr genau hört, kann man nicht gebildet werden. Die Läuferin im Film von Tykkä sieht etwas, das sie bewundert. Sie ist draußen, ausgeschlossen und doch teilnehmend, emotional berührt, zwischen Schwitzen und Weinen. Sie sieht durch eine Jalousie, durch den Neid hindurch. Drinnen ist jemand von einem anderen Geschlecht, heterogen. Er ist in seiner Übung eingeschlossen, sie im Zusehen im Freien, Kühlen, Nassen ausgeschlossen, aber nicht gehindert wegzugehen. Rückwärts. Aber in eine andere Richtung. Sie geht, als es vielleicht zu einem Blickkontakt kam, das Lasso gefallen ist. Er sozusagen ungebunden ist. Aber auch der Schutz der wiederholenden Übung am Boden liegt. Sie war hingegangen, um jemanden zu treffen. Vielleicht wollte sie auch ganz jemand anderen treffen. Vielleicht fürs Leben. Jetzt sieht sie zu, was er kann. Er macht ihr etwas vor. Vielleicht speziell für sie. Er tut das in einem Innenraum, einer Wohnung, in der man für gewöhnlich nichts mit einem Lasso anfangen kann. So ist das in der Schule und in anderen pädagogischen Institutionen. Beide setzen aus bisherigen Beziehungen frei, distanzieren von der Familie, der Ursprungsgruppe, lockern die religiösen Beziehungen (von daher stammt die Bezeichnung des Laizismus ursprünglich), aber auch (wie gesagt idealtypisch) setzen sie frei von einer bestimmten politischen Richtung oder Parteiung. Schule und andere pädagogische Institutionen tragen der Tatsache Rechnung, dass zwar eine physiologische Ausstattung vererbt werden kann, das Bespielen dieser Matrix aber keineswegs. So lernt man vielleicht den Sprung durch ein Lasso im Innenraum.
Stills aus: Sala Tykkä: »Lasso« (2001)
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Pädagogische Institutionen jedweder Art sind von daher große Umsetzungs- und Übersetzungsapparate, die genauso beim Verlernen oder Entbilden zu helfen haben und damit zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für Bildung und zum Lernen beitragen. Dies geschieht ganz wesentlich durch Medieneinsatz (angefangen beim Schreiben). Die diversen Medien helfen eine Grenze zu ziehen zwischen der polaren Spannung von Grausamkeit und Souveränität. Die Medien und die, die sie nutzen, sind grausam und machen souverän. Grausam sind Übergriffe, die beispielsweise dem Vermittler und dem Schüler, dem Rezipienten, Schmerzen bereiten, angefangen beim Trennungsschmerz von alten Sicherheiten und Gewohnheiten, bei der Erfahrung von Unverständnis. Souveränität entsteht dabei als Voraussetzung der Beweglichkeit der Eigenartigkeit und formenden Wirksamkeit. – Den grausamen Anteil hat ohne Kontext die Schwarze Pädagogik immer wieder erzählt. – Beide Pole sind nebeneinander da, bedingen sich wahrscheinlich. Ein dauerhafter Ausgleich ist nicht zu schaffen, sondern beginnt mit jeder Beziehungsaufnahme neu. Aus diesem Spannungsbogen entsteht Widerstand. Der gibt Form, Bildungen. Ist Widerstand nicht möglich, resultiert Wahnsinn. Schule und manchmal auch das Museum generieren Widerstand, auch in der Form der Langeweile. Das führt zur Kenntnis der Gähntechnologie.« Ich fasse das bisherige Gespräch zusammen: Wenn Kunst als Spezialistin fürs Mediale in pädagogische Aktionen hineinwirke, werde sie auch teilhaben müssen an den grundsätzlichen Funktionen der Schule und sich dem Verwandlungsprozess aussetzen, den das Museum ausübe. Kunst könne dann mithelfen, die Adressaten beiderlei Geschlechts in den Laienstand zu versetzen, sie also nicht in »professionell« Gewohntem unterstützen. So müsse man den Lassoschwung auch manchmal im Wohnzimmer ausprobieren und nicht im Wilden Westen. Das könnte man so verstehen: »Inhalt, Form, Geschichte, Syntax, Performanz, die Bearbeitung der Medialität in der Kunst werden, wo immer Kunst vermittelt wird, genutzt gegen die Beschränkungen, die im Übrigen sehr ausgedehnt sein können, einer familiär, durch die Primärgruppe induzierten Sicht auf die Welt durch Medienwechsel. Die Institutionen der Bildung, Museum und Schule, helfen deren Wahrnehmungsart und Interpretationsweise aufzubrechen, deshalb sind sie auf einen alternativen, nicht gewöhnlichen Mediengebrauch angewiesen. Mit der Art der Kunst, das Mediale zu behandeln, könnte bekannt gemacht werden mit sehr besonderen und zunächst singulären Auseinandersetzungen mit dem sozialen Band, in dem man steckt. Sie könnte einen Lassowurf ins Freie zum Zwecke
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noch unbekannter Bindungen versuchen. Ein Lasso muss eine Zeit lang in sich selbst gedreht werden um ein erst durch das Drehen beschriebenes leeres Zentrum, als bewegter Stillstand. Derart stabilisiert in kreisender Bewegung, kann es in eine Richtung gebracht werden, ein Wurfgeschoss werden, das aus der linearen Bewegung wieder in eine kreisende Bewegung gerät, die dann einfängt. Das muss man üben.« Manchmal komme einem das als Domestizierung vor. Vergleiche man den Lassoschwinger im finnländischen Wohnzimmer mit den Männern aus dem Film, aus dem die Musik stammt (Spiel mir das Lied vom Tod). Aber es gebe ja auch in Finnland die besten Bandoneonspieler, wie im Heimatland des Tango festgestellt wurde. Und eine Zeit lang gab es in Hamburg die beste Weißwurst. Aber auch der Italowestern sei ja ein absoluter Kunstfilm gewesen. Er fährt dann fort: »In diesem Sinne kann sich der Vermittler, der Lehrer in der Schule oder auch im Museum, an die Kunst wenden, sie anwenden. Es bleibt aber eine Trennung, eine Jalousie, eine Eifersucht auf das, was draußen ist. Wie die Glasscheibe im Film, die für einige Sinnesqualitäten undurchlässig ist, aber nicht ohne Wirkung bleibt. Gerade wegen der Undurchlässigkeit. Die Glasscheibe ist das jeweilige Interface. Gewünscht haben wir uns als Spezialisten fürs Happyend, die wir alle sind, dass die Glasscheibe weg wäre, die Vitrine. Aber dann hätte es den Film nicht gegeben. Nicht einmal eine Kamera, die ja auch vorne ein Glas hat. Wir wären dann immer auf dem kürzesten Weg zum Friedhof unterwegs. Das Spezifikum des Inhaltes und der Form ›Kunst‹ ist vielleicht, dass sie die beiden Driften, einerseits das Private, Singuläre, noch nicht Formulierte und andererseits das zu erlernende Allgemeine in seiner jeweiligen Besonderheit ganz eng zusammenführt, aber nie zu einer Übereinstimmung bringen kann, höchstens im einzelnen Individuum ein gesteigertes Moment von Existenz evozieren kann, als das Gefühl ›Ja, ich bin in der Wahrnehmung!‹. – Dazu braucht es Medien. – Man erkennt nicht, ob der junge Mann mit dem Lasso sich wahrgenommen weiß und deshalb in dem Moment, in dem er sich dessen innewird, das Lasso zu Boden fällt. Es ist die Frage, wie weit Verfahren der Kunstvermittlung einer distanzierten Beobachtung zugänglich sind oder ob man dabei nicht immer nur das heruntergefallene Lasso beschreibt. Sala Tykkä zeigt, wie jemand draußen bleibt jenseits dessen, was drinnen spielt. Die Beobachterin, die eigentlich eine Besucherin sein wollte, bleibt draußen, sie könnte vielleicht bemerkt werden, vielleicht hätte sie auch eintreten können. Sie ist
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fasziniert, angezogen und abgestoßen zugleich. Die Beobachtung und das Beobachten haben auf sie Effekte. Sie tritt zurück, etwas erschrocken vielleicht, als das Lasso fällt, die kunstvolle Vorführung endet. Ist es die Grenze zwischen Kunst und Leben? Das Kreisen in sich wird wieder zu einem Lauf, einem Diskurs. Die Beobachterin setzt ihren Dauerlauf fort.« Der universitäre Kunstpädagoge ist nun ins Reden gekommen und fährt fort: »Eine intellektualisierte oder informierende Besprechung von Kunst mit biographischen Einschüben zum Künstler dient nur der Anreicherung des Konversationswortschatzes für die nächste gesellschaftliche Gelegenheit, sie ist zu oft eine Möglichkeit, sich Kunst vom Leibe zu halten. Das, was anstoßend wirken könnte, wodurch man zu Fall käme und sich nach innerer oder äußerer Hilfe reckt, wird dann geglättet. Natürlich muss man viel wissen, will man in Relation treten zu gegenwärtiger Kunst. Man ist dazu sogar verpflichtet. Wer das nicht tut und dann davon spricht, dass man das alles nicht versteht, dem sollte man als Urlaubslektüre ein Buch über die neueste Quantentheorie empfehlen, dann versteht er auch nichts. Es sei denn, er ist Physiker.« Unsere Zeit war um. Ich habe in Fortsetzung dieser Überlegungen dann begonnen weiterzuschreiben. Weshalb macht die Beziehungsaufnahme zur Kunst, ihre Anwendung, oft solche Schwierigkeiten? Ein Motiv möchte ich mit Roman Signer zeigen. Schwierigkeit der Lösung, Trauer Damit ich nicht so viel ins Bild rede, vorweg eine Anmerkung. Eine Brücke, eine alte Brücke, wurde zerstört. Eine neue stand schon. Es wurde aber offensichtlich nicht dieses Bauwerk nur zerstört, sondern das, was daran hing. Sehen kann man nur eine Brücke, die zerstört wird, eine Verbindung zwischen zwei Talseiten, eine tragende Straße. Nun gut. Eine neue Brücke ist schon da. Die primären Zwecke werden nun vielleicht sogar besser, schneller, komfortabler erfüllt. Aber zerstört, unterbrochen wurden die Verankerungen in der Landschaft, in der Landschaft eines Lebens, die sich an dieses Bauwerk geknüpft hatten. Diese lassen sich nicht einfach auf einen Gegenstand mit gleichen Zwecken
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übertragen. Es ist nicht möglich oder nur unter dem Zwang rationalistischen Denkens, diese Relationen einfach zu vergessen oder an neue gleichwertige Gegenstände zu knüpfen. Es bleibt nichts anderes, wenn man sich nicht an das Bild der Zerstörung anketten lassen will, dann muss irgendetwas her, das davon löst. Man lebt ansonsten blind oder halluzinativ, sieht etwas, wo nichts mehr ist. Damit eine neue Verbindung eingegangen werden kann, muss man von der alten, die nicht mehr da ist, loskommen. Jedenfalls loskommen von dem Bild der Zerstörung dessen, an das man seine Beziehungen geknüpft hatte. Aber das berichte ich dann beim nächsten Mal. Ich zeige Ihnen noch den Filmausschnitt aus Signers Koffer, wie Roman Signer sich von der Brücke trennte, die es nicht mehr gab.
Filmausschnitt aus: SIGNERS KOFFER; Buch/Regie: Peter Liechti; Schweiz 1995; 84 min.; mit Roman Signer u. a.
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Anmerkungen 1
In einer ersten Version, die zum heutigen Symposium deutlich umgearbeitet und ergänzt wurde, war dies ein Vortrag mit dem Titel Vermittlung ist Anwendung – Ohne Anwendung keine Kunst. Vortrag zum Symposium Educational Complex. Vermittlungsstrategien von Gegenwartskunst, Kunstmuseum Wolfsburg 27.10.2002. 2 Manche solcher Ichfestungen verwechseln in extremen Krisen Metaphern, etwa vom Sturz, mit einer auszuführenden Realitätsbeschreibung, werden apokalyptisch und fallen vom Himmel, aus allen Wolken, so etwa Jürgen Möllemann. 3 Vgl. Zizek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, S. 39. 4 Vgl. ebd., S. 216. 5 Vgl. ebd., S. 51. 6 Z. B. industriell-militärischer Komplex. 7 Laplanche, J.; Pontalis, J. B.: Das Vokabular der Psychoanalyse. 2 Bände, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 253. 8 Adorno, Theodor W. (1965): Tabus über dem Lehrerberuf, in: ders. (Hg.): Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971, S. 70–87. 9 Vgl. ders.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970. 10 Bilstein, Johannes: Fortifikation, in: Perspektiven einer Didaktik der Bildenden Künste, Düsseldorf 2002 (Jahreshefte der Kunstakademie Düsseldorf, Sonderband 1), S. 173–208, S. 174. 11 Vgl. hierzu Jacques Derrida: As if I were Dead. Als ob ich tot wäre, hg., übersetzt und kommentiert von Ulrike Oudée Dünkelsbühler, Thomas Frey, Dirk Jäger, Karl-Hosef Pazzini, Rahel Puffert, Wien: Turia + Kant 2000. Darin die Beiträge Vorurteil gegenüber der Anwendung, S. 67–72 u. a. Und: Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte, in: Bauhaus-Universität Weimar; Wischnack, Brigitte (Hg.): Tatort Kunsterziehung. Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, 2. Heft 2000, 46. Jg., S. 8–17. 12 Vgl. hierzu Karl-Josef Pazzini: Bio muss erst grafiert werden, in: Blohm, Manfred (Hg.): Berührungen & Verflechtungen. Biografische Spuren in ästhetischen Prozessen, Köln: Salon Verlag 2002, S. 307–320.
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Performative Verfahren in einer Gesellschaft des Übergangs Tanz, Malerei und allerlei Gedächtnistheater in der Renaissance und anderswo Wir wissen es, ekstatisch und bilderlos. (Dietmar Kamper) Abstract Die Wissensbestände sind zu allen Zeiten weitergegeben, in Ritualen geborgen, an Orten hinterlegt, in Bildern reflektiert, in Schriften notiert worden. Und schon immer suchten Techniken, das kulturelle Gedächtnis der Erinnerung der Subjekte wieder zuzueignen und dabei auch zu verändern – vorzugsweise an einem dafür vorgesehenen Ort und mit einem künstlichen Mittel, wie es von alters her das Bild war.1 Die Intensität, mit der die Renaissancekünste die Wahrnehmung erforscht, durch allerlei Performanz und Theatralität das individuelle und kulturelle Gedächtnis schließlich auch umgebaut haben, zeugt zuletzt von der Suche nach einem verlässlichen Speicher, an deren Ende sich die Schrift durchsetzen sollte. Vor diesem Hintergrund ist der gegenwärtige »Performativierungsschub« (Erika Fischer-Lichte) in den Künsten womöglich als Übergangsphänomen einer Gesellschaft zu sehen, die nach fast 500 Jahren die Schrift zugunsten eines neuen Mediums gerade wieder zu verabschieden trachtet. 1. Der Raum der Zukunft Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Kehrseiten auf radikale Weise hervortreten. Der Zusammensturz der symbolträchtigen Zwillingstürme hat die instabile Lage unserer Kultur mit einem Schlag zu Bewusstsein gebracht; doch schon der Blick auf die Ereignisse des 20. Jahrhunderts (zwei Weltkriege, der Holocaust und Massaker in Ländern der so genannten Dritten Welt, um nur einiges zu nennen) lässt die Vorstellung kontrollierbarer Ordnungen obsolet erscheinen. Während dezentrierte, inkommensurable Netzwerke die Homogenität der Kultur bedrohen, treiben die Wissenschaften
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die Entmystifizierung der Welt weiter in die Zukunft und überlassen es den Künsten, die Nachtseiten zu erhellen, trotzdem dies – wie der Lichtraum (1997) von Mario Merz (Abb. 1) unschwer zu erkennen gibt – auch zu Überbelichtung führen mag. »Es heißt nicht mehr, je mehr Licht, desto weniger Schatten. Es heißt: Je mehr Licht, desto mehr Schatten.« (Kamper 1999: 179) Je globaler, desto lokaler, je mehr Kontrolle, desto mehr Schlupflöcher, je größer das Gedächtnis, desto tiefer das Vergessen, je mehr wir wissen, je mehr wissen wir auch um das Nicht-Wissen. Vom Rand her tritt immer mehr ins Licht, was dem Vergessen übereignet war.
Vielleicht ist sogar nichts furchtbarer an der ganzen Vorgeschichte des Menschen als seine Mnemotechnik. (Friedrich Nietzsche) Abb. 1
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Wie zum Beweis hat sich die Arbeit Ohne Titel (1965) von Günter Brus über den Lichtraum gelegt. Sie zeigt, was ein Körper in Erinnerung ist, und führt die Hinterlassenschaft kultureller Einschreibungen zuletzt als »Narbenspur« (Dietmar Kamper) vor Augen. Auch wenn das Körpergedächtnis im Laufe der Menschheitsgeschichte durch externe Speichermedien, schließlich durch die Schrift abgelöst wurde und heute gar von einem gänzlich virtuell speichernden Medium verdrängt wird, liegt es auf der Hand, dass Speicher nur nützlich sind, wenn ihr Inhalt immer aufs Neue (und für die Gegenwart) verhandelt wird. Das kulturelle Gedächtnis kommt am Körper ebenso wenig vorbei wie die Erinnerung (die im Übrigen paradoxerweise das Vergessen voraussetzt und deren Unkontrollierbarkeit schon immer tiefstes Misstrauen erzeugt hat). Am Ende muss jedes kulturelle Anliegen (so auch das Bildungsanliegen) den Körper erreichen, wie es zugleich droht, an dessen Unverfügbarkeit zu scheitern. 2. Der Raum der Renaissance Schon Platon bemängelte an der Schrift, dass sie nicht dem Erinnern, sondern nur dem Gedächtnis dient, und darum wollte man das kulturelle Gedächtnis schon immer möglichst vor Augen haben – darauf deutet auch der unbekannte Maler der Bildersammlung eines Prager Salons (um 1701) (Abb. 2). Der Rundgang durch die Sammlung und insbesondere die dort versteckten (und also eingeschmuggelten) Bilder sollen zeigen, wie es der Renaissance gelungen ist, memoria als lebendige Erinnerung nicht nur zu evozieren, sondern am Ende auch einzuschließen. Mit gleicher Geste sind die Bedingungen gegeben, mit der sich die Wissenschaften schließlich auch von den Künsten verabschieden – auf der Suche nach universeller, rational fundierter Erkenntnis traut man ihnen noch heute kaum zu, Wissens- und Bildungsprozesse zu generieren.
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Nicht also für das Erinnern (mneme), sondern für das Gedächtnis (hypomneme) hast du ein Heilmittel (pharmakon) erfunden. (Platon) Abb. 2
a) Kartographie
Wie alle Umbrüche – die im Übrigen nicht nur die Räumung solcher Bildersammlungen zur Folge haben, sondern auch das Umschreiben von Geschichtsbüchern, den Sturz von Denkmälern (man denke nur an die so genannte deutsche Wende) – ist auch die Neuzeit durch eine Reihe schockierender Entdeckungen eingeleitet worden: Nicht nur, dass sich der jüngste Tag nicht einstellen wollte, sondern auch, dass die Erde nicht im Zentrum des Kosmos steht. Theater heißen die Atlanten, die nun maßstabsgerecht (und auf der Basis der Geometrie) konstruiert sind und Jerusalem (wohin zuvor alle Wege geführt haben) zu einem Ort unter vielen machen. Die Landkarte von Amerika und Afrika (um 1540), die sich in die Bildersammlung eingeschlichen hat, deutet auf eine (heute kaum nachvollziehbare) Revolution. Mit der Erfindung des Buchdrucks werden Zugriff und Bearbeitung des Menschheitsgedächtnisses aus der kirchlichen Obhut gerissen, die Bestände gesichtet und neu geordnet. Das aufkommende Geschichtsbewusstsein will die Differenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit ins Bewusstsein rücken und begreifbar machen, dass vom Diesseits – von Natur, Menschen und Dingen – Kräfte ausgehen, die in Bewegung versetzen. Die Naturbedingungen sollen nicht unreflektiert hingenommen, vielmehr »die Körperlich-
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keit aus der Fraglosigkeit des Gegebenen« gelöst werden. (Vgl. zur Lippe 1981/I: 155) b) Rhetorik.
Um die unterschiedliche Wirkung der äußeren und inneren Natur kennen zu lernen, werden Bewegungen und Begegnungen inszeniert. (Vgl. auch Nitschke 1989) Tanz, Malerei und Theater bedienen sich dazu nicht nur der Erkenntnisse der vitruvschen Architektur, sondern auch der antiken Rhetorik und Gedächtniskunst, als deren Erfinder Simonidis gilt. Nach der Legende identifiziert er (als einziger Überlebender eines Palasteinsturzes) die Toten aufgrund ihrer Lage in den Trümmern. (Vgl. Yates 1994: 11) Er bewahrt ihre Erinnerung, indem er die Sitzordnung erinnert und die Leerstellen mit ihren Namen füllt. Dies zum Vorbild nehmend empfiehlt die antike Mnemotechnik, eine Rede in gefühlsbetonte Vorstellungsbilder (imagines) zu übersetzen, sie an aufgeladenen Orten (loci) zu hinterlegen, um sie hinterher in der Art eines imaginären Ganges durch die mentale Architektur nicht nur zu erinnern, sondern auch entsprechende Affekte parat zu haben. (Vgl. ebd.) Um eine größtmögliche Wirkung zu erzielen, werden auch stilisierte Körpergesten vorgeschlagen und insbesondere die Unterbrechung der Rede. (Vgl. auch Mühlmann 1996: 65ff) c) Tanz
Die Renaissancekünstler wissen also um die Produktivität der Lücke. Entsprechend wird der mittelalterliche Hüpf- und Gebärdentanz von einem wohlgeordneten Schreittanz abgelöst, wie er auf dem in der Galerie aufgehängten Bild Trattato des ballo (1470) von Guglielmo Ebreo zu sehen ist. Wie die Rhetorik der Rede besteht der höfische Tanz aus fünf Schritten, wovon einer die memoria ist. In der so genannten posa soll der Tänzer innehalten und unter Bemühung seiner Einbildungskraft den nächsten Schritt vorbereiten. (Vgl. zur Lippe 1981/I: 165ff) Ebreo nennt den neuen Tanz denn auch eine Tätigkeit, die »in die geistigen Teile unserer Herzenssinne eindringt, dort weckt sie gewisse liebliche Bewegungen, die, als wären sie entgegen ihrer Natur eingeschlossen, zu fliehen versuchen und sich in wirklicher Bewegung offenbaren.« (Zit. n. Baxandall 1999: 78) Die memoria unterbricht den Bewegungsfluss und fasst ihn zugleich reflexiv zusammen – gleichsam über dem Abgrund jenes archaischen Erinnerungshaushalts, den Aby Warburg den »Leidschatz der Menschheit« genannt hat. Die Einbildungskraft kann also
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Lücken im Sinngefüge durch Erinnerung an Vorgängiges kombinatorisch ergänzen. (Vgl. auch Matussek 2000: 191ff) d) Malerei
Auch Maler suchen die »Bewegungen der Seele mit Hilfe von Bewegungen der Körperteile« darzustellen und bedienen sich dabei, wie Alberti bemerkt, »nur der Fortbewegung von Ort zu Ort«. (Zit. n. Baxandall 1999: 78) Sie entdecken den Prozess, wissen um die Wirkung der Lücke und bilden den Affekt, auf den es ankommt, also nicht ab. Entsprechend machen Leonardos Bilder den Moment vor dem alles entscheidenden Augenblick sichtbar (z. B. der Schwerthieb in der Anghiari-Schlacht). Als »Pathosformel« bezeichnet Aby Warburg jene stilisierten, archetypischen Bildmuster, die Erinnerung freisetzen wie auch in Schach halten und deren prägende Wirkung das kulturelle Gedächtnis zuletzt auch semantisch umpolen kann. (Vgl. Assmann 1999: 373) Neuere Untersuchungen zur Zentralperspektive in der Malerei (Nitschke 1989, Clausberg 1996) zeigen, dass Regel, Zeitmaß und Raumproportion im Quattrocento auf diese affektiven Grundschichten zielen, den Betrachter involvieren, ihn provozieren, sich in die Tiefe des Raumes zu versetzen und die »Fortbewegung von Ort zu Ort« nachzuvollziehen. Doch der Durchbruch einer Wahrnehmung, die den außen stehenden, überblickenden und das Bild beherrschenden (Beobachter-)Standpunkt favorisiert, die also auf identifizierendes Wiedererkennen (im Imaginären) und nicht auf geistig bewegende Tätigkeit aus ist, steht bereits bevor – der in der Sammlung hinterlegte Holzschnitt Underweysung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheyt (1525) von Albrecht Dürer mag denn auch die zukünftige Absicht bereits andeuten. e) Theater
Es überrascht nicht, dass auch Theaterleute in der Produktion von Lücken kundig sind und sogar zeigen, wie diese funktioniert. In dem Schauspiel, das sich Hamlet zur Überführung des (unter Vatermordverdacht stehenden) Königs ausdenkt, sollen die Spieler (nach Hamlets Anweisung) auf dem Höhepunkt ihrer Leidenschaften innehalten – der zuschauende König hält die Erinnerung nicht aus, flüchtet aus dem Saal und gibt sich zu erkennen. (Vgl. auch Mühlmann 1996: 33ff.) Was Botticellis St. Augustin (1470) in der Bildersammlung noch in der Schwebe halten kann, werden die Hamlets nach Shakespeare allesamt ausplaudern. Der Körper (des Schauspielers wie auch des Zuschauers), der mit der memoria auf einen Schlag da ist, wird bald nur
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noch der Repräsentation eines Ideals dienen. Die posa verkommt zur Technik, die stilisierte Figur zur Pose – im Illusionismus gar zur Posse. Die Lücke wird mit Bildern gefüllt, die Identifikation fordern, nicht aber nach der Kraft der Einbildung verlangen (der dann auch zunehmend Täuschungsvermögen unterstellt wird). Die Erinnerung findet keine Anknüpfung, und eine frei fluktuierende (ausschließlich im Innern bleibende) Imagination wird das Handeln (man denke nur an Romantik) schließlich ganz ersetzen. Die Erfahrung wird nicht mehr wie im Quattrocento als körperlich erlebbare Interaktion objektiviert, sondern nur noch am Bewusstsein vollzogen. (Vgl. zur Lippe 1981/II: 113) Noch bevor sie sich richtig umsieht, hat die memoria ausgedient. f) Gedächtnistheater
Giordano Camillo plant Anfang des 16. Jahrhunderts einen Bau, den er wegen seiner lebendigen Anschauung Theater nennt. (Vgl. Yates 1994: 124ff.). Der Mensch (auf der Bühne stehend) soll auf wirkmächtige Bilder blicken, die in den Reihen, Gängen und Rängen des Theaterraums platziert sind – die stilisierte Anordnung soll den Geist aufmerksam halten und das Wissen der Welt als ars memoria nicht nur bewahren und vor Augen führen, sondern die Herzen bewegen und in der Art einer vis memoria Erinnerung freisetzen. Auch hier also soll die »Fortbewegung von Ort zu Ort« das Wissen hervorholen, was nach Platon in den Tiefen des menschlichen Geistes verborgen ist. Noch 100 Jahre später sucht Robert Fludds Theatrum Orbi (1617) diese Idee (gegen den sich durchsetzenden Humanismus) zu realisieren – ein Modell, das sich im Übrigen Shakespeares Globe-Theater zum Vorbild nimmt. (Ebd. 313ff.) Der aus dieser Zeit stammende Satz »Die ganze Welt ist eine Bühne« bezieht sich daher wohl weniger auf die Handlung als auf den Ort des Theaters, das nach antikem Vorbild den Makrokosmos abzubilden hat. Und die Vermutung liegt nahe, dass Shakespeare (im Gegensatz zu Fludd und Camillo) ein solches Gedächtnistheater tatsächlich realisiert hat – die loci (das Publikum im Rang, Prospero am Himmel, Julia in der Kammer, Hamlets Geist in der Hölle) verstärken die innervierende Kraft der imagines (rhetorische und figurale Stilmittel, aber auch Requisiten, Bilder und Dinge). Noch gehören ars und vis und scientia untrennbar und als Teil des öffentlichen Lebens zusammen, doch das bürgerliche Subjekt steht am Horizont und damit nicht nur die »Tyrannei der Intimität« (Richard Sennett), sondern auch die neuen Wissenschaften, die der Kunst nicht mehr bedürfen.
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3. Der Raum der Moderne
Die Mauer soll [...] vor dem Ausland schützen. [...] Nicht die Materie, sondern die Heimat ist tückisch (nicht das Objekt, sondern das häuslich verkapselte Subjekt). (Vilém Flusser) Abb. 3
Fast zeitgleich mit der Französischen Revolution entsteht der Schnitt durch das Londoner Haus (um 1774) eines unbekannten Malers (Abb. 3), das hier als dritter Gedächtnisort fungiert. Die Welt wird von nun ab so gesehen, wie sie vorgestellt wird. Und wie anders konnte dem Bewusstsein die neue Konstruktion gelingen, als auf alten Fundamenten zu bauen. Die Kunst wird autonom, und darum gewährt man ihr auch hin und wieder Zugang zur belle étage (zur kontemplativen Erbauung des bürgerlichen Subjekts), doch sie wird ein randständiges Geschäft und landet daher unter der Kellertreppe – in direkter Nachbarschaft der hermetischen Denksysteme, die allenfalls noch in Kuriositätenkabinetten oder Wunderkammern Eingang finden. Die im Keller liegende Rekonstruktion des Gedächtnissystems von Giordano Camillo (um 1530) durch
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Francis Yates lässt ahnen, was das Gedächtnistheater zur Aufführung bringen wollte. Wo die vitalen Züge des Neoplatonismus der Einbildungskraft geistiges Vermögen und Wissensgenerierung zugestehen, verwerfen die Hermetiker den rationalen Kern zunehmend und laden ihn magisch auf. Nach Abzug der Magie konnte daraus leicht ein »Programm zur Naturbeherrschung« (Hermann Sturm) werden. Descartes erkennt schließlich die »wahre Gedächtniskunst«: »Wenn man die Ursachen versteht, können alle verschwundenen Bilder im Gehirn durch den Eindruck der Ursache leicht wiedergefunden werden.« (Zit. n. Yates 1994: 340) Die neue Methode baut nicht auf Wahrnehmung, sondern auf Ratio, sie erforscht keine Wirkungen, sondern Ursachen und setzt voraus, dass die Natur unabhängig vom Menschen und seinem Tun existiert. Die neuen Wissenschaften verkünden zunächst die gleiche Hermetik, wie die Inschrift auf dem Stich Les raison des forces mouvantes (1615) von Salomon de Coups zeigt: »Niemand, der sich in Geometrie nicht auskennt, darf eintreten.« (Vgl. Sturm 1997: 181) Die Formeln bedürfen keiner memoria und zuletzt auch keiner Hermetik, denn unter den abstrakten Zeichen können sich nur Spezialisten etwas vorstellen – von der Ähnlichkeit, die die imagines zu fassen suchen, ist keine Spur. Bevor das Wissen abstrakt und kontextlos zu fluktuieren begann und der Traum der Vernunft (eben nicht nur im Schlafgemach) seine Ungeheuer zu gebären begann, musste es offenbar gänzlich vor Augen geführt, (durch Bilder, Dinge, Architekturen) verortet und emphatisch erinnert werden. Diderot wird es im 18. Jahrhundert neu ordnen, mit objektiver Methode einer rationalen Interpretation unterziehen und seine Enzyklopädie ausschließlich auf die Schrift setzen. Aus Baumgartens »Lehre der sinnlichen Wahrnehmung« (1750), die explizit auf Erkenntnis zielt, wird einer Theorie der Kunst und der Ästhetik eine Autonomie zugesprochen, die nur noch auf rein geistiges, nicht aber mehr sinnliches Vermögen zielt (selbst in Schillers Ästhetischer Erziehung dient es nur als Vehikel, um zur Vernunft zu kommen). Die Folgen sind hinreichend bekannt, weswegen von einer weiteren ›Hausdurchsuchung‹ (an dieser Stelle) abgesehen wird. 4. Der Raum der Gegenwart Wo memoria zu Beginn der Renaissance die körperlichen Einbildungskräfte zu evozieren, in Selbstdistanz geistiges Vermögen und den nächsten Handlungsschritt vorzubereiten hatte, ist das ihr zugrunde liegende Lückeprojekt schnell vergessen worden. Wissen wird (unter künstlichen Bedingungen und
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durch Ausschlussverfahren) im Labor generiert und in Texten gespeichert, die niemand versteht, während sich die Kunst ihrer Autonomie vom Leben versichert und in der Illusionserzeugung perfektioniert. Doch seit geraumer Zeit werden die Künste wieder ›gebraucht‹, Künstler gar zu Wund(er)heilern erklärt. Nicht nur, dass die Naturwissenschaften längst ein Vermittlungsproblem haben und ihre komplexen Denksysteme nicht mehr darstellen können, nicht nur, dass Politiker mit Hilfe künstlerischer Events ihre Versäumnisse um den Erhalt einer lebendigen Kultur kaschieren. Vielmehr zeigen sich Künstler selbst in Forschungsfragen und Beobachtungsverfahren kundig und bringen ihre Kompetenzen ein (sei es im Max Planck Institut oder in desolat gewordenen Communities). »Nicht als genialische Schöpfer verstehen sie sich, sondern als Anstifter, als Wandler und Planer, als Streetworker in Sachen Ästhetik.« (Rauterberg 2003: 37) Was mit der Auflösung der Zentralperspektive durch die Avantgarde begann und durch die Neoavantgarde neu gelesen wurde (erinnert seien nur die sinnleeren Objekte von Robert Morris oder die Auslassungen von John Cage), wird heute kontextbezogen an eine Grenze getrieben (vgl. Pinkert/Seitz 2002): Realität und Fiktion werden untrennbar fusioniert und die Betrachter/Zuschauer aufgefordert, Grenzen neu zu verhandeln und also Bedeutung selbst zu generieren – sogar im white cube, wo die Rahmeninhalte (womöglich immer noch) Welt repräsentieren oder in der black box, deren Bretter (womöglich immer noch) Welt bedeuten wollen. (Vgl. auch Seitz 2004) a) Kunst des Handelns
Die »Welt als Bühne« (auch der lange verstummte Körper) ist in den Spektakeln der Erlebnisgesellschaft längst neu entdeckt worden. Doch die Körper folgen einem Text, den sie zwar schreiben, nicht aber mehr lesen können – Erinnerungen, die keinen Ort mehr haben, Praktiken, die durch keine Ordnung geformt, Körper, die durch kein Stilmittel mehr gehalten werden. Was auf der von Anna Viebrock entworfenen Bühne zu Christoph Marthalers Fidelio (1997) zur Anschauung kommt (und sich zunächst noch im Kellergeschoss des Wohnhauses befindet), zeigt denn auch, dass die memoria zwar nicht vergessen ist, aber auch nicht erinnert wird. Die unbegriffenen (weil vorbewussten) Vorgänge werden nicht erklärt, sondern buchstäblich erzeugt. Als Labor für Handlungs- und Wirkungsforschung setzt Marthalers Theater auf Nicht-Wissen und Einbildungskraft (der Schauspieler wie auch Zuschauer). Und wenn sich das Gedächtnis in der Konfrontation mit Ereignissen bildet, die von ihm selbst unabhängig sind und es also äußere Umstände
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braucht, dann lebt es genau davon, an diese Möglichkeit zu glauben und sie »wachsam auf der Lauer liegend« zu erwarten. (Vgl. Certeau 1988: 170) Marthaler verlässt das klassische theatrale Setting; das zur Darstellung kommende »Lauern« (all die Rhetoriken, Stilmittel, Coups und Tricks) verweist nicht mehr (im Sinne des Als-ob) auf eine Wirklichkeit außerhalb des Theaters, sondern die Handlungen sind, was sie sind – bleiben unverstehbar und funktionieren doch. Und der Mangel an Sinn (dem sich Zuschauer wie Darsteller ausgesetzt sehen) ist am Ende ein Gewinn, macht er doch die »Grundlosigkeit radikaler Wahrnehmung« (Dietmar Kamper) erfahrbar. Die zur Aufführung kommende »Kunst des Handelns« (Michel de Certeau) öffnet jene Einfallstore, jene »Lücken im Sinngefüge«, die der Zuschauer zu allererst lokalisieren und schließlich mit eigener Erfahrung füllen muss. Nichts liegt näher, als das Gegebene durch genaue Wahrnehmung zu befördern: »Das, was ohnehin schon geschieht, als Effekt von Bewusstsein und Willen, aber von dort aus verleugnet, verdrängt, verworfen wird, nun mit Bewusstsein und Willen zu tun.« (Kamper 1999: 171) b) Kunst der Resteverwertung
Die loci, die gestern noch Theater, auch Museum oder Bibliothek hießen, werden heute zunehmend durch interaktiv organisierte, virtuelle Räume ersetzt. »In der alten Tradition der Gedächtniskunst half die Kunst dem Gedächtnis auf die Sprünge [...]. Die neue Gedächtniskunst setzt woanders an. Sie kommt nicht vor, sondern nach dem Vergessen«. (Assmann 1999: 358f) Wo allerorts die Bestände gesichtet, auf neue Formate abgespeichert, für Wert befundene Schriften, Bilder, Filme oder Alltagsdinge (strahlen- und katastrophensicher) aufbewahrt werden, widmen sich die Künstler (kaum erstaunlich) dem Rest. Auf der aus dem Kellerdasein endlich befreiten Bühne (Abb. 4) zeigen sich denn auch gleich zwei Hinterlassenschaften. David Bunn verhandelt das »Erbe der Schrift« und hält die Reste des aufgelösten Karteikartenkataloges aus der Los Angeles Central Library (1995) auf dem Bühnenbalkon folgerichtig unter Verschluss. Mehrere Millionen in Schachteln aufbewahrte Karteikarten leisten auf dem Bühnenbalkon gleich doppelte Arbeit, zieht doch die (digital erzeugte) Spiegelung der Installation den Blick in jenen Fluchtpunkt der Perspektive, mit der alles seinen Anfang nahm. Und buchstäblich einen Weltatlas (zweifelsohne in Anlehnung an Warburgs Mnemosyne-Atlas) zeigt Sun – Frost (1994) von David Deutsch.
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Nur deshalb spricht man soviel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt. (Pierre Nora) Abb. 4
Im Zentrum der Bühne (deren Ähnlichkeit mit Shakespeares Globe-Bühne im Übrigen augenfällig ist) erscheint eine Weltgeschichte, die in den unzähligen Miniaturrahmen nur mehr als Farbklecks, bunte Linien und Schraffuren zur Erscheinung kommt. Das »Erbe der Bilder« zeigt nicht identifizierbare Szenen, nur mehr Spuren der Erinnerungsarbeit, wie sie Menschen von alters her auf der Oberfläche der Erde oder auf Leinwänden hinterlassen haben, um sich ein Gedächtnis zu machen. c) Kunst des topographischen Archivierens
Das dritte Bild auf der Bühne handelt schließlich vom Gebrauch der Neuen Medien und verweist auf die »Gegenwart des Digitalen«. Das gewaltige Gedächtnis- und Denksystem Performance-Art Context (2002) von Boris Nieslony und Gerhard Dirmoser (Abb. 5) vermag allerdings erst unter virtuellen Bedin-
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gungen seine volle Wirkkraft zu entfalten und unter www.asa.de/research/ kontext dem Surfer erlauben, auch ins Detail einzusteigen. Das Netzwerk birgt alles, was im Kontext der Performance-Art bisher gedacht, gehandelt, verhandelt und geschrieben wurde – es sammelt, benennt, systematisiert, ordnet, verweist und erlaubt eigene Vernetzung (und das Ablegen von Bildern und Einfügen von Links ist nur eine Frage der Zeit). Die Relation der Dinge und Erscheinungen, die Korrespondenz zwischen Denken und Handeln, die Verbindung zwischen Wissenschaft, Kunst und Bildung ist in der Art der alten Gedächtnissysteme ins Bild gesetzt und verlangt ebenso die »Fortbewegung von Ort zu Ort«. Der Blick aufs Ganze fängt weniger die Fülle ein, als vielmehr mannigfache Lücken. So werden weitere Einträge provoziert, die wiederum nur neue Lücken produzieren. Wie alle Speicher ist auch der virtuelle nicht mehr als eine Brücke für die Erinnerung und das Denken – und beides geht bekanntlich ohne Körper nicht. Ohne Zweifel erleben wir gegenwärtig eine Renaissance der Renaissance – keine Wiedergeburt, sondern eine »Rückkehr stromauf« (Dietmar Kamper). Der sich vollziehende Gedächtnisumbau zielt erneut auf Wahrnehmung, verlangt tätige Einbildungskraft und Differenzbewusstsein. Und wenn es die Künste sind, die Modelle zur Wahrnehmung von Welt reflektieren, kritisch betrachten, generieren und erproben, dann leuchtet auch ein, warum sie performative Verfahren einspielen und (bislang gesicherte) Grenzen aufs Spiel setzen – sei es zwischen Fiktion und Realität, Bilderguckern und Bildermachern, individueller Erinnerung und kulturellem Gedächtnis. Als performativer Akt bleibt solcherart Schreiben auf Wasser der Erinnerung verbunden wie er zugleich riskiert, dem Gedächtnis entzogen zu bleiben.
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Jeder Verlust der Nähe ist ein Gewinn. (Peter Weibel) Jeder Gewinn der Ferne ist ein Verlust. (Dietmar Kamper) Abb. 5
Anmerkung 1
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Die in der Renaissance erfundene Kunst des Gedächtnistheaters, die die mentalen Verfahren der antiken Mnemotechnik zur Darstellung bringt, soll mit diesem Beitrag zur Aufführung kommen, weshalb zwölf digital bearbeitete imagines an vier loci hinterlegt worden sind. Während die (auf CD-Rom gespeicherten und per Mausklick in den jeweiligen Räumen ansteuerbaren) Bilder einen mündlichen Vortrag vorantreiben und (in bescheidenem Maße) auch die Möglichkeiten der neuen Speicherverfahren vor Augen führen können, bleiben sie in der Kombination mit Schrift statisch – ihre im Kontext einer Rede zum Vorschein kommende Theatralität kann hier nur behauptet, kaum gezeigt, möglicherweise aber nachvollzogen werden.
Performative Verfahren in einer Gesellschaft des Übergangs
Literatur Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München Baxandall, Michael (1999): Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien der Renaissance, München Certeau, Michel de (1988): Die Kunst des Handelns, Berlin Clausberg, Karl (1996): Körperzentriert oder selbstdistanziert? Orte der Perspektive, in: Hans Belting/Siegfried Gohr (Hg.) Die Frage nach dem Kunstwerk unter den heutigen Bildern, Ostfildern bei Stuttgart Kamper, Dietmar (1999): Ästhetik der Abwesenheit. Die Entfernung der Körper, München Lippe, Rudolf zur (1981): Naturbeherrschung am Menschen. 2 Bände, Frankfurt a. M. Matussek, Peter (2000): Die Gedächtniskunst und das Gedächtnis der Kunst, in: Erika FischerLichte/Gertrud Lehnert (Hg.): Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Band 9/Heft 2, Berlin Mühlmann, Heiner (1996): Die Natur der Kulturen, Wien/New York Nitschke, August (1989): Körper in Bewegung. Stuttgart Pinkert, Ute/Hanne Seitz (2002): In konTexten. Potsdamer Erprobungen zur Site-Specific Performance, in: Ulrike Hentschel/Reimar Stielow (Hg.): Fragen. Jahrbuch der HBK Braunschweig, Köln Schaffner, Ingrid/Matthias Winzen (Hg.) (1997): Deep Storage. Arsenale der Erinnerung. Sammeln, Speichern, Archivieren in der Kunst. Ausstellungskatalog, München/New York Seitz, Hanne (1999): Schreiben auf Wasser. Performative Verfahren in Kunst, Bildung und Wissenschaft, Bonn/Essen Seitz, Hanne (2004): Der Betrachter als Akteur. Zur Theatralisierung der Künste, in: Peez, Georg/Heidi Richter/Jutta Ströter-Bender (Hg.): Kind – Kunst – Kunstpädagogik. Beiträge zur ästhetischen Erziehung (Veröffentlichung in Vorbereitung) Sturm, Hermann (1997): Der Ästhetische Augenblick, München Rauterberg, Hanno (2003): Lasst tausend bunte Schweinchen quieken, in: Die Zeit. Nr. 13 vom 20.03.03, Hamburg Yates, Francis (1994): Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin
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ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum (Eine Demonstration)
I. Bausteine einer multimedialen Rauminstallation Video 1: »Kamera läuft«
Eine Standkamera mit Weitwinkelkonverter nimmt den Vortragsraum auf und überträgt ihn »life« per Videoprojektor. Anwesende und Eintretende sind im Bild. Der Raum wird medial durch sich selbst ergänzt und zum Gegenstand. Video 2: »Der leere Raum«
Von gleicher Position mit gleicher Kamera wurde zuvor der leere Vortragsraum aufgenommen, um seine baulichen, innenarchitektonischen und atmosphärischen Determinanten zu zeigen. Dieses Band ersetzt Video 1 kurz vor Beginn des Vortrags. Video 3: eye-[kju:]
Eine Dokumentation künstlerischer Aktivitäten im Projektraum für kontextuelle zeitgenössische Kunst eye-[kju:] am Lehrstuhl Theorie und Praxis der Bildenden Kunst/Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald.
Ulrich Puritz
Er dient als Raumbeispiel andernorts und als komplementärer visueller Baustein innerhalb der Mediencollage. Seine Soundspur klammert alle medialen Ebenen. Informationen sind der Homepage www.eye-kju.de zu entnehmen. Diashow: »Raumausschnitte«
Raumanalytische Nahsichten, die sich der Perspektive eines normalen Kongressteilnehmers entziehen (Spurensuche im Makrobereich; der Raum als Gefüge plastischer, zeichen- und bildhafter Elemente). Ergänzend: Aufnahmen von Referenten als »living sculptures« und deren Bildbeispiele als »Bild im Bild«. OH-Projektor als Titelgeber
Die jeweilige Phase des sich zeitlich entwickelnden Raum-Bildes wird mit Titeln versehen: Bild 1: ankommen; Bild 2: anwesend; Bild eines Vortragenden; Ende.
II. Ansichtsskizze einer raumbezogenen Demonstration
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ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum
III. Verlauf der raumbezogenen Demonstration Akteur
Monitor
Projektion 1 (P1)
Der Vortragende bewegt sich als »living sculpture« im »Raum als Bild«: schaltet P1 an.
Projektion 2 (P2) Video 1: »Kamera läuft«
1. Titel: »Bild 1: ankommen« (OH-Projektion P3) Mikrofontest als Hinweis auf den Raum als Klangraum Der Akteur als »Bildstörung« durch Hinund Hergehen, schaltet weitere Medien hinzu: - Video 3 - Diashow
Video 3: Dokumentation eye-[kju:]
Diashow: Raumausschnitte
Ton als akustische Klammer aller Projektionen
2. Titel: »Bild 2: anwesend«
– Ton ausblenden – Video 3 abschalten
Bildwechsel: Video 2: Der leere Raum
3. Titel: »Bild 2: »Bild eines Vortragenden« Vortrag zur Demonstration
Diashow läuft weiter.
Band läuft weiter.
Ende des Vortrages Abschalten von P1 und P2
4. Titel: »Ende«
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IV. ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum (Text zur Demonstration) Platznehmen Ein Referent auf einem Kongress, ein Lehrer im Klassenraum, ein Dozent im Hörsaal, sie alle müssen – ebenso wie die Zuhörer – zunächst ihren Platz einnehmen. Wo dieser sich befindet, ist vorgegeben. Es bestehen wenige Variationsmöglichkeiten. Die Raumgliederung, die Möblierung, die Ordnung der Körper bilden ein Bezugssystem, das die Grundkoordinaten der Kommunikations- und Interaktionsformen festlegt. Sie bringen Zwecksetzungen zum Ausdruck: Es geht ums Sprechen, Zuhören, Zeigen, Nachvollziehen und um Diskussion. Räume wie diese sind, was mit Grundriss, Bauweise und Ausstattung entschieden wird, vornehmlich Sprach-, Zeige- und Diskursräume, eine Art »White Cube« für kognitive Operationen, die einen fixierten Körper implizieren. Alles Störende wird fern gehalten. Wehe, ein Schmetterling käme hereingeflogen. Er würde schlagartig Sinne und Fantasie enteisen und die Konzentration auf das Thema gefährden. Dem Körper obliegt die Zuarbeit des Stillhaltens. Um zu Ihnen sprechen zu können, forme ich aus gemeinsamer Raumluft mittels Körper und Stimmapparat Vorgedachtes und Vorbereitetes zu Worten und Satzgefügen. Wäre ich jetzt heiser, wäre Schluss damit. Körper, Gestik, der Klang meiner Stimme in diesem Raum und die wie auch immer geartete Qualität des Gesagten sind, neben dem Gezeigten, die zentralen Medien, die uns jetzt, hier und auf Zeit miteinander verbinden. Der Raum ist Klammer, Medium und Bühne, welche diesen Austausch ermöglichen. Er moderiert und inszeniert mit offenen und verdeckten Formen der Regie das Geschehen. Zugleich verschwindet er im Gesagten: Jedes Wort gleicht einem Loch, das die Wände durchbohrt, jedes Bild führt hinaus in virtuelle Welten.
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ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum
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ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum
Das Verhältnis zwischen Raum und den darin vonstatten gehenden Geschehnissen, zwischen seiner Anwesenheit bei gleichzeitiger Tendenz zum Verschwinden, möchte ich beleuchten und klären helfen. Zugleich möchte ich für die Wiederaneignung unserer Lebensräume plädieren: für Lehrer z. B. die Klassenräume der Schulen, für den Universitätsdozenten die Hörsäle, für unsere gemeinsame Zeit hier dieser Vortragsraum. Der Raum als Bild, das sich aus unterschiedlichen Stand- und Sitzpunkten eröffnet, das sich durch gedankliche und ästhetische Operationen bilden lässt und das zeigt, was dieser Raum – mit oder ohne uns – längst ist: ein Raum für Bildung und ein Raum, der durch seine Spezifika durch alle hier Anwesenden hindurchgeht und auf eine bestimmte Weise am Bildungsprozess teilhat. Transit Bevor ich diesen Raum medial, performativ, mit Stimme und Worten in Arbeit nehmen kann, hat er sich in Ihnen, die Sie anwesend sind, auf sehr unterschiedliche Weise längst »eingebildet«. Jeder von Ihnen ist von irgendwo nach hier gekommen und wird diese Zeit und diesen Raum bald wieder verlassen. Mithin ist dieser Raum zugleich Zeitraum, ein Raum auf Zeit – und insofern transitorisch. Nach dem Kongress werden Sie in ihre jeweiligen Alltagsräume zurückkehren, in denen Sie sich eingerichtet haben, so wie auch diese sich in Ihnen ausgebreitet haben: als alltägliches Betätigungs- und Bestätigungsfeld Ihrer Blicke, als Gegenstand und Produkt von Sinnesarbeit und daraus abgeleiteter Wahrnehmungsmodi, als Environment, in dem sich performative Routinen, Bewegungs-, Handlungs- und Kommunikationsmuster ausbilden. Vielleicht betrachten Sie diese Alltagsräume, die in Ihrer Wahrnehmung mit Regie führen, als Ihr »Zuhause«. Dieses wie auch immer geartete »Zuhause« tragen Sie gewissermaßen als unsichtbare Brille auf der Nase. Die jeweilige »Dioptrie« bestimmt Blickwinkel, Sichtweise und Sichtweite. Jeder neue Raum wird zum Auslöser bereits gespeicherter Empfindungen, Erfahrungen und Deutungen. Diese sind untereinander verbunden, bilden Strukturen und Grammatiken. Sie sind Teil dessen, was wir Identität nennen: kulturell vermittelte individuelle Sinnesoperatoren, die unsere Wahrnehmungsbeziehungen mit der Welt regeln und uns durch ihre verlässlichen Arbeitsmodi Sicherheit gewähren.
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Keiner von uns kann sich sicher sein, ob er sieht, was zu sehen ist, oder ob er sieht, was die jeweilige Brille ihm zu sehen erlaubt. Will man diesbezüglich Sicherheit gewinnen, bedarf es weitergehender selbstreflexiver und diskursiver Anstrengungen. Auch das gehört zu einem Raum, in dem ich etwas zeigen und sagen möchte und in dem ich mit Vorgeschichten, Vorbildern, Widerständen und Missverständnissen rechnen muss. Jeder von uns bewegt sich von Raum zu Raum und entscheidet unbewusst oder willentlich über Wahrnehmungen und Ausblendungen. Der erdachte Raum Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu. Ein Bild im üblichen Verständnis haben wir vor uns. Wir treten ihm gegenüber, können es anschauen und überschauen. Betrachter-Subjekt und Bild-Objekt sind räumlich voneinander getrennt, so wie hier, wenn Sie die Bildprojektionen betrachten. Einen Raum hingegen, sei es nun eine Galerie, ein Vortragsraum oder ein öffentlicher Platz, müssen wir als Vorstellung imaginieren. Räume, in denen wir uns befinden, müssen wir erdenken. Mit jenem Moment, in dem der oder die Erste von Ihnen diesen Vortragsraum hier betrat, zerfiel er in jene olfaktorischen, taktilen, visuellen und akustischen Dimensionen, die Sie mit dem jeweiligen Sinn aufzunehmen in der Lage sind und die Sie, gemäß erworbenen Kombinations- und Bewertungsmustern, auf spezifische Weise für sich zusammensetzen. Allein der Gesichtssinn zerlegt die Topographie des Raumes selektiv in jene Einzelbilder und Sequenzen, die Ihre Augen wie eine Kamera auf dem jeweils individuellen Körperstativ bei der Suche nach einem Sitzplatz aufnehmen konnten. Mit jedem weiteren Besucher verändert sich der Raum: Er wird Bühne für ein, zwei, viele Körper, die sich entsprechend den räumlichen Bedingungen in ihm bewegen und zueinander ausrichten. Zugleich tritt der Raum als Wahrnehmungsobjekt mehr und mehr hinter seinen Funktionen zurück, wenn ein Vortrag oder eine Präsentation beginnt. Zuvor hat er spezifische Empfindungen, Reaktionen und Formen der Selbstwahrnehmung in jedem Anwesenden als Körper unter Körpern wachgerufen. So entstehen individuelle Raumkonstruktionen, in denen Vorerfahrungen, der emotionale Widerhall des Raumes und die jeweils ausschnitthaften Sinnesdaten gedanklich zu einem Gesamteindruck montiert werden. Dieser
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ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum
macht die innere Bühne aus, auf der alles hier Gesagte und Gezeigte zur für Sie entscheidenden Aufführung kommt. Während die äußere Bühne als Environment materialer Gegebenheiten bestehen bleibt, verändert sich die innere Bühne im Faktor Zeit. Ich jedenfalls halte es in einer verdunkelten Vortragsgrotte an einem strahlenden Sommertag nicht lange aus. Irgendwann ist die Aufmerksamkeit verbraucht. Die innere Regie bricht ein, die Bilder flackern und das Verstehen schwindet. Zu Gast Ob hier oder anderswo: Meist sind wir da, um fort zu sein. Wir treffen uns im Hier und Jetzt, um beides sogleich durch die Wahl der Gesprächs- oder Vortragsthemen in unterschiedliche Richtungen und Zeiten zu verlassen. Sprache und Bilder sind uns gefügiges Transport- oder Fluchtmittel zu vielerlei Formen des Andernorts. So kann man sich über kritikwürdige Umstände hinwegtrösten und um mögliche regulierende Interventionen drücken. Unser Denken hat sich in einer medienbeschleunigten Virtualität eingerichtet und scheint »abzuheben«. Währenddessen behausen unsere Körper und Sinne die Räume unseres Alltagslebens. Hier sind sie Wirt und Gast zugleich. Als Wirte dienen sie fügsam den Streckungen des Denkens und einer instrumentalisierten Imagination. Als Diener sind sie Gäste im Lokalen: vernachlässigt, willfährig, anspruchslos – ewige Untermieter. In dieser Art Dehnung geraten – mit dem Raum – der Körper, das Konkrete, das Politische im Unmittelbaren aus dem Blick. Das nahe Liegende wird ausgeblendet. Globalisierungsprozesse laufen Gefahr, historische Operationen auf problematische Art weiter zu treiben: die Trennung zwischen Raum und Zeit, zwischen konkret und abstrakt, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Ästhetik und Vernunft, zwischen Körper und Geist. »Der westlichen Zivilisation ist es immer schon schwer gefallen, die Würde des Körpers [...] zu achten«, konstatiert Richard Sennett im Vorwort seines Buches Fleisch und Stein mit dem Untertitel Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation (Berlin 1997). Mit dem Philosophen Minkowski, zitiert nach Otto Friedrich Bollnow in seiner Publikation Mensch und Raum von 1964 (Stuttgart-Berlin-Köln 1964/ 2000, S. 20) möchte ich die Bedeutung des Raumes folgendermaßen umreißen: »Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium der leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durch-
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gang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit.« Was aber, wenn wir uns dem gelebten Raum entziehen, vor ihm flüchten, ihn nicht durch Wahrnehmung wahr machen und realisieren, weil wir gegenüber nahe Liegendem und scheinbaren Selbstverständlichkeiten stumpf geworden sind? Oder weil wir uns haben abstumpfen lassen? Die Stadt als Schule Wir sind inmitten von Kernthemen der Kunst, Politik, Philosophie, Soziologie und Pädagogik. Es geht z. B. um Fragen des Kontextbezuges künstlerischer Praxis und künstlerischer Hervorbringungen. Es geht um Erweiterungen der Vernunft in Richtung »Ästhetisches Denken«. Es geht um Fragen der Selbstverortung in Zeiten der Globalisierung, welche Demokratie als unvollendeten Prozess offenbaren und neu zum Thema werden lassen, wie zum Beispiel im Rahmen der Documenta 11. Es geht um Lernstrategien, die dazu geeignet sind, ein jeweils konkretes Leben mit global wirksamen Mechanismen so zu verbinden, dass alle Beteiligten sich auf produktive Weise in diesem Spannungsfeld neu finden und erfinden können. Wie z. B. bei Paolo Freire, der – zusammen mit Künstlern, Soziologen und Pädagogen – konkrete, lokale Problemstellungen mit großer Weitsicht analysierte und so zu jenem alltags- und lebensbezogenen Material kam, das Anlass und Gegenstand seiner Alphabetisierungskampagnen in Lateinamerika wurde. Das ist schon mehr als dreißig Jahre her, die Methoden des Brasilianers und deren Herleitung erscheinen mir nach wie vor beispielhaft. Ebenso die Arbeitsweise des reformpädagogischen Konzeptes einer Stadt-alsSchule Berlin, deren Name wörtlich zu nehmen ist und an der ich die letzten beiden Jahre meiner Zeit als Kunst- und Schulpädagoge (1994 – 1996) gearbeitet habe. Die Stadt wird zur Schule. Sie wird als politischer, sozialer und ästhetischer Präge- und Handlungsraum Gegenstand des Lernens und didaktischer Bemühungen. Die Schüler durchlaufen Praktika in unterschiedlichen selbst gewählten Berufssituationen, in einer Tischlerei, in einer Autowerkstatt oder in einem Architekturbüro, um drei von vielen Möglichkeiten aufzulisten. Dazu gehört, Stadtpläne wie die Stadt selbst als Beispiel für Städte allgemein lesen und sich darin orientieren zu lernen, sich auf ein Bewerbungsge-
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spräch vorzubereiten und dieses gegen Ängste und Irritationen zu bestehen sowie das jeweilige Tun mit sprachlichen und ästhetischen Mitteln reflektierend zu begleiten. Dazu gehört auch, dass ein Besucher Mühe hat, die Schule als Schule zu identifizieren. Statt Klassenräume findet er einladende Projekträume mit Computerarbeitsplätzen, Leseecken, Arbeits- aber auch Unterhaltungsmedien, mit selbst produzierten Objekten sowie offenbar nicht vernachlässigten Topfpflanzen. Auf die Stadt als komplexer Lerngegenstand antwortet die Schule mit einem breiten Spektrum an Lern- und Verhaltensmöglichkeiten, sich dieser Komplexität zu stellen und diese zu bewältigen. Der Besucher wird vielleicht schon in der Küche hängen bleiben, wo gerade die Kaffeemaschine in Betrieb ist und ein paar Schüler sich Spaghetti zubereiten. Nirgendwo Hektik und didaktischer Gleichschritt. Die Schüler arbeiten weitgehend selbstständig nach eigenen Plänen, die sie mit Unterstützung eines Lehrerteams erarbeitet haben und die das jeweilige Praktikum mit praxisbezogenen Lerninhalten flankieren. Die Schule als gemeinsamer Lebensraum auf Zeit bis hin zu den Wochenplänen, wer wann für das Aufräumen der Küche und der weiteren Räume zuständig ist. Die Schule auch als Ort der Vor- und Nachbereitung der vielen unterschiedlichen stadtbezogenen Aktivitäten. Was für einen Besucher ebenfalls nicht zu ersehen ist: Hier sind ausschließlich Schüler anzutreffen, die in und an der Regelschule gescheitert sind. Eher hart gesottene »Bräute« und »Kerle«, die hier selbstverantwortlich für das Leben – und zwar ihres – lernen, das zunehmend in globale Zusammenhänge verstrickt ist. Die wesentlichen Gründe für den Erfolg dieses Konzeptes, welches die Stadtals-Schule Berlin seit nunmehr zehn Jahren verfolgt und verfeinert, sind: Hier wird das Abstrakte im Konkreten aufgesucht. Hier wird Problemen der Globalisierung in aktuellen Kleiderordnungen, in Softwareprogrammen oder am Beispiel des Hip-Hop nachgegangen. Hier werden eigene und fremde Wünsche in konkreter Wirklichkeit aufgedeckt. Hier wird das Politische im Alltag untersucht. Hier arbeiten Körper, Sinne und Geist zusammen. Raum, Leben und Zeit fallen in eins. Ästhetische und kognitive Potentiale verbinden sich in und durch »lerning by doing«, durch Praxislernen. Mit anderen Wor-
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ten: Die Jugendlichen werden ernst und für voll genommen und sind deshalb ganz und gar gefordert. Weitere Informationen unter: www.Stadt-als-Schule.de Auch andere reformpädagogische Ansätze wären hier zu nennen, z. B. jene von Freinet, Montessori oder der Reggio-Pädagogik, ebenso der aktuelle Ansatz einer community education der Pädagogen an der Universität Greifswald, die Modellen in England und Amerika folgen. Im außerschulischen Bereich, wie z. B. in Jugendkunstschulen und in anderen Formen der kulturpädagogischen Arbeit, hat sich ein solches Denken längst durchgesetzt. Die Freiwilligkeit des Besuches und die Konkurrenz zu den Freizeit- und Unterhaltungsmedien nötigen zu Erfahrungs- und Interessensbezügen, was auch zu einem vordergründigen Bedienen klischeehafter Erwartungen führen kann. Um allgemeine Überlegungen abzuschließen und um auf die Bildende Kunst zurückzukommen, folgende zusammenfassende Aussage: Lebensräume – ob Stadt, Dorf, Landschaft, Straße, Wohnung, Klassen- oder Kongressraum – sind in politischer, sozialer, kultureller und ästhetischer Hinsicht funktionell gestaltete Räume. Sie folgen kulturellen und politischen Implikationen und sind sowohl Gegenstand als auch Anlass von Sinnesarbeit. Die Sinne organisieren einen komplexen Austausch zwischen außen und innen, zwischen Realität und Imagination, zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Es entstehen Lern- und Trainingsfelder zur Herausbildung von Wahrnehmungsleistungen, Bewertungsmustern, Empfindungsweisen und Denkformen. Sie prägen unser Verhalten, unsere Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten. Gebrauch, Gestalt und Gestaltungsmöglichkeiten von Lebensräumen als Bildund Bildungsräume sind Bezugsgrößen und Untersuchungsfelder eines kontextuellen Kunstbegriffs. Von dieser Art Kunst soll jetzt die Rede sein.
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Der Raum als Lehrkörper Die an der Dresdener Kunstakademie lehrende Künstlerin Ulrike Grossarth definiert Kunst auf bemerkenswert handfeste Weise folgendermaßen: »Kunst ist ... Schränke, Tische, Stühle, Sessel Sofas, Regale, sonstiges Gestelle in einen leeren Raum hineintragen abstellen lehnen, unterschieben, einzwängen, kanten auftürmen, anpassen bis in Schrankhöhe schichten bis in den Türrahmen hinein Türe schließen Türe öffnen sich in die Materialmasse hineinbegeben steigen, einsacken, weiterrutschen, liegen bleiben Gewicht, Druck, Gegendruck in der Stille der verharrenden Materiale lehnen, einpassen, nachgeben verschwinden ruhen.« Quelle: Andreas Mäckler (Hg.): 1460 Antworten auf die Frage: was ist Kunst? Köln 2000, S. 22 Es wäre sicher ein lehrreiches und amüsantes Unterfangen, diesen Kunstbegriff hier und heute praktisch zu erproben. Auch eine Schulklasse oder ein Seminarprojekt würde daran Spaß finden und allgemeine Überlegungen bezüglich gegenstands-, körper- und raumbezogener ästhetischer Ausdrucksmöglichkeiten anstellen können – sofern Rektor oder Hausmeister dem Treiben nicht ein Ende setzen, weil sie meinen, das Mobiliar im Namen einer übergreifenden Raison schützen zu müssen. Angesichts der aufgezählten Möbelstücke würde auffallen, welche von ihnen hier oder in einem Klassenraum nicht vorhanden sind. Die den Gebrauch bestimmende Zweckrationalität jeweiliger Räume und Einrichtungen habe ich eingangs erwähnt.
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Es gibt einen weiteren gravierenden Unterschied: Ulrike Grossarth spricht, so lässt der Text vermuten, von einem einzelnen Akteur, der sich zu Dingen und Raum physisch und ästhetisch in Beziehung bringt. Hier oder mit einer Schulklasse andernorts wäre es jeweils eine Gruppe, die das Experiment betreiben würde. Damit käme Gruppendynamik ins Spiel. Sie könnte die Aktionsformen dominieren und Wirkung, Eigensinn und Ästhetik der Gegenstände als Ergänzung oder Widerpart der Körper überstrahlen. Auch das würde eine Raumspezifik thematisieren, diese jedoch um neue Aspekte und Herausforderungen erweitern. Ich habe – nicht zuletzt aus Zeitgründen – einen pragmatischeren Weg gewählt. Statt Sie von den Stühlen zu bitten, habe ich diesen Raum per Video mit und ohne Publikum aufgenommen, sozusagen in möbliertem Roh- und sozialem Gebrauchszustand. Zusätzlich habe ich ihn fotografisch in Einzelansichten und Nahaufnahmen zerlegt. Dabei ging es mir um den Raum als materiale Setzung wie um den Raum als Aktionsfeld, welches durch die Vortragenden und jene Bilder, die sie dem Raum als Bild im Bild einfügen, ausgefüllt wird. Um zu solchen Aufnahmen zu gelangen, habe ich mir zuvor den Raum von nahem und von weitem, von »oben« und von »unten« angesehen. Ich bin darin auf und ab gegangen und habe ihn hinsichtlich seiner bildhaften, materialbezogenen, skulpturalen und klanglichen Eigenschaften untersucht. Mit allen Sensorien des Körpers bin ich Raumdimensionen und Raumqualitäten nachgegangen. Ich habe Lichtführung und Sichtachsen als raumbildende Größen studiert und versucht, gewissermaßen in und zwischen den Zeilen eines architektonischen Textes mit kulturellen und politischen Hintergründen zu lesen. Heraus kam, was Sie nun als Sequenzen, Reihungen und Konfrontationen sehen können: der Raum, in dem Sie sitzen und der durch das jeweilige Geschehen belebt wird, als Raum, den ich Ihnen auf Projektionsflächen in medialem Nebeneinander vorführe – bei aller Datenfülle eine ausschnitthafte subjektive Konstruktion. Der Raum wird so aspekthaft durch sich selbst ergänzt und mit sich selbst durchbrochen. Sie schauen zugleich heraus und hinein. Meine visuellen Interventionen ermöglichen – so hoffe ich – wörtlich und bildlich Reflexionen und Distanz zu räumlichen Sachverhalten, die Sie gänzlich umschließen und Ihr Fühlen, Wahrnehmen, Denken und Ihr Verhalten mitregulieren.
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ANWESEND: Lebensraum als Bild(ungs)raum
Nebenbei wollte ich damit Möglichkeiten einer Raumanamnese mit ästhetischen Mitteln vorführen, wie sie in allen kontextuellen Arbeitsweisen zum Einsatz kommen kann. Ob ein Schlosspark, ein Marktplatz, eine Galerie oder der Projektraum eye-[kju:] als Teil der hier aufgeführten Mediencollage, ob ein Klassen- oder Vortragsraum, zunächst gilt es, einen Raum in seinen materialen Besonderheiten, in seiner Ausdehnung, seinem Licht, seinen körperbezogenen und bedeutungsstiftenden Voraussetzungen nebst seiner baulichen und sozialen Geschichte zu lesen, um seine Wirkkräfte zu realisieren und für künstlerische oder pädagogische Situationen nutzen zu können – und sei es durch Konfrontationen oder ein Unterlaufen. Gleichgültig auch, ob wir es mit einer ausladenden Installation zu tun haben, mit einem simpel an die Wand gepinnten Foto, mit flüchtigen Bewegungen und Klängen oder mit sozialen Interaktionen, stets bildet der Raum ein kompositorisches und dramaturgisches System, welches Betrachter und Werk oder Referent und Zuhörer auf spezifische Weise zusammenführt: in demokratischem, aktivierendem und generierendem Miteinander oder in hierarchischen Beziehungen und Kommunikationsformen. Ohne eine sorgfältige Analyse sich im Raum materialisierender allgemeiner Verhältnisse kann sich eine Präsentationsform auch gegen eine Werkaussage richten. Ebenso können Lernziel und Lernsituation einander fördern oder sich wechselseitig behindern. Die soziale und ästhetische Nutzung von Räumen kann kognitive, emotionale und körperliche Erfahrungs- und Entfaltungsmöglichkeiten produktiv bündeln aber auch gegeneinander setzen und damit ein Lernen schwächen und unterminieren. Nebenbei: In den siebziger Jahren wurden derlei Zusammenhänge in der Pädagogik unter dem Stichwort »heimlicher Lehrplan« diskutiert. Ein Thema mit weit über die Pädagogik hinausgehender Relevanz, wie ich hier zeigen möchte. Ich spreche hier über grundlegende Qualifikationen von Künstlern, Kuratoren, Kunst-, Museums- und Sozialpädagogen und vielen anderen Berufsgruppen, die im engeren oder weiteren Sinne mit raumbezogener Vermittlungspraxis befasst sind. Sprachzentrierte Professionen neigen dazu, von räumlichen Bedingungen zu abstrahieren und den Körper im Denken vom Kopf zu trennen. Ihnen geraten Plattformen der Körperlichkeit aus dem Blick, wie beispielsweise Schulhöfe, Fußballplätze, Discos oder die LoveParade in Berlin, aber auch jugendkulturelle Attacken gegen Herrschaftsformen im öffentlichen Raum wie Graffiti und »tags«. Kaugummis unter der
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Ulrich Puritz
Schulbank, der Apfelrest, der neben dem Lehrer an die Schultafel klatscht, die demolierten Schultoiletten, das Chaos in Zimmern meist männlicher Jugendlicher, die leeren Bierdosen hinter dem Tankstellengelände, der gänzlich andere Stadtgebrauch durch Jugendliche bei Nacht – hier drücken sich kulturelle Spannungen hinsichtlich differierender Ordnungsvorstellungen und raumbezogener Macht- und Hoheitsansprüche aus. Umso wichtiger, diesbezüglich in einen Diskurs einzutreten und das eigene Verhalten, nämlich unseres, zu überprüfen. Formen eines Raum- und Körperverzichts im Leben von Erwachsenen wie auch in ihrem Denken und Fühlen ergänzen sich mit allgemeinen politischen Implikationen. So kommt es, dass viele von uns Städte, Plätze, Schulen, Klassenzimmer und Hörsäle hinnehmen, wie sie sind, und sich aus möglichen Einflussnahmen und Interventionen heraushalten. Mehr noch: Ein diesbezügliches Wahrnehmungsund Kritikvermögen scheint unterentwickelt. Öffentliche Räume sind – mit dem Rückzug ins Private – offenbar aufgegeben worden. Und mit ihnen – so scheint mir – Aktionsfelder einer lebendigen Kultur und Demokratie. Kontextuell arbeitende Künstler hingegen sind gewissermaßen körper- und raumbewusste Phänomenologen. Sie werfen – ebenso wie Skateboarder, Breakdancer oder Sprayer aus verengter subkultureller Perspektive – folgende Fragen auf, die von uns allen zu beantworten wären: Wem gehören öffentliche und institutionelle Räume, in denen wir große Teile unseres Lebens verbringen und die uns prägen? Und wie können wir uns darauf vorbereiten, bei ihrer Gestaltung partiell, temporär, situativ – wie auch immer – mitzuwirken? Ich möchte an das bereits vorgetragene Zitat von Minkowski erinnern: »Der gelebte Raum ist für das Selbst Medium der leibhaftigen Verwirklichung, Gegenform oder Verbreiterung, Bedroher oder Bewahrer, Durchgang oder Bleibe, Fremde oder Heimat, Material, Erfüllungsort und Entfaltungsmöglichkeit, Widerstand und Grenze, Organ und Gegenspieler dieses Selbstes in seiner augenblicklichen Seins- und Lebenswirklichkeit.« Gebrauch, Gestalt und Gestaltungsmöglichkeiten von Lebensräumen als Bild- und Bildungsräume sind Bezugsgrößen und Untersuchungsfelder eines kontextuellen Kunstbegriffs, habe ich weiter oben formuliert. In diesem Sinne sollte jeder ein Künstler sein oder werden, statt sich mit inneren und äußeren Ist-Zuständen zu befrieden.
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[keywords] Kultur Bildung Kunst
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Bildung ohne Kultur ohne Bildung? Meine Damen und Herren – es gibt sicher Berufenere, die sich der Provokanz des Themas mit dem philosophischem Tiefgang nähern könnten, dessen es Wert ist. Aber die Veranstalter haben es nicht anders gewollt. Und zugegeben – es hat mich gereizt. Erwarten Sie also bitte nicht von mir, dass ich allgemein Gültiges zu sagen wüsste. Gültiges schon, aber – gestatten Sie mir diesen Luxus – für mich. Und ich darf hoffen, Sie mit dieser persönlichen Sicht nicht zu langweilen. Zu klären, was eine Gesellschaft unter Bildung versteht, scheint eine kaum vermeidbare Anstrengung – müssten doch zumindest Schulen, die einer weit verbreiteten Meinung nach Bildung vermitteln sollen, wohl wissen, was genau ihr Auftrag ist. Zu klären – mit wem denn? Das sagt sich so leicht: Wir brauchen einen gesellschaftlichen Klärungsprozess! WEN rufen wir zusammen? Und wer ist das – »WIR«? – Die gesellschaftlichen Kräfte – wie man die nennt, die immer gefragt werden wollen und müssen? Oder die Lehrenden innerhalb und außerhalb der Schulen? Oder die Theater- und Museenbesucher? Oder können wir aus dem definitorischen Angebot der Wissenschaft eine Auswahl treffen? Oder genügt es etwa, eine insgeheime Verständigung unter Gebildeten anzunehmen? Bildung findet immer dann statt, wenn das Individuum sich einer Schwierigkeit stellt – auch, wenn diese eben nicht überwunden wird. Gerade das Erleben und Akzeptieren solcher Grenzen bildet. Schule kann – wenn sie sich aus ihrer Insel herauswagt – dazu ein Übungsfeld sein. Jenseits aller formalen Bildungsgänge aber gibt es ein anderes SichBilden.1 Auch das Umfeld von Schule ist Lernort: Ort, an dem Erfahrungswissen gewonnen, Persönlichkeit gebildet wird.
Dorothea Minderop
Wozu also definieren, was Bildung ist, wenn doch alle Erfahrung Bildungswert hat? Eine mögliche Antwort wäre die Hartmut von Hentigs: Um Maßstäbe zu gewinnen! Er hält sich »an die folgenden sechs: • • • • • •
Abscheu und Abwehr von Unmenschlichkeit, die Wahrnehmung von Glück, die Fähigkeit und den Willen, sich zu verständigen, das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der eigenen Existenz, Wachheit für letzte Fragen und – ein doppeltes Kriterium – die Bereitschaft zu Selbstverantwortung und Verantwortung in der res publica.«2
Das war 1996. Seit PISA und IGLU wird die schulische Bildung erneut viel diskutiert. Um die Effizienz der Institution geht es, die die Gesellschaft mit der Bildung und Ausbildung der nächsten Generation beauftragt hat – auch um ihre Qualität. Leider finden sich auf die immer wieder zitierten »Herausforderungen des 21. Jahrhunderts« allzu oft Antworten von gestern. Ausgerichtet am jeweiligen Klientel. Neue Konzepte werden ideologisch bewertet, statt sie auf ihre Vernünftigkeit zu befragen. Eine Verständigung darüber, was eigentlich in »unserer Schule« zählt und gilt, scheint undenkbar. Jeder nimmt für sich in Anspruch, die Schule und ihren Auftrag richtig zu beurteilen. Vielleicht ist die Vielstimmigkeit aber auch eine Chance. Vielleicht nimmt die einzelne Schule das unterbrochene Gespräch wieder auf: mit den Eltern, regionalen Betrieben, der Schulaufsicht, dem Schulträger und den sie umgebenden Bildungs- und kulturellen Einrichtungen. Vielleicht besinnt man sich gemeinsam darauf, wie der Bildungsauftrag dieser einen besonderen Schule zu klären ist. Eine Chance zur Selbstreflexion darüber, was gemeinsam gewollt wird. Das ist dann allemal mehr, als das Konzert der Gebildeten um eine weitere Tonlage zum Bildungsbegriff zu ergänzen. Damit sei nicht dem puren Pragmatismus gehuldigt, wohl aber der Einsicht in die Grenzen gesellschaftlicher Konsensfähigkeit wie auch der einzelschulischen Möglichkeiten. Gestatten Sie mir – wir sind ja in Niedersachsen – einen Blick in den § 2 des niedersächsischen Schulgesetzes, der ja formuliert, was dieses Land an Bildung in seinen Schulen erwartet. Da ist von den Fähigkeiten die Rede, die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen:
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von der Einbindung in die demokratische Gesellschaft, vom Handeln nach ethischen Grundsätzen und der Achtung religiöser und kultureller Werte, von Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz und Gleichberechtigung, von Völkerverständigung, Europa, Ökologie und Ökonomie, von Konfliktfähigkeit, von den Informationen und dass man sie kritisch nutzen solle, von der Selbstbehauptung im Beruf und der Mitgestaltung des sozialen Lebens, schließlich und tatsächlich nicht zuletzt vom Niederdeutschen und Friesischen, die dazu beitragen sollen, Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.
»Die Schule hat den Schülerinnen und Schülern die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln.«, heißt es dann dazu – und damit ist wohl die Bildung gemeint, die die Schule vermitteln und die die jungen Menschen erwerben sollen. Ein hoher Anspruch, dem sich Lehrerinnen und Lehrer da gegenüber sehen. Darüber hinaus gibt es eine Fülle von Forderungen an die in der Schule zu erwerbenden Kompetenzen. Das europäische Arbeitgeberkonzept von 2001 »Schule braucht« Qualität z. B. fordert: • • • •
grundlegende Fähigkeiten (das sind: Lesen, Schreiben, Rechnen – aktuelles und relevantes Wissen und Verstehen) praktische Fertigkeiten (dazu gehören: Probleme zu lösen, Umgang mit Multimedia, Entwicklung von Arbeitsdisziplin) soziale Kompetenzen (nämlich: Kommunikation, Teamarbeit, Toleranz; Fremdsprachenkenntnisse; soziale Mitverantwortung) und schließlich: persönliche Kompetenzen und Haltungen (wie: Eigenverantwortung, »Emotionale Intelligenz«, auch unternehmerische Einstellung, Lernfähigkeit und Anwendung des Gelernten, Selbsterkenntnis und Arbeit an eigenen Schwächen und Stärken)«
Zugegeben: Es mir fällt schwer, mir den dazu passenden Menschen vorzustellen. An solchen Forderungen entzünden sich heftige Diskussionen um Allgemeinbildung und Verwertbarkeit, aber auch um die Frage, mit welchem
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Auftrag die Gesellschaft die Schule als Institution – nicht als Schulform – ausstatten will. Den Zusammenhang von Bildung und Kultur möchte ich eingrenzen auf das Feld schulischer Bildungsanstrengungen. Was Kultur mehr ist als der Beutel, mit dem sie quasi als Pflegeset zusammengesetzt wird, lässt sich an der Begriffsreihe von »kultiviert« über »Reflexions- oder Feedback-Kultur«, »Unternehmenskultur«, »kulturelle Eigenheiten« und »Kulturhauptstadt Europas« bis »ethnische Kulturen« festmachen. Offensichtlich geht es bei der Kultur also um mehr als um künstlerische Ausdrucksformen: Es geht auch um Lebensweisen und Traditionen und daraus folgend um die gesellschaftliche Dimension von Kultur. Deren Definition wiederum ist der Art von Gesellschaft geschuldet, in der sie stattfindet. Es mag manche und manchen unter uns schaudern machen, wenn der Fluss der Erinnerung die Feuer der Bücherverbrennungen nicht löschen kann oder auch das Dogma des sozialistischen Realismus mit seiner nur vorgeblichen Volksnähe an seine Ufer spült. Dennoch – da scheinen Kultur und Gesellschaft eine eheähnliche Beziehung eingegangen zu sein – in guten wie in schlechten Zeiten hat Kultur eine gesellschaftliche Funktion – im Guten kreativ und kritisch wie im Schlechten einschmeichelnd angepasst. Nach der Definition der Deutschen UNESCO-Kommission ist Kultur der gesamte Komplex unterschiedlicher spiritueller, materieller, intellektueller und emotionaler Ausdrucksformen, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Sie schließt nicht nur die Künste und Literatur, sondern auch die Weisen des Lebens, die fundamentalen Menschenrechte, Wertesysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen ein.3 130 Jahre zuvor hat der Schweizer Kultur- und Kunsthistoriker Jacob Burkhardt in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen Kultur »die ganze Summe derjenigen Entwicklungen des Geistes [genannt], welche spontan geschehen und keine universelle oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen.« Sie sei derjenige millionengestaltige Prozess, durch den sich das naive […] Tun in reflektiertes Können und schließlich in Wissenschaft und bloße Reflexion umwandele. In unserer demokratischen Gesellschaft ist Kultur ein Ausdruck der Freiheit, der uns gelegentlich mit Nachdruck eben daran erinnert. Aus gutem Grund findet deshalb Zensur bei uns nicht statt. Das hindert nicht, dass unsere
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Gerichte gelegentlich darüber zu entscheiden haben, ob ein – nennen wir es – »Produkt« künstlerischer Betätigung verboten werden müsse oder ob seine Aussage vom Recht der freien Meinungsäußerung geschützt ist, das nicht zuletzt den Freiraum für Kultur bewahrt. Das hindert auch nicht, dass Kunstwerke im öffentlichen Raum zerstört werden, weil sie stören. Und das hindert schon gar nicht diejenigen, die für sich in Anspruch nehmen zu wissen, was Kunst sei und was Schmiererei, dies zum Maßstab für alle anderen zu machen. Dass Kunst nicht von Können kommt, hat schon der leidenschaftliche Stuttgarter Galerist der 60er Jahre, Hans-Jürgen Müller, in seinem gleichnamigen Buch festgestellt und damit – wie Günter Engelhard interpretiert – »die Bildungsbremsen [gelockert] auf der Fahrt in das Territorium des Experiments«.4 Bildende Kunst, meine Damen und Herren, ist für mich ein entscheidender Teil kultureller Betätigung. Das mag an meiner Biografie liegen: Sie war mir in die Wiege gelegt, nicht als eine Gabe in mir, wohl aber als eine neben mir. – So als müsste ich in eben dieser Wiege ein wenig beiseite rücken, damit wir gleichberechtigt Platz hatten – Vaters Kunst und ich. Nicht umsonst hat er seine Werke oft seine Kinder genannt. Und irgendwie hat mir diese Verwandtschaft auch die Werke anderer in einer Weise nahe gebracht, die sie zu einem wichtigen Teil meines Lebens werden ließen. Heute bin ich sicher: Das individuelle Erleben öffnet nicht nur den Weg zur Bildenden Kunst, sondern zu allen Werken kreativer schöpferischer Aktivität. Denn dann haben sie mit dem Menschen und sie mit ihnen zu tun. Allgemein gültig zu sagen, was nun Kunst sei und was nicht, verbietet sich vor solcher Folie. Ich kann und will mir den Luxus leisten, immer aufs Neue für mich alleine berührt, entzückt, empört oder auch ratlos zu sein und das natürlich auch mitzuteilen – ohne für andere mit zu entscheiden – ich bin ja kein Kritiker. Im Laufe meiner Lehrertätigkeit an einer berufsbildenden Schule fiel mir das Angebot in den Schoß, das Fach Warenverkaufskunde für die kaufmänni-
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schen Auszubildenden der Kölner Galerien und Auktionshäuser zu unterrichten. Ich hatte interessierte und begabte Schülerinnen und Schüler. Es ist u. a. der lebendige Dialog mit ihnen, der mich in meiner Auffassung bestärkt hat, dass gerade in der Begegnung mit Kunstwerken Bildung geschieht: Wer sich einmal in das Blau der blauen Yves-Klein-Bilder versenkt hat, kehrt verändert daraus zurück. Er muss nicht notwendig rational verstanden haben, warum das so ist. Die so ganz andere Welterfahrung irritiert, und in dieser Irritation liegt die Chance, über den Horizont des Alltäglichen hinaus zu schauen – natürlich auch zu hören, wenn uns unsere Hörgewohnheiten nicht mehr daran hindern, die neue Musik und ihren Widerhall in uns zu erleben. Und das ist sicherlich ein Bildungsprozess. Denn erst wenn wir »unsere Trägheit und den Widerwillen, eingefleischte Gewohnheiten abzuschütteln« überwunden haben, steht »unserer Freude an großen Kunstwerken« nichts mehr im Wege. Diese Mahnung hat Ernst Gombrich in der Einführung zu seiner so unglaublich lebendigen Geschichte der Kunst5 ausgesprochen. »Bildung ohne Kultur?« fragt auch danach, welche Möglichkeiten zu eigener kreativer Tätigkeit junge Menschen in unseren Bildungsanstalten haben. »Was sollen Kaufleute mit Theater?«, war das fassungslose Abwehrargument meines Schulleiters gegen mein Ansinnen, in dieser kaufmännischen Lehranstalt eine Theatergruppe zu gründen. Ich hatte Glück und Befürworter. 15 Jahre lang habe ich die Theatertruppe mit ihren nahezu jährlich wechselnden Mitgliedern geführt. Diese Arbeit mit Schülerinnen und Schülern aus allen beruflichen Schulformen hatte viele Facetten, denen ich Bildungswert für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit zuschreiben möchte: • • • • • • • •
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der Prozess der Auswahl und der Entscheidung für ein Stück, die Diskussion seiner Aussagen, die sprachliche Eroberung des Textes, das Ausprobieren der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten, das Entwerfen und Fertigen der Kostüme und des Bühnenbildes, die Bewältigung der technischen Probleme, das Gestalten des Flyers – und schließlich das »Aushalten« der öffentlichen Präsentation.
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Bildend sind diese Tätigkeiten nicht in erster Linie durch den Erwerb fachlicher Kompetenzen, sondern durch die Notwendigkeit, eine ästhetische Gesamtproduktion selbstständig in die zu ihrer Präsentation notwendigen Details zu zerlegen, um sie alsdann zu einem Ganzen zusammenzufügen. Neben der individuellen Eroberung der eigenen Rolle hatte jede Schülerin und jeder Schüler teil an der Arbeit aller. Sie wurden selbstbewusster als Personen und teamfähiger in der Gemeinschaft. Sie entwickelten Qualitätsansprüche. Sie wollten gut sein und besser werden. Sie lernten für die anderen mitzudenken – sie übernahmen Verantwortung. Und manche von ihnen verblüfften sich selbst und ihre Lehrer durch nie geahnte Talente. All das geschah freiwillig. Kreativität in den 45 Minuten der Normalstunde zuzulassen und zu fördern ist gewiss ungleich schwerer. Viele Kolleginnen und Kollegen haben aber mit ihren Lerngruppen bewiesen, dass es möglich ist. Kreatives Schreiben im Deutsch- und Sprachunterricht, das den Rhythmus poetischer Sprache erspüren hilft, offene Themen im Kunstunterricht und choreografische Elemente im Sportunterricht sind keine methodischen Tricks eines Edutainment. Sie sind Teil des großen Spektrums von Ideen zur Aktivierung individueller schöpferischer Fähigkeiten. Besser – und für alle Beteiligten erfreulicher – ist es, wenn es gelingt, die Gewohnheit zu überwinden, »die Zeit von Stundenplänen regieren und Lektionen unabgestimmt aufeinander folgen zu lassen« – wie Oelkers den Schulalltag beschreibt.6 Das setzt allerdings voraus, dass ein Kollegium Abschied von der Vorstellung nimmt, Unterricht sei in erster Linie der pädagogischen Freiheit jedes Einzelnen zu überantworten. Es gibt sie, diese Schulen, die sich auf Veränderung eingestellt und ihre Entwicklung in die eigene Hand genommen haben. Sie schöpfen den bestehenden rechtlichen Rahmen aus und übernehmen fächerübergreifend eine gemeinsame Verantwortung für die ästhetische Erziehung ihrer Schülerinnen und Schüler. Gestatten Sie mir noch einen Blick über die Grenzen hinweg. Durch meine Tätigkeit bei der Bertelsmann Stiftung habe ich im Rahmen der internationalen Recherche zum Carl Bertelsmann-Preis »Berufliche Bildung der Zu-
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kunft« u. a. Kompetenzzentren unseres Preisträgers Dänemark kennen gelernt. Zwei Dinge habe ich mir besonders gemerkt: •
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viele Schülerinnen und Schüler in offenen Lernzentren, Fluren und Gruppenräumen, die konzentriert selbstständig arbeiteten, ohne dass die Lehrkräfte irgendwie auffielen und viele Originalkunstwerke in den Fluren und Konferenzräumen.
Der Schulleiter erklärte mir, dass dafür regelmäßig Geld zur Verfügung stehe. Das gehöre doch zu einer als ganzheitlich verstandenen Persönlichkeitsbildung. Ein Nebeneffekt: Der Vandalismus in der Schule ist erheblich zurückgegangen. Es hat sich Respekt vor der künstlerischen Arbeit entwickelt. Auch damit sollte deutlich geworden sein: Bildung – auch schulische Bildung – ist für mich ohne Kultur nicht denkbar. Es fehlt noch der zweite Teil der Ausgangsfrage: Gibt es eine Kultur ohne Bildung? Die Frage führt unmittelbar zu den Anfängen. Sind z. B. die prähistorischen Höhlenmalereien von Altamira Kunstwerke, also Kultur? Das große Herder Lexikon der Kunst7 sagt dazu: Sie können nicht mit den Maßstäben eines »modernen Kunstbegriffs« gemessen werden, weil sie religiöse und magische Vorstellungen ausdrücken und mit der Abbildung der Wirklichkeit diese wiederum beeinflussen wollten. Und: Sie hätten sich bei der Auswahl der Motive und der formalen Gestaltung nicht von ästhetischen Gesichtspunkten leiten lassen. Als Laie bin ich da zumindest skeptisch. Haben nicht auch Menschen, deren Werke ganz unbestritten Kunstwerke sind, mit der Abbildung von Wirklichkeit diese beeinflussen wollen? Und was ist hier unter Ästhetik zu verstehen? Ich habe mich an mögliche Antworten herangetastet. Im Bild, das sich der Mensch von der Welt macht, spiegelt sich seine individuelle Wahrnehmung seiner Wirklichkeit. Dieses Bild bestimmt seine Entscheidungen und sein Handeln. Betrachtet man diese Bild-Werdung als eine künstlerische, die Wirklichkeit interpretiert und assoziiert, ist sie Ausdruck von und Grundlage für Kreativität in vielerlei Hinsicht – auch für kreatives soziales Handeln.
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Jeder, der künstlerisch arbeitet, weiß, dass sich im Prozess des Gestaltens ständig nicht geplante, zufällige oder chaotische Situationen des Scheiterns wie des Gelingens einstellen. Misslingen löst Ratlosigkeit und Verzweiflung aus, das Gelingen neue positive Erfahrung, Begeisterung, Motivation und Stimulation. Künstlerisches Handeln bezieht den ganzen Menschen ein. Es vollzieht sich intellektuell wie emotional und löst auch entsprechende Wirkungen aus. Gerade weil künstlerische Werke diese unterschiedlichen Ebenen ansprechen und in uns Irritationen über unsere eigene Wahrnehmung von Wirklichkeit auslösen, brauchen wir einen Austausch, eine Reflexion, eine Verständigung darüber. Dieser Prozess selbst ist Ausdruck von Kultur und zugleich die Brücke zur Kunst. Deshalb braucht Kultur Bildung – weil sie dazu den Schlüssel reicht. Ein Weiteres: Wenn die Höhlenmalereien oder auch afrikanische Skulpturen Abbild der Wirklichkeit und Vorstellungen ihrer Schöpfer sind, sind sie Zeichen ihrer geistigen Auseinandersetzung mit den sie umgebenden Phänomenen. Wenn das richtig ist, gilt es für alle Kunst in allen Kulturen. Dann ist sie ein Angebot der Verständigung in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften. Und die Annahme dieses Angebots kommt einer über die Grenzen hinausreichenden Toleranz gleich – vielleicht die einzige Kraft, Gewalt zwischen den Völkern zu verhindern. Diese Verständigung zu erreichen, ist ohne Bildung nicht denkbar. Wenn also Bildung die geistige Durchdringung von Wirklichkeit ist, kann es keine Kultur geben, die ohne sie auskommt. Lassen Sie mich mit Christian VIII. von Dänemark schließen, der, als sein Land ökonomisch am Boden lag, die Investitionen in Bildung und Kunst erhöhte. »Arm sind wir«, soll er gesagt haben, »wenn wir jetzt auch noch dumm werden, können wir aufhören, ein Staat zu sein.« Gibt es eine einleuchtendere Begründung für die Bedeutung von Bildung und Kultur in einer Gesellschaft?
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Anmerkungen 1 2 3
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Von Hentig, Hartmut: Bildung, München, Wien 1996, S. 39 Ebd., S. 75 Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission (Hg.), Kultur und Entwicklung. Zur Umsetzung des Stockholmer Aktionsplans, Bonn 1998, zitiert nach: Fuchs, Max: Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung in Politik und Zeitgeschichte B 12/2003 Engelhard, Günter, in: Müller, Hans-Jürgen: Kunst kommt nicht von Können, Nürnberg 1976, S. 8 Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst, Stuttgart, Zürich 1986, S. 19 Oelkers, Jürgen: Und wo, bitte, bleibt Humboldt?, in: Die Zeit, Wissen 27/2002 vom 27.06.2002, S. 36 Lexikon der Kunst, Freiburg (Breisgau) 1989, Bd. 9, S. 262
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Provokation als Bildungsprinzip1 1. PISA als provokatives Logo Braucht Bildung Provokationen? Oder ist Bildung selbst eine Provokation? Das scheinen zunächst ganz triviale Fragen zu sein, die leicht zu beantworten sind und keinen Vortrag verdienen, bedenkt man, in welch helle Aufregung die Daten der PISA-Lesestudie die deutsche Bildungspolitik und im Weiteren die deutsche Öffentlichkeit versetzt haben. Das war eine so gekonnte Provokation, dass es sich eigentlich erübrigt, sie zu kommentieren. Freilich, frühere Studien mit analogen Qualitätsaussagen blieben weitgehend wirkungslos, so dass am PISA-Syndrom mehr abgelesen werden kann als nur ein »gekonnter Medieneinsatz«, um es im Schuldeutsch zu sagen. Die Analyse des PISA-Syndroms führt auf die Logik von Provokationen im Bildungsbereich, die dann erfolgreich sind, • • • •
wenn sie als unanfechtbar gelten und zum richtigen Zeitpunkt optimalen Schrecken verbreiten, der so unmittelbar zum Handeln auffordert, dass kaum jemand Zeit hat, Einwände zu erheben.
Heute genügt bereits die Marke oder besser das Logo »PISA«, um eine Katastrophe vor sich zu sehen, die merkwürdigerweise niemand erlebt und doch jeder erfahren hat. Die Schule steht unter der Anklage einer soliden Uneffizienz, was jeder im Prinzip bestätigen kann, weil alle zur Schule gegangen sind und im Lichte dieser Erfahrung niemand der Propaganda der Schule glaubt und sei sie noch so sehr in »Leitbildern« verpackt, die auf penetrant freundlichen Websites angeboten werden. Auf sehr merkwürdige Weise gibt es überall nur »gute Schulen« und zugleich eine gekonnt inszenierte Hysterie über den Zerfall der Bildung, wobei die erste Frage nicht ist, ob Bildung überhaupt zerfallen kann. Möglich geworden ist die Erzeugung von Hysterie durch das Prinzip der Darstellung. Das PISA-Ranking ist eine Kunstform; was früher fraglos mit Weltniveau in Verbindung gebracht wurde, nämlich die deutsche Bildung, ist heute Provinzliga. Damit wird ein
Jürgen Oelkers
merkwürdig inkonsistentes Vertrauen dokumentiert und die Macht eines Logos. Aber die PISA-Lesestudie ist kein historischer Längsschnitt, sondern nur eine Momentaufnahme, die so wahrgenommen wird, als haben sich damit die schlimmsten Erwartungen erfüllt. In einem Land, in dem immer Bildungskatastrophen benötigt werden, um Handlungsbedarf nachzuweisen und Veränderungen in Gang zu bringen, ist das keine schlechte Inszenierung, zumal kein Regisseur zur Verfügung stand, kein Plot vorhanden war und der Film offenbar spontan gedreht wurde, allerdings mit erwartbaren Reaktionen und einem impliziten Drehbuch, das immer dann abgerufen wird, wenn wieder einmal eine Krise erzeugt worden ist. Schon die »deutsche Bildungskatastrophe« von 1964 war eine gekonnte Inszenierung, die der Bildungspolitik Beine machte, wenngleich auf eine Weise, die sehr erfolgreich nicht gewesen sein kann, weil ja PISA eine Chance erhalten hat, erneut eine Katastrophe darstellen zu können.2 Außer den Verfassern versteht kaum jemand die PISA-Studie, während erstaunlich viele Kommentatoren urteilsfähig sind und – noch erstaunlicher – jeder den Eindruck hat, schlimmer könne es nicht kommen. Das wird pastoral kommuniziert. In Deutschland ist Bildung eine ernste Sache, die schon einfache Formen von Heiterkeit verbietet. Niemand wagt also, die durch PISA entstandene Situation lächerlich zu machen, keiner erkennt ExpertenSlapstick und nie wird der Verdacht geäußert, dass die Karikatur der Wirklichkeit die Politik antreibt. Das Groteske verschwindet hinter dem Spiel der Alarmsignale und Beruhigungen. Und wenn öffentlich gesagt wird, die »Talsohle« sei erreicht, ist größte Vorsicht geboten, denn warum sollte auf die Bildung zutreffen, was für die Konjunktur oder den Arbeitsmarkt nicht zutrifft? Die vielleicht größte Provokation aber ist nicht die Inszenierung, die den Eindruck erweckt, gekonnt gewesen zu sein, obwohl sie niemand intendiert hat; provokativ sind die bildungspolitischen Schlüsse, die gezogen wurden, aus der Misere herauszuhelfen. Es sind wesentlich nur zwei, nämlich • •
eine Vier-Milliarden-Euro-Ganztagsschule und nationale Bildungsstandards.
Im ersten Falle müssen die Schüler noch länger jene Institution besuchen, die das PISA-Ergebnis produziert hat, und im zweiten Falle weiß niemand
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genau, was gemeint ist. »Bildungsstandards« werden beschworen, obwohl oder weil es sie nur nominell gibt. Und die »Ganztagsschule« verlängert einfach den Schultag, geleitet, wie gesagt, von der Fiktion, dass jede Schule eine gute Schule ist oder mindestens werden kann. Auch hier traut man dem Logo und nicht der Erfahrung, was zugleich zeigt, wie stark die Ästhetik der Schule Wünsche und Wahrnehmungen bestimmt. Es ist bedauerlich, dass diese faszinierenden Paradoxien und schillernden Widersprüche nicht mein Thema sind. Denn sie mögen Provokationen sein, aber ich hätte Mühe, darin ein Bildungsprinzip zu erkennen. Also weg von PISA: Das Thema meines Vortrages ist, ob in den Provokationen der Kunst ein Bildungsprinzip zu erkennen ist und wenn ja, was sich damit verbinden würde, erlangte dieses Prinzip je Anerkennung über den Kreis des heute anwesenden Publikums hinaus. Die Frage stellt sich, weil geordneter Unterricht oder wohl temperierter Museumsbesuch nicht einfach aus Provokationen bestehen, Bildung auf der anderen Seite nicht von gepflegter Langeweile leben kann. Ich frage also unbescheiden nach dem Zusammenhang von Bildung und Kunst. 2. Bildung und Schulbildung Die Frage, ob Bildung Kunst benötigt, ist keine Scheinfrage. Kunstfächer sind nicht zufällig in der Schule immer Randfächer, ebenso wenig wie es ein Zufall ist, dass die öffentliche Diskussion andere Prioritäten kennt als die der künstlerischen Bildung, man denke an Frühenglisch, Schulmathematik oder Computer Literacy. Es handelt sich um gespenstische Dringlichkeiten, die vom Wunsch, nicht jedoch vom Ertrag bestimmt werden. Ohne Frühenglisch, wird behauptet, gäbe es keine Chancen auf einem Arbeitsmarkt, der bei Beginn des Unterrichts zehn bis fünfzehn Jahre entfernt ist. Es ist unbewiesen, dass mit Frühenglisch die Kompetenz erzeugt wird, die auf dem virtuellen Arbeitsmarkt der Zukunft erforderlich ist, aber es kann sicher nicht einfach deutsches Schulenglisch sein. Was die Schule dazu beiträgt, in einer anglifizierten Umwelt Englisch zu lernen, ist unklar, aber man kann vermuten, dass der größte Effekt durch zusätzliche Investitionen erreicht wird, nämlich durch ein Austauschjahr, das in der Schweiz nicht unter 15.000 Franken zu haben ist. Das könnte man ironisch interpretieren: Kunst gehört aus diesem Grunde – die solide Uneffizienz der Schule – nur sehr am Rande zur Bildung. Aber hat Kunst überhaupt etwas mit Bildung zu tun, wenn Bildung zum Objekt der
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Schule wird? Es gibt darauf eine bekannte Antwort, die die Frage sowohl emphatisch bejaht als auch entschlossen verneint. In seinen Basler Vorträgen von 1872 über die Zukunft der Bildungsanstalten formulierte FRIEDRICH NIETZSCHE einige Hypothesen über den erwartbaren Zerfall der Bildung, die kulturlos werde, weil und soweit sie sich von der Kunst getrennt habe und verschult worden sei. Ohne Kunst sei Bildung barbarisch, genau auf eine solche Nicht-Bildung aber steuere die moderne Gesellschaft zu, die Bildung nicht länger als die subjektive Seite der Kultur ansehe, sondern sie der didaktischen Maschinerie staatlicher Schulen anvertraut habe. Verzichtbar ist Kunst allein zum Schaden der Bildung, und genau das scheint angestrebt zu werden. Zur Präzisierung seines Verdachtes formulierte NIETZSCHE die folgenden drei Hypothesen: 1. Die Idee der Bildung kann einzig von ihren Anfängen her verstanden werden, also von der antiken, genauer: der griechischen Kunst, Literatur und Philosophie. 2. Der Zugang zur Bildung muss äußerst knapp gehalten werden, nur Wenige können wirklich gebildet sein. 3. Jede Verbreiterung der Bildung gefährdet deren Gehalt, eine universelle Bildung wäre gleichbedeutend mit dem Verlust jeglichen Niveaus. Was NIETZSCHE 1872 vor Augen hatte, war der Aufbau der allgemeinbildenden Volksschule und vor allem der Umbau der Gymnasien in Richtung Naturwissenschaften, also weg von der klassischen Philologie. Seit Beginn der staatlichen Schulentwicklung ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob sich Kunst überhaupt verschulen lässt und was gewonnen wird, wenn man aus Kunst ein Unterrichtsfach macht. Bildung wurde im 19. Jahrhundert gleichermaßen verstaatlicht und verschult. Der Staat übernahm mit den Kosten zugleich die curriculare Steuerung, einschließlich der Normierung der didaktischen Formate und der zur Verfügung gestellten Zeit. Unterricht wurde auf ein einheitliches Zeitmaß eingestellt und mit Effektivitätsanforderungen konfrontiert, die umso mehr Bürokratie erforderten, je engmaschiger sie verstanden wurden.
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Im Blick darauf sprach NIETZSCHE von »jener lächerlichen Improportionalität zwischen der Zahl der wahrhaft Gebildeten und dem ungeheuer großen Bildungsapparat« (NIETZSCHE 1980, S. 665), ohne dabei schon an die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts denken zu können, die das groteske Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag nochmals grandios gesteigert zu haben scheint. Wenn zunehmend weniger Schulabsolventen lesen können und viele schlicht illiterat sind, dann mutet das wie eine starke Bestätigung der Grundthese an, dass, wie NIETZSCHE sagte, • •
die Erweiterung und Verbreiterung der Bildung zur Verringerung und Abschwächung der Bildung führen müsse (ebd., S. 667).
Statt von Bildung wird heute von Qualifikation gesprochen. Der Begriff »Bildung« wird als gleichermaßen unklar und unerreichbar angesehen, »Qualifikation« dagegen, einhergehend mit »Kompetenz«, erscheinen als die handfesten und erreichbaren Größen. Daher gibt es zunehmend mehr »Qualifizierungsoffensiven«, möglichst solche in »Kompetenzzentren«, denen ein offenbar abnehmendes Interesse an Bildung gegenüber steht, • • •
versteht man darunter nicht unmittelbar belohnte Anstrengungen mit offenem Ausgang, die sich nicht in ein Verhältnis von Aufwand und Ertrag setzen lassen und die sich der Logik eines Just-in-Time-Lernens entziehen.
Immerhin ist der Begriff »Bildung« so gesichert, dass es skurril wäre, ihn mit Lernportionen realisieren zu wollen, die jede Anstrengung leicht aussehen lassen, bevor noch irgendeine Schwierigkeit überwunden wurde. Demgegenüber ist die Leichtigkeit der Bildung eine späte Qualität, die portioniertes Lernen ausschließt. Man wird nicht häppchenweise gebildet. Aber gerade weil das so ist, scheint Bildung zu einer seltenen, irgendwie absonderlichen Größe verkommen zu sein, der keine wirkliche Lebensform mehr entspricht. Das gilt umso mehr, wenn man Bildung nicht einfach mit Schulabschlüssen gleichsetzt, wie dies fast automatisch der Fall ist. Das heutige Abitur dürfte jedoch kein allseits akzeptierter Faktor sein, die Höhe der Bildung zu be-
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stimmen, wobei es immer schon zweifelhaft war, sich Bildung als Anstieg vorzustellen. Man hat nicht »umso mehr« Bildung, je »höher« man kommt, Bildung ist nicht quantifizierbar und hat kein objektives Maß, mit dem »weniger« und »mehr« zu bestimmen wären. Seit SHAFTESBURY spätestens besteht die Möglichkeit, zwischen »Bildung« und »Schulbildung« zu unterscheiden, also die Schule und den Kanon der Unterrichtsfächer von der persönlichen Welterfahrung abzugrenzen.3 Die Bildungsromane der deutschen Klassik nutzen diese Chance ebenso wie die literarische Schulkritik des 20. Jahrhunderts, die zwischen UPTON SINCLAIR, THOMAS MANN und GEORGE BERNARD SHAW illustre Namen zu verzeichnen hat. Auf der Linie dieser Kritik sind »Individualität« und »Bildung« kaum noch zu unterscheiden; was der Mensch von der Welt sich aneignet, ich zitiere den jungen HUMBOLDT,4 ist dann seine Bildung, ohne damit didaktische Formate zu verbinden. Die Bildung ist frei, und ihr Anlass ist nichts weniger als die ganze Welt, die nicht schulisch sortiert sein muss, um sich in ihr und mit ihr bilden zu können. Parallel zu dieser Kritik ist das Schulsystem ausgebaut worden und entstanden die heutigen Bildungsanstalten, die mit dem Paradox umgehen müssen, auf das Leben vorbereiten zu wollen, ohne Welterfahrung zuzulassen. Wenn es heute so aussieht, als sei »Bildung« durch »Qualifikation« ersetzt worden, dann ist das ein Zeichen für eine Abwertung und einen Verlust der Achtung, den so recht niemand bemerkt, weil die Referenz auf »Bildungsanstalten« gleich geblieben ist. Aber in dieser Hinsicht hatte NIETZSCHE Recht: Nur weil Schulen oder Universitäten »Bildungsanstalten« genannt werden, heißt das nicht, dass sie wirklich für Bildung sorgen. Das PISA-Paradox – Leseunkundigkeit trotz jahrelangem Schulbesuch – ist also durchaus erklärbar. Unterricht allein garantiert nicht bereits die Wirksamkeit, weil Randfaktoren prägender sein können als die Gestaltung der schulischen Lernsituation. Die Institutionen der Bildung kontrollieren zunehmend weniger das gesamte Lernfeld, was paradoxerweise Bildung befördert hat, denn niemand kann mehr mit dem zufrieden sein, was in der Schule gelernt wurde. Die schulpädagogische Grundidee der »Ausrüstung für das Leben« ist auf groteske Weise vom Leben überholt worden, falls sie überhaupt je Realitätsgehalt hatte. In der Schule lernt man nichts perfekt und vieles vorläufig, schon aus diesem Grunde verlagern sich die Bildungsaufgaben ins Leben, während
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Schulen mit Qualifizierung befasst sind. Lesen wird als »Kompetenz« verstanden, für die Lektüre nur ein Faktor unter vielen ist. Schreiben ist nicht mehr Ausdruck der Persönlichkeit, sondern funktionale »Qualität«, die gestuft erreicht wird. Dafür ist ein untrügliches Signum, dass Stil kein Lernziel mehr ist. Die Differenz zwischen »Bildung« und »Schulbildung« begrenzt die ideelle Macht der Schule und sichert Unverfügbarkeit. Der Schule wird ja zugleich alles und nichts zugetraut, je nachdem, welches Enttäuschungsmanagement gerade betrieben wird. Aber »all or nothing« beschreibt ein Liebesideal, keine Institutionenpolitik, zumal nicht in Richtung öffentlicher Schule, die viele Erwartungen nicht erfüllt, weil sie ihre Form oder, wie manche Bildungshistoriker sagen, ihre Grammatik, nicht beliebig verändern kann. Für viele Ansprüche also ist die Schule schlicht der falsche Adressat, während auf der anderen Seite »Bildung« nicht allein der Schule überlassen sein darf, wenn ihre wichtigste Funktion erhalten bleiben soll, die der Zumutung. 3. Bildung als Zumutung Für den schwindenden Respekt vor der Bildung ist nicht die Arbeitsmarktorientierung entscheidend, auch die humanistischen Studien des 15. und 16. Jahrhunderts sind immer im Blick auf Berufe betrieben worden (GRAFTON/ JARDINE 1986), und die Humboldtsche Universität hat nie auf die Ausbildung für akademische Berufe verzichtet; es ist auch nicht einfach der Niedergang der Bildung im Allgemeinen, da sich die Bildungsanstrengungen in Staat und Gesellschaft vervielfacht haben; was die Veränderung weit mehr bewirkt, sind Erwartungen der Kurzzeitigkeit und einer neuen didaktischen Formatierung, die darauf ausgerichtet ist, Lernen zu beschleunigen und so erfolgsfähig zu halten. Die Idee, Vereinfachung und Beschleunigung seien Erfolgsgaranten, ist angesichts der hohen Schleudergefahr mindestens in der kulturellen Bildung irritierend. Aber das hilft anscheinend nicht viel. Die lange Anstrengung und der späte Effekt, das Unberechenbare der Bildung, sind in Misskredit geraten, ich könnte auch sagen, in einer Gesellschaft, die nach Zielgruppen aufgeteilt wird, sind diffuse Anstrengungen nicht besonders lohnend. Nicht zufällig wird »Leben« nicht mehr mit Bildung, sondern mit »lebenslangem Lernen« zusammengebracht, ohne darin einen Pleonasmus zu sehen. Leben kann nichts anders sein als Lernen, aber das ist offenbar nicht gemeint. »Lebenslanges Lernen« bezieht sich auf nützliche Qualifizierungsportionen, nicht auf
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Horizonte des Verstehens, die Bildung letztlich ausmachen (OELKERS 1986). Aber geht es nicht um Bildung, sondern um die didaktische Steuerung des Lebens. Wahrscheinlich ist es sehr gebildet, sich überflüssigen Zumutungen entziehen zu können, und was könnte eine größere Zumutung sein, als ständig »lebenslang lernen« zu müssen? Bildung hat mit Auffassung und Wahrnehmung, darauf bezogen mit Geschmack und Urteilskraft zu tun, die nur langwierig aufgebaut werden können, Umwege gehen müssen und sich nicht mit einem Instant-Produkt besorgen lassen. In diesem Sinne verlangt Bildung viele vergebliche Anstrengungen und ist schon aus diesem Grunde eine Zumutung. Qualitätsbewusstsein oder Urteilskraft entstehen erst ganz allmählich und benötigen viele Versuche. Der Grund für die schlecht kalkulierbare Allmählichkeit ist, dass die Zugänge zur Bildung sich weder sofort noch unmittelbar erschließen, vielmehr voraussetzungsreich gelernt werden müssen, während triviale Lernmedien unmittelbar Zuwachs verschaffen, weil besondere Hürden gar nicht gegeben sind. Trivial sind Lernmedien dann, wenn ihre Provokationen so schnell einleuchten, dass sie keine sein können, man denke an die tägliche Schlagzeile der Bild-Zeitung, die den Eindruck des Gekonnten hinterlassen muss und doch nur für einen Tag oder genauer: für den Kaufentscheid wirken darf. Boulevard ist nur dann ein Bildungsort, wenn Trivialität vermieden wird. Natürlich kann man die tägliche Lektüre dessen, was »Boulevardpresse« genannt wird, eine Bildungserfahrung nennen, einfach weil Text, Bilder und Leser gegeben sind, aber man muss dann auch sagen, dass die Verstehensanstrengung nicht sonderlich hoch ist und mit flach gehaltenen Wiederholungen zu tun hat. Das aber erkennt man nur mit Erfahrungen außerhalb dieser sehr spezifischen Lektüre, die Tiefe durch Schnelligkeit ersetzt und dabei den Eindruck vermittelt, nichts würde fehlen. Die Bild-Zeitung ist eine permanente Lernerleichterung und eine perfekte Elementar-Didaktik, die alles auf den Punkt zu bringen versteht, ohne etwas im Unklaren zu lassen, was die Voraussetzung wäre, von »Bildung« sprechen zu können. Bildung gelingt dann, wenn irgendwann das Elementare überwunden und Komplexität zum Prinzip wird. Entgegen LUHMANN: Die Reduktion ist das Verdächtige, nicht die Steigerung. Bildung ist nach oben hin offen, nicht nach unten, nur so entsteht Sinn für Differenz. Es ist nicht einfach dasselbe, sein musikalisches Urteilsvermögen an MOZART oder an BRITNEY SPEARS zu
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schulen, obwohl doch in beiden Fällen Musik zu hören ist. Man braucht lange, ein Bild von JEAN DUBUFFET lesen zu können, ohne es »primitiv« zu finden. Und der Zugang zu KAFKA ist nie einfach zu haben, gerade weil das erste Verstehen so leicht ist. Alles das führt nicht zu einem beruhigenden Abschluss oder zu einer finalen Qualität, Bildung ist umso fragiler, je besser sie wird. Verbunden ist damit immer eine Einstellung zur Ignoranz und wie blamabel sie empfunden wird. Bildung verlangt den Stachel des Wissens, aber offenbar ist Ignoranz nicht mehr so drückend, dass sie wie von selbst zur Bildung antreiben würde. Die Überwindung von Ignoranz setzt nicht mehr das Einarbeiten in Horizonte von Wissenschaft, Kunst und Literatur voraus, weil und soweit der Charakter der Ignoranz sich verändert hat. Man ist in Populärkulturen und Medieninszenierungen nicht »ungebildet« oder »unwissend«, wenn man nie eine Zeile von GOETHE gelesen hat, die Hauptsätze der Thermodynamik nicht kennt oder EUKLID für eine Pokémon-Figur hält. Ebenso wenig ist »ungebildet«, wer den Lake of Constance der Einfachheit halber nach Schottland verlagert, den »Urknall« mit Sylvester in Verbindung bringt oder den »Turing-Test« in einer Autowerkstatt erwartet. Es ist überhaupt niemand »ungebildet«, weil allein das Wort zu benutzen, noch ohne jemand bezeichnet zu haben, bereits politisch unkorrekt wäre. Es ist interessant, dass wir zwar über ein hohes Forschungsaufkommen im Bereich der Hochbegabung und der Intelligenzmessung verfügen, jedoch nicht recht sagen können, was Ignoranz ist. Über »Ignoranz« kann nur vor dem Hintergrund von Bildung und so der Kontrolle durch Bildungskulturen unterschieden werden, von denen sich zum Beispiel kommerzielle Kinderund Jugendszenen schlicht verabschiedet haben. Sie werden durch schnelle Lerngewinne gesteuert, die sich wie überlegene Kommentare zur Bildung alter Art verstehen lassen. Das ist insofern dramatisch, als Bildungskulturen Generationenverträge darstellen, die erfüllt sein müssen, wenn das Niveau gehalten werden soll. Kultur und Kunst überliefern sich nicht von selbst, sie sind darauf angewiesen, dass für sie immer genügend Aufmerksamkeit und so Bildungschancen vorhanden sind. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Kunst muss immer neu und immer persönlich gestiftet werden. Auch er ist fragil, nicht selbstverständlich. Das setzt Respekt voraus, nicht einfach vor einem Kanon mit eigenwilligen Klassikerkonstruktionen, sondern vor der Überlegenheit von Anderen, die besser sind als man selbst. Im Sinne von GEORGE HERBERT MEAD müssen
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generalisierte Andere angenommen werden, nicht einfach andere Personen in der gleichen Situation. Die »Anderen« sind die Autoren, Theorien oder Symbolsysteme, die Werke und Objekte, denen man sich aussetzen und an denen man sich abarbeiten muss, wenn das eigene Niveau überwunden werden soll. In diesem Sinne ist Bildung immer Konfrontation mit dem, was man nicht weiß und nicht versteht, also herausfordernde Kränkung oder die Erfahrung, dass die eigene Ignoranz überwunden werden kann. Die Provokation ist die Chance der Verbesserung. Irritierend ist dabei, dass der Einsatz der Mittel nicht proportional ist zum Ergebnis. Bildung ist nicht umso besser, je länger sie dauert und je mehr investiert wird, was nicht so zu verstehen ist, dass der Gratispreis der beste wäre. Aber was immer unter Bildung verstanden werden soll: • • •
Der Lerngewinn ist nicht unmittelbar sichtbar, und der Prozess endet nicht mit einem »Produkt«, das wie eine Bestätigung oder Widerlegung des Aufwandes verstanden werden kann. In diesem Sinne ist Bildung tatsächlich Zumutung und nicht einfach Bestätigung.
Der Prozess der Bildung setzt Perplexität voraus, Fragestellungen, denen man nicht ausweichen, aber die man auch nicht unmittelbar beantworten kann und die auf weiterführende Bereiche des Verstehens und Wahrnehmens verweisen, in die einzudringen Anstrengung verlangt, ohne dass die Belohnung gewiss wäre. Eine solche Lernkultur passt schlecht in eine Wirklichkeit, die sich wohl noch »Wissens-«, aber nicht mehr »Bildungsgesellschaft« nennt. »Wissen« und »Bildung« sind getrennt, von der »Wissensgesellschaft« ist die Rede im Blick auf schnellen Wandel, kurzfristige Abrufbarkeit und clevere Zugriffe, die keine Nachhaltigkeit verlangen. Nach dem Zerfall der akademischen Kasten fehlt zudem der Anwendungsraum: Wo noch kann man mit Bildung glänzen, wenn die Spiegelflächen der Anderen nicht mehr gegeben sind? Es scheint zunehmend schwieriger zu werden, den Sinn von Bildung zu vermitteln, wenn einzig kurzzeitiger Nutzen gefragt ist. Nochmals: nicht Verwendbarkeit an sich ist das Problem, sondern die Abflachung der Anforderungen zugunsten schneller Qualifizierung, die auf Qualität nicht achtet. Ich sage das nicht elegisch, weil eine tief sitzende Kultivierung wie die Beherrschung von Sprachen die weit bessere Qualifizierung ist als jeder Kurs, der
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»Schlüsselqualifikationen« befördern soll. Nicht »Teamfähigkeit«, sondern gebildetes Französisch nützt auf dem internationalen Arbeitsmarkt der Zukunft, und nicht »Business-English«, angeeignet via Berlitz-School, also kompensatorisch zur Schule, ist hilfreich, sondern die Erfahrung der kulturellen Differenz und so der englischen Bildung. Nützlich ist, wenn der Nutzen nicht ständig beschworen, sondern mit Bildung provoziert wird, und dies ohne die Hektik von unausgesetzten Nachbesserungen, die nie zu einem souveränen Umgang führen. Bildung ist auch Präsentation, die eigene Bedingungen kennt. Zu den Bedingungen zählt die selbstverständliche Anwendung von möglichst hohen Standards des Verstehens und der Wahrnehmung, die wie innere Kontrollen operieren. Man erkennt sofort die Fehler, sieht die Schiefheiten, achtet sehr genau auf die erschlichenen Passungen, und zwar gleichermaßen bei sich selbst wie bei Anderen. In diesem Sinne ist Bildung Wechselwirkung und nicht etwa einsame Inszenierung. Wer Subtilitäten missachtet, bekommt das zu spüren, ebenso, wer es an Distanz zu sich selbst fehlen lässt. Nicht zufällig ist Selbstironie die gekonnteste Form der Selbstdarstellung, weil sie es versteht, Bildung mit dem Herunterspielen und Relativieren des Darstellers zu verbinden. Man kann daran auch das Risiko der Bildung demonstrieren: Nichts ist schmerzhafter als Selbstironie, die misslingt, weil der richtige Ton nicht getroffen wird. Und nichts ist penetranter als ein falscher Ton, der sich nicht abstellen lässt. Generell gilt: Angemaßte Bildung lässt sich von Ignoranz unterscheiden, und es gibt sehr präzise Wahrnehmungen über das, was den Gebildeten5 vom intellektuellen Parvenu unterscheidet. Die erschlichene Anspielung oder die gewollte Kompetenz wirken unmittelbar peinlich, und diese Kontrollerfahrung bestimmt Lernen und Kommunikation. Wer Zitate ausschlachtet, ohne originell zu sein, bewirkt nicht nur Peinlichkeit, sondern ist peinlich, weil die Grundregel der Bildung, persönlicher Zugang und unaufdringliche Kompetenz, verletzt wurde. Und es spricht für Bildungskulturen, dass unmittelbar auffällt, wer lediglich ein Zitatenlexikon zu benutzen versteht oder Bilder nur nach einer gängigen Kunstgeschichte beurteilen kann. Mein Punkt ist, dass dies nicht einfach die Arroganz einer Kaste darstellt, sondern als notwendiges Signum der Bildung, zugleich ihr unaufhörlicher Test, verstanden werden muss. Ob die Präsentation von Bildung echt ist oder nicht, steht nicht ein- für allemal fest, sondern wird ständiger Beobachtung
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ausgesetzt. In diesem Sinne ist Bildung nicht Verdienst, sondern Leistung, darin notwendig eingeschlossen die Möglichkeit der Blamage. Diese Unerbittlichkeit der Bildung muss mit deren Leichtigkeit in ein Verhältnis gesetzt werden. Wer Bildung demonstriert, macht sich lächerlich, aber unaufdringlich ist Bildung auch nicht. Weil es auch im Grenzwert nie Gleichheit von Bildung geben kann, ist die Grunderfahrung Differenz und persönlicher Abstand, der zum Weiterlernen auffordert. Nicht nur gibt es keine Gleichheit, es gibt auch keinen optimalen Zustand »Bildung«, keinen Punkt, an dem man alles wüsste und mit der Arbeit an sich selbst aufhören könnte. Das gilt freilich für das gesamte Spektrum, nicht nur für die Kunst. Bei der Beurteilung des Bildungswertes der Kunst fällt auf, dass beim Publikum wesentlich mehr Interesse besteht, als schulisch erzeugt werden konnte. Die Marginalität des Kunstunterrichts kann jedenfalls nicht erklären, warum eine schwierige Erfahrung wie die Pinakothek der Moderne zu einem Publikumserfolg hat werden können. Man muss lernen, AUGUST MACKES Mädchen unter Bäumen (1914),6 FRANCIS BACONS Kreuzigung (1965),7 GERHARD RICHTERS Sargträger (1962)8 oder GEORGE SEGALS Alice, ihre Gedichte und Musik hörend (1970)9 auf einen oder auf viele Bildungspunkte zu bringen, wenn man wirklich diese Auswahl trifft, was ebenso zufällig wie absichtlich ist (BAUMSTARK/ SCHULZ-HOFFMANN/SEMFF/NERDINGER/HUFNAGL 2002, S. 95, 127, 137, 159). Offenbar spielt dabei die Provokation der Wahrnehmung eine Rolle. Aber lässt sich das als Bildungsprinzip verstehen? 4. Provokation als Bildungsprinzip Der Bezug der Bildung zur Kunst ist die Markierung der Unterschiede sowie die Herausforderung durch Irritation, die mit dem Gewohnten spielt und das Verstehen auf verblüffende Weise und sowohl leicht als auch anstrengend herausfordert. Kunst ist nur da bildsam, wo sie nicht unmittelbar eingängig ist. Das Eingängige freilich regiert und jedes Objekt kann eingängig werden, wie nicht nur an der Posterindustrie gezeigt werden kann. Die Vermeidung trivialer Formen verlangt tägliche Anstrengungen, und man muss immer sich selbst unterscheiden, also Individualisierung in Kauf nehmen und für Distanz sorgen, ohne dafür besonders belohnt zu werden. Keine persönliche Distanzierung verändert die ästhetischen Umwelten, daher ist schnell ein Tor, wer sich an Bildung versucht. Wer Musik hört, kann die Anstrengung des Verstehens leicht umgehen, ohne Nachteile zu erleben. Das Gleiche gilt für Sehen, Lesen und Schreiben, für jeden Ausdruck, jede Wahrnehmung und alle Arten von Expression. Jedes
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Musikerlebnis im Supermarkt zeigt, wie flach und störungsfrei, wie künstlich angenehm, Bildung in Trivialform verstanden werden soll. Musik wäre ein endloses Band nicht unterscheidbarer Formen, die doch populär sind in dem Sinne, dass sie überall vorkommen, ohne einen Sturm der Entrüstung wegen fortgesetzter Geschmacksbeleidigung auszulösen. Aber kann man Bildung und Kunst nicht-populär verbinden, ohne sich gleich den Vorwurf des Elitären einzuhandeln? Kunst kann man nicht hektisch erfahren, sondern nur im herausgehobenen Augenblick, der auf sehr paradoxe Weise wohl vorbereitet sein muss, ohne berechnet werden zu können. Aber muss man sich Provokationen gefallen lassen, um sich bilden zu können? Zunächst, Kunst ist immer Provokation, wenn darunter nicht einfach ein Skandal verstanden wird, sondern eine unausweichliche Irritation des Gewohnten, die dazu zwingt, Wahrnehmung und Denken neu zu formieren. Man kann jedes Objekt und im Weiteren jede ästhetische Anregung ignorieren, aber man kann sich darauf nur einlassen, weil und soweit man provoziert wird. Von einem »Bildungsprinzip« kann also ganz zwanglos, ohne Bemühen KANTS, die Rede sein. Provokationen sind einfach Steuerungen der Aufmerksamkeit, die durch das Objekt fixiert werden, also unwillkürlich sind. Provokativ sind nicht etwa nur Neuheiten, die oft nichts weiter sind als aufdringliche Skandale, die keinen Eindruck hinterlassen und schnell vergessen werden. Viel provozierender sind beunruhigende Objekte, die man weder vergessen noch begreifen kann, also die einen Stachel der Bildung darstellen. Man will ihn ziehen und kann es nicht, etwa so wie die Sphinx-Erfahrung beschaffen ist, eine rätselhafte Schönheit, die dauerhaft provoziert. Provozierend sind auch Objekte, die ein déjà-vu nachhaltig aufstört, ohne den Effekt therapeutisch behandeln zu können. Man steht mit dem Horror allein und kann sich selbst gegenüber nicht heroisch werden. Das neue Bild ist nicht das alte, die bisherige Arbeit an der Besänftigung ist vorbei, das Gedächtnis ist auf irritierende Weise frei, FRIEDRICH NIETZSCHE hätte gesagt, es ist genügend Sturm vorhanden, um den Kopf in den Wind zu stecken (S. W. 4, S. 134f.). Das alles ist subjektiv, literarisch, leidenschaftlich und verliebt in das Unbegreifliche, besser: in das Unberechenbare, das Kultur letztlich ausmacht. Provokativ ist die offensichtliche Nutzlosigkeit, die einfach nur den Moment sieht, ohne an die Folgen zu denken, die sich gleichwohl immer einstellen.
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Kein ästhetisches Erlebnis ist flüchtig, jedes Erleben bestimmt seine Folgen autonom, also unerwartbar. Kunst irritiert nicht didaktisch, sondern je auf einen neuen Bildungspunkt hin, der kein Ziel ist, weil er sich immer erst hinterher bildet. Das ist vermutlich die entscheidende Provokation, ein Effekt, der nicht geplant werden kann und der gleichwohl eintritt, und nicht nur das, es ist ein Effekt, der den Horizont verändert, ohne dass jemand den Prozess begleitet. Das gilt generell, auch für das Parademedium der Bildung, nämlich die Bücher. Auch und gerade Lektüre macht sich selbständig. Und welche Einsicht hat man erreicht, wenn man bei NIETZSCHE liest, die »Gelehrten« seien von den Gebildeten zu unterscheiden, und auf Mitleid mit den ersten müsse verzichtet werden. Gelehrte nämlich, erfährt man im Zarathustra, sind geschickt darin, • • • • •
die »Strümpfe des Geistes« zu wirken, nicht den Geist selbst, was möglich ist, weil sie »einander gut auf die Finger« sehen und »sich nicht zum Besten (trauen)«, zudem »immer mit Vorsicht Gift bereiten« und gut mit »falschen Würfeln« zu spielen verstehen (ebd., S. 161).
Lernzieltechnisch gesprochen und für einen Augenblick vorausgesetzt, dass Hochschullehrer noch Gelehrte sind: Was für eine Möglichkeit ergibt sich aus dieser Einsicht im Hinblick auf Hochschulevaluationen?! Nochmals, ich spreche nicht elegisch. Wohl scheint die Neigung abhanden gekommen zu sein, Bildung nicht wie eine Investitionsruine zu betrachten, die einem Fass ohne Boden gleicht (HANUSHEK 1981). Der Verdacht jedoch, Bildung produziere mit immer mehr Geld immer nur more of the same, ist insofern unsinnig, als Bildung sich gar nicht auf ein »Produkt« beziehen lässt. Bildung bewirkt nur dann etwas, wenn sie persönliche Niveaus befördert und individuellen Sinn für Standards vermittelt, also herausfordert und gerade nicht nivelliert. Nur in dieser Hinsicht wäre im Übrigen auch ein literarischer Kanon funktional: Er beschließt die Möglichkeiten, ist aber kein Selbstzweck. Im Sinne von HAROLD BLOOM (1998) gesagt: Nicht die bloße Lektüre von SHAKESPEARE ist entscheidend, sondern das Erlebnis der literarischen Qualität und so die Erfahrung der Differenz. »Macbeth« ist keine Textsorte, sondern eine Provokation für jede neue Generation von Lesern oder Zuschauern,
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die ihr literarisches Verstehen nur an solchen Beispielen wirklich bilden können. Das Niveau ist abhängig von der Bewältigung der Herausforderungen, fehlen diese oder sind sie zu flach, beruhigt sich das Lernen mit dem Status Quo. Kunst muss das Sehen oder das Hören stören, nicht bestätigen, was nie gelingt, wenn das Objekt beruhigend wirkt. Was »besser« ist und was »schlechter«, die Differenz in der Qualitätsbewertung lässt sich nicht erleichtern oder didaktisch abkürzen. Die Akzeptanz von Niveaus und der Sinn für Standards der Kunst, der Literatur oder der Musik werden nur mit langfristigen und nicht selten mühsamen Anstrengungen erreicht. Das sage ich nicht unter der Voraussetzung eines konservativen, also anti-spielerischen Kunstbegriffs, sondern aus bildungspolitischen Gründen. Ohne Niveausicherung lässt sich kulturelle Überlieferung zwischen den Generationen nicht besorgen.10 Was in der Regel euphemistisch »Qualitätssicherung« genannt wird, kann nicht mit »Schlüsselqualifikation« oder Beschwörungen der »lernenden Organisation«, sondern nur mit Garanten für inhaltliche Niveaus erreicht werden. In diesem Sinne ist es ziemlich makaber, zum Beispiel »Medienkompetenz« gegen literarische Bildung auszuspielen, wenn Mediennutzung irgendeinen nennenswerten Lernaufwand gar nicht verlangt. Ähnlich ist es makaber, Kunst nicht mehr original zu erleben, sondern in beliebigen Surrogaten, die von Aufmerksamkeit und Lernen nicht mehr verlangen als eine SMS-Botschaft. Man findet sich auch nicht damit ab, die heutige Jugendsprache für den Endpunkt der Bildung halten. Es kann nur ein Transit sein, wenn ständig »krass« mit »mega-geil«, »voll-easy« und »peace ey!« kombiniert wird, um »Loser« von »Posern« zu unterscheiden und festzustellen, wer »Kult« ist und wer »style« hat, ohne je auf Stil zu kommen. Abgesehen vom Wahrnehmungsschmerz eines Vaters – kein Gebiet der Kunst ist abschließend erfassbar, im Gegenteil, gerade Kunst steigert die Irritationen mit dem Verstehen, das nicht wie eine definitive Problemlösung verstanden werden kann, sondern immer nur wie eine kreative Problemproduktion. Ästhetische Erfahrungen sind in dem Sinne bildungsabhängig, als sie Einsicht in symbolische Welten abverlangen, die Ignoranz ebenso wenig vertragen wie Dilettantismus (SCHEFFLER 1997). Dabei gibt es zwischen Literatur, Musik und Kunst immer Querbezüge des Verstehens, die enge Speziali-
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sierung wie eine Behinderung der Qualität erscheinen lassen, die umso leichter als definitiv erscheinen kann, je schmaler der Sektor der Beschäftigung ist. Aber die Arbeit der Bildung führt an kein beruhigendes Ende. Ebenso wenig wie Kunst kumulative Problemlösung ist, kann Bildung summative Kompetenz sein. In beiden Fällen wäre der Stachel unterschätzt, der sich aus dem ergibt, was Lernen antreibt, nämlich die ungelösten und die beunruhigenden Fragen. Es ist ein beliebter pädagogischer Irrtum anzunehmen, nur lehrbares Wissen sei gutes Wissen, während Bildung sich offenbar nicht einzig an Lehrbarkeit orientieren kann und darf. Oft ist gerade das Nichtlehrbare das eigentlich Bildende, weil dem Lernenden die Herausforderung nicht abgenommen wird und er selbst herausfinden muss, was sie ausmacht. Wie immer die Hilfsmittel beschaffen sind, für Bildung muss eigentümlich sein, dass sie sich selbständig macht und die didaktische Fessel überwindet. Innen und Außen der Bildung haben vielfältige und freie Beziehungen. Das ist der Grund, warum Kunst wie Bildung • • • • •
Öffentlichkeit brauchen, einen kulturellen Raum, historische Substanz, Wettbewerb, Konkurrenz zu anderen,
nicht wohlmeinende Betreuung, die man nicht wieder los wird. Jedes Curriculum ist einfach nur Bildungsorganisation, notwendig, um überwunden zu werden. Wenn etwas bleiben soll, dann die treibende Erinnerung an die eigenen Ansprüche. Aber das intellektuelle Leben ist kein geordneter Bildungsgang, was angesichts der pädagogischen Allmachtsphantasien auch als Trost verstanden werden kann. Bleiben noch einige Bemerkungen zur Leidenschaft, die mit meinem Thema auch dann noch verbunden ist, wenn alle Wissensbestände digitalisiert worden sind: Das Leichte der Bildung ist nur möglich, wenn es Zutrauen zum eigenen Lesen, Schreiben, Artikulieren oder Darstellen gibt. Zugleich muss früheres Misslingen vor Augen stehen sowie das Überwinden der seinerzeitigen Schwierigkeit. Standards bilden sich wirklich nur mit Niederlagen, die die Grenze der seinerzeitigen Aspiration bestimmt haben. Es gibt in diesem
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Sinne auch keinen stetigen Zuwachs von Bildung, sondern immer nur den Konflikt zwischen Anspruch und Können, der für Beunruhigung sorgt und dafür, sich selbst ständig testen zu müssen. Man würde die Macht der Bildung unterschätzen, täte man sie als reines Phänomen der »Verinnerlichung« ab, als abrufbares Phänomen, das sich auf das Bewusstsein nicht auswirkt. Nicht zufällig hat FREUD keine Theorie der Bildung geschrieben, sondern eine der Verdrängung, während der Witz bei Phänomenen der Bildung ist, dass sie aus der Biographie heraus Geschmack und Urteil weniger festlegen als beständig herausfordern. Aus diesem Grunde muss es Blamagen geben, die Herausforderung durch Ungenügen und kontrollierende Instanzen, nicht der Triebwelt, sondern der Standardbefolgung. Die heutige Kunst ist nicht mehr »modern« in dem Sinne, dass sie ein Skandal wäre und die Gesellschaft mit permanenten Schocks versorgen könnte. Was provoziert, ist eher die freie Kombinatorik, die Objekte hervorbringt, die unmittelbarem Verstehen verschlossen sind, ohne auf kanonische Formen zu verweisen. Die Kunst zwingt zu immer neuen Orientierungen, die nicht mit Rekurs auf die Vergangenheit erklärt werden können. Das macht Bildung freier und zugleich anforderungsreicher, kein Lexikon der Moderne hilft, wenn das Objekt irritiert, das heißt die Hilfsmittel der Bildung beugen sich dem Eigensinn der Kunst. Was für die Bildung bleibt, ist der Punkt, an dem man sie nicht mehr verlieren kann. 5. Der Point of No Return Jede Bildungserfahrung kennt beim Überschreiten der bisher gewohnten Grenze einen point of no return, der verhindert, dass man hinter das erreichte Niveau zurück fällt. K ANT-Lektüre ist bekanntlich nicht leicht, und setzt voraus, dass die Standards philosophischen Fragens akzeptiert sind. Niemand muss sich dieser Tortur unterziehen, wer sich aber darauf einlässt, kann von einem bestimmten Punkt an nicht mehr zurück. Man kann die »Kritik der reinen Vernunft« auf das heftigste ablehnen, aber nur, wenn man sich zutraut, sie in ihren Grundzügen verstanden zu haben. EDWARD HOPPERS letztes Bild kann man wie einen todtraurigen oder wie einen zynischen Kommentar seines Lebens auffassen, das Bild selbst wirkt in dem Augenblick, in dem man es zulässt. Man ist danach anders als zuvor. Das gilt auch
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für die erste Erfahrung dissonanter Musik, die heftig abgelehnt werden kann und doch das Hörerleben verändert. Niemand weiß, wie viel Wissen nötig ist, damit Bildung entsteht, und ähnlich weiß niemand, wie viel Musik jemand braucht, um schulische Lernziele zu erfüllen. Die heutigen Lernziele schwanken je nach pädagogischen Moden von »Wohlbefinden« bis zum »sozialen Lernen«, aber keines dieser Ziele lässt eine Quantifizierung zu. Das hängt mit dem Erleben von Musik zusammen. Die große Zahl musikalischer Ereignisse berührt das Erleben nicht, was wirklich zählt, ist die individuelle Differenz. Das meiste Musikgeschehen des Tages – und es gibt keinen Tag ohne verdichtetes Musikangebot – nehmen wir gar nicht wahr, nur bestimmte musikalische Erlebnisse haben bildenden Charakter, in dem Sinne, dass sie biographisch unauslöschlich sind. Man versuche, MOZARTS Requiem zu vergessen, wenn sich das Ohr einmal dafür geöffnet hat. Der point of no return ist der Punkt, an dem die erreichte Qualität unumkehrbar ist. Dabei ist nicht entscheidend, »wie viel« man hört, sondern dass sich das Hören umstellen muss, weil das Erlebnis mächtiger ist als die Gewohnheit. Wer zum ersten Male einen gregorianischen Choral,11 einen mehrstimmigen Gesang der Schule von Notre-Dame oder ein motet der Ars Nova hört und im Moment des Hörens an sich heran kommen lässt, ist verändert. Der Punkt, an den Ausgang des Erlebens zurück zu kehren, ist verpasst. Insofern ist die eigentliche Macht der Kunst oder der Musik, dass sie den persönlichen Bildungsraum, einmal betreten, nicht wieder verlässt. Und auch hier zählt nicht die Menge, sondern der Moment der Rezeption. In diesem Sinne spricht vieles für die These, dass Bildung als Initiation aufzufassen sei, die nicht umkehrbar ist (OAKESHOTT 1990; PETERS 1965). Man kann hinter die KANT-Lektüre nicht zurückfallen, das HOPPER-Erlebnis nicht aus dem Gedächtnis streichen oder die Dissonanzerfahrung der modernen wie der alten Musik, einmal zugelassen, ungeschehen machen. Der Punkt, von dem an man nicht mehr zurück kann, muss kein Anlass sein, den Weg fortzusetzen. Erlebnisse können singulär bleiben und sich der nachträglichen Bearbeitung entziehen. Bilder lassen sich nicht für Bildung in die Pflicht nehmen. Aber wer sich ernsthaft auf Kunst, Literatur oder Musik einlassen will, muss imstande sein, sich selbst zu verändern. Offenbar spielen dabei Bildungseinstellungen eine zentrale Rolle, versteht man darunter, wie gesagt, die Gewöhnung an fortgesetzte Problemproduktion. Es gibt kein intuitives
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Verstehen ohne Bildungsvorlauf, Kunst ist gerade nicht voraussetzungsfrei zugänglich und in diesem Sinne auch nicht populär, wie immer Enthusiasmus damit verbunden sein mag, es ist nicht der Enthusiasmus von Ignoranten. Anders wäre der »Musikantenstadl« ein Bildungserlebnis. Bildung ist auch eine Negation der Theorien über sie, und das ist ein Teil meiner Botschaft: Individuelle und dauerhafte Akzeptanz von Standards der ästhetischen Anschauung ist nur zwanglos möglich. Wenn Bildung die Identität bestimmen soll, also Entwurf und Praxis des eigenen Lebens, geschieht das unter der Voraussetzung von unausweichlichen Fragen, guten Beispielen und anhaltender Neugier, nicht als Download von endlosen Informationen. Wer seine Interessen gehaltvoll und ernsthaft bindet, muss dies wollen und erfahren haben, von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr umkehren zu können, weil die eigene Qualität und so der Anspruch an sich selbst das nicht erlauben. Die KAFKA-Lektüre erschließt eine literarische Welt, soweit man diese an sich herankommen lässt, wird man anders und bleibt nicht, was man ist. Unterricht ist dabei eine Seite, die immer auch von der anderen Seite her betrachtet werden muss. Kunst wird in endlosen Kompendien didaktisiert, nur um den Effekt von Unterricht zu verstärken. Aber der Nürnberger Trichter ist nie erfunden worden, es gibt zwischen »Input« und »Output« keine echte Produktbeziehung, Bildung nämlich ist unberechenbare Fertigung der Persönlichkeit, die unterstützt, aber nicht festgelegt werden kann. Wenn es einen unverzichtbaren Zusammenhang zwischen Kunst und Bildung gibt, dann bezieht er sich auf • • • • •
irritationsoffenes Lernen, das sich an einem Ort selbst beschließt, nur um an einem anderen Ort neu anzufangen, mit Verknüpfungen, die unabsehbar sind und deswegen Bildung besorgen.
So gesehen sind »Schlüsselqualifikationen« flache Problemvermutungen und hat »Sachkompetenz« den Charme von Sachbearbeitern, während ALFRED WHITEHEAD12 darin Recht hat, dass Bildung sich nur dann lohnt, wenn damit ein ständiges Abenteuer verbunden ist. Bestimmte Provokationen können stumpf werden, aber nur weil es andere gibt. Insofern ist Bildung dasselbe wie Kunst, nämlich eine endlose Aufgabe.
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Last but not least: Was bleibt von NIETZSCHES drei Hypothesen? Erstens: Die Idee der Bildung ist materiell nicht einzigartig, sie kann daher nicht einfach durch Rückführung auf die griechische Antike bestimmt werden. Zudem ist gerade die griechische Antike nicht durch lediglich eine Idee ausgezeichnet, wie NIETZSCHE unter den Nachwehen der Kunstgeschichte WINCKELMANNS noch hat annehmen können. Zweitens: Bildung entscheidet sich nicht über die Verknappung des Zugangs, sondern an einem je individuellen point of no return. Und drittens: Chancen für viele gefährden nicht den Gehalt der Bildung, wenn dieser als objektive Anforderung verstanden wird, die Beliebigkeit ausschließt. Die Pointe bei NIETZSCHES Thesen ist, dass die wenigen »wirklich Gebildeten« nicht annähernd das kulturelle Niveau garantieren könnten. Demokratie wenigstens kann es ohne breite Bildung für viele nicht geben, was nicht heißt, dass Demokratie Bildung nivellieren muss. Das kann nur die Bildung selbst besorgen, weswegen sie zu Recht immer auch eine umstrittene Größe ist, die schon aus diesem Grunde nicht auf Kunst verzichten kann.
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Vortrag auf der Tagung bilden mit kunst am 13. Juni 2003 im Künstlerhaus Hannover. Zur Erzeugung und über den Nutzen von Bildungskatastrophen: OELKERS (2003). Im Blick auf den Einfluss SHAFTESBURYS für die Entwicklung der deutschen Konzeption von »Bildung« verweise ich auf die Zürcher Dissertation von REBEKKA HORLACHER (2002). 4 Bruchstück Theorie der Bildung des Menschen (HUMBOLDT 1980, S. 234-240). Der Text stammt vermutlich aus dem Jahre 1793, den Titel hat der Herausgeber ALBERT LEITZMANN besorgt. Was »Theorie der Bildung« bei HUMBOLDT heißen soll oder nur heißen kann, ist umstritten. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die gerade abgeschlossene Lizentiatarbeit von WERNER HÜRLIMANN (Zürich). 5 Kriterien dafür bei SCHEFFLER (1996). 6 AUGUST MACKE: Mädchen unter Bäumen (1914) (Öl auf Leinwand, 119,5 x 159cm). 7 FRANCIS BACON: Kreuzigung (1965) (Öl auf Leinwand, drei Teile, je 198 x 147cm). 8 GERHARD RICHTER: Sargträger (1962) (Öl auf Leinwand, 135 x 180cm). 9 GEORGE SEGAL: Alice, ihre Gedichte und Musik hörend (1970) (Gips, Holz, Glas, Kassettenrecorder, 240 x 240 x 82,5cm). 10 Die neuere Kanonforschung klammert diesen Aspekt, den Zusammenhang zwischen Kanon und Bildung, weitgehend aus (VON HEYDEBRAND 1998; RAULFF/SMITH 1999). 11 Papst GREGOR I (540-604 n. Chr.) fixierte die wesentlich ältere Sakralmusik um 600 als Zusammenhang von Psalmodie und Officium für das Kloster des Heiligen Andreas in Rom. Als älteste Quellen des gregorianischen Gesangs in der römischen Liturgie der katholischen Kirche gelten Manuskripte aus dem späten 8. und frühen 9. Jahrhundert, die nur den Text enthalten. Quellen mit Notenzeichen (Neumen) stammen aus dem 10. und 11. Jahrhundert. 12 Adventures of Ideas (1933).
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Provokation als Bildungsprinzip
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Analyse der Wirksamkeit von pädagogischen Prozessen 1. Lässt sich die Wirksamkeit von Bildung überhaupt messen? Das Vorhaben, die Wirksamkeit von Bildungsprozessen zu analysieren, ist sehr schwierig zu bewerkstelligen. Deshalb ist es notwendig, zunächst auf einige Probleme einzugehen, obwohl eigentlich Lösungen gefragt sind. Die Frage, ob sich die Wirkung von Bildungsprozessen überhaupt messen und feststellen lässt, gilt eigentlich seit 200 Jahren als nicht lösbare Frage. Sowohl im klassischen Bildungsdiskurs als auch in der Geschichte der Wirksamkeitsforschung gab es einen Konsens darüber, dass Bildungsprozesse, weil sie besonderer Natur sind, weil sie schlecht operationalisierbar und von einer unübersehbaren Fülle von Einflüssen und Nebeneinflüssen moderiert sind, nicht im strengen Sinn empirisch überprüft oder gar gemessen werden können. Man ging davon aus, dass Bildungswirkungen subjektiv verschieden, also nur subjektiv beschreibbar sind. Dieser Konsens ist mittlerweile verschwunden. Heute sind es technische Lösungen, nach denen gesucht wird. Dabei geht es um Messungen und um feststellbare Wirkungen. Eine Ursache für dieses Bestreben sind die international vergleichenden Leistungsbilanzstudien, von denen die PISA-Studie nur die bekannteste neben einer Reihe weiterer Studien ist. Die Ergebnisse dieser Studien, dass deutsche SchülerInnen im europäischen Vergleich in der Bewertung im unteren Drittel einzuordnen sind, hat nicht zum ersten Mal die Verantwortlichen aufgeschreckt. Hierbei geht es sicher auch um nationale Ehre und das Bestreben, einen der vorderen Plätze einzunehmen. Aus der anhaltenden Diskussion folgt, dass »wir« besser werden müssen, wie aber soll das gemessen werden? 2. Wirkvariablen und intervenierende Kontextvariablen – was wirkt eigentlich? Die PISA-Studie ist eine sozialwissenschaftlich und methodologisch anzuerkennende Studie, die hier etwas genauer betrachtet werden soll:
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In der Auswertung der Studie wurde festgestellt, dass Fächer wie Mathematik, Deutsch und das dazugehörige Sprachverständnis Persönlichkeitsvoraussetzungen benötigen, die durch diese Fächer nicht produziert werden, also auf außerunterrichtliche Bildungsprozesse verweisen. Sie verlangen personale Fähigkeiten (Kompetenzen), die außerhalb der Schule entwickelt werden müssen. Die Familie ist für diesen Prozess die wichtigste Sozialisationsinstanz. Hinzu kommen die Peergroups. An diesen lebensweltlichen Orten kann – wenn entsprechende Gelegenheitsstrukturen gegeben sind – die Möglichkeit des verständnisintensiven Lernens geboten werden. Es handelt sich dabei vor allem um Lern- und Bildungssituationen, die die Entwicklung von Persönlichkeitskompetenzen ermöglichen. Der Gegenbegriff zu dieser Art des Lernens ist der des mechanischen Lernens. Beim verständnisintensiven Lernen geht es um den Erwerb von Wissen, das im Zusammenhang mit Verwendungsregeln angeeignet wird: Wofür brauche ich das, was ich lerne? Die Fähigkeit, dies zu reflektieren, erfordert eine hohe Sprachkompetenz, ein differenziertes Weltverständnis und eine besondere Kreativität, die ermöglicht, den gleichen Stoff auf unterschiedliche Weisen zu verwenden. Angesichts solcher empirischer Erkenntnisse müssen wir fragen: Wie kann der Begriff der »Wirkung« sinnvoll definiert werden? Ist Wirkung gleichzusetzen mit Gedächtnisleistungen, also mit abfragbarem Wissen? Danach wurde in der PISA-Studie nicht gefragt, sondern es ging um einen anderen Begriff von Lernerfolg, nämlich um die Fähigkeit, physikalisches Wissen und Sprachkompetenz in bestimmten Zusammenhängen zu verstehen, sich anzueignen und umzusetzen. Wissensbestände sollten dabei kreativ in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Dies geschieht über die eigene Aneignung von Welt. 3. Funktionale und intentionale Bildungswirkungen Wird nun in diesem Zusammenhang die Frage der Bildungswirkung gestellt, stellt sich der Klärungsbedarf noch dringlicher dar. Denn damit ist ja zunächst zu klären, was unter Bildung verstanden wird. Schleiermacher hat bereits 1826 eine Unterscheidung zwischen den Kategorien intentionale und funktionale Bildung vorgenommen. Unter intentionaler Bildung versteht er das geplante, zielgerichtete Handeln des Lehrers oder Erziehers, der mit seinem Tun »intendiert«, seine Ziele mithilfe einer geeigneten Didaktik zu erreichen.
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Dem stellt er den Begriff der funktionalen Bildung gegenüber. Darunter versteht er all das, was Menschen einfach dadurch lernen, dass sie am Leben teilhaben. Nicht der/die LehrerIn bildet, sondern das Leben an sich. Für Schleiermacher war die Frage zentral, ob es möglich sei, Menschen intentional zu Gerechtigkeit zu erziehen, wenn sie funktional in einer sozial ungerechten Gesellschaft leben. Diese Frage verneint er vehement. Es sei nicht möglich, zu Werten zu erziehen, wenn diese Werte quer zu den Alltagserfahrungen liegen. Die funktionale Bildung im Leben selbst, durch die alltäglichen Erfahrungen, erweise sich allemal als mächtiger gegenüber den intendierten Bildungswirkungen des erziehlichen Unterrichts. Bei der Betrachtung der Bildungswirkungen ist es für uns also wichtig zu beachten, dass das von professionellen ErzieherInnen Intendierte nur ein Ausschnitt des Bildungsganzen ist. Das Spannungsverhältnis zwischen intentionaler Erziehung und dem, was die Menschen funktional ohnehin im Alltag lernen, muss stets berücksichtigt werden. Dieser Zusammenhang findet eine besondere Zuspitzung in der Kunstpädagogik. Das lange vertretene Verständnis von Kunst als das Gute, Schöne und Wahre, als Gegenpart zur spröden und widersprüchlichen Alltagswelt, hält heute keiner Definition mehr stand. Heute entwickelt sich die Kunstpädagogik gerade aus der Spannung zu den Realerfahrungen der alltäglichen Welt. Die Kunst wird nicht weiter als ein bestimmter Zustand jenseits der Alltagswelt definiert und auf einen besonderen Wert festgelegt. Auch wenn angesichts dieser »Lebensweltorientierung« der Kunst der Spießbürger die Differenz nicht mehr findet, die er erwartet, und er hilflos stöhnt: Das ist ja keine Kunst – das kann ja jeder! 4. Bildung ist letztlich immer Selbstbildung Von den Klassikern ist zu lernen, dass jede Bildung letztlich Selbstbildung ist. Es ist nicht möglich Bildung zu erzwingen, man kann lediglich Bildungsangebote machen. Werden Bildungsangebote nicht genutzt und damit nicht angeeignet, laufen sie ins Leere. Bildung ist ein Koproduktionsverhältnis. Die Personen, die Bildung anbieten, sind nie alleinige ProduzentInnen, sondern sie brauchen immer Ko-ProduzentInnen, die das Angebotene für sich nutzen. Bildung wird zwar immer wieder als personenbezogene soziale Dienstleistung beschrieben, was durchaus zulässig ist. Es muss dann jedoch auch die an diesem Punkt klar formulierende Dienstleistungstheorie berücksichtigt werden, die immer von einer Koproduktion mit einem Gegenüber ausgeht.
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Für Bildungsprozesse gilt also grundsätzlich, dass sie von zwei Seiten in Gang gesetzt werden müssen, von einer/m AnbieterIn und einer/m AneignerIn. Aneignung bietet immer auch die Möglichkeit der Umnutzung. Bildung will etwas Bestimmtes erreichen, doch die sich aneignende Person macht etwas ganz anderes daraus, als von der/dem BildnerIn intendiert war. Hierbei handelt es sich um ein besonders interessantes Moment des Bildungsprozesses, das kreative Moment, das nicht festgelegt ist und nicht determiniert. Weil nicht über die Autonomie der/des KoproduzentIn verfügt werden kann, gibt es nicht die Möglichkeit zu bestimmen, in welche Richtung ein Bildungsprozess gehen wird. Die einzige Möglichkeit dazu wäre die Forderung nach konventionellem Gehorsam. Aber auch dieser ermöglicht keine Kontrolle über das Handeln außerhalb dieses Lernrahmens. Ein Kunstunterricht, der diese kreative Lücke nicht erwartet und bereithält, ist kaum denkbar. Auf die an Eltern gestellte Frage: »Welches Erziehungsziel ist Ihnen im Umgang mit ihren Kindern am wichtigsten?« werden am häufigsten folgende drei Ziele formuliert: Gehorsam, Selbständigkeit und freier Wille. Gehorsam ist aber dasjenige Erziehungsziel, das immer mehr an Bedeutung verliert. Die anderen beiden Ziele dagegen zeigen seit Jahren einen beständigen Zuwachs an Bedeutung und Wichtigkeit. Eltern wollen heute zu über 80 %, dass ihre Kinder in aller erster Linie zu freiem Willen und damit zu Selbständigkeit erzogen werden. Hieran zeigt sich, dass Eltern ihre Erziehungsstile der Realität anpassen. Sie verfolgen das Ziel, Kindern die Möglichkeit zu geben, kreativ und selbständig etwas zu tun. Die dabei erworbenen Schlüsselkompetenzen werden immer wichtiger, um in unserer widersprüchlichen und konkurrenten Welt überhaupt zurechtzukommen. 5. Bildung bedeutet nicht Erwerb von Bildungsgütern Von den Klassikern können wir lernen, dass Bildung nicht identisch ist mit dem Erwerb von Bildungsgütern. Nach Schleiermacher verbindet Bildung die Generationen miteinander. Ältere und Erfahrenere sind schon in die »objektive Kultur« eingebettet und einsozialisiert und haben die ethische Pflicht, sich den Jüngeren zuzuwenden, ihnen zu helfen, »subjektive Kultur« auszubilden. Solche Gedanken haben immer wieder dazu verführt, den Begriff »objektive Kultur« als Kanon von Bildungsgütern misszuverstehen. Als ob man Bildung in der Art von Quiz-Sendungen auffassen könnte, wonach als »gebildet« gilt, wer alles weiß. Denn für Schleiermacher kommt »subjektive« Bildung und Kultur nicht einfach durch kritiklose Übernahme der Tradition,
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der Bildungsgüter zustande. Vielmehr erwartet er von den Zöglingen, dass sie sich mit der Tradition kritisch auseinander setzen, sie »revidieren« und damit weiterentwickeln. Auch hier ist der zu Bildende wieder als Ko-Produzent mit einer wichtigen eigenen und kritischen Aufgabe gesehen. Denn es ist gut, wenn die Jugend nicht einfach so wird, wie die Alten es von ihr erwarten. Würden die Jüngeren ganz so werden, wie die Älteren es sich wünschen, würde es keine Veränderung mehr geben, und die Gesellschaft würde stillstehen. Gesellschaft verändert sich jedoch ständig, so dass wir darauf angewiesen sind, dass wir Jüngeren Möglichkeiten zur Traditionskritik, zur Revision von Bildungsvorstellungen, Zielen und Kanones geben, damit sie kreativ etwas Zukunftsfähiges schaffen können. Bildung ist mehr als Lernen, sie bezieht sich auf das Sich-Beheimaten in der Welt, bei sich selbst und bei anderen. Sie ist nicht identisch mit dem Lernbegriff oder dem Qualifikationsbegriff. Sich in der Welt beheimaten bedeutet, sich ein Bild von der Welt machen, das immer wieder transformiert werden kann. Sich selber kennen lernen bedeutet, sich ein Bild von sich selber machen. Dies kann immer nur ein vorläufiges sein, das ständig verändert werden muss. So gesehen hört Bildung nie auf und endet auch nicht mit dem Abschluss der Jugendphase. 6. Bildung als ganzheitlicher Vorgang »Bildung ist die ›proportionierliche‹ Entfaltung aller Kräfte«, womit Humboldt nicht nur die kognitiven Verstandeskräfte meint, sondern auch die leiblichen, ästhetischen, religiösen und emotionalen Kräfte. Er vertritt einen umfassenden, ganzheitlichen Bildungsbegriff. Proportionierlich bedeutet, dass keine Kraft Vorrang vor der anderen haben soll, sondern die Kräfte auszubalancieren sind. Der einzelne Mensch soll zum Menschenmaß kommen, indem er alle seine Kräfte entwickelt und nicht nur die verstandesmäßigen. Ausgehend von diesem Bildungsverständnis, kann eine Ursache-WirkungAnalyse von Bildungsprozessen nicht gelingen. Denn wenn Bildung ein koproduktiver Vorgang ist, wer ist dann die Ursache? Bildung ist keine Sozialtechnologie, es gibt hier keine Wenn-dann-Zusammenhänge. Also ein technisches Wissen, das uns darüber instruiert: Wenn ich dieses tue, dann kommt jenes heraus. Vielmehr handelt es sich bei unserem pädagogischen Wissen um Erfahrungswissen. Wir vertrauen Erfahrungen, die wir gemacht haben, dass ein bestimmtes Handeln zu einem gewünschten Handeln von
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Kindern führt. Aber wir wissen zugleich, dass solches Wissen unscharf, nicht gesetzmäßig oder logisch strukturiert ist, so dass bestimmte Erfahrungen nur begrenzt wiederholbar sind, auch wenn bei vorangegangenen Situationen ein bestimmtes Vorgehen funktioniert hatte. Auch dies ist als Hinweis darauf zu verstehen, dass Bildung etwas Ganzheitliches ist und nicht aufgesplittet werden kann. Im Besonderen gilt dies für die musisch-kulturelle Bildung. Die technischen Fähigkeiten und die nötige Feinmotorik sind allein noch keine Musik, erst das musikalische Verständnis macht sie zu Musik. Woher aber kommt musikalisches Verständnis? Es entsteht durch Angebote, durch Kommunikation mit anderen Menschen und durch die Möglichkeit, empathisch reagieren und fühlen zu können. Letztlich aber ist es das Individuum selbst, das sich dieses Verständnis erarbeiten muss. Bildung ist dadurch immer auch etwas höchst Persönliches, denn die eigene Entwicklung lässt den einen Menschen zu einem Wagner-Fan werden und den anderen eine Abneigung gegen dessen Musik entwickeln. 7. Kriterien nachhaltiger Bildungsprozesse Bei aller Ganzheitlichkeit ist Bildung immer Subjektbildung. Bildung zielt auf ihre Verwendbarkeit im Leben. Bildung wird durch ihren Verwendungscharakter angeleitet und gesteuert. Dies bezeichnen wir als »Nachhaltigkeit« von Bildungsprozessen. Sie hat für einzelne den Sinn, in der Welt und mit sich selbst zurecht zu kommen. Insofern hat sie eine sowohl pragmatische wie prozessuale Struktur. An welchem Zeitpunkt ist nun aber zu messen, um eine Bildungswirkung festzustellen? Eignet sich dafür das Ende eines Kurses, oder sollte die Auswertung drei Monate später oder erst drei Jahre später stattfinden? Es gibt verschiedene Vorgehensweisen bei der Messung der Nachhaltigkeit von Bildungserfahrungen. All diese Messungen zeigen, dass es keine eindeutigen Ursache-Wirkungs-Verknüpfungen gibt. Etwas nach drei Monaten nicht Erinnertes wird plötzlich nach drei Jahren relevant, weil es dann hilfreich ist. Wenn es stimmig ist, dass wir die Subjekthaftigkeit von Bildung betonen, muss es zumindest erlaubt sein, an Bildungszielen zu zweifeln. Viele Bildungserfahrungen sind kongruent, indem Weltsichten, Deutungsmuster und Wertsysteme übernommen werden. Daneben sind auch andere Personen und einzelne Situationen bildend und für die Einzelnen wichtig. Gerade auch konträre Meinungen und Deutungen sind für diesen Prozess zentral, damit
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das Individuum eigene Bilder und Muster entwickeln kann. Insofern ist die Wirkung von Bildung prinzipiell eine vieldeutige. Um Bildung messen zu können, müssen Kriterien aufgestellt werden, anhand derer Bildungswirkungen gemessen werden können. Diese Kriterien sind keine objektiven Kriterien, denn die objektive Messung von Bildung ist ideologisch und nicht wissenschaftlich. Wenn Bildung etwas Ganzheitliches ist und eigentlich nur über die subjektiven Bedeutungen, die sehr heterogen sein können, zugänglich ist, dann müsste jeweils definiert werden, was eigentlich aus dieser Ganzheitlichkeit herausgegriffen und überprüft werden soll. Von messen kann dabei keine Rede sein. In den letzten Jahren gab es einige Versuche, sich außerhalb von simplen Qualifikationsmessungen auf Kriterien zu verständigen. Eines der Kriterien ist Nachhaltigkeit. Bildung ist nur dann wirklich wertvoll, wenn sie nicht gleich wieder vergessen wird, wenn sie also nachhaltig ist. Das zweite Kriterium ist die Ausbalanciertheit von Bildung, ein zurzeit politisch heftig umstrittenes Thema. Der derzeitige politische Diskurs betont vor allem technisch-naturwissenschaftliche Fächer, denn darin liege die Zukunft des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Andere vertreten die Ansicht, dass es unaufgebbare europäische Tradition sei, die Ausbalanciertheit von Bildungsprozessen anzustreben. Diese Seite befürwortet eine vielfältige Schulkultur, die zum einen technisch-naturwissenschaftliche, aber auch musisch-künstlerische und sprachlich-neusprachliche Schulen wünscht. Ein drittes Kriterium ist Selbstwirksamkeit. Bildungsprozesse sollen Selbstwirksamkeit fördern. Dieses Kriterium geht auf den amerikanischen Sozialpsychologen Bandura zurück, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, danach zu fragen, was einige Menschen erfolgreicher in der Überwindung von Lebensschwierigkeiten macht und warum andere an denselben Herausforderungen scheitern. Ursprünglich ging er davon aus, dass Menschen mit einer privilegierteren sozialen Herkunft und einer gesicherten finanziellen Ausstattung Lebensschwierigkeiten besser überwinden können. Er fand aber heraus, dass die finanzielle Lage zwar in der Tat eine Rolle spielt, aber alleine nicht ausreiche, um die selbstwirksame Bewältigung von Schwierigkeiten zu erklären. Nach seinen berühmten Forschungen liege es vielmehr an bestimmten günstigen Persönlichkeitseigenschaften, die er »self-effecacy« (Selbstwirksamkeitsüberzeugungen) genannt hat. Diese Persönlichkeitskom-
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petenzen sorgen dafür, dass einige Menschen in Schwierigkeiten besser zurechtkommen, also ein hohes Selbstwirksamkeitspotenzial haben und andere eher scheitern, weil sie ein geringeres Potenzial haben. »Self-effecacy« gründet sich im Wesentlichen auf die Überzeugung, das eigene Leben in die Hand nehmen und gestalten zu können und das eigene Leben in manchen Bereichen aktiv führen zu können. Selbstwirksame Menschen haben die Möglichkeit, auf ihre Fähigkeiten zu vertrauen und alternative Lösungen für misslungenes Agieren zu finden. Selbstwirksame Menschen haben ein gelösteres Verhältnis zu ihrer Umgebung, denn sie können die Optionen und Risiken kreativer miteinander aushandeln. Fragt man danach, welche Sozialisations- und Bildungschancen das Entstehen und Befestigen von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen unterstützen und fördern, so zeigt sich: Wichtig sind Erfahrungen in Familie, Peergroup und Schule, die Wertschätzung signalisieren, Anerkennung, die nicht »demütigen« (du hast es schon wieder nicht gekonnt – du wirst es nie lernen – aus dir wird nie etwas), sondern Lernen am Erfolg ermöglichen. Solche Faktoren können deshalb als wichtige Qualitätskriterien von Bildungsorten benutzt werden. 8. Absender- oder Adressatenforschung In der empirischen Forschung ist es besonders wichtig, ganz genau auf die Zielrichtung einer Frage zu achten. Die Überprüfung der Wirksamkeit von Bildungsprozessen wird üblicherweise als AdressatInnenforschung betrieben. Sie könnte jedoch auch absenderInnenorientiert angelegt werden. Das würde sozialwissenschaftlich wesentlich mehr Sinn machen, denn dann gäbe es die Möglichkeit, mithilfe sozialräumlicher Analysen herauszubekommen, wie die soziale Qualität in einem bestimmten Stadtteil ist, welche Bildungsgelegenheiten er bietet. Für etwa ein achtjähriges Kind ist es durchaus von Bedeutung, welche Gelegenheitsstrukturen ein Stadtteil bietet. Es könnte z. B. auch gefragt werden, wie die Bildungsgelegenheiten aussehen, die an einer Schule oder Kunstschule geboten werden. Das wäre eine absenderInnenorientierte Befragung. Es könnte nach der Offenheit der Bildungsgelegenheiten und der Möglichkeit der Mitgestaltung gefragt werden. Wird selbstaktives Lernen gefördert und werden Umnutzungen zugelassen? Alles, was Bildung interessant, kreativ, lebenstauglich, förderlich und menschendienlich macht, hängt an solchen Qualitätsdimensionen. Es empfiehlt sich grundsätzlich, in beide Richtungen zu fragen.
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[keywords] Autonomie Vermitteln Ver-Handeln Anwenden
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Kunstpädagogik als Kunst der Anwendung? In letzter Zeit gefällt es mir nicht mehr, in Vorträgen hauptsächlich auf das zurückzugreifen, was bereits publiziert ist und vielleicht besser, in jedem Fall aber schneller, auch gelesen werden könnte. Stattdessen versuche ich, jeweils das vorzutragen, was gerade im Mittelpunkt meines theoretischen Interesses steht, auch wenn es möglicherweise noch nicht zu Ende gedacht und genügend abgeklärt ist. Einen meiner momentanen Arbeitsschwerpunkte bildet die Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Kunst und Kultur. Zu dieser Thematik werde ich einige Überlegungen skizzieren, die sich zwar als vorläufig erweisen mögen, aber vielleicht gerade wegen ihres hypothetischen und offenen Charakters zum Weiterdenken und Diskutieren besonders geeignet sind. In dieser Hoffnung möchte ich mich drei Fragekomplexen zuwenden, die für die Kunstpädagogik wie für jede künstlerische Lehre und Vermittlung zentral und folgenreich sind: • • •
Wie lässt sich das Verhältnis von Kunst und Kultur näher bestimmen? Wie lässt sich ein neuer Handlungsraum aus dem Spannungsverhältnis von Kunst und Kultur gewinnen? Wie lässt sich Kunst in Kultur transformieren, um so wieder eine größere gesellschaftliche Geltung zu erlangen?
Im Sinne einer ersten Annäherung an diese Fragen sei daran erinnert, dass Kunst und Kultur sich keineswegs einfach gleichsetzen lassen, sondern deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Schon der erste Blick zeigt, dass Kultur gegenüber der Kunst das Grundlegendere ist, weil Kunst durch Kultur erst ermöglicht wird. So kann Kunst überhaupt nur fortbestehen, solange ein heute jedoch allenfalls noch rudimentär existierender kultureller Kontext der Produktion und Rezeption von Werken besteht: Die Gelegenheit zu einem bohèmehaften Leben war einst für die Entstehung von Kunst ebenso entscheidend wie etwa gewisse bildungsbügerliche Attitüden für ihre Wirkungsmöglichkeiten, so fragwürdig beides an sich auch sein mag. Für die Vorrangigkeit der Kultur spricht zudem die ebenso banale wie elementare Tatsache, dass viele Menschen ohne Kunst leben müssen und alle Menschen ohne
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Kunst leben können. Denn viele sterben möglicherweise, ohne je eigene Erfahrungen mit Werken der Kunst gemacht zu haben. Aber kein Mensch kann – wie immer er existiert – ohne Kultur oder zumindest ein Bewusstsein davon leben. Ja selbst noch das Sterben wird nur durch Kultur überlebbar – allemal für die Nachgebliebenen, aber vielleicht ja auch für die Dahingegangenen. In den unterschiedlichen, aber allerorts verbreiteten Vorstellungen vom ewigen Leben offenbart sich, dass eine der wesentlichen Wurzeln von Kultur im Umgang mit dem Tod liegt. Angesichts des Todes ist es Kultur, die das Weiterleben und allemal ein gutes Leben erst ermöglicht. Gedankengänge wie diese legen es nahe, dass einer materialistisch beschränkten Betrachtungsweise entgegen Kultur keinesfalls mit dem gleichzusetzen ist, was in den spezialisierten Teilgebieten der verschiedenen Künste an Werken produziert wird. Die bloße Existenz ästhetischer Objekte verbürgt noch lange nicht Kultur, sondern symbolisiert oder simuliert diese möglicherweise nur. Kultur betrifft vielmehr das »Wie« der Werkproduktion, -präsentation und -rezeption, weswegen sie stets mehr und anderes ist, als Werke der Kunst verkörpern können, auch wenn in ihnen zweifellos eine bestimmte Kultur ihren Ausdruck finden kann. So wurde gerade die nach der Französischen Revolution sich entwickelnde moderne Kunst trotz aller Anfeindungen immer als ein unvergleichlicher Ausdruck der Möglichkeit von Autonomie und Freiheit des Menschen gesehen und als solche geschätzt oder gefürchtet. Zu Recht konnte etwa jahrzehntelang die freie Kunst des Westens gegen die sozialistische Staatskunst als Vorbild ins Feld geführt werden. Denn ihre Werke beruhten auf einer Kultur, in der die Autonomie ihrer Produktion und Rezeption als höchste Wertvorstellung angestrebt wurde. Insofern in der Kunst der klassischen Moderne und der Avantgarde am Ideal der Autonomie orientiert geschaffen und gelebt wurde, waren ihre Werke ein glaubwürdiger Ausweis dieser Wertvorstellung. Aber hat diese Glaubwürdigkeit noch Bestand? Wie sieht es inzwischen mit der Geltung und der Praktizierung von Autonomie in der künstlerischen Produktion und ästhetischen Rezeption tatsächlich aus? Zwar scheinen »Autonomie« und »Eigenverantwortung« heute hoch im Kurs zu stehen, doch tatsächlich werden sie nur als neoliberale Kampfbegriffe zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen missbraucht: Nicht Selbstgesetzgebung, sondern grenzenlose Vertragsfreiheit ist damit gemeint. Wenn es ernst wird und die Macht des Geldes ins Spiel kommt, ist es mit der Wertschätzung unabhängi-
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ger Meinungen oder gar autonomer Entscheidungen überall und auch im Kunstbetrieb schnell vorbei. Denn während es einst zu den Wesensmerkmalen der ausdifferenzierten bürgerlichen Demokratien gehörte, dass die ökonomischen, letztendlich allein auf die Maximierung der Kapitalerträge gerichteten Prinzipien, überwiegend auf das Wirtschaftssystem beschränkt blieben, hat sich inzwischen die Praktizierung des kapitalistischen Konzepts von ökonomischer Effizienz nicht nur durch zunehmende Deregulierung radikalisiert, sondern überdies auf alle übrigen gesellschaftlichen Teilbereiche ausgebreitet. In den saturiertesten Zeiten, die Mitteleuropa je gesehen hat, wird unisono und unablässig es als unausweichlich beschworen, dass über unser ganzes Leben (z. B. Arbeit und Gesundheit) und unsere gesamte Kultur (z. B. Sport und Musik) primär nach Kriterien einer ausschließlich am kurzfristigen finanziellen Erfolg ausgerichteten Wirtschaftlichkeit entschieden wird, die sich indes nach dem Kriterium der Nachhaltigkeit selbst immer wieder als höchst unökonomisch erweist. Auch im Kunstsystem konnte sich die Ideologie von der Unfehlbarkeit des Marktes weitgehend durchsetzen. Aber statt der versprochenen größeren Selbständigkeit sieht etwa auch Walther GRASSKAMP die Kunst »in eine populistische Abhängigkeit von ihrem zahlenden Publikum, in riskante Kompromisse mit Sponsoren, sowie in undurchsichtige Koalitionen mit Geldmaklern …« geraten. Dabei wird Kunst völlig auf ihre quantifizierbare Seite reduziert und letztlich nur noch danach beurteilt, ob sie einem messbaren Geld- oder Geltungsgewinn verspricht. Je mehr die Gesinnung dieses neuen Proletentums der Modernisierer auch die »Kultur« beherrscht, desto weniger zählen noch die der Kunst eigenen, nur qualitativ bestimm- und erfassbaren Normen und Werte. Je weiter der Autonomieverlust faktisch fortschreitet, umso nachdrücklicher wird darauf beharrt, dass die Bedeutung und Geltung der Kunst sich ganz und gar im Symbolischen zu erschöpfen habe. Um als autonom zu gelten, soll Kunst sich darauf beschränken, allenfalls von, aber keinesfalls in der realen Welt zu handeln. Die Autonomie der Kunst wird bemerkenswerterweise nicht mehr daran gemessen, wie frei diese von gesellschaftlicher Beeinflussung, sondern wie gering deren gesellschaftliche Wirkung ist. Jede künstlerische Intervention, die über die unbestimmte Wirkung auf das subjektive Bewusstsein hinauszielt und direkt in die gesellschaftliche Wirklichkeit einzugreifen versucht, gilt daher als Anmaßung der Kunst und unbillige Überschreitung ihrer vermeintlich natürlichen Grenzen. Werke werden nur so lange akzeptiert und vor allem honoriert, wie sie nicht über die bloße Dar-
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stellung von Autonomie hinauszugehen wagen und insofern kalkulierbar bleiben. Gefragt sind ausschließlich solche Kunststücke, die sich mit der unverbindlichen Symbolisierung von Autonomie begnügen und zu nichts anderem als einer gleichermaßen folgenlos bleibenden bewundernden oder eben verärgerten Betrachtung dieses Phänomens geschaffen sind. Nur künstlerisch überformt und wohldosiert wird Autonomie zur Schau gestellt, damit für Repräsentationszwecke gleichwohl von emanzipatorischen Werten wie Liberalität, Modernität und Progressivität risikolos profitiert werden kann. Autonomie wird durch die Unterdrückung der ihr potentiell innewohnenden politischen Brisanz unter den rigiden Bedingungen unserer monomanen Wirtschaftsgesellschaft also gleichsam nur ornamental benutzt und Kunst als Freiheitsdekor produziert oder verwertet. Künstlerische Autonomie verkommt infolgedessen mehr und mehr zu einem äußerlichen Sujet, Thema oder Gestus und wird – der Nachfrage entsprechend – nur mehr simuliert. Indem Autonomie so einen rein fiktiven Charakter bekommt, verliert die Kunst ihre Bedeutung und Kraft als Ausdruck und Potential von Freiheit und Schöpfertum. Auch wenn die Autonomie der Kunst, der KünstlerInnen, der Werke und ihrer Rezipienten fast verloren zu sein scheint und nicht einmal mehr deren bloße Darstellung überzeugend gelingt, gibt es noch eine andere Alternative, als einfach die große Tradition autonomer Kunst und realer Selbstbestimmung aufzugeben. Denn wenn die Kunst von sich aus auf die einst überaus produktive, aber heute nur noch fingierte Selbstzweckhaftigkeit als vermeintlichen Inbegriff ihrer Autonomie verzichtete und sich selbst zum Mittel machte, könnte sie nicht länger ungeachtet ihrer eigenen Intentionen als solches beliebig ge-, ver- und missbraucht werden. Es ginge dann allerdings nicht mehr primär um die Autonomie der Kunst, der Künstler oder der Werke, sondern um die Verwirklichung von Autonomie durch Kunst. Entwickelt sich Kunst durch eine derartige »Finalisierung« konsequent zu einem Medium der Selbstbestimmung, wird sich ihr Autonomieversprechen nicht mehr nur auf der Produktions-, sondern auch auf der Rezeptionsseite einlösen lassen. Dies kommt der Auffassung entgegen, dass Selbstbestimmung nach Peter SLOTERDIJK in unserem medialen Zeitalter ganz neu als »Intensivierung der Teilhabe« gedacht werden muss. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, erweist sich allerdings die in der Kunst bisher vorherrschende Rezeptionsform ästhetischer Kontemplation – und sei sie noch so elaboriert – als völlig unzureichend. Sie ist vielmehr um die Dimension ästhetischen Handelns zu erweitern, was es erforderlich macht, dass die ehedem als Anschauungs-
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objekte fungierenden Werke den Charakter von Werk-Zeugen bekommen müssen. Um deutlicher zu machen, was es heißen kann, in der Kunst kursierende Objekte nicht mehr als Werke, sondern als Werk-Zeuge zu rezipieren, zu vermitteln und gegebenenfalls auch gleich von vornherein als solche zu produzieren, sei ein Beispiel bemüht: Da von Kunstwerken gern erwartet wird, dass sie dazu verhelfen, die Welt und sich selbst anders und differenzierter zu beobachten, um dementsprechend handeln zu können, sei der Vergleich mit einer Brille gestattet. Wer besser sehen und leben will, würde es allerdings kaum dabei belassen, die verschiedenen Modelle in der Auslage eines Brillengeschäftes nur anzuschauen, ganz abgesehen davon, dass dies aufgrund einer möglichen Sehschwäche möglicherweise erschwert wäre. Vielmehr würde der an einer Brille Interessierte diese sicher daraufhin betrachten und auswählen, welche zu ihm und seinem Aussehen passt und welche seinem Sehvermögen förderlich ist. Vor allem aber wird es für ihn selbstverständlich sein, die Brille auch zu tragen und entsprechend ihrer Beschaffenheit zu verwenden. Es käme niemanden in den Sinn, dass ihm der Blick auf (statt durch) eine Brille bereits dazu verhilft, besser sehen zu können. Im Umgang mit Kunstobjekten ist diese Absurdität allerdings gang und gäbe, und es wird geglaubt, von deren möglichen Qualitäten schon bei der bloßen Betrachtung profitieren zu können. Dieser Glaube, der mit mannigfaltigen Vorstellungen über die wundersame Wirkkraft von Werken immer wieder rationalisiert wird, unterscheidet sich jedoch letztlich in nichts von der mittelalterlichen Mystik und ihrem Credo »du wirst, was du siehst«. Kunst oder andere komplexe Wertvorstellungen lassen sich niemals von Objekt zu Mensch lediglich durch Betrachtung übertragen, sondern müssen (v)erhandelt werden. Zwar ist den Kunstobjekten dann kein Eigenwert als ›Kulturträger‹ mehr zuzuschreiben; aber sie verlieren nicht, sondern gewinnen durch ihren medialen Charakter sogar eher an Bedeutung für den Prozess, in dem Kunst sich ereignen soll. Denn wie eine Brille muss jedes gute WerkZeug über bestimmte ästhetische, funktionale und pragmatische Qualitäten verfügen, aus deren Zusammenspiel mit dem Handelnden sich ein gelingender Gebrauch ergibt. Das Kriterium für die Beurteilung dieser Qualitäten ist nun nicht mehr irgendein ominöser Kunstwert, der spezifischen Eigenschaften von Objekten vermeintlich zukommt, sondern inwieweit und in welcher Weise Brauchbarkeit für das ästhetische Handeln vorliegt und dadurch die Überführung in kulturelle Prozesse erreichbar ist. Am Anspruch von Werk-
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Zeugen gemessen, erweisen sich allerdings viele zeitgenössische »Werke« gleichsam als Brillengestelle ohne Gläser, welche niemand trägt und die sich deswegen zu nichts anderem eignen, als bestenfalls in Kuriositätenkabinetten musealisiert zu werden. Dass überhaupt gehandelt statt nur geschaut und phantasiert oder gedacht wird, davon ist es abhängig, ob unser Dasein durch Kunst selbstbestimmbar wird und dieser so eine kulturelle und eben auch politische Wirkung zukommt. Doch erst die Art und Weise, wie gehandelt wird, entscheidet darüber, ob die Selbstbestimmung und das Dasein eine besondere Qualität bekommen. Von den üblichen, auf den eigenen momentanen und vermeintlichen Vorteil ebenso fixierten wie beschränkten Vorstellungen so weit wie möglich abzusehen, gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen, damit sich im Unterschied zum bloßen Agieren ein selbstbestimmtes und ästhetisch ebenso motiviertes wie qualifiziertes Handeln ausformen kann. Während Kunst, solange sie in Werken angeschaut wurde, ausschließlich in der Vereinzelung zu rezipieren war, geht mit der Ästhetisierung des Handelns zugleich eine Integration der künstlerischen Objekte in die Gemeinschaftlichkeit kultureller Prozesse einher. Es liegt auf der Hand, dass solcherart ästhetisches Handeln kein »zweckrationales, instrumentales Handeln« im Habermasschen Sinne sein kann. Vielmehr sollte es eine auf die Beobachtung ihres eigenen Vollzuges gerichtete und auf die Komplexität der situativen Gegebenheiten eingehende eigendynamische und sich selbst organisierende Aktivität sein, die zudem einen performativen Charakter aufweist, den schon Montaigne trefflich so charakterisiert hat: »Ein Unternehmen (muss) schon etwas von der Eigenschaft der Sache bei sich führen, worauf es gerichtet ist; denn das ist ein wichtiger und wesentlicher Teil seiner Wirkung.« Gleichwohl reichen diese und andere aus der Tradition ästhetischer Theorie ableitbaren Merkmale des ästhetischen Handelns nicht recht aus, um es begrifflich besser fassen, vor allem aber auch praktizieren zu können. Das Unbehagen an dem in der Kunstwelt gern gepflegten Vorurteil, jede Kunst, die der Rezeptionsform des Handelns bedarf, als »angewandt« zu diskreditieren, hat mich zu einer genaueren Beschäftigung mit dem Begriff der »Anwendung« geführt. Dabei bin ich einer überraschenden Wendung dieses in der Kunst eher negativ gefärbten Begriffs erstmals durch meinen Kollegen KarlJosef Pazzini begegnet in einem unter dem Titel Als ob ich tot wäre von ihm herausgegebenen Interview mit Jacques Derrida. Bei weiter gehenden Re-
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cherchen habe ich dann Präzisierungen dieses Begriffs vor allem in Derridas rechtsphilosophischen Überlegungen gefunden, die mich ermutigt haben, seinen Begriff der Anwendung aus dem Rechts- in den Kunstbereich und dort auf das ästhetische Handeln zu übertragen. Diese Ausdehnung und Aufwertung des Anwendungsbegriffs resultiert aus der generellen Überzeugung, dass es einen reichen Fundus an wissenschaftlichen Erkenntnissen und künstlerischen Erfindungen gibt, die entweder überhaupt nicht, oder nur wirtschaftlich, sei es direkt oder eben indirekt für die eigene Positionierung im Kunst- und Wissenschaftsbetrieb zwar emsig genutzt werden, im Hinblick darauf aber, wie wir handeln, d. h. leben wollen, keine Rolle spielen. Anstatt nach dem Vorbild der Technik auch im Bereich der Künste andauernd nach vermeintlichen Innovationen zu gieren, wäre es endlich an der Zeit, die vorhandenen Schätze zu heben und sich ihrer im eigenen Leben fallweise und adäquat zu bedienen. Zumal die Hoffnung der Moderne, am ultimativen Werk oder der universalen Theorie könne die Welt durch das darin formulierte Gesetz eines großen Geistes genesen, nur noch wider besseres Wissen aufrechtzuerhalten ist. Der Versuch jedenfalls, Derridas Begriff der Anwendung durch Übertragung auf die Kunst anzuwenden, was zugleich weniger und mehr ist, als ihn zu interpretieren, soll es ermöglichen, in einer über das bisherige Verständnis hinausgehenden Weise, das ästhetische Handeln als Anwendung von Kunst zu begreifen. Denn erst durch Anwendung lässt sich das ästhetische Potential der Werke in kulturelle Prozesse überführen, so dass sich ihre gesellschaftliche Funktion und ihr je individueller Wert, d. h. Sinn verwirklichen können. Dabei verweist die kriminalistische Bedeutung von »überführen« auf die durchaus demaskierende Wirkung, die damit verbunden sein kann. Erst in der Anwendung, wie immer diese auch verstanden und praktiziert wird, kommt nicht selten das wahre Gesicht der Werke zum Vorschein: Haben beispielsweise die abstrakten Dessins auf den Vorhängen und Nierentischen der 50er Jahre nicht auch einen problematischen Aspekt der Werke Kandinskys entlarvt in einer Zeit, wo dieser noch als sakrosankt galt? Ohne hier auf unzählige andere negative und nur überraschend wenige positive Beispiele eingehen zu können, drängt sich die Frage auf, ob und wie denn ausgerechnet durch die Anwendung von Kunst jene Kultivierungsleistung möglich sei, durch die Handeln ästhetisch werden soll. Denn gerade heute begegnet uns Anwendung fast ausschließlich als eine beschränkt auf
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die Verfolgung von finanziellen Einzelinteressen gerichtete Verwertung von Kunst. Dabei lässt sich infolge der allgemeinen Ökonomisierung der Welt und der Erhebung der Betriebswirtschaftslehre zum neuen Katechismus eine immense Steigerung der Verwertungsinteressen sowie eine zunehmende Rigorosität, ja Brutalisierung der Verwertungsweisen beobachten. Diese extremen, als Instrumentalisierung eher noch verharmlosend beschriebenen durch und durch kommerzialisierten Formen der Verwertung führen zur Entwertung der Kunst und zu einer Entkulturalisierung, die sich gesamtgesellschaftlich verheerend auswirkt. Übrigens lässt sich in diesem Zusammenhang der Trend zum so genannten Trash gerade in der Kunst als eine durchaus kritische Reaktion darauf interpretieren. Versucht nicht Trash dem entwertenden Verwertungszusammenhang zu entfliehen, indem von vorneherein der »Müll« produziert wird, der sonst erst nach der marketinggerechten Zurichtung herauskommt? Und kann es nicht wie ein letzter verzweifelter Autonomisierungsversuch erscheinen, die Entwertung, wenn sie schon unvermeidbar ist, lieber gleich als KünstlerIn selbst vorzunehmen? Gerade weil wir es zunehmend mit destruktiven, degenerierten Anwendungsweisen zu tun haben, aber ohne eine sich als ästhetisches Handeln vollziehende Anwendung Kunst nicht in Kultur überführbar ist, kommt es umso mehr darauf an, einen anderen Begriff, vor allem aber eine andere Praxis von Anwendung zu entwickeln. Die Umrisse davon lassen sich in der folgenden Passage von Derridas Buch Gesetzeskraft ausmachen, wobei es darauf ankommen wird, entsprechende Analogien zur Kunst zu bilden. Derrida geht es in seinem Text um die Auseinandersetzung mit dem Unterschied zwischen Recht, wie es etwa in Gesetzesform existiert, und der Gerechtigkeit, wie sie als Ausdruck einer Rechtskultur auf dieser Basis verwirklichbar ist. Würden die Rechtssprechungen, so Derrida, »einfach in der Anwendung einer Regel, in der Entfaltung eines Programms, in der Durchführung einer Berechnung bestehen, wird man vielleicht sagen, dass sie gesetzmäßig sind und dem Recht entsprechen, dass sie, metaphorisch gesprochen, sich als gerecht erweisen; allerdings würde man zu Unrecht behaupten, es sei eine gerechte Entscheidung getroffen worden.« »Um gerecht sein zu können, darf zum Beispiel die Entscheidung eines Richters nicht bloß einer Rechtsvorschrift oder einem allgemeinen Gesetz folgen, sie muss sie auch übernehmen, sie muss ihr zustimmen, sie muss ihren Wert bestätigen: Dies geschieht durch eine Deutung, die wieder eine Gründung oder Stiftung ist, so, als würde am Ende das Gesetz zuvor nicht existie-
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ren, als würde der Richter es in jedem Fall selbst erfinden [Hervorh. d. Verf.]. Jede Ausübung der Gerechtigkeit als Recht kann nur gerecht sein, wenn sie ein ›fresh judgement‹ ist. [...] Dieses ›fresh judgement‹ kann mit einem bereits vorgegebenen Gesetz übereinstimmen, es muss und soll damit wahrhaft übereinstimmen; doch die Deutung, die wieder eine Gründung, die wieder eine Erfindung, die ein frei Entscheidendes ist und in der Verantwortung des Richters steht, ja über dessen Verantwortlichkeit entscheidet, erfordert, dass ihre ›Gerechtigkeit‹ nicht nur in der Übereinstimmung, in der erhaltenden und reproduzierenden Wirksamkeit des Urteils besteht. Kurz: damit eine Entscheidung gerecht und verantwortlich sein kann, muss sie in dem Augenblick, da sie getroffen wird, in dem Augenblick, und der ihr eigener Augenblick ist (gibt es einen solchen Augenblick?), einer Regel unterstehen und ohne Regeln auskommen. Sie muss das Gesetz erhalten und es zugleich so weit zerstören oder aufheben, dass sie es in jedem Fall wieder erfinden und rechtfertigen muss [Hervorhebung des Verf.]; sie muss es zumindest in dem Maße wieder erfinden, indem sie erneut sein Prinzip [Hervorh. d. Verf.] frei bestätigen und bejahen muss. Jeder Fall ist anders, jede Entscheidung ist verschieden und bedarf einer vollkommenen einzigartigen Deutung, für die keine bestehende, eingetragene, codierte Regel vollkommen einstehen kann und darf.« »Wenn eine solche Regel ein ausreichender, ausreichend sicherer Garant für die Deutung ist, erweist sich der Richter als eine Rechenmaschine (was manchmal zutrifft) und kann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewusst gelten. Umgekehrt kann er auch dann nicht als gerecht, frei und verantwortungsbewusst gelten, wenn er sich auf kein Recht, auf keine Regel bezieht, oder wenn er keine Regel für vorgegeben hält, die über seine Deutung hinausgeht, und deshalb die Entscheidung suspendiert, beim Unentscheidbaren stehen bleibt oder bar aller Regeln und Prinzipien improvisiert.« (S. 47f.) Es bedürfte sicher eines eigenen Vortrages, um die möglichen Analogien zur Kunst umfassend darzustellen, zu erläutern und ihre Berechtigung zu begründen. Doch die fortgeschrittene Zeit erlaubt es leider nicht einmal, die Bedeutung dieses Anwendungsbegriffs für die Kunst auch nur annähernd zu erfassen und zu konkretisieren. Über eine gewisse Interpretationshilfe hinaus, die ich bereits im Texte durch Hervorhebung bestimmter Abschnitte zu geben versucht habe, will ich dennoch mit einigen wenigen kurzen und direkten Hinweisen ihre Motivation zur eigenen künstlerischen Anwendung des Derridaschen Anwendungsbegriffs zu wecken versuchen: So möchte ich im
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Sinne einer ersten Annäherung vorschlagen, dass Gesetz bzw. das in Gesetzesform existierende Recht, von dem Derrida spricht, durch die Ausdrücke Kunstwerk bzw. Kunstobjekt gedanklich zu ersetzen. Des Weiteren wäre es ein Versuch wert, die in der Anwendung von Recht und Gesetz zu verwirklichende Gerechtigkeit mit einer spezifischen Wertvorstellung gleichzusetzen, die aus der Anwendung von Kunst gewonnen werden soll. Wäre nicht das, was bisher ästhetische Erfahrung heißt, eine solche der Gerechtigkeit analoge und der Kunst adäquate Wertvorstellung, vorausgesetzt, ihre kulturelle Dimension wird mitgedacht? Wenn schließlich bei Derrida vom Richter die Rede ist, so ist nach der Logik meiner Überlegungen in der Kunst (im Sinne des romantischen Begriffs der Kunstkritik) zuerst an die Rolle des Rezipienten zu denken, dem ja die Überführung der künstlerischen Objekte in kulturelle Prozesse durch Anwendung obliegt. Allerdings eröffnen sich zusätzlich weitere und ganz andere Perspektiven, wenn darüber hinaus auch die KünstlerInnen bzw. ProduzentInnen mit dem Richter identifiziert werden, also bereits die Hervorbringung von Werk-Zeugen zum ästhetischen Handeln als Anwendungsprozess gesehen wird. Wie auch immer die Analogien gezogen werden mögen, in jedem Fall verdeutlicht der Derridasche Text, dass die Anwendung der Kunst es unbedingt erforderlich macht, eine Kunst der Anwendung auszubilden, um den Werk-Zeugen sowie dem eigenen Wohl gerecht werden zu können.
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Von Kunst aus-bilden Bericht von einer Ausstellung als mögliche Realisierungsform von Lehr-Praxis Im Wintersemester 01/02 veranstalteten die Kollegin Nina Rippel und ich an den Universitäten Lüneburg und Hamburg erstmals zwei Parallelseminare unter dem Titel Von Kunst aus. Es ging darum, in den Seminaren gemeinsam mit den Studierenden zu erforschen, was Kunst und kunstverwandtes Vorgehen im Kunstunterricht verloren haben könnten. Wir arbeiteten uns an neueren kunstpädagogischen Theorien ab,1 vor allem aber sollten sich die Studierenden in einen Prozess der Selbst-Bildung verwickeln und gleichzeitig reflektieren, wozu das alles gut sein könnte – in Hinblick auf das eigene zukünftige Tun als BildungsarbeiterInnen. Im Sommersemester 02 hatten wir die Möglichkeit, im Raum basis 16 an der Universität Lüneburg in Form einer Ausstellung zu zeigen, was bei diesen Auseinandersetzungs-Forschungsprozessen herausgekommen war. Davon soll hier berichtet werden. Zunächst aber ein paar Anmerkungen. Vorweg Erstens:
Nina Rippel und ich bilden KunstpädagogInnen an Universitäten aus und nicht an Kunsthochschulen. Dass in Hamburg2 diese Trennung zwischen künstlerischer Ausbildung an der Kunsthochschule und Didaktik an der Universität vorgenommen wird, hat historische Gründe.3 Vor allem aber hat es Konsequenzen. Zum Beispiel jene, Didaktik – meist gleichgesetzt mit Pragmatik des Unterrichtens – aus der Beschäftigung mit Kunst und eventuell realisierten eigenen künstlerischen Aktivitäten ausgelagert zu sehen. Dagegen setze ich zum einen, dass Didaktik selbst ein immer wieder zu verhandelndes Konstrukt ist und schlage vor, selbige wie Pierangelo Maset als »Lehrkunst« zu definieren (Maset 2003);4 und zum anderen setze ich dagegen, dass überhaupt keine Bildungsarbeit, die mit Kunst etwas zu tun hat, ohne Ernstnahme derselben geleistet werden kann. Und was da Ernstnahme heißt, ist genau auch wieder Teil der Verhandlungen.
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Zweitens:
Im Sinn solcher Verhandlungen proklamierte Karl-Josef Pazzini 1999: »Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte« (Pazzini 2000, 9). Und: Kunstpädagogik sei eine mögliche Form der Anwendung von Kunst. Wobei mit Anwendung nicht die angewandte Kunst gemeint ist, sondern deren Fortsetzung in/als Kommunikation auf allen möglichen symbolischen Ebenen. Dabei wird in jeder ›Anwendung‹ von Kunst unweigerlich ein bestimmter Kunstbegriff umgesetzt, potentiell sichtbar und thematisierbar. In jeder ›Anwendung‹ von Kunst zeigen sich außerdem bestimmte Vorstellungen von jenen, mit denen gearbeitet werden will/soll (die SchülerInnen, Jugendlichen, Partizipienten …), und ergo zeigen sich die Vorstellungen davon, was ein Subjekt sein soll. In der Folge wird in jeder ›Anwendung‹ von Kunst manifest, welche Sicht auf Bildung jeweils konkret vorliegt. Es geht also um ein mindestens Doppeltes: Um das Mitarbeiten am Kunstbegriff und um die Mitarbeit am Bildungsbegriff, d. h. in dem Fall an dem, was Kunstpädagogik/Kunstvermittlung ist. Drittens:
Wenn man/frau von einem derzeit aktuellen Kunstbegriff ausgeht – s. hierzu z. B. Documenta11 – und wenn man/frau von einem Subjektverständnis ausgeht, das dahin münden müsste, dass Von Kunst aus niemals möglich ist ohne, ›von sich aus‹ auszugehen, also von dort aus, wo jemand beginnt, sich zu konfrontieren, sich zu verstricken –, dann hat das Konsequenzen für Lehre im Allgemeinen und von Kunst-Pädogik und Kunst-Vermittlung im Besonderen. Zum Beispiel die, dass keine ›Anwendung‹ von Kunst im Bereich des Bildens und Lehrens ohne Verstrickung aller Beteiligten möglich ist, und nicht ohne Widerstände, Verluste, Verfehlungen und Verhandlungen. Viertens:
Bildungsarbeit mit Kunst als ›Anwendung‹ zu verstehen, kann in diesem Sinn als eine Form der Dekonstruktion5 gesehen werden. Dann ginge es darum, dass jede Anwendung grundsätzlich eine spezielle sein müsste oder könnte, die vom jeweils sich in den Auseinandersetzungs- und Artikulationsprozessen bildenden Subjekt realisiert würde. Es geht also ums Singuläre und ums Besondere (vgl. Pazzini 2000, Derrida 20006).
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Fünftens:
Es geht aber auch ums Allgemeine.7 Um die Arbeit an dem, was einem entgegen kommt: als Text, als zu lesende Realität, als Überlieferung, in aller uneinholbaren – weil den eigenen Erfahrungen nicht zugänglichen – Fremdheit.8 Es geht um das Nachdenken über Baupläne, über Verhältnisse, über Strukturen. Es geht um ein Sich-in-Verhältnis-dazu-Setzen, in Reflexion auf die eigene Macht und Ohnmacht. Es geht um Aktivität und Passivität. Es geht um Verschiebungen und Verschoben-Werden, um Einschreibungen und Eingeschrieben-Werden. Vielleicht hat dies mit Ernstnahme (von Kunst und der ganzen Situation) zu tun. Sechstens:
Wenn auch ich hier davon ausgehe, dass Kunst für Prozesse der Auseinandersetzung mit »Welt« ein geeignetes Feld ist, dann wird unterstellt, dass in der Kunst permanent Dinge aufgeführt und zur Verhandlung zur Verfügung gestellt werden: komplex, treffend, langweilig, gut, schlecht, als Werk, als Aktion, als Witz, als langjähriger Prozess, sichtbar, unsichtbar, als Kunst erkennbar oder nicht – je nachdem. Pierangelo Maset bezeichnet künstlerische Arbeiten, als »Kommunikationsknoten«, als »Attraktoren für Kommunikation« (Maset 2001). Und die niederländische Kulturanalytikerin Mieke Bal schreibt, Anliegen der Bildenden Kunst wäre nicht, zu wiederholen, sondern zu erneuern, wäre es, Erfahrungen und Einblicke zu gewähren und Orte zu schaffen, »die wir noch nicht hatten.« (Bal 2003) Siebtens:
Mit ›Von Kunst aus‹ wird in diesem Sinne vorgeschlagen, Kunst als Ressource und speziellen Verhandlungsraum zu verstehen.9 Es meint gerade nicht, Kunst – wie dies in vielen Fällen in unserem Bereich geschieht – nachzuahmen oder sie didaktisch überschau- und kontrollierbar vorzerlegen zu können, sie irgendwie kleinzukriegen, sondern im Gegenteil. Es geht um unvorhersehbare Prozesse, um das Erfinden von Methoden, um das, was Sarat Maharaj über die künstlerischen Arbeiten der Documenta11 selbst sagt: Es geht um ein »in keinem Skript vor-geschriebenes Geschehen«. (Maharaj 2002, 71) »Die Kunst ermöglicht das Nicht-Determinierte und das Unwahrscheinliche«, schreibt Pierangelo Maset. Konsequent gedacht, ist das ziemlich radikal. »Die Lösung müsste also lauten: Von der Kunst aus wollen wir Pädagogik denken – und nicht umgekehrt.« (Maset 2003)
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Räume, in denen dies möglich wird, gälte es herzustellen. An der Uni, in der Schule, und in anderen institutionellen und außerinstitutionellen Zusammenhängen. Bericht von der Ausstellung ›Von Kunst aus. Kunstpädagogische Verwicklungen‹ Anfänglich bekamen die Studierenden den Auftrag, sich in der Hamburger Kunsthalle für eine künstlerische Arbeit zu entscheiden und diese zum Ausgangspunkt für einen Prozess der Auseinandersetzung zu machen, der dokumentiert und in seinen Zwischenstationen sichtbar gemacht werden sollte. Neun Studierende zeigten ihre Auseinandersetzungsprozesse bzw. ihre Ergebnisse dann in basis 16. Unter ihnen waren Kunstpädagoginnen bzw. Künstlerinnen bzw. Kulturwissenschaftlerinnen und zwei Sonder- und Heilpädagoginnen. Der Status, den das Gezeigte hatte, ob Kunst oder nicht, war unklar. Wir hielten uns im »Präproduktiven« auf, wie man mit Gerald Raunig vielleicht sagen würde (Raunig 2002). Wir trafen alle Entscheidungen gemeinsam bzw. in Absprache. Der Untertitel stammt von den Studierenden.
Einladungskarte
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Im Pressetext schrieben wir: »Wir schlagen vor, Kunst als einen Raum zu verstehen, in dem permanent Ideen entwickelt und verhandelt werden und an dem alle teilhaben können. Theoretisch. Wir schlagen des Weiteren vor, Kunst als etwas zu sehen, das sich immer erst in der Anwendung realisiert. Kunst-BetrachterInnen betrachten nicht nur, sie können sich selbst als Handelnde entwerfen. Die Auseinandersetzung mit einer künstlerischen Arbeit führt zu einem eigenen Werk. Vielleicht. Wir schlagen vor, auch in der Kunstpädagogik, im Kunstunterricht, in der Kunstvermittlung – über/durch/mit/ausgehend von Kunst – zu arbeiten.« Ich greife – relativ beliebig – vier Beispiele heraus. Im vorliegenden Zusammenhang sind nur einige Ausgangs- und Endpunkte der Auseinandersetzungen zu sehen. In der Ausstellung waren auch die Zwischenschritte und Kommentare der Studierenden nachvollziehbar. Ausgangspunkt war zum Beispiel eine Arbeit von Vanessa Beecroft.
Vanessa Beecroft, VB 42, 2000
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Katja Dau hat ein Video produziert.
Katja Dau, Ausgangspunkt Vanessa Beecroft
Man sieht ihr Gesicht, ihre Hände und man kann sehen, wie sie einen weißen Ballon fast bis zum Platzen aufbläst. Dann lässt Dau die Luft aus dem Ballon wieder in ihren Mund zurück weichen. Man konnte dieses Geräusch durch die ganze Ausstellung hören. Wiederholend, konzentriert, eine nach außen gestülpte Lunge. Dau war von der Spannung ausgegangen, unter der die in Beecrofts Video 1999 abgefilmten, angestrengt ruhig stehenden Mitglieder der US Navy-Sondereinheit stehen. Die Spannung, die Lautlosigkeit der künstlich arrangierten Szene zwischen Entindividualisierung und Individualisierung, die gleitende Kameraführung in Beecrofts Film, setzte Katja Dau in Bewegung, suchte einen Ausgang, eine Form, eine Übersetzung. Zuerst waren da Notizen, Zeichnungen, der Entwurf eines Daumenkinos und schließlich das Video. Die Schritte bis zum Video hatte Dau auf einem Tisch daneben arrangiert.
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Oder Rikke Salomo. Sie war von Roni Horns Arbeit Stil Water ausgegangen.
Roni Horn, Stil Water (The River Thames, for Example), 1999
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Zuerst hatte Salomo graue Körper aus Karton gebaut, die sie uns in der Hamburger Kunsthalle aushändigte. Wir sollten sie ans Ohr halten und hörten kaum vernehmlich Wasser gluckern. Die Intimität der dafür nötigen Bewegung war der direkte Konnex zur Privatheit der Ziffern und Legenden auf den Wasseroberflächen in Horns Themse-Bildern. Dann begann Salomo, eine ähnliche Oberflächen-Befußnotung wie Horn anhand ihres eigenen Gesichtes vorzunehmen.
Rikke Salomo, Ausgangspunkt Roni Horn
Die Art der Sprache – bei Horn an der Wasseroberfläche befestigt und dadurch auf deren Unfassbarkeit weisend – wird bei Salomo verschoben. Sie bietet ihr Gesicht als zu lesende Fläche an, die in ihrer Nähe auch nicht mehr verrät als dies: Ich gebe etwas zu sehen. Aber was? Hier die Arbeit von Frauke Kusch. Sie hatte einen ausführlichen Text zu dem Prozess verfasst, in den sie sich – von Sol LeWitts Cube von 1988/90 ausgehend, verwickelt hatte.
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Sol LeWitt, Cube 1988/90
Kusch wollte der LeWitt’schen Ent-Emotionalisierungsgeste (vgl. Lil 2001)10 des systematischen Fotografierens eines Kubus in 511 Variationen im Fotostudio nicht ausgeliefert bleiben. Sie stellte ihr eigenes Ding dagegen: eine doppelte fotografische Aktion mit ihrem vor Erinnerungsanreicherungen strotzenden Stofftier Oza.
Frauke Kusch, Ausgangspunkt Sol LeWitt
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Man könnte sagen, Kusch wiederholt und verschiebt in ihren Serien die LeWitt’sche konzeptionelle Absicht dass, wie dieser angeblich sagt, die Idee eine Maschine wird, welche die Kunst macht. Auch Christiane Zegenhagen hatte einen Widerstand gegen LeWitts Konzept, Emotion möglichst auszuschließen, entwickelt. Im Unterschied zu Kusch blieb sie aber bei der – laut LeWitt – »unemotionalsten aller Formen« (Lil 2001, 72), dem Kubus, und begann, in einem ersten Schritt die Körper der SeminarteilnehmerInnen und später ihren eigenen Körper in die Kubusform einzuschreiben. Dazu lotste sie zuerst die KollegiatInnen in die Tiefgarage der Kunsthalle und ließ sie auf leeren Parkplätzen einen Kubus durch den eigenen Körper nachbilden. Es folgte der Auftrag, einen Kubus zu zeichnen, und erst in der dabei entstandenen Fotoserie wurden nachträglich die divergierenden Selbsteinschreibungen der PartizipientInnen in den Lösungsansätzen der Aufgabe sichtbar. Im engsten Raum ihrer eigenen Wohnung, der Toilette, baute Zegenhagen später eine Kamera auf und begann sich an den Wänden entlang zu bewegen. In ihrem Video zeigte sie dann nur jene Momente, in denen sie mit der Kamera Augenkontakt aufnahm.
Christiane Zegenhagen, Ausgangspunkt Sol LeWitt
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Es ist der Blick zurück, die Selbstkonstitution durch das Gesehen-Werden, der die Subjekte als unendlich different Begehrende zeigt. So wurde sichtbar, was bei LeWitt nicht zu sehen ist und vielleicht genau darum nicht unsichtbar bleibt: die mögliche Spiegelung in dem, was zu sehen gegeben wird. Transfer Um deutlich zu machen und zur Diskussion zu stellen, was mit uns allen in den unterschiedlichen Positionen im Laufe der Auseinandersetzung passiert war – mit und ohne Absicht –, formulierten Nina Rippel und ich Thesen. Wir montierten sie wie Fußnoten an den Fußleisten der Ausstellung, die Studierenden hatten noch einmal korrigiert. Hier die Thesen – sie stehen immer noch zur Diskussion. Fortsetzung folgt. • • • • • •
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Wie kann herausgefunden werden, was an einer künstlerischen Arbeit interessiert? Eine noch unklar formulierte Frage konkretisiert sich. Wie geht das, was braucht es dafür? Ist so etwas initiierbar? Die Konfrontation passiert nicht unbedingt bewusst. Wesentlich sind die Entscheidungen, die gefällt werden. Wo sind sie möglich, wodurch finden sie statt? Was macht die Lehrperson in solch einem Prozess? Von Duchamps Pissoir aus zu starten, nimmt in der Komplexität gegenüber einem gewöhnlichen Alltagsgegenstand zu. Die Entscheidungen werden andere, weil man sich konfrontiert sieht, mit etwas, das von jemandem entschieden wurde. Verdichtung. Während des Tuns weiß man nicht, was am Ende herauskommen wird. Die Gegenwart schafft die Vergangenheit im Nachhinein. ›Von Kunst aus‹ heißt nicht unbedingt, Kunst zu erzeugen. Wohin das führt, ist offen, aber nicht bodenlos. Das Einfädeln eines Fades durch eine Nadel ohne Nadelöhr. Darf man das? Man macht etwas mit dem Kunstwerk. Tut man dem Kunstwerk da nicht etwas an? Wer ist wer im Prozess der Auseinandersetzung? Von einer künstlerischen Arbeit in Bewegung gesetzt sein. Die eigenen Fragen in der Auseinandersetzung finden. Kunst als Form des Fragens an die Konstruktionsformen von Wirklichkeit. Wie steht es mit der eigenen? Was erfährt man über das eigene Verhältnis zur Welt durch Kunst?
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V. a. von Pierangelo Maset, Helga-Kämpf Jansen, Karl-Josef Pazzini, Michael Lingner. Siehe dazu auch deren Beiträge in diesem Band, S. 149ff., 167ff., 31ff. und 125ff. In Lüneburg gibt es keine Kunsthochschule. Die gesamte Ausbildung findet an der Universität statt. S. hierzu dazu Beitrag von Pierangelo Maset in diesem Band. In den zwanziger Jahren wurden im so genannten Hamburger Modell alle didaktischen Bereiche aus den jeweiligen Fachbereichen ausgegliedert und im Fachbereich Erziehungswissenschaft zusammengefasst. Das Hamburger Modell wurde in den siebziger Jahren noch einmal bestätigt. »Ich würde Didaktik heute als Lehrkunst definieren. Sie ist ein Oberbegriff für eine Wissenschaft, die versucht, Potenziale methodischer Ansätze für Vermittlungen hervorzubringen. Dabei gilt die gesamte Bandbreite, vom experimentellen Arbeiten bis zum wissenschaftlichen Forschen. Die Kunstdidaktik bezieht sich auf all das, was heute in der Kunst vorgenommen wird, und das kann nicht auf bestimmte Bereiche reduziert werden. Diese Bezugnahme halte ich für ganz wichtig, und von da her ist der Begriff der Didaktik neu zu fassen.« (Maset, Pierangelo in einem Interview mit/in: Maset 2003, 5) Das Wort ›Dekonstruktion‹, von Jacques Derrida in die Philosophiegeschichte eingeführt, geht zurück auf Heideggers ›Destruktion der Geschichte der Ontologie‹ (in: Sein und Zeit, 1927, §6, Heidegger 1963). Diese ›Destruktion‹ will weniger Zerstörung als kritische Würdigung und Zerlegung sein. Und so fasst auch Derrida Dekonstruktion auf: als Grenzüberschreitung, als Aufdeckung von Widersprüchen und Zerlegung (vgl. Zima 1994). Dekonstruktion ist eine systematische Subversion der europäischen Metaphysik, ein Anarbeiten gegen die Vorstellung, es gäbe ewige Wahrheiten, die auf den Begriff zu bringen seien. Derrida schreibt, es ginge um »…ein Konzept von Anwendung, das disseminiert,6 das fortsetzt … das etwas Unvorhersehbares erzeugt« (Derrida 2000, 29). Etwas Unvorhersehbares erzeugen bedeutet, dass es je spezifisch ein Moment der Offenheit, der Unkontrollierbarkeit gibt; beim Herstellen entgeht etwas oder etwas kommt dazu. Die Begriffe ›Singuläres‹, ›Besonderes‹ und ›Allgemeines‹ sind hier im Sinn der strukturalen Psychoanalyse verwendet: Das ›Singuläre‹ – sehr holzschnittartig dargestellt – taucht auf, entgeht, bleibt immer als unsymbolisierbare, unimaginierbarer Rest übrig. Das ›Besondere‹ kann artikuliert werden, mit und ohne Absicht. Das ›Allgemeine‹ ist der kollektive Bezug, das, worauf man sich gemeinsam bezieht. Vgl. dazu Schötker 2003: »…Der Genozid in Ruanda, dargestellt durch den israelischen Filma Eyal Sivan, das Leiden und die Trauer der kolumbianischen Zivilbevölkerung als Spielball verschiedenster Milizen, Guerilla-Gruppen und über Jahre auch des eigenen Staates, gezeigt durch die Arbeiten von Doris Salcedo … Was ich gerade im Blick auf die anlässlich der D11 präsentierte Werke angedeutet habe, entzieht sich nicht dem Vorstellungsbereich, sicher jedoch dem Erfahrungsbereich …« (Schötker 2003, 8). Hegel schreibt, die »Funktion von Kunst« sei es, »Raum für die Kollision von Differenzen zu schaffen« (Hegel zitiert nach Raunig 1999, 15) »›Die interessanteste Eigenschaft des Kubus ist, dass er relativ uninteressant ist‹, schrieb Sol LeWitt 1966. ›Im Vergleich zu anderen dreidimensionalen Formen fehlt ihm jegliche aggressive Kraft, er impliziert keine Bewegung, er ist die unemotionalste aller Formen. Er ist daher die Form, die sich am besten als Basiseinheit für komplizierte Funktionen eignet, als grammatisches Hilfsmittel, von dem die Arbeit ausgehen kann…‹« (Lil 2001, 72).
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Literatur Bal, Mieke: Anthropometamorphose – Sich verzweigende Pfade und Kristalle in Louis Bourgeois‘ Philosophie der Temporalität, in: Akademie der Künste Berlin (Hg.): Louise Bourgeois. Intime Abstraktionen. Ausstellungskatalog, Berlin 2003, 117f. Derrida, Jacques: Als ob ich tot wäre, Wien 2000 Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1963 Krigner, Birgit, Susanne Büttner: Was bringen uns ›Ästhetische Operationen‹?. Ein Interview mit Pierangelo Maset, in: bdk-Mitteilungen 1/03, Hannover 2003, 4f. Lil, Kira van: Sol LeWitt, Cube, in: Hamburger Kunsthalle (Hg.): Monets Vermächtnis. Serie Ordnung und Obsessioon. Katalog zur Ausstellung. Hamburg 2001, 72f. Maharaj, Sarat: Xeno-Epistemics. Ein provisorischer Werkzeugkasten zur Sondierung der Wissensproduktion in der Kunst und des Retinalen, in: documenta, Museum Fridericianum Veranstaltungs GmbH Kassel (Hg.): Documenta11_Plattform 5: Ausstellung. Katalog, OstfildernRuit 2003 Maset, Pierangelo: Praxis Kunst Pädagogik. Ästhetische Operation in der Kunstvermittlung, Lüneburg 2001 Ders.: Kunstpädaogik als Praxisform von Kunst?, in: Buschkühle, Carl-Peter (Hg.): Perspektiven künstlerischer Bildung, Köln 2003, 205f. Pazzini, Karl-Josef: Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte, in: Thesis. Tatort Kunsterziehung. Tagungsband des Symposiums vom Herbst 1999 in Weimar, Bauhaus-UniversitätWeimar 2. Heft 2000 46. Jg., 9f. Ders.: Vorurteile gegenüber Anwendung, in: Derrida, Jacques: Als ob ich tot wäre, a. a. O., 67f. Raunig, Gerald: Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung, Wien 1999 Ders.: Spacing the Lines. Konflikt statt Harmonie. Differenz statt Identität. Struktur statt Hilfe, in: Rollig, Stella, Eva Sturm (Hg.): Dürfen die das? Kunst als sozialer Raum. Art/Education/Cultural Work/Communities, Wien 2002, 118f. Schötker, Ulrich: Schlechte Zeiten für den Kunstunterricht, in: bdk-Mitteilungen 1/03, Hannover 2003, 7f. Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Tübingen, Basel 1994
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Zwischen Kunst und ihrer Vermittlung: »Ästhetische Operationen« Die Kunst hat sich über einen sehr großen Zeitraum hinweg entwickelt, und ihre Hervorbringungen sind keineswegs von flüchtiger Realität. Sie hat sich in immer neuen Schattierungen differenziert, von den Felszeichnungen in Lascaux bis hin zu heutigen Arbeiten, die auf der Grundlage besonderer Wahrnehmungen und Beobachtungen ästhetische Handlungen vornehmen. Bei all diesen Hervorbringungen gibt es jedoch eines, das allen künstlerischen bzw. ästhetischen Hervorbringungen gemeinsam ist: Sie entspringen einem Bewusstsein, das sich in irgendeiner Form von »Darstellung« materialisiert hat. Die Zentralität eines gedanklichen Vorganges, der eine unwahrscheinliche Produktion bewirkt, ist unhintergehbar. Sie ist das A Priori der künstlerischen Arbeit und der ästhetischen Erfahrung. Denn die künstlerische Arbeit wiederum richtet sich an anderes Bewusstsein, an Bewusstsein, das sich anonym auf den Weg machte und unabsehbar der Betrachtung harrt. Jede künstlerische Arbeit und jede ästhetische Betrachtung ist damit Zeugnis des Faktums: »Es gibt ein Bewusstsein.« Ein solches Bewusstsein ist aber nicht in einer Leibnizschen Monade verglast oder in Hegelscher Dialektik aufgehoben. Vielmehr befindet es sich, eingebettet in einem stets auf vielen Wegen befindlichen Körper, in einer Situation der permanenten Produktion von Differenz: Differenz der Empfindungen, der Wahrnehmungen, der Vorstellungen. Zudem formieren die Räume, die diesen Körper und dieses Bewusstsein aufnehmen und nähren, all seine Potenziale. Es sind Räume des Materiellen und des Immateriellen, des Kulturellen und des Natürlichen, des Politischen und des Kosmischen. All diese Dimensionen konstituieren in ihrem Zusammenwirken auf Körper und Bewusstsein – die ich hier nur zur Verdeutlichung des Argumentes trenne – das, was mit einem Wort aus dem 20. Jahrhundert als »Mentalität« bezeichnet werden könnte.
Pierangelo Maset
Wenn eines von Interesse ist an der Kunstpädagogik, dann die Frage, wie es ihr gelingen könnte, die Bildung von ›ästhetischer Mentalität‹ zumindest zu begünstigen. Hierfür einen Weg zu bahnen, steht das Konzept der Ästhetischen Operationen. Dieser Ansatz befasst sich zentral mit der Frage nach der »Mentalität« einer künstlerischen, ästhetischen oder pädagogischen Arbeit. Mentalitäten verbinden Produktionen mit Rezeptionen. Was meint überhaupt dieser etwas merkwürdige, an Schönheitschirurgie erinnernde Begriff? Zunächst sollen beim Ansatz »Ästhetische Operationen« die Wortbedeutungen von »Operation« als chirurgischer Eingriff, Prozedur und Unternehmung in gleicher Wertigkeit eingebracht werden. Eine Operation beinhaltet all das: Sie ist Eingriff, Prozedur und Unternehmung; und sie unternimmt alles das, um von einer bestimmten Form der Kunstpädagogik wegzuführen, nämlich von der Form weg, die seit den Zeiten der »Visuellen Kommunikation« und der »Ästhetischen Erziehung« die Kunst als Kunst aufgegeben oder verloren hat. Wir verlassen damit Auffassungen von Kunstdidaktik, deren Kunstverlustigkeit darin besteht, Kunst »operational« im Sinne eines technischen Vorgangs vermitteln zu wollen, ohne die notwendige Kunsthaftigkeit des Vermittlungsvorganges zu entfalten. In dieser – technischen – Operationalisierung wird die Kunst zu einem Instrument für bestimmte Zwecke zugerichtet und zum »Gegenstand« verkürzt. An diesem Gegenstand kann man dann beispielsweise lernen, welche Farbverhältnisse er aufweist oder welche Art der Perspektive vom Künstler angewandt wurde, das sind Fakten, Fakten, Fakten, die man im Unterricht später leicht abfragen kann. Doch das, was den »Gegenstand« zur Kunst macht, ist damit nur peripher bzw. an der Oberfläche berührt. Diese Dinge werden verbreitet als die hauptsächlichen gehandelt, unter dem Druck von Lehrplänen, überfüllten Klassen und Burnout-Faktoren. Die Hinwendung zu diesen Oberflächen ist also das Ergebnis eines ungünstigen Umfeldes, weshalb man sie auf keinen Fall verallgemeinern kann. In dem so zugerichteten Umgang mit der Kunst, in der diese nur noch Objekt für einen operational nachvollziehbaren und planbaren Vorgang ist, kann sich nicht die Offenheit ereignen, die durch Kunst erfahrbar ist, die Offenheit, die für die menschliche Existenz unabdingbar ist, weil sie die Möglichkeit des Anderen in sich birgt. Zudem wird die Bestimmung des Begriffes »Kunst« in der technisch verstandenen Operationalisierung ruiniert, da dieser, weil er sich sonst nicht zu-
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richten ließe, die Repräsentation eines übernommenen Kunstbegriffs voraussetzt, der sich nicht im Offenen beweisen kann. Damit wird den Lernenden der Verlust des Kunsthaften der Kunst zugemutet, während man gleichzeitig vorgibt, sie zu vermitteln. Dietmar Kamper äußerte in diesem Zusammenhang: »Dieses Vermitteln von Kunst und Literatur als Stoff verwandelt unter der Hand alles in ein Gift, in ein lang wirkendes Gift, das die Schüler immun macht, sich je mit Begeisterung und Engagement für Literatur und Kunst zu interessieren. Was die einmal durchgenommen haben, packen die nicht mehr an. Wenn es gute Schüler sind.«1 – Die leidenschaftliche Arbeit am Kunstbegriff ist aber die eigentliche Vermittlungsarbeit – theoretisch und praktisch. Denn der Kunstbegriff entscheidet darüber, wie und ob man den ästhetischen Gehalt eines Dinges überhaupt wahrnimmt, er entscheidet darüber, ob man eine Mentalität entwickeln kann, die etwas mit Kunst zu tun hat, und sogar darüber, wie man Farbe auf eine Leinwand aufträgt. Gert Selle hat zu Beginn der 90er Jahre2 in deutlichen Worten die Kluft der Kunstdidaktik zur Gegenwartskunst ausgedrückt: »Didaktik hat noch niemals vor irgendeinem Irrtum oder Rückfall bewahrt; sie ist vielmehr ein Sprachspiel von Unterrichtstheoretikern geblieben, das dazu dient, ihre Irrtümer zu verdecken und Machtkämpfe auf dem Rücken der Praxis auszutragen [...] Ich fordere angesichts des Versagens von Didaktik vor der Erfahrungsdichte und -reichweite aktueller Kunst tatsächlich dazu auf, die didaktische Literatur in den Papierkorb zu werfen. Sie ist verkappter Ausdruck der Angst vor der Kunst unserer Zeit und eignet sich allenfalls zum Prüfungsstoff oder zur Gängelung praktizierender Kunstpädagogen.« (Selle 1990, S. 39) Selle zielt hier auf ein drängendes Problem: Die Didaktik im Sinne einer technisch verstandenen Operationalisierung hat – auch wenn sie noch wirksam ist und sich Ende der 90er unter dem Druck administrativer Maßnahmen denkwürdige Wiederbelebungsversuche ereignen3 – inhaltlich seit langem ausgedient. Sie konnte mit der Radikalität zeitgenössischer Kunstströmungen nicht mithalten und hat das, worauf sie sich angeblich bezieht – die Kunst – vergessen: »Wer sich auf Gegenwartskunst einläßt, erlebt beabsichtigte oder unbeabsichtigte ›Didaktik‹ am eigenen Leibe. In der Regel dürfte solche Kunsterfahrung quer zu aller Erziehungs- und BildungsDressur liegen [...].« (Ebenda) Selle verwendet hier den Begriff der Didaktik, den er an anderer Stelle verdammt, und zwar in der Weise, die die Anführungszeichen ausmachen. Was
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Pierangelo Maset
kommt hier zum Vorschein? Die Unterscheidung zwischen einer beabsichtigten und unbeabsichtigten »Didaktik« – die in Anführungszeichen gesetzt werden muss, weil sie nicht mit der Bedeutung von Didaktik im Sinne der technischen Operationalisierung übereinstimmt – fördert eine Gemeinsamkeit von Kunst und Pädagogik zu Tage. Diese Gemeinsamkeit besteht darin, dass das Beabsichtigte zum Unbeabsichtigten führen kann und das Unbeabsichtigte zum Beabsichtigten. Eine grundsätzliche Unvorhersehbarkeit eint die beiden Disziplinen in der Tiefe ihrer Bestimmung. Es gilt deshalb, den technisch gefassten Begriff der Operation umzuwerten. Ästhetische Operationen richten sich gegen jede technisch verstandene Operationalisierung. Mit ihnen wird das Risiko des Offenen nicht zugunsten portionierter Vermittlungsschritte aufgegeben und das Kunsthafte von Vermittlung als Vermittlung unternommen. Diese Operationen orientieren sich dabei an Verfahren, die in der Kunst oder in angewandten ästhetischen Disziplinen bzw. ästhetischen Alltagspraxen angewandt worden sind. Sie gehen über bereits bestehende Verfahren jedoch insofern hinaus, als sie eine Ebene – die sowohl das Konzept als auch die Ausführung oder beides betreffen kann – entweder hinzufügen oder auslassen. Der Begriff wird hier anders, aber nicht entgegengesetzt zum systemtheoretischen Operationsbegriff verwendet. Unter einer Operation versteht man in der Systemtheorie Luhmannscher Prägung die Reproduktion eines Elements eines autopoietischen Systems mit Hilfe der Elemente desselben Systems, also die Voraussetzung für die Existenz des Systems selbst. Es gibt kein System ohne eine für das System spezifische Operationsweise, aber andererseits gibt es keine Operation ohne ein System, dem sie zugehört. Nach der Theorie der Autopoiesis muss alles, was existiert, auf die Operationen des Systems zurückgeführt werden. Jedes mögliche Objekt existiert nur, weil ein System es als Einheit konstituiert. Auf der Ebene der Autopoiesis ist das Problem des Systems auch die Reproduktion, die die Fähigkeit verlangt, an jede Operation eine neue Operation desselben Systems anzuschließen und dadurch die operationale Schließung aufrechtzuerhalten. Der Begriff der Operation in dem hier vorgeschlagenen Sinne geht auf den italienischen Kunstkritiker Achille Bonito Oliva zurück. Dieser schlägt in seinem Band »Eingebildete Dialoge«4 z. B. die Operation Duchamp, die Operation Warhol, die Operation Maradona und die Operation Hl. Ignatius v. Loyola vor. Mit der Aufführung der Namen wird bereits deutlich, worum es geht:
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Man »bedient« sich einer Operation, z. B. der eines bekannten Künstlers wie Warhol, dessen wichtigste Operation wohl im »Seriellen« bestand, um einen ästhetischen Prozess auszulösen, der aber unter Umständen in eine völlig andere Richtung führen kann. Jedem wird schnell deutlich, dass es »so etwas« wie eine Operation Warhol oder eine Operation Maradona gibt. Es ist wichtig, den Effekt einer solchen Eingängigkeit zu erreichen, es ist der Effekt eines augenblicklichen Gewahrwerdens einer wichtigen Methode, ein Effekt, der auch in jeder künstlerischen Arbeit an entscheidenden Stellen auftaucht. Das sind Stellen, die man eigentlich nicht durch vorherige Planung erreichen kann, sie tauchen aber im Prozess der Arbeit regelmäßig – nach unvorhersehbaren und selbst verfassten Regeln – auf und bahnen entscheidende Richtungen. Zu betonen ist, dass es sich bei einer ästhetischen Operation nicht nur um eine Methode handelt, sondern dass sie aus einem Bündel von Methoden, Verfahren, Techniken besteht. Jeder Künstler, jede Künstlerin verwendet mindestens eine charakteristische ästhetische Operation. Auf der Suche nach ästhetischen Operationen wird man rasch fündig, und es ist auch produktiv, wenn man die Kunstgeschichte aus der Perspektive der in ihr eingehüllten und angesammelten Operationen betrachtet. Wenn man ästhetische Operationen vermitteln will, dann sollte diese Vermittlung selbst Teil einer ästhetischen Operation werden. Die Vermittlung selbst muss folglich einen kunsthaften Charakter aufweisen. Allein diese Perspektive ist dazu geeignet, die Kunstpädagogik von ihrer Basis aus neu zu denken.
Anmerkungen 1
2 3 4
Kamper, Dietmar: Zwischen der Logik des Selben und der Wahrnehmung des Anderen (Interview mit Martina Koch u. Pierangelo Maset), in: KUNST + UNTERRICHT; Heft 176, Oktober 1993, S. 44. Selle, Gert: Über das gestörte Verhältnis der Kunstpädagogik zur aktuellen Kunst, Hannover 1990. Vgl. KUNST + UNTERRICHT, Heft 223/224, Juni/August 1998: Praxis und Konzept des Kunstunterrichts. Oliva, Achille Bonito: Eingebildete Dialoge, Berlin 1992, S.29f.
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Carmen Mörsch
KünstlerInnen als PädagogInnen Überlegungen am Beispiel des Projektes VitaBasteln von Ressource:Kunst e.V. Im Herbst 2002 wurden wir – Carmen Mörsch und Thorsten Streichardt vom Verein Ressource:Kunst – von dem regionalen Bildungsträger Bildung und Umwelt e. V. aus Burgdorf zur Durchführung eines Projektes eingeladen. Ausgangspunkt war die Diagnose einer Schieflage: In der Region Hannover-Nord bleiben Lehrstellen unbesetzt, obwohl es genügend BewerberInnen gibt. Auszubildende bedeuten für die kleinen Betriebe eine hohe Investition und damit ein großes Risiko. Die Zukunft des Betriebes hängt davon ab, ob die Auszubildenden die jeweiligen Anforderungen erfüllen können und ob sie nach der Ausbildung in dem Betrieb bleiben. Die UnternehmerInnen gehen davon aus, dass die »guten« SchülerInnen in die Oberzentren abwandern. Dadurch entwerfen sie die sich bei ihnen Bewerbenden tendenziell als übrig Gebliebene, Benachteiligte. Ein Ausbildungsplatz bleibt aus dieser Perspektive besser leer, als ihn mit der falschen Person zu besetzen. Unser Auftrag war, gemeinsam mit den Beteiligten zu überlegen, wie der Kontakt zwischen den Unternehmen der Region und den SchülerInnen bereits während der Schulzeit hergestellt werden kann, so dass keine falschen Bilder voneinander entstehen und man schon vor dem formalisierten Bewerbungsprozedere die Möglichkeit hat, sich kennen zu lernen und gegenseitig zu wählen. Das Projekt VitaBasteln bestand aus vier Teilen. Zu Beginn führten wir VideoInterviews mit UnternehmerInnen, SchülerInnen und Auszubildenden und verschnitten diese zu einem misslingenden Dialog, der den konstruktiven, relativen und widersprüchlichen Charakter von Kriterien aufzeigte und die unterschiedlichen Entwürfe und Ansprüche aneinander deutlich werden ließ. Das Video gab uns die Möglichkeit, alle Beteiligten kennen zu lernen und aufgrund ihrer Aussagen das weitere Projekt zu entwickeln. In der Schule boten wir zwei Workshops an. Der eine befasste sich mit der Entstehung von Selbstbildern und einem kritischen Umgang mit dem Begriff der Kompetenz. Im zweiten entwarfen und bauten die SchülerInnen einen Brunnen aus Materialien der beteiligten Betriebe: Ökogemüse, Plastikleisten, Metallteile,
Carmen Mörsch
Druckereibedarf und Gartenbauzubehör. Das Video und alle weiteren Resultate benutzten die SchülerInnen und wir am Ende als Requisiten für einen Workshop mit LehrerInnen, Eltern, UnternehmerInnen und regionalen EntscheiderInnen auf der Tagung Sich im Schatten einer Großstadt behaupten.1 Viele Personen waren in das Projekt verwickelt und haben einen Teil davon mitgestaltet. Sie alle verfügen über unterschiedliche Geschichten von Vita Basteln, die voraussichtlich nicht gedruckt erscheinen. In meiner Version der Erzählung, die nun die offizielle wird, interessiert mich, welche Versprechen, spezifischen Qualitäten und Strategien mein Kollege und ich in unserer Rolle als KünstlerInnen in die Schule hineintrugen. Ich möchte auf die je nach Interessengruppe unterschiedlichen Kriterien für ein Gelingen des Projektes hinweisen und auf die Bedingungen, die verschiedene Aspekte eines Gelungenseins vielleicht ermöglicht haben. Eine Methode, die wir mit gegenwärtigen pädagogischen Ansätzen teilen, bestand darin, wenig explizites, zu vermittelndes Wissen in die Situation mitzubringen, sondern von implizitem, bei den SchülerInnen vorhandenem Wissen auszugehen. Dieses war die Grundlage für die gemeinsame Produktion von Ideen, Bildern, Objekten, Fragen und Antworten. Ein weiteres, immer wiederkehrendes Motiv unserer Arbeit ist es, Möglichkeiten zu einem kritischen Umgang mit Begriffen aufzuzeigen, die von außen kommen und ein Regime von Handlungslogiken etablieren, in denen man sich gefangen fühlt. In diesem Fall waren das die Begriffe »Kompetenz« und »Selbstbild«. Die inszenierten Selbstbilder im ersten Workshop entstanden kollektiv, die anderen Teilnehmenden konnten jeweils mitbestimmen, mit welchen Utensilien eine Person in Szene gesetzt wurde. Dabei waren ein genauer Umgang und viel Verhandlung miteinander nötig. Es entstand ein Begabungensammelblatt, das die SchülerInnen und später die Teilnehmenden der Tagung ins Grübeln darüber brachte, über welche nicht als Kompetenz definierten und scheinbar irrelevanten Fähigkeiten sie verfügen. Im Brunnen-Workshop ging es um das Durchspielen von Handlungen, die augenscheinlich als unsinnig beurteilt werden, die dann aber im selbst hergestellten System eine eigene Logik entwickeln. Die Tatsache, dass wir in allen Teilen des Projektes Mittel einsetzten, die als künstlerische gelten – Malerei, Zeichnung, Video und plastisches Gestalten – beantwortet meine Frage nach der Spezifik unserer Tätigkeit als KünstlerInnen als PädagogInnen nicht ausreichend.
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KünstlerInnen als PädagogInnen
Mit der Einladung an KünstlerInnen, ein Bildungsprojekt zu gestalten, verbindet sich ein Versprechen der Andersartigkeit, der unerwarteten Zugänge und Methoden, eines Erkenntnisgewinns durch das Betreten noch nicht abgelaufener Pfade. Dieses Versprechen ist ambivalent. Auf der einen Seite rekurriert es auf ein romantisches, patriarchal strukturiertes Künstlerbild. Phantasiert wird der frei schweifende, geniale Narr, der autonom, »aus sich selbst heraus« Wahrheit – oder zumindest eine andere Wahrheit – zu sehen gibt. Diese Projektion von Irrationalität auf das Künstlersubjekt erzeugt auch Negativ-Erwartungen an dessen Verhalten. So war ein Teil der UnternehmerInnen unserem Vorhaben gegenüber zu Beginn skeptisch eingestellt. Sie machten sich keine Hoffnungen, dass aus ihrer für uns investierten Zeit irgendetwas »Nützliches« im Sinne von ökonomisch Effizientem resultieren könnte. Die Leiterin und Lehrenden der Schule waren positiv überrascht, dass unser Vorgehen planvoll organisiert war und wir alle Beteiligten über unsere Vorhaben und Bedürfnisse rechtzeitig und ausreichend informierten – weil sie dieses Verhalten, das bei einer Kooperation und gegenüber GastgeberInnen doch selbstverständlich sein sollte, von KünstlerInnen gar nicht erwartet hätten. Das Unangenehme an diesem Künstlerbild ist, dass es naturalisiert ist, also nicht als Konstruktion sichtbar wird und weiterhin die Spielregeln des künstlerischen Feldes strukturiert und dominiert – auch dort, wo es um
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Carmen Mörsch
partizipatorische Praxis und kritische Interventionen geht. An die Position des autonomen Künstlersubjektes ist die Vorstellung eines reinen, unverschmutzten und unkompromittierten Raumes der Kunst geheftet. Davon zeugt unter anderem die auch im Rahmen der Tagung bilden mit kunst wiederholt geführte Rede von der unbedingten Selbstreferenzialität der Kunst, sowie der vorauseilende Gehorsam und die Defensivität von AkteurInnen aus dem Bildungsbereich, wenn es um die so genannte Instrumentalisierung der Kunst geht, die es in jedem Fall zu vermeiden gelte – als könnte man zweckfreie Verhältnisse eingehen. Auf der anderen Seite können das »Versprechen des ganz Anderen« und die Erwartungen, die der Künstlermythos herstellt, als Strategie aufgegriffen und unter Umständen nützlich gemacht werden. Uns gaben sie die Möglichkeit, in der Realschule Uetze einen produktiven Ausnahmezustand herzustellen. Wir handelten in einem für Schule ungewöhnlichen Zeitrahmen: Wir konnten über mehrere Tage hinweg mit den Beteiligten verschiedene Themen verfolgen, verknüpfen oder wieder abreißen lassen. Dadurch war Platz zur Verhandlung unterschiedlicher Interessen, es gab die Erfahrung des Nichtgelingens, Neuansetzens oder des Verweigerns. Aktionen konnten ins Leere laufen, an anderer Stelle auftauchen, Sinnzusammenhänge konnten sich verschieben, Handlungen ausprobiert und umgewertet werden.
Als KünstlerInnen performten wir ein von in der Schule Lehrenden abweichendes Verhalten. Ich würde es als frecher und mehr auf Augenhöhe bezeichnen. Mehr auf Augenhöhe meint dabei nicht die Illusion, es könnte in einer Workshopstruktur so etwas wie machtfreie, egalitäre Verhältnisse geben. Es meint im Gegenteil, dass wir direkt und manchmal rücksichtslos reagierten und deutlich machten, dass auch wir in der Situation versuchten,
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KünstlerInnen als PädagogInnen
auf unsere Kosten zu kommen. Gleichzeitig konnten wir uns verwundbarer zeigen, als es Lehrenden möglich ist, weil uns die oben beschriebene Aura des Künstlertums dies straffrei ermöglicht. Wir spielten als Zweierteam verschiedene und wechselnde Rollen aus – guter Bulle, böser Bulle, chaotische und strukturierte Persönlichkeit, ungeduldige und entspannte Leitung, sprachlich Geschickte und handwerklich Geschickte. Einerseits waren wir für die Gruppe also eine anstrengende Zumutung. Andererseits konnten wir die Situation entlasten, indem wir Reaktionen stellvertretend darstellten. Wir konnten manchmal Problemlösungen initiieren, indem wir unsere Ratlosigkeit demonstrierten. Ich nenne diese Art der pädagogischen Leitung performen im Sinne des Drag – die Darstellung macht sich dabei selbst als Als-Ob transparent. Wie Nanna Lüth herausgearbeitet hat,2 gelingt die Performance dann, wenn sich die im Drag angestrebte »Realness« einlöst: Die Darstellung wird als solche erkannt, aber gleichzeitig in ihrer Qualität so anerkannt, dass sich das Publikum als Zeichen dieser Anerkennung auf das Spiel einlässt. Durch die Abhängigkeit von dieser Anerkennung werden die Machtverhältnisse uneindeutig: Das Publikum/die Teilnehmenden werden zu MitproduzentInnen, ohne die nichts geht. Das für alle transparente Als-Ob produziert eine Distanz, die in einem Workshop vor allem für die Akzeptanz von Fremdem, für Prozesse der Ideenentwicklung und für die Formulierung von Kritik genutzt werden kann. Als KünstlerInnen brachten wir außerdem unsere technische, handwerkliche und ästhetische Expertise mit in die Situation. Wie von uns erwartet, vermittelten wir den SchülerInnen Techniken der Bild- und Objektproduktion durch so genannte alte und neue Medien. Wir konfrontierten sie dabei aber mit unseren Qualitätskriterien und stritten mit ihnen um das Gelungensein von Produkten, um Vorstellungen von Kitsch, Unter- und Überkomplexität, Stereotypen und verschiedenen Aussageebenen. Darüber, wann eine Sache fertig ist, wie viel Einsatz nötig ist, welchen Wert verworfene Skizzen haben, wer welche Entscheidungskompetenzen hat oder was Zufriedenheit mit einem Ergebnis bedeutet. Was am Ende der Projekte zu sehen war, ist unter anderem eine Visualisierung dieser Dispute. Dies macht einen Teil der Qualität der entstandenen Produkte aus. Das Projekt VitaBasteln wurde von den beteiligten Seiten als unterschiedlich erfolgreich wahrgenommen.
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Carmen Mörsch
Unser Auftraggeber, der Bildungsträger Bildung und Umwelt e. V., maß das Gelingen in erster Linie an dem Tagungsworkshop, also dem öffentlich wirksamen Teil des Projektes. Besonders interessierte ihn dabei, dass die beteiligten SchülerInnen zur Tagung gekommen waren und sich an deren Gestaltung und in den Diskussionen beteiligten. Die auf der Tagung eingesetzten Requisiten aus den Workshops, die von uns eingebrachten Fragen und Vorschläge, die engagierten SchülerInnen und die UnternehmerInnen, die sich auch auf das ungewohnte Setting einließen, waren für ihn die Indikatoren, dass wir gestellte Fragen aufgegriffen und Impulse zu ihrer Lösung gegeben hatten. Die SchülerInnen bezeichneten den Workshop je gelungener, je mehr sie mit unserer Art zurechtkamen und sich in der Gruppe wohl fühlten. Sie betrachteten den Workshop außerdem je erfolgreicher, je stolzer sie auf die Ergebnisse waren. Die Selbstbilder wurden dabei am höchsten bewertet. Dagegen mochten manche den von ihnen gebauten Brunnen nicht, er erfüllte nicht ihre Kriterien einer gelungenen Form. Dementsprechend erschienen sie auch nicht auf der Tagung, wo der Brunnen präsentiert wurde. Gleichzeitig waren vor allem die SchülerInnen, die sich an der Tagung beteiligten, danach sehr stolz, dass sie es gewagt hatten, sich einer ungewohnt großen Öffentlichkeit zu stellen. Die beteiligten UnternehmerInnen gaben an, den von uns hergestellten ironisierten und reflexiven Blick auf ihre Ansprüche und Wertigkeiten als anregend empfunden zu haben. Dazu gehörte auch die unerwartete Verwendung ihrer dem Projekt geschenkten Materialien. Wir erzeugten eine Störung in ihrem System und damit genervte bis neugierig zugewandte Reaktionen – und wenig später auf der Tagung die Erfahrung einer positiven Überraschung. Ein Transfer davon könnte im günstigen Fall sein, Störungen in Zukunft nicht vorschnell als überflüssig zu bewerten. Mit unserem Vorschlag zur Kommunikation zwischen Schule und Unternehmen wiesen wir darauf hin, dass neue Formen der Kooperation viel Arbeit, Umdenken und Engagement für alle Beteiligten bedeuten und eine Veränderbarkeit von Mikrostrukturen voraussetzen.3 Gleichzeitig verwiesen wir diese Veränderbarkeit in den Raum des eigenen Handelns. Man muss damit nicht auf das schwer Beeinflussbare wie eine Ausbildungsreform oder eine Gesetzesänderung warten.
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Unsere eigenen Kriterien wichen von diesen wiederum ab. Für uns war es in erster Linie wichtig, dass die Verschiebung einiger wenig hinterfragter Begriffe gemeinsam mit den SchülerInnen möglich war. Unausgesprochene Anforderungen und die Gründe für deren Verweigerung als eine alle Beteiligten – einschließlich uns selbst – betreffende Erfahrung teilweise sichtbar und verhandelbar zu machen, war für uns eine der schwierigsten Aufgaben, die wir uns im Rahmen des Auftrags selbst gestellt hatten. Zu Beginn des Projekts hatte uns verblüfft und deprimiert, wie sehr die RealschülerInnen darauf angewiesen waren, konkrete Anweisungen zur Ausführung zu erhalten – anstelle der viel beschworenen Selbststeuerung des Lernens. Es war für uns ein Erfolg zu sehen, dass sich dies schon nach dem zweiten Tag in den Workshops änderte. Ein weiteres Kriterium war für uns erwartungsgemäß die »Prozessorientierung«, d. h. die Betonung des Eigenwertes von Suchbewegungen. Diese war für die TeilnehmerInnen und auch für die Auftraggeber schwer auszuhalten, da sie sich mit klaren Zielsetzungen und vordefinierten Handlungsabläufen weniger einsam zu fühlen schienen. Doch ähnlich wie sie waren auch wir an gelungenen Produkten interessiert. Allerdings fanden wir die Selbstbilder gerade deswegen schön, weil sie glatte, geschlossene Repräsentationsweisen konterkarierten, sich zum Beispiel dem Anspruch einer professionellen Ausleuchtung und damit einer gewissen Dramatik oder totalen Sichtbarkeit verweigerten. Es ging uns nicht darum, den SchülerInnen »Nachhilfe zu einer wirkungsvollen Darstellung« zu erteilen, sondern, wie Eva Sturm schreibt, um das »Entwickeln, Überprüfen, Reflektieren und Wahrnehmbarmachen von eigenen Repräsentationsformen«.4 Dagegen drängten unsere TeilnehmerInnen darauf, dass wir als Kunstprofis für unangreifbare Formen zu sorgen hatten.
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Carmen Mörsch
Anhand dieser Aufzählung wird klar, dass die an unser Projekt gebundenen Interessen unterschiedlich waren. Die Interessen und Ideen der KünstlerInnen standen neben denen der anderen Beteiligten. Sie zu verhandeln, war Teil der gestalterischen Arbeit im Projekt. Instrumentalisierung findet immer dann statt, wenn Interessen unberücksichtigt bleiben. Für VitaBasteln hieße das: Hätten wir einen enger gesetzten Rahmen bekommen, der beispielsweise einen kritischen Umgang mit dem Begriff »Kompetenz« nicht erlaubt hätte – weil dies die SchülerInnen unter Umständen verunsichert oder widerständiger macht anstatt sie zu motivieren – wären wir für die Belange des Auftraggebers instrumentalisiert worden. Hätten wir aber das Interesse unseres Auftraggebers, Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und Schule aufzuzeigen, nicht berücksichtigt und statt dessen z. B. ein künstlerisches Projekt zu den Vorteilen der Arbeitsverweigerung durchgeführt, hätten wir den Auftraggeber und alle Beteiligten dafür instrumentalisiert, um ein interessantes Kunstprojekt zu machen und möglicherweise dessen Mehrwert in einem anderen System abzuschöpfen. Von allen Seiten ist also die Bereitschaft gefragt, den Widerstreit der Interessen in den Stand der Projektarbeit zu erheben und in den einzelnen Situationen einen Artikulationsraum für diesen Widerstreit herzustellen. »Die nutzen uns doch für ihre Tagung aus« sagten die SchülerInnen direkt, nachdem wir ihnen unseren Auftrag am ersten Tag des Workshops erklärt hatten. Die Gefahr der Instrumentalisierung wurde durch diese Klarheit selbst zum Inhalt des Workshops. Dies ist neben den logistischen und ökonomischen Voraussetzungen eine der wichtigsten Bedingungen für das Gelingen eines künstlerisch-edukativen Projektes. Wenn daran kein Interesse besteht, oder wenn diese Möglichkeit nicht zumindest im Verlauf erkämpft wird, ist es unnötig, mit KünstlerInnen zu arbeiten. Sie können dann ihre wichtigsten Karten, über die sie dank ihrer Position verfügen – Selbstverständliches zu verschieben, den Umgang mit Fremdem zu ermöglichen und scheinbar nicht Hinterfragbares zur Disposition zu stellen – nicht ausspielen.
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Als wir im darauf folgenden Jahr vom gleichen Auftraggeber eingeladen wurden, mit einer Hauptschule in drei Tagen eine »integrative Plastik zum Abbau von Stress und Spannungen« herzustellen, um diese wieder erfolgreich auf einer Tagung zu präsentieren, waren wir frustriert. Unser Anspruch, als KünstlerInnen und PädagogInnen eine kritische und ermächtigende Praxis zu betreiben, war bei den Teilnehmenden angekommen, auf der Seite der Entscheider aber offenbar nicht. Zum Glück ist es möglich, ein Angebot abzulehnen.
Anmerkungen 1
2
3
4
Eine CD mit dem Video und einer Dokumentation des Projektes VitaBasteln kann unter [email protected] angefordert werden. Bilder und Informationen auf: www.ressourcekunst.org Lüth, Nanna: Queens of Kunstvermittlung, in: NGBK (Hg.): Kunstcoop©, Berlin 2002. Zu beziehen unter [email protected]. In diesem Artikel macht N. L. Diskurse der Queer Theory für die Theoretisierung von Prozessen in der Kunstvermittlung produktiv. Ein Resultat unserer Workshops war die Idee, dass in Zukunft ein Unternehmen mit einer konkreten Frage auf die Schule zukommt und diese dann im Laufe des Schuljahres fächerübergreifend im Unterricht bearbeitet wird. Am Ende des Jahres werden die erarbeiteten Lösungen bei einem Treffen mit dem Betrieb besprochen. Zur Veranschaulichung dieser Kooperationsform war in einem der Workshops eine Serie inszenierter Dias über »Strategien zur Verbreitung von Informationen über Saisongemüse« entstanden, da der im Projekt beteiligte ökologische Landwirtschaftsbetrieb das schwindende Wissen darüber als Gefährdung für sein Unternehmen bezeichnet hatte. Sturm, Eva: Kunst und Partizipation – Anfänge/Einwände/Trotzdem, in: GfAH (Hg.): KunstKur, Dortmund 2003. Zu beziehen über [email protected]
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[keywords] Ästhetische Forschung Erfahrung Kunst-, Musik-, Museumspädagogik
Helga Kämpf-Jansen
Wie man auf den Vogel kommt Aspekte eines Konzepts ›Ästhetische Forschung‹ Von J. Prevert gibt es das wunderschöne Gedicht‚ ›wie man einen Vogel malt‹. Es heißt darin, dass man keineswegs mit dem Malen des Vogels beginnen solle, sondern mit dem Malen eines Käfigs und einer geöffneten Tür. Sodann male man erst einmal etwas ganz anderes, irgend etwas Schönes, irgend etwas Nützliches, stelle die Leinwand an einen Baum und warte im Verborgenen. Bisweilen – so heißt es – kommt der Vogel gleich, manchmal dauert es allerdings lange, mitunter sogar Jahre. Man darf auf keinen Fall aufgeben und den Mut verlieren. Und: »wenn der Vogel kommt/ falls er kommt / so sei ganz still / warte bis der Vogel in den Käfig schlüpft / und wenn er hinein geschlüpft ist / schließe mit dem Pinsel leise die Tür / dann / tilge nacheinander alle Gitterstäbe aus / wobei du keine einzige Feder des Vogels berühren darfst / Sodann male den Baum / und wähle den schönsten seiner Äste / für den Vogel / male auch das grüne Laub und den frischen Wind / den Sonnenstaub / und das Gesumm der Grastiere in der Sommerglut / und dann warte ob der Vogel sich entschließt zu singen / Wenn der Vogel nicht singt ist es ein schlechtes Zeichen / ein Zeichen dass das Bild schlecht ist / Aber wenn er singt ist es ein gutes Zeichen / ein Zeichen dass du das Bild mit deinem Namen zeichnen darfst / dann zupfst du ganz sacht eine Feder aus dem Vogelgefieder / und schreibst in eine Ecke des Bildes deinen Namen nieder.«1 In diesem Text geht es um die Besonderheiten ästhetischen Verhaltens. Das subtile Vorgehen, das geduldige Aufspüren von Möglichkeiten, Möglichkeiten des Erfolges wie des Scheiterns, eine große Aufmerksamkeit, mit der der Prozess begleitet ist, die Ruhe und vor allem der Zeit, die vergehen muss, bis man angekommen ist, das Ergebnis eines langen Prozesses sichtbar vor Augen hat. Mit diesen Worten lässt sich ein Grundkonzept pädagogischen Denkens beschreiben. Ein Konzept, in dem es um einen groß angelegten Denk-, Spielund Handlungsrahmen geht, wo eine Vielzahl von Denkakten und möglichen
Helga Kämpf-Jansen
Handlungsweisen antizipiert und gleichzeitig wieder verworfen werden können. In dem der Zufall genauso eine Rolle spielt wie das Planbare, das Gefühlte wie das Rationale, das vorläufig Gedachte wie das scheinbar Gesicherte einer Erkenntnis. Ich entwickle meine Gedanken zum Konzept ›Ästhetische Forschung‹ an zwei kurzen Beispielen.2 Mein erstes Beispiel: Axel Er ist zehn Jahre alt und geht hier in Hannover zur Schule. Im Kunstunterricht soll er einen Vogel im Baum malen. DIN-A3-Hochformat, formatfüllend. Das sind dann 32 Vögel in 32 Bäumen. Alle Hochformat, formatfüllend und in Wasserfarben. Er würde lieber seinen Hund malen. Dazu fiele ihm viel ein. Aber er soll ja einen Vogel im Baum malen. Dazu fällt ihm gar nichts ein. Sein Onkel hat eine Platte mit Vogelstimmen, aber die interessiert ihn nicht. Vögel sind wohl eher etwas für Erwachsene. Er beschließt, erst einmal einen Baum zu malen. Doch welchen? Einen Apfelbaum oder eine Fichte, und welche Vögel sitzen überhaupt auf Apfelbäumen und welche auf Fichten? Ist das denn egal? – Er weiß das alles nicht, und er kann das alles nicht. In seiner Not schaut er sich bei den Banknachbarn um. Die malen auffallend große Vögel mit Kringeln, Tupfen und Kreisen. Da wird ihm klar, dass er wieder einmal nicht mitgekriegt hat, dass es sich um einen Fantasievogel handeln soll. Da weiß er dann Bescheid, denn sie haben schon einmal einen Fantasiefisch malen müssen und im Vertretungsunterricht eine Fantasieblume – die hatten alle Tupfen, Kringel und Kreise. Trotz Fantasie sahen alle ziemlich gleich aus. Er versucht sein Bild irgendwie hinzubekommen und erhält dafür – wie meistens – eine drei. Das heißt genau genommen, nicht eigentlich er bekommt die Drei, sondern lediglich der Schüler Axel. Das Kind Axel steht, was Malen, Zeichnen, Werken und Basteln betrifft, ganz anders da. Das hat nämlich soeben ein großes Arbeitsvorhaben zu seiner Schäferhündin Carmen abgeschlossen und viel Lob erhalten. Sein Großvater hatte ihm vor Jahren zum Geburtstag die Hündin Carmen geschenkt. Nun hat Axel ihm zum Geburtstag Carmen zurückgeschenkt, natürlich nicht life, sondern ästhetisch transformiert. Viele Wochen hat er daran gearbeitet. Carmen wurde immer wieder fotografiert und die Bilder in ein sorgfältig ausge-
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Wie man auf den Vogel kommt. Aspekte eines Konzepts ›Ästhetische Forschung‹
suchtes Album geklebt, ergänzt mit kleinen Texten über Hundeerlebnisse, mit Zeichnungen – denn Axel zeichnet zu Hause sehr gerne und sehr oft – sowie mit Postkarten und Bildern von anderen Schäferhunden. In der Mitte seines Hunde-Buches hat er die Fellfarben gemalt, sowie einen Stammbaum gezeichnet, der die Geschichte des Hundes zurückverfolgt bis zum Wolf. Seine Mutter hatte ihm Ton besorgt, und er hat mehrfach versucht, Carmen zu modellieren. Einmal ist sie ihm nicht richtig geglückt, aber zwei Hundeskulpturen gefallen ihm sehr gut. Auf Vaters Computer hat er Carmen eingescannt, im Fotoshop-Verfahren bearbeitet und ihr ein ganz verrücktes Hundehaus im Hintergrund dazugefügt. Auf diese Arbeit ist er sehr stolz und hat sie gleich zwölf mal ausgedruckt. Der Clou aber ist eine lebensgroße Nachbildung aus Maschendraht und Pappmaschee, beklebt mit Teppichresten, die fast die gleiche Farbe haben wie Carmens Fell. Dabei hat ihm ein Freund geholfen, denn der geht in die Jugendkunstschule und kennt sich mit Großplastiken aus. Eigentlich wollten sie ein Tonband einbauen mit Carmens Bellen, für das sie Stunden auf der Lauer gelegen hatten. Doch das wurde dann zu kompliziert, und Axel hat den Recorder neben die Hunde-Plastik gelegt. Der Kanarienvogel H. und die Studentin U.3 Die Studentin U. arbeitet an einer kleineren ästhetischen Forschung. Im Familienalbum hat sie ein paar alte Fotos entdeckt: einen Vogelkäfig mit Hansi, dem Kanarienvogel ihrer Kindheit. Sie sind Ausgangspunkt einer Arbeit, bei der sie am Ende ganz woanders – bei einem anderen Motiv und anderen Fragestellungen – ankommen wird. Sie beginnt ein Tagebuch, das den ästhetisch-praktischen, wie den Weg durch die verschiedenen theoretischen Bezugsfelder begleitet. In ihm sammelt sie die alltagsästhetischen Bilder, schreibt ihre Überlegungen, Fragen Entdeckungen und Erkenntnisse sowie ihre Suchbewegungen auf. Sie skizziert, collagiert und legt Farb-Versuchsfelder an. Mit Gelb und Schwarz. Erste größere Zeichnungen entstehen und damit verbunden die Einsicht, dass es gar nicht so leicht ist, einen Vogel zu zeichnen – nicht auf der naturalistisch-gegenstandsbezogenen Ebene und nicht auf der abstrahierenden, atmosphärischen, assoziativen.
Abb. 1–4: Videostills des verstorbenen Kanarienvogels
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Helga Kämpf-Jansen
Dennoch: Die Zeichnungen gelingen ihr zunehmend besser, zumal sie historische Abbildungen aus Büchern der Ornithologie als Orientierungen dazu nimmt.
Abb. 5/6: Arbeiten des englischen Ornithologen John Gould zwischen den Jahren 1864–1875
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Sie beginnt zu modellieren und hat die Idee, einen alten Vogelkäfig mit unzähligen Vögeln zu füllen. In einem Kaufhaus findet sie künstliche Vögel mit echten gelben Federn. Sie erwirbt einige, ohne zu wissen, was sie daraus einmal machen wird. Auf dem Weg durch die Ornithologie findet sie neben den biologischen Informationen auch kulturhistorische über die Geschichte des Vogelfangs, anthropologische über die Beziehungen des Menschen zu ›seinem‹ Vogel im Käfig, und vor allem interessieren sie die Mythen wie ›Fundevogel‹, ›Jorinde und Joringel‹ und ihre Deutungen. Da sie sich noch nie mit Vögeln beschäftigt hat, ist sie erstaunt über die vielen gedanklichen Zugänge, die sich ihr bieten. Literarische Texte, in denen der Vogel ein Symbol oder Metapher ist, findet sie zahlreich. Angeregt durch die Vogeldarstellungen des englischen Künstlers John Gould (Abb. 5/6), beginnt sie eine Reihe von Arbeiten mit Aquarell- und Acrylfarben. Es fasziniert sie, wie Gould die Lebensräume der verschiedenen Vögel darstellt, und sie beginnt dann selbst, nicht reale, sondern fiktive Umwelten für verschiede Vögel zu entwerfen. Nach einer weiteren Serie von fünf Arbeiten, in der sie nur noch die Farbe Gelb mit klei-
Wie man auf den Vogel kommt. Aspekte eines Konzepts ›Ästhetische Forschung‹
nem schwarzen Rand als ›Erinnerungsfeld an H.‹ auf 35 x 35 cm großen Spanplatten gemalt hat, beginnt sie, mit der farblichen Umkehrung zu experimentieren: Schwarz mit etwas Gelb. Parallel führt sie eine Befragung unter Mit-Studierenden und Bekannten durch. Sie möchte wissen, welche Kindheitserinnerungen an Vögel im Käfig gegeben sind, welche Einstellungen und welche Bilder. Sie lässt auch jeweils einen Vogel skizzieren. In der Auswertung zeigt sich, dass die Erinnerungen an den Tod eines Kanarienvogels oder Wellensittichs oder auch eines mit nach Hause getragenen Jungvogels, der aus einem Nest gefallen war, am häufigsten aufgeschrieben wurden. Für viele waren es kleine Dramen, die sich in der Kindheit abgespielt hatten. So wie ihr eigenes: Die in Obhut genommene Katze einer Nachbarin hat – in einem unbewachten Augenblick – den Kanarienvogel H. erwischt und auf ihre Weise getötet. Ihre eigenen ästhetischen ›Vogel-Flüge‹ gehen zunehmend durch bunt gemischtes Terrain – zwischen Findung und Erfindung, zwischen biologischer Gattung und künstlerischem Neuentwurf. Aus ihren Darstellungen fiktiver Umfelder entsteht eine größere Arbeit, eine Art biologische Tafel, auf der sie eine Vogel-Mischung aus dem Kanarienvogel-Gelb – und einem Raben-Vogel-Schwarz entwickelt. In einem zugeordneten Text beschreibt sie die Lebens- und Fortpflanzungsgewohnheiten des so entstandenen Mischwesens. Die sind so verfasst, dass sie eine ironische Distanz zu den biologisch-sachlichen Beschreibungen darstellen. Sie entwickelt zunehmend ein Interesse an schwarzen Rabenvögeln und versucht, sie zu malen wie auch plastisch darzustellen. In einer Bastlerzentrale findet sie schwarze Federn, die sie auf eine Kugel appliziert – die plastische Abstraktion eines Rabenvogels. In Werken aktueller Kunst setzt sie sich vor allem mit der Installation von Christiane Möbus (Abb. 7) auseinander. Die ästhetischen Strategien wichtiger Werke der Kunst des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit Bezügen zur Natur, bzw. zu Tieren, sind ihr vertraut, vor allem Installationen von A. Oppermann, N. Lang, J. Badura und A. Dijon.
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Abb. 7: Christiane Möbius, Voll Sorge um Lewin, 1982/83, 11 Krähen, 11 Steinkugeln, Museum Wiesbaden
In Zoohandlungen fotografiert sie eine Reihe von Vögeln. Langsam beginnt sie sich in den komplex ausgelegten Netzen ihrer Arbeit zu verstricken. Ihr wird klar, dass sie an ihrem Vogel-Thema noch Jahre arbeiten könnte. Doch sie muss ihre Arbeit beenden, und es ist ihr bewusst, dass sie zu keinem Abschluss kommen wird, von dem sich sagen ließe, das Ganze sei wirklich abgeschlossen und in sich ganz ›rund‹. Die künstlerischen Werke werden am Ende ausgestellt und die entstandenen zwei Tagebücher auch. Die wissenschaftliche Arbeit als begleitende Textarbeit liegt Interessierten zum Lesen vor, also braucht auch sie die entsprechende formale Ausarbeitung. So hört sie irgendwann dann ›einfach‹ auf, bleibt sozusagen irgendwo mitten auf ihrer ornithologischen ästhetischen Reise stehen. In einer letzten Performance im Rahmen der Ausstellung wird sie die drei gelben künstlichen Vögel, die sie einmal erworben hat, in einem Berg schwarzer Asche begraben und damit symbolisch ihre Arbeit beenden als auch ihre eigene Erinnerung an den Tod des Kanarienvogels ihrer Kindheit ästhetisch transformieren.
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Wie man auf den Vogel kommt. Aspekte eines Konzepts ›Ästhetische Forschung‹
Grundlegende Gedanken zu den Beispielen und übergreifende Aspekte zum Konzept ästhetischer Forschung Greift man nochmals das Schul-Beispiel ›Vogel im Baum‹ auf, so ist deutlich, dass die kunstpädagogischen Muster und die Motive austauschbar sind. Statt ›Vogel‹ geht auch Fisch oder Baum oder Blume oder Tiger im Käfig, Clown im Zirkus und Affe im Dschungel. Immer handelt es sich um eine Ein-BlattDarstellung, meist mit farbig angemaltem Hintergrund. Es gibt kein zweites Blatt (höchstens ein zerknülltes im Papierkorb), keine Bilder- und IdeenSammlung, keine begleitenden Arbeiten, keine Skizzen, Notizen, Tagebücher und in der Regel keine Auseinandersetzung mit Werken der Kunst, in denen entweder thematische Bezüge oder ästhetische Strategien eine Rolle spielen, die für Schülerinnen und Schüler bedeutsame Fragestellungen bzw. Aspekte enthalten. Ganz anders ist da Axels Arbeit zu seinem Hund und die Arbeit der Studentin zu einem Vogel. Sie zeichnen sich durch Vorgehensweisen aus, für die Begriffe wie Kreativität, Motivation, Forschen, Erkunden und Entdecken der eigenen Möglichkeiten kennzeichnend sind. Sie sind mit der intensiven Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern vergleichbar, auf die ich in diesem Zusammenhang nur verweisen kann. 4 Wenn ich sie als Beispiele nehme, die für ›ästhetische Forschung‹ stehen, dann lassen sich zunächst daraus vergleichbare Aspekte ableiten. Ich skizziere sie hier kurz. 1. Ausgangspunkt und Gegenstand ästhetischer Forschung
Gegenstand ästhetischer Forschung kann alles sein. Also auch ein Vogel oder ein Schäferhund. Die ästhetischen Vorhaben sind mit einem persönlichen Sinn versehen und so mit einer hohen Motivation begleitet. 2. Alltagserfahrung
In der Ästhetischen Forschung kommt der Alltagserfahrung eine große Bedeutung zu. Es gilt, die alltägliche Wahrnehmung, den alltäglichen Blick aus den routinemäßigen Abläufen herauszulösen, anzuhalten und den Gegebenheiten des persönlichen Interesses eine andere Form der Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Z. B. den unzähligen Abbildungen und Nachbildungen von Vögeln oder den von Schäferhunden z. B. in den einschlägigen Zeitschriften, auf Postkarten usw. Diese Besonderheit der Zuwendung ist auch in
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alltäglichen Akten ästhetischer Handlungen gegeben. Z. B. den Hund zu fotografieren oder die Vögel in der Tierhandlung, Menschen zu befragen; Texte und Bilder zu sammeln. Das Sammeln spielt in Akten ästhetischer Alltagshandlungen eine wesentliche Rolle, wie auch das Anordnen, Arrangieren, Präsentieren. So sammelt Axel alles zu Hunden und klebt ausgewählte Stücke in sein Hunde-Buch. Die Studentin U. legt sich z. B. eine Sammlung biologischer Darstellungen von Vögeln an, pinnt Abbildungen an die Wand, stellt plastische Vögel (Fundstücke aus Federn, Keramik und Glas) auf den Schreibtisch. 3. Kunsterfahrung
Für das Kind Axel gibt es den Erfahrungsbereich der Kunst nicht, denn da ist niemand, der ihm diese Möglichkeiten des Sehens und Entdeckens eröffnet hätte. In der Schule nicht und auch nicht zu Hause, und alleine findet ein zehnjähriger Junge den Weg nicht dorthin. Für die Studentin U. ist die Situation ganz anders, sie hat sich mit den Strategien aktueller Künstler und Künstlerinnen befasst, wie auch mit großem Interesse historische Darstellungen betrachtet. Anders als der Schüler Axel weiß sie auch, wo sie die Werke der Kunst zu ihrer Thematik oder zu den von ihr gewählten Verfahren suchen und finden kann. 4. Vorwissenschaftliche, wissenschaftliche und literarische Bezüge
In sehr vielen Arbeiten aktueller Kunst sind sie überaus wichtig. Philosophische, literarische und kulturgeschichtliche Exkurse sind oft nicht nur Kontexte, sondern sichtbarer Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit. Auch für den Schüler Axel wie für die Studentin U. gilt, dass sie sich mit sachwissenschaftlichen, mit literarischen und poetischen Texten befassen und sie in ihre Arbeitsvorhaben einbeziehen. 5. Selbstreflexion, Bewusstseinsprozesse, Ich-Erfahrungen
Was den Prozess jeder kreativen Arbeit begleitet, findet für den Schüler Axel wie für die Studentin U. ebenfalls in hohem Maße statt. Beide führen ein Tage- bzw. Arbeitsbuch, die Arbeiten sind begleitet über ständige Gespräche, neue Fragen und Erkenntnisse, über Experimente und vor allem über die Reflexion vieler Wege, die man gelegentlich durchaus euphorisch beschreitet, um sie dann doch nach einiger Zeit wieder selbstverständlich zu verlassen.
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Wie man auf den Vogel kommt. Aspekte eines Konzepts ›Ästhetische Forschung‹
Aspekte ›ästhetischer Forschung‹ – ein vorläufiges Fazit Das Grundmoment ästhetischer Forschung ist das der Komplexität in den Zugängen zu einem ästhetischen Gegenstand, einer Frage, einer Ausgangssituation u. a. mehr. Und das Besondere dabei ist die Vernetztheit der Zugänge – keiner ist ausschließlich, nichts geschieht formal-additiv, alle liegen gleich berechtigt nebeneinander. Immer gibt es die Option zwischen mehreren sich anbietenden Wegen. Daraus auszuwählen, selbstverantwortlich zu entscheiden, gehört hier zu den wichtigen Handlungsmöglichkeiten und Reflexionsnotwendigkeiten jedes Einzelnen. Dass die Lust am konkreten ästhetischen Tun – am Malen also oder am plastischen Arbeiten immer größer ist als die am Lesen, Befragen, Recherchieren, Sammeln und Auswerten, stimmt nach all den bisherigen Erfahrungen nicht. Wenn doch bereits die Arbeitsvorhaben Achtjähriger außerhalb von Schule – genauso wie die vieler aktuell arbeitender Künstlerinnen und Künstler – zeigen, dass sowohl in Sprache gefasste selbstreflexive Momente wie auch alle denkbaren nicht-bildlichen, d. h. medialen Kontexte zum ästhetischen Werkprozess oder auch zum gesamten Werk sichtbar dazu gehören, dann wird immer weniger erklärbar, warum dies alles in institutionalisierten kunstpädagogisch ausgewiesenen Einrichtungen, in Lehr- und Lernveranstaltungen – vom Kind bis zur Studentin an der Universität, vom Jugendlichen bis zum Erwachsenen in künstlerisch ausgewiesenen Volkshochschulkursen – nicht stattfindet. Da gerade die Fähigkeit ästhetischen Erlebens, Handelns und die damit verbundenen reflexiven Prozesse als gesamtes Netz ästhetischer Erfahrungen im Prozess aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen eine besondere Rolle spielen, sollten sie bereits von frühster Kindheit an als Möglichkeit entwickelt werden. Gerade auch den Kunstschulen kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu.
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Anmerkungen 1 2
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Jaques Prevert: Gedichte, Hamburg 1962 Die hier vorgetragenen Beispiele sind einzubeziehen in das Grundkonzept ›Ästhetische Forschung‹, das als Buch vorliegt: Helga Kämpf-Jansen: Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Salon-Verlag Köln, 2002 (2. Aufl.). Der Beispieltext hier stellt eine thematische (aber nicht konzeptionelle) Abweichung des ursprünglichen Beispieles dar. Die auf der Tagung vorgetragene Passage über die studentische Arbeit zur Foxterrierhündin ›Glenda‹ wird veröffentlicht in H. Richter/G. Peez (Hg.): Festschrift für A. Sievert, Erfurt 2003. Auf die im Vortrag zur Diskussion gestellten Kunstbeispiele, z. B. von A. Oppermann möchte ich an dieser Stelle verweisen. (Ausführungen Buchpublikation H. K.-J., a. a. O).
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Wozu Kunstpädagogik? Zur kognitiven Bedeutung ästhetischer Erfahrung Wir leben im Post-PISA-Zeitalter: Lehrpläne werden umgeworfen, mit dem Ziel, den Unterricht an den deutschen Schulen effektiver zu gestalten. Gleichzeitig ist das Geld knapp, die Kommunen, die Länder und der Bund müssen dringend sparen. Das alles verschärft den Legitimationsdruck für kunstpädagogische Arbeit enorm. So ist beispielsweise laut der letzten Ausgabe von GEO-Wissen Kunst nach Religion und Latein das Fach, das die meisten Bundesbürger, immerhin 33,2 %, für verzichtbar halten.1 Es ist indes noch gar nicht erwiesen, dass die viel propagierte flächendeckende Ausstattung mit Computern bessere schulische Leistungen nach sich zieht. So zeigt eine groß angelegte Studie in Israel, dass das genaue Gegenteil eintreten kann. Joshua Angrist und Victor Lavy kamen jedenfalls zu dem ernüchternden Ergebnis, dass bei unklarem Nutzen die Kosten hoch sind. Die Leistung der Schüler wurde vielfach nicht nur nicht gestärkt, sondern mitunter und interessanterweise gerade im Fach Mathematik geschwächt.2 Andererseits zeigt die vieldiskutierte Berliner Studie des Paderborner Musikwissenschaftlers Hans Günther Bastian, dass ein Mehr eines solchen vermeintlich unnützen Faches wie Musik nicht nur das Sozialverhalten positiv beeinflusste, sondern darüber hinaus auch die gesamten schulischen Leistungen stärkte – insbesondere im Fach Mathematik.3 Mit dem traditionellen Begriffswerk der Ästhetik lässt sich so etwas kaum erklären. Seit Kant geistert ein Verständnis ästhetischer Erfahrung durch die Philosophie, das geprägt ist durch die Stichworte »interesseloses Wohlgefallen an der sinnlichen Gestalt« und »Zweckfreiheit«.4 Aber ein solcher Grundbegriff ästhetischer Erfahrung kann vielleicht noch unser ästhetisches Naturerleben erfassen, nicht aber die Rezeption von Kunst, die wohl unbestritten ein kognitiver Akt ist. Duchamps Flaschentrockner zeichnet sich eben nicht durch eine besondere ästhetische Gestaltung aus – und selbst wenn er es täte, unterschiede ihn dieses nicht von jedem anderen Flaschentrockner.5 Die Philosophie der Kunst wäre so gesehen kein Teilgebiet der Ästhetik mehr.6
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Im Folgenden soll dagegen ein alternatives Konzept ästhetischer Erfahrung vorgestellt werden, das nicht nur sowohl unser Naturerleben als auch die Kunstrezeption erfasst, sondern das darüber hinaus die genannten Erfolge des musischen Unterrichts verständlich macht. Dazu ist es nötig, kurz die kognitive Funktion der Emotionen aus der Sicht der Neurophysiologie zu skizzieren.7 Wenn unsere Emotionen kein evolutionäres Epiphänomen sind, wozu brauchen wir sie dann? Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie stehen – vielleicht sogar etwas zu dicht – am Bahnsteig und es fährt ein Zug durch. Ein derartiges Erlebnis registrieren Sie nicht rein rational, speichern es ab und holen es wieder aus dem Speicher sobald nötig. Stattdessen sind Sie emotional beteiligt. Sie bekommen vielleicht einen Schreck, Ihr Muskeltonus verändert sich, Hormone werden ausgeschüttet und Sie weichen einen Schritt zurück. Ins Gedächtnis gelangt dementsprechend nicht der abstrakt propositionale Sachverhalt, sondern sozusagen ein multimodales Bild der Gesamtsituation, also ihre Wahrnehmungen inklusive Ihrer körperlichen und emotionalen Reaktionen. Dabei ist schon diese letzte Unterscheidung vorschnell. Schon William James hat behauptet, und neuere Studien belegen es nachdrücklich, dass emotionale Reaktionen immer körperliche Reaktionen sind.8 Stellen Sie sich beispielsweise ein Angsterleben vor. Und dann abstrahieren Sie in Ihrer Vorstellung von allen körperlichen Reaktionen: Denken Sie sich also vom Gefühl der Angst das flaue Gefühl im Bauch, die weichen Knie, Ihr plötzliches Erblassen, den kalten Schweiß, das Zusammenzucken, Augenaufreißen und das Verkrampfen der Eingeweide ebenso weg wie das Gefühl, dass Ihnen der Atem stockt und sich Ihnen die Nackenhaare sträuben. Was dann noch übrig bleibt, ist allenfalls eine leere begriffliche Hülle, aber keine Emotion mehr. Der Strom unseres Bewusstseins wird maßgeblich von diesen emotionalen Reaktionen auf äußere und innere Stimuli gesteuert und aufrechterhalten. Die meisten davon bleiben allerdings unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Dennoch aber beeinflussen sie unsere Entscheidungen, und das ist auch ihre Aufgabe. Menschliche Emotionen bestehen zunächst aus einem schmalen Set angeborener Grundpräferenzen, die dafür sorgen, dass das Neugeborene überlebensfähig ist. Darauf aufbauend entwickelt sich aufgrund der jeweils individuellen Erfahrungen ein reichhaltiges System so genannter sekundärer Emotionen. Der Vorteil dieses Systems ist, dass wir in den beziehungsreichen sozialen Entscheidungssituationen unseres Alltags nicht gezwungen sind,
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rein rational die Gesamtsituation zu analysieren, alle Optionen ausfindig zu machen, etwaige Begleitumstände zu eruieren, die potentiellen Handlungsfolgen mit den jeweiligen Wahrscheinlichkeiten zu gewichten und die resultierenden Einzelnutzen zu skalieren, um zu einer Entscheidung zu kommen. Im Allgemeinen haben wir hierfür gar nicht die Zeit, und meist lohnt sich ein solch aufwändiges Verfahren auch nicht. Stattdessen sind alle Alternativen und ihre Folgen sowie die Relevanz der Entscheidung selbst immer schon emotional bewertet. Diese Bewertung beruht dabei auf einer Vielzahl vorgängiger Erfahrungen, die unser Set emotionaler Präferenzen geprägt haben und fortlaufend modifizieren. Die meisten Optionen werden so schon im Vorfeld aussortiert, und wir müssen uns nur mit den relevanten Faktoren bewusst auseinandersetzen. Nur so können wir uns in unserer komplexen und dynamischen Umwelt adäquat orientieren. Umgekehrt gibt es auch eine ganze Reihe psychologischer Untersuchungen, die belegen, dass wir uns emotional bewertete Sachverhalte signifikant besser merken können als anderweitig klassifizierte. Offenbar spielen die Emotionen also zudem eine wichtige Rolle beim Ablegen und Wiederabrufen von Gedächtnisinhalten.9 Jeder Gegenstand, den wir wahrnehmen oder vorstellen, ist immer bereits in beschriebener Weise bewertet – und sei es, dass er, wie die meisten Objekte, als unbedeutend eingestuft wurde und demnach nicht weiter beachtet wird. Die Dinge unserer Welt sind prinzipiell werthaft. Davon zu abstrahieren ist nur teilweise und das auch nur unter großen Schwierigkeiten möglich. Im Alltag bemerken wir diese ständige Bewertung überhaupt nicht. Wir nehmen den Gesichtsausdruck unseres Gegenübers oder die Stimmung in dem soeben betretenen Raum unmittelbar als solches wahr und handeln dementsprechend.10 Darauf aufbauend, lässt sich ästhetische Erfahrung als eine Weise des Erlebens verstehen, bei der genau die oben beschriebene Werthaftigkeit der wahrgenommenen oder vorgestellten Gegenstände, die sonst unbemerkt unsere Handlungen leiten, im Mittelpunkt des Interesses steht. Allerdings gibt es keinen normalen Erleber in Analogie zum normalen Beobachter, wie er als Voraussetzung für Intersubjektivität und arbeitsteilige Forschung in den Wissenschaften definiert ist. Die im normalen Beobachter personifizierte kognitive Normalausstattung des Menschen vermag nicht in derselben Weise unser Werterleben zu normieren.11 Dieses beruht auf subjektiven Erfahrun-
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gen und den daraus resultierenden emotionalen Präferenzen. Damit ist unsere ästhetische Erfahrung wertbezogen und subjektrelativ. Diese Konzeption ästhetischer Erfahrung hat gewichtige Vorzüge.12 Erstens berücksichtigt sie nicht nur äußere Wahrnehmungen, sondern kann auch auf Vorstellungen angewendet werden. Zweitens vermag sie die faktisch größere Subjektivität unserer ästhetischen Werturteile im Gegensatz zu deskriptiven Beobachtungsurteilen zu erklären. Drittens liefert sie ein plausibles Modell für die Funktion der Emotionen bei der ästhetischen Erfahrung und betont damit zugleich die kognitive Bedeutsamkeit letzterer. Viertens vermag sie durch die hier skizzierte Theorie des ästhetischen Ausdrucks die Rezeption von Kunstwerken in den Bereich der ästhetischen Erfahrung zu integrieren. Eine wichtige Funktion von Kunst ist es dabei, subjektiven Werterlebnissen im Kunstwerk dergestalt Ausdruck zu verleihen, dass der Rezipient sie wahrnehmend nachvollziehen kann. Damit werden Weltsichten kommunizierbar, die man mit alltagssprachlichen Mitteln nicht ohne weiteres mitteilen kann. Wofür brauchen wir vor diesem Hintergrund also Kunstpädagogik? Ich will mich auf die Schlussfolgerungen beschränken, die sich aus der skizzierten Perspektive ergeben. Die enge Verknüpfung ästhetischer Erfahrung mit der kognitiven Funktion der Emotionen bietet dem Heranwachsenden ein wichtiges Übungsfeld beim Entwickeln eigener stabiler Wertpräferenzen. Das betrifft nicht nur die ästhetischen Vorlieben, sondern zugleich auch ethische Grundsätze. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Werte allgemein, also auch ethisch-moralische Werte, nichts sind, was an sich in der Welt existiert.13 Vielmehr beruhen sie auf dem jeweiligen Wertempfinden des Einzelnen. Der oft betonte prinzipielle Unterschied zwischen Sollen und Wollen reduziert sich so auf die Frage, inwieweit man in einer Entscheidungssituation den jeweils eigenen Vorteil im Blick hat oder nicht.14 In der Kunsterziehung kann man durch praktische Erfahrung Werterleben schulen. Wichtig ist dabei allerdings, dass der Pädagoge nicht die Tatsache aus dem Auge verliert, dass alle ästhetischen Werturteile subjektiv sind. Andernfalls droht die Gefahr, dass er seine privaten Präferenzen den ihm anvertrauten Schülern als objektiven Maßstab aufdrängt. Darum kann es aber nicht gehen. Vielmehr gilt es, den Heranwachsenden die Chance zu bieten, eigene stabile Wertpräferenzen zu entwickeln. Gleichzeitig lernen sie durch
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das eigene praktische Tun, ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen und einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Dabei werden sie mit den Vorstellungen anderer konfrontiert, und die Erfahrung der eigenen Subjektivität in Konfrontation mit den Ansichten und Vorlieben anderer hilft bei der Entwicklung hin zu Offenheit und Toleranz. Es gibt interessanterweise einen Zusammenhang zwischen dem Interesse an Kunst und gewissen Persönlichkeitsmerkmalen. Insbesondere korreliert ersteres positiv mit den folgenden Eigenschaften: • • • •
• •
Der Bereitschaft, sich komplexen Situationen und Problemen zu stellen und das möglicherweise sogar positiv zu erleben. Der Bereitschaft, sich mit mehrdeutigen oder unrealistischen Situationen auseinanderzusetzen. Der Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung auch kleinster und möglicherweise nebensächlicher Details unserer Umwelt. Der Eigenschaft, eigene Urteile selbst dann zu vertreten, wenn sie von der Mehrheitsmeinung abweichen oder gesellschaftlichen Konventionen widersprechen. Der Fähigkeit, sich bewusst auf eine im weitesten Sinne »kindliche« Art der Welt zu nähern. Emotionaler Sensibilität und Labilität, was aber möglicherweise nur bedeutet, dass Personen mit einer Tendenz zu den zuvor genannten Eigenschaften eher bereit sind, sich ihren negativen Affekten zu stellen und das vor allem bei einer Befragung zuzugeben.
Als negativer Faktor erwies sich vor allem die Vorliebe für entspannte, eindeutige und nicht herausfordernde Situationen.15 All diese hier aufgelisteten Eigenschaften sind aber zugleich solche, die jedem von uns in einer zunehmend medialisierten Umwelt tagtäglich abverlangt werden. Die produktive wie rezeptive Auseinandersetzung mit Kunst schult somit Schlüsselkompetenzen, die nötig sind, will man sich in einer Informations- und Mediengesellschaft als Individuum behaupten und nicht bloß als Spielball auf den jeweils aktuellen Strömungen dahintreiben. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Schulung der Kreativität. Diese sei dabei verstanden als die Fähigkeit, Lösungen für Probleme zu finden, die mit den bekannten Strategien unlösbar waren. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Entdeckung des Archimedischen Prinzips.
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Archimedes sollte Hieron, dem Tyrannen von Syrakus, sagen, ob eine ihm als Tribut überreichte Krone tatsächlich aus reinem Gold sei. Da Archimedes das spezifische Gewicht von Gold bekannt war, musste er »nur« das Volumen der Krone messen, ohne sie allerdings einschmelzen zu können. Er quälte sich lange mit diesem Problem, als ihm ausgerechnet beim Baden schlagartig die Lösung einfiel: Wie schon oftmals zuvor beobachtete er, dass beim Einsteigen ins Bad der Wasserspiegel anstieg. Dieses Mal aber kam ihm ganz unerwartet der Gedanke, das Volumen der Krone mit Hilfe der Menge an Wasser zu bestimmen, die sie verdrängt. Eine alltägliche Beobachtung brachte die Menge aller mit einem Bad verknüpften Assoziationen ins Spiel, und es wurde eine Verbindung hergestellt zwischen zwei zuvor zusammenhanglosen Phänomenbereichen.16 Im Allgemeinen lösen wir unsere alltäglichen Probleme allerdings nicht-kreativ, das heißt wir verlassen uns auf altbekannte Lösungswege, so genannte heuristische Strategien. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt in der Geschwindigkeit: Wir müssen nicht lange Überlegungen anstellen, sondern können sozusagen gleich zur Tat schreiten. In einigen wenigen Fällen aber scheitern derartig routinierte Lösungen. Dann ist eben Kreativität gefragt. Die aber beginnt oftmals mit einem mehr oder weniger gezielten Herumprobieren, bis man das Gefühl hat: Jetzt passt es. Einer Umfrage von Hadamard aus dem Jahre 1954 zufolge ließen sich dabei insbesondere führende Wissenschaftler wie Einstein auch von ästhetischen Kriterien leiten.17 Der Nachteil kreativer Problemlösungsansätze liegt allerdings darin, dass sie relativ zeitaufwendig sind und nicht garantiert zum Erfolg führt.18 Stress und Leistungsdruck sind darum insbesondere für Heranwachsende regelrechte Kreativitätsverhinderer. Gerade in der produzierenden Beschäftigung mit Kunst können dagegen die nötigen Freiräume eröffnet werden, um das eigene kreative Potential zu erkunden. Als wesentliches Resultat kann festgehalten werden, dass das Hinterfragen und Aufbrechen alter Seh- und Denkgewohnheiten, das Finden neuer und Tolerieren ungewohnter Sichtweisen und das Vermitteln medialer Kompetenz wesentliche pädagogische Aufgaben der Kunsterziehung sind. So sind der Stil und die Sehgewohnheiten der jeweiligen Gegenwart für den Zeitgenossen meist völlig transparent und mithin nicht wahrnehmbar. Dennoch ist unsere Wirklichkeit von unseren Sichtweisen geprägt. Selbst die Tagesschau wird inszeniert: Ein Heer von Masken- und Bühnenbildnern
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gestaltet die visuelle Erscheinungsweise, Texter formulieren die Texte und bereits die Auswahl der Themen aus der Flut der verfügbaren Nachrichten beinhaltet eine subjektive Wertung. Damit ist auch die Tagesschau Ausdruck einer subjektiven, oder vielleicht eher kollektiven, Sichtweise. Wen daran Zweifel quälen, der möge sich einmal die Tagesschau von vor dreißig Jahren ansehen oder unsere Nachrichten mit Berichten zu denselben Ereignissen aus anderen Ländern vergleichen. Wirklichkeit lässt sich immer nur in einer jeweils bestimmten Sichtweise ins Bild setzen, daran gibt es nichts zu rütteln und das ist auch völlig in Ordnung. Kritisch wird es im Sinne einer echten Demokratie dort, wo eine Sichtweise zu der einzigen, objektiven Wirklichkeit, dem allgemein verbindlichen Weltbild stilisiert wird. Kunst aber schult den Umgang mit Sichtweisen und Weltbildern. Sicher gibt es noch viele andere Gründe für künstlerische Betätigung, und die Frage nach dem schnöden Nutzen derselben sollte nicht unbedingt im Mittelpunkt stehen: Leidenschaft, Berufung, innerer Drang, Spaß und vieles andere mehr ist eigentlich wichtiger. Aber das Ziel dieses Textes war es, der Kunstpädagogik in diesen schwierigen Post-PISA-Zeiten argumentative Schützenhilfe zu leisten. Sollten dem geneigten Leser einige meiner Argumente tatsächlich dafür nutzbringend erscheinen, so wäre ich bereits zufrieden.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Siehe GEO-Wissen 31/2002, 50 f. ANGRIST & LAVY 2002 BASTIAN 2000 Siehe KANT 1963 Vergleiche DANTO 1999 Diesen Schluss zieht beispielsweise VON KUTSCHERA 1989. Die folgende Darstellung beruht auf DAMASIO 1997. JAMES 1884 und 1892, aber auch DAMASIO 1997 Siehe LÜER, LASS & KLETTKE 1989 Für eine zusammenfassende Darstellung siehe PIECHA 2001 KANT 1963 war offenbar gegenteiliger Ansicht. Vergleiche PIECHA 2002, 2004a und 2004b Für Details siehe PIECHA 2002 und 2004a Siehe PIECHA 2004b Vergleiche TRAPP 1997 CHILD 1962 & 1965 KOESTLER 1966 HADAMARD 1954 Vergleiche BODEN 1992
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Literatur Joshua ANGRIST & Victor LAVY 2002, New Evidence on Classroom Computers and Pupil Learning. In: The Economic Journal, Vol. 112 Issue 482 Hans Günther BASTIAN 2000, Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen. Mainz Margaret A. BODEN 1992, Die Flügel des Geistes – Kreativität und künstliche Intelligenz, München I. L. CHILD 1962, Personality preferences as an expression of aesthetic sensitivity. In: Journal of Personality 1962/30, 496–512 I. L. CHILD 1965, Personality correlates of aesthetic judgements in college students. In: Journal of Personality 1965/33, 476–511 Antonio R. DAMASIO 1997: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München. Arthur C. DANTO 1999: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst (engl. 1981) Frankfurt am Main. Jacques HADAMARD 1954: An essay on the psychology of invention in the mathematical field. New York. William JAMES 1884, What is an Emotion? In: Mind 9, 188–205. William JAMES 1892, Psychology. Cleveland/New York. Immanuel KANT 1963, Die Kritik der Urteilskraft (1790, 21793, 31799). Stuttgart. Arthur KOESTLER 1966, Der Göttliche Funke: Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft. Bern/München/Wien. Franz von KUTSCHERA 1989, Ästhetik. Berlin/New York. G. LÜER, U. LASS & W. KLETTKE 1989, Emotionale Bewertungen als Einflußfaktoren auf die gedächtnismäßige Speicherung von strukturellen Merkmalen visueller Stimuli. In: Denken und Fühlen. Aspekte kognitiv-emotionaler Wechselwirkung. Hrsg. von E. ROTH, Berlin, Heidelberg, S. 134-145. Alexander PIECHA 2001, Wahrnehmung, Emotion und Denken. In: Conceptus XXXIV, Nr. 84 (im Druck). Alexander PIECHA 2002, Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile. Paderborn Alexander PIECHA 2004a, Wahre Schönheit? In: Kunst und Kognition. Hrsg. von Christoph JÄGER, Paderborn (im Druck). Alexander PIECHA 2004b, Schön und Gut. Die Frage nach der Objektivierbarkeit von Werturteilen. In: Markt, Wert, Gefühle. Hrsg. von Maria Elisabeth REICHER, Graz (im Druck). Rainer TRAPP 1997, Sind moralische Aussagen objektiv wahr? In: Das weite Spektrum der Analytischen Philosophie. Festschrift für Franz von Kutschera. Hrsg. v. Wolfgang LENZEN. Berlin/New York.
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Kunst und Kunstvermittlung in der Schule Möglichkeiten des Denkbaren und Machbaren Am 8.4.2003 konnte man in den Tageszeitungen ein AP-Foto mit US-Soldaten des 7. Infanterieregiments im Hauptpalast von Saddam Hussein sehen. Das Bild eignet sich gut zum Vergleich mit dem Gemälde »Im Etappenquartier« von Anton von Werner von 1894, das eine Szene aus der Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 darstellen soll. Im Jahr 1894 führte Anton von Werner sein Gemälde »Im Etappenquartier« (Abb.: Staatliche Museen zu Berlin/Nationalgalerie) aus. Der Maler von Werner war so etwas wie ein »embedded painter« des Frankreichkrieges. Sein Bild geht zurück auf eine Reiseimpression, die er – unterwegs mit einem Trainkommando – festgehalten hatte. In Brunoy hatten sich die Reisenden in einem verlassenen Schlösschen einquartiert, das von der allein mit ihrer kleinen Tochter zurückgebliebenen Concierge bewacht wurde. Das Gemälde zeigt die Soldaten, wie sie es sich im requirierten Schloss gut gehen lassen. Die Szene verströmt biedere Behaglichkeit und eher gusseisernes wilhelminisches Savoir-vivre. Die schlammbespritzten Stiefel und das verstreute Brennholz veranschaulichen, dass man sich nicht einschüchtern lässt vom kostbaren Rokoko-Interieur. Ein Ulan hat Pickelhaube und Seitengewehr abgelegt; eine Hand salopp in der Hosentasche, die Wangen gerötet vom Genuss des edlen Tropfens, von dem man einige Bouteillen aus dem Weinkeller geholt hat, bringt er ein Ständchen zu Gehör, wobei er von einem Kameraden am Flügel akkompagniert wird. Im bequemen Fauteuil des Hausherrn lümmelt sich ein respektloser Offizier. Lässig lässt er ein Bein über die Armlehne baumeln. Zwei andere Kameraden haben ihre Porzellanpfeifen angesteckt und rauchen. Nur wenige Details in diesem Bild einer freundlichen Übernahme deuten auf die weniger freundlichen Züge von Besatzern hin. Einer der Ulanen fraternisiert mit der von der Musik angelockten Concierge, ein anderer untersucht die Lampe nach Docht und Petroleum, rar gewordene Ressourcen, ohne ein Auge zu haben für die kostbare Pendeluhr auf dem Kaminsims, die wert-
Clemens Höxter
vollen Vasen, Gemälde und andere Preziosen. Mit größter Natürlichkeit bewegen sich die Troupiers in diesem luxuriösen Ambiente, brave deutsche Soldaten nach dem Zapfenstreich. Ihrer hemdsärmeligen Nonchalance und der ostentativen Laxheit ihrer Manieren eignet nichts von der triumphalen Arroganz der Macht; sie bringt vielmehr die Gleichgültigkeit des deutschen Soldaten zum Ausdruck, den Pomp und Verschwendungssucht unbeeindruckt lassen und der die schlichten Genüsse trauten Musizierens bei Kaminfeuer und einen kräftigen »Schluck aus der Pulle« französischem Raffinement vorzieht.
Anton von Werner: Im Etappenquartier vor Paris am 24. Oktober 1870 (1894) Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Alte Nationalgalerie
Ganz anders als das populäre Genrebild von Werners das Foto amerikanischer Soldaten des 7. Infanterieregiments, die nach der Besetzung des Hauptpalastes von Saddam Hussein souveräne Lässigkeit zur Schau tragen. Auch sie rauchen die Zigarette danach und fläzen sich in zierlichen Sesseln. Während von Werners Gemälde sorgfältig komponiert ist, handelt es sich hier um ein tableau vivant, arrangiert von den Befehlshabern der amerikanischen Streitkräfte selbst. Hat der Fotograf das in der Gründerzeit weit verbreitete Bild v. Werners möglicherweise zitieren wollen und deshalb ein Kriegsbild inszeniert, statt einen realen Vorgang zu dokumentieren? (Besonders gut zu sehen, wenn man v. Werners Bild seitenverkehrt zeigt.)
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Kunst und Kunstvermittlung in der Schule. Möglichkeiten des Denkbaren und Machbaren
»Amerikaner im Zentrum der irakischen Macht: Nach der Besetzung des Hauptpalastes von Präsident Saddam Hussein am Tigrisufer genießen US-Sergeant Chad Touchett und seine Kameraden vom 7. Infanterieregiment die Ruhe nach dem Sturm. Ihr Vorstoß zielte auf eines der Symbole des Machtsystems in Bagdad.«
Genauso wie das Vorrücken der amerikanischen und britischen Truppen auf die strategisch bedeutungslosen Paläste Saddams Akte der symbolischen Entmachtung darstellen, sind die Bilder der Soldaten im Ameublement des Diktators Dokumente einer Thronbesteigung von großem inszenatorischen Aplomb. Ich erinnere an die immer wieder gezeigten Aufnahmen eines BBCReporters, der die Fernsehzuschauer wie ein Cicerone durch die Säle des Präsidentenpalastes in Basra führt, die Aufmerksamkeit auf die Deckenschnitzereien lenkt, auf die Marmorintarsien und Wasserhähne mit 24-KaratGoldauflage in den Badezimmern – all das um den Luxus zu zeigen, in dem Saddam auf Kosten seines Volkes schwelgte, den sybaritischen Pomp und die Verschwendungssucht als Insignien eines zynischen Sonnenkönigs. Ironischerweise zeigen beide Bilder Rokoko-Interieurs, ausgestaltet in einem Stil, der geradezu emblematisch für Dekadenz und Marasmus steht. Das Rokoko ist aber auch die Epoche, mit der man den Topos der Verwechslung, des Maskenscherzes assoziiert, jenes Quidproquos, das etwa Arthur Schnitzler in seiner Revolutionskomödie »Der grüne Kakadu« zitiert. Dort spielen die
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Citoyens von Paris den Aristokraten des Ancien Régime ihre Entmachtung vor, welche nicht ahnen, dass die Bühnenillusion von der Wirklichkeit längst eingeholt wurde. In Ödon von Horvaths Beaumarchais-Fortschreibung »Figaro lässt sich scheiden« gewährt der vormalige Kammerdiener nach der Revolution seinem einstigen Herrn Aufnahme in das in ein Kinderheim umgewandelte Schloss mit den Worten, die wahre Revolution wäre die, die es »nicht mehr nötig hat, Menschen in den Keller zu sperren, die nichts dafür können, ihre Feinde zu sein«. Beide Stücke (Schnitzler und Horvath) zitieren die Rokoko-Motive des Rollentauschs von Herr und Diener, der verkehrten Welt mit einer Ahnung darum, dass die Auslöschung der Vergangenheit deren machtvolle Wiederkehr vorbereitet. Auch unsere beiden Bilder verdanken ihren Reiz dem Kontrast von der »Realität« zum Bühnen- und Kostümbild, dem Aufeinanderprallen verschiedener Jahrhunderte und ihrer Mentalitäten. Während die Soldaten des Deutsch-Französischen Krieges sich zwanglos gehen lassen (bzw. der Maler sie uns so schildert), sind die GIs sichtlich verunsichert, weil sie wissen, dass sie beobachtet werden. Nur einer von ihnen scheint seine historische Rolle zu genießen und sich dessen bewusst zu sein, dass die Zigarre aus dem Humidor des Hausherrn ein wichtiges Requisit der psychologischen Kriegsführung ist. Es soll die Irakis auf den Geschmack von Freiheit und Abenteuer bringen. Der kurze Bildvergleich zeigt, dass zum Verstehen von Bildern über den subjektiven Zugriff hinaus ästhetische Objekte und Situationen Bestandteil einer mehrperspektivischen Bearbeitung werden können bzw. müssen. Die Vorstellung und Vermittlung solcher Zugriffsweisen sind das Spezifikum des Schulfaches Kunst. Nur der Kunstunterricht setzt sich in dieser Form mit dem Visuellen, dem Bild als Bild, auseinander. Das schließt auch die Notwendigkeit ein, ästhetische Objekte – vorgegebene wie selbst hergestellte – in ihren kunst- und kulturgeschichtlichen Kontexten zu begreifen, um die Praxis vor dem Verlust an historischem Bewusstsein zu bewahren. Beim Herstellen von Bildern reichen weder Selbstverwirklichung, Bildgrammatik noch individueller Lustgewinn als Begründung aus. Ich will versuchen, unabhängig von fachdidaktischen Modetrends und individuellen Ansichten einzelner Fachdidaktiker zu klären, was den Inhalt des Faches Kunst ausmacht. Meine Anmerkungen sind nur privat und sollen auch mehr nicht sein. Sie beziehen sich auf das tägliche Erlebnis, mit jungen
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Leuten umzugehen, auf Fragen, Widersprüche und Beobachtungen, die sich speziell auf mein Fach richten. Dabei soll das Schwergewicht auf den Unterricht im Fach Kunst in der gymnasialen Oberstufe gelegt werden. Folgende allgemeine Formel für den Inhalt des Faches Kunst soll zur Diskussion gestellt werden: Die Schüler sollen das Umgehen mit Bildern lernen. Warum? Exemplarisch sei hier der Göttinger Forscher und Hochschullehrer Siegfried Frey und seine Studie »Die Macht des Bildes. Der Einfluss der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik« genannt, wo Frey folgende Aussage trifft: »Ein halbes Jahrtausend nach Gutenberg stehen wir am Vorabend einer Entwicklung, die man als visuelle Zeitenwende beschreiben könnte. In kurzer Zeitspanne, seit die Bilder laufen lernten, haben sie – nicht zuletzt bedingt durch die explosionsartige Entwicklung des Fernsehens – eine Autorität über die Vorstellungskraft gewonnen, die das gedruckte Wort gestern hatte und das gesprochene davor. Der technologische Fortschritt im Bereich der Bewegtbildkommunikation wird diesen Trend noch verstärken, dass die Balance zwischen Auge und Ohr im Kommunikationsprozess sich immer mehr in Richtung auf das Visuelle verschiebt.« Der Autor beschreibt, dass Kommunikation sich immer mehr durch Bilder und begleitet von Bildern vollzieht. In Mediengesellschaften verbürgen erst Bilder die Glaubwürdigkeit des Gesagten. Bilder wandern in die Schulbücher aller Fächer ein, unterlagern atmosphärisch Texte, werden zur eigenen Erkenntnisquelle. Trotz der Zunahme bildsprachlicher Suggestion ist »visueller Analphabetismus« weit verbreitet. Den Begriff des »Visuellen Analphabetismus« prägte bereits Anfang der 70er. Jahre der amerikanische Curriculumforscher Saul B. Robinson. Er wies darauf hin, dass Kinder und Jugendliche durch einen sich dynamisch entwickelnden Medienkonsum – damals war dies vor allem das Fernsehen – überfordert seien und der Bilderflut hilflos gegenüberstehen würden. Mehr denn je sind vor dem Hintergrund einer sich immer dynamischer entwickelnden Medienindustrie und der Neuen Medien die Umwelt und Alltagskultur von Kindern und Jugendlichen durch eine Allgegenwart der Bilder geprägt. Der Anteil digital erzeugter Bilder, deren Träger ihren Benutzern
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Formen und Möglichkeiten der Bildproduktion und Bildgestaltung vorschreiben, ohne ihnen mögliche kreative Potentiale, die darin liegen, zu öffnen, scheint immer mehr die Bildwahrnehmung zu bestimmen. So erfolgt zwar passives Beeinflusstwerden, aber kein Durchschauen der Gesetzmäßigkeiten, kein aktives Anwenden-Können. Durch passive Rezeption der »Bilderflut« werden Lernchancen im Bildhaften vertan. Doch Bilder sind Zeichen, Stellungnahmen, visuelle Begrifflichkeiten. Sie folgen einer visuellen Grammatik. Sie zu strukturieren, zu entschlüsseln, als Sprache zu verstehen, macht Bilder nicht zu Konkurrenten der verbalen Sprache, sondern zur ergänzenden Erweiterung. Umgehen mit Bildern löst Forderungen der PISA-Studie nach dem Verstehen von Beziehungen, dem Vergleichen, Kontrastieren, Kategorisieren von Bedeutungen ein. Im Kunstunterricht erlangte Kompetenzen kommen folglich anderen schulischen Disziplinen zugute. Der Münchner Wissenschaftler Bernd Wiedemann hat bereits 1994 darauf hingewiesen, dass die »visuelle/ piktorale Literalität«, Bilder lesen, interpretieren und daraus Wissen ziehen zu können, in unserem Bildungssystem erheblich unterschätzt wird: »man lernt zwar Lesen, Schreiben und Rechnen, aber nicht systematisch den Umgang mit bildlichen Codes. Bilder gelten in der Regel als Lernhilfen, die man einsetzt, um Sprachen und Zahlen verständlicher zu machen. Dass aber Bilder selbst erst einmal verstanden werden müssen, wird meistens nicht einkalkuliert.« Da es sich bei jeder Form bildhafter Darstellung um die Auseinandersetzung mit einer Sache, um ein Gespräch, um Kommunikation mit einem Gegenüber handelt, bleibt auch in der Schule der Grundsatz erhalten, Sprache oder Gedanken in Bildern mitzuteilen oder aus Bildern Absichten und Vorstellungen des Herstellers herauszulesen. So betrachtet ist die Sprache der Bilder eine Fremdsprache. Zu lehren, sie zu verstehen und praktisch anzuwenden ist Aufgabe der Schule. Das Herstellen und Verstehen von Bildern bedarf der Reflexion im Medium der Sprache. Prozesse des Herstellens und Verstehens von Bildern sind dann produktiv, wenn sich die Tätigkeit auf Inhalte richtet, die für die Lernenden subjektiv und gesellschaftlich bedeutsam sind und wenn der Lösungsweg zu einem für den Lernenden relevanten Ergebnis führt.
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Schüler sollen den Umgang mit Bildern lernen Diese Formel enthält einen Verhaltens- und einen Gegenstandsaspekt. Sie beschreibt ein Verhalten mit Gegenständen. Das Verhalten ist das »Umgehen«, und die Gegenstände werden mit »Bildern« bezeichnet. Mit den Gegenständen des Faches Kunst will ich mich etwas ausführlicher beschäftigen. Sie enthalten das eigentlich Fachspezifische. Alle visuell wahrnehmbaren Gegenstände und Erscheinungen, seien sie flächig, räumlich, körperhaft oder lichtförmig, sollen »Bilder« genannt werden, wenn sie so gesehen werden, dass sie als materielle Formgebilde Sinn und Bedeutung vermitteln und auf menschliches Verhalten beim Denken, Fühlen und Handeln einwirken. Bilder sind ein Bestandteil von Wirklichkeit. In der Bilderwelt ist das Bild der Welt enthalten. Unterricht über und mit Hilfe von Bildern gibt deshalb Aufschluss und Erkenntnisse über die Welt und über uns selbst. Folglich kann als oberstes Ziel von Unterricht im Fach Kunst der Gewinn von Welt- und Selbsterkenntnis durch das Umgehen mit Bildern benannt werden. Auf dem Wege zu diesem Erkenntnisziel werden Verhaltensziele angestrebt, die der Schule ebenfalls aufgegeben sind, z. B. die Fähigkeit zur Kreativität, zur Emotionalität, zur Rationalität und zur Sensibilität, die Fähigkeit zum verantwortungsvollen und sozialen Handeln, die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem, zwischen Brauchbarem und Unbrauchbarem, zwischen Richtigem und Falschem, zwischen Gutem und Bösem. Diese Fähigkeit zur Unterscheidung wird auch Kritikfähigkeit genannt. Sie soll zu einem abwägenden Urteilen und Werten führen. Kritikfähigkeit ist so verstanden eher eine Urteilsfähigkeit. Bilder können von drei Aspekten her erschlossen werden, die in ihrer Gesamtheit erst eine annähernd vollständige Anschauung von Bildern ergeben. • • •
Der ästhetische Aspekt bezieht sich auf das Aussehen, die Beschaffenheit des Bildes in Material, Form und Farbe. Der symbolische Aspekt beschreibt das Bild als Zeichen, als Bedeutungsund Sinnträger, als Transportmittel für Aussagen. Der funktionale Aspekt verweist auf die Wirkung und den Gebrauch des Bildes in historischen und gesellschaftlichen Situationen von einzelnen Menschen und von Menschengruppen.
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Vorläufiges Zwischenergebnis Der komplexe Gegenstand Bild wird über drei Aspekte: Ästhetik, Symbol, Funktion erschlossen. Der Zugriff erfolgt sowohl produktiv als auch rezeptiv, in jedem Fall aber zugleich auch wertend. Bei aller Anerkennung der Gleichgewichtigkeit der drei Aspekte muss festgestellt werden, dass ein gleichzeitiges Erfassen nicht möglich ist und dass deshalb eine Reihenfolge des Vorgehens notwendig ist. Bekanntlich entscheidet aber auch die Reihenfolge der Schritte in einer Methode über das Ergebnis. Mit Blick auf diesen Sachverhalt muss nun festgestellt werden, dass es Bilder gibt, die durch die Absichten, die mit ihrer Herstellung bzw. mit ihrer Betrachtung und Verwendung verbunden sind, zumindest den Einstieg über einen bestimmten Aspekt herausfordern. Mit der Erläuterung des Zusammenhangs zwischen Bildaspekten und Bildsorten wird auch die Notwendigkeit begründet, dass im Fach Kunst die drei Sachbereiche »Bildende Kunst«, »Gestaltete Umwelt« und »Visuelle Massenmedien« bearbeitet werden. Unter der Voraussetzung, dass der Schüler im Fach Kunst das methodenbewusste Umgehen mit Bildern lernen soll, ist es unumgänglich ihn den Zusammenhang zwischen Bildaspekten und Bildsorten in der gesamten Komplexität erfahren zu lassen. Die Begriffe Bildende Kunst, Visuelle Massenmedien, Gestaltete Umwelt umgreifen den gesamten Bereich optischer Kultur und müssten deshalb mit Schülern von mir zu bearbeiten sein. Und weil Bilder immer aus Bildern entstehen und keine bloßen Spiegelungen von Realität sind, selbst wenn sie sich auf die Realität beziehen, müssen Schüler in die »Schatzhäuser der Kunst« geführt werden, um die lange Vergangenheit ihrer gegenwärtigen Bildvorstellungen kennen zu lernen: in die Museen. Das Erbe darf nicht verschleudert, sondern muss immer wieder aufgearbeitet werden. Kunstpädagogik ist ohne Museumspädagogik nicht zu denken. Das Selbstverständnis des Schulfaches »Kunst« hat in den vergangenen 20 Jahren zu wesentlichen inhaltlichen Erweiterungen geführt. Dabei wurden in intensiven und teilweise kontroversen Fachdiskussionen immer wieder neue Sachgebiete in das Strickmuster der Kunstdidaktik eingepasst. Viele gute Beispiele zeigen, dass sich das Fach Kunst, wie andere frühere Nebenfächer auch, als Oberstufen- und Abiturfachfach unter dem Stern der Wissenschafts-
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propädeutik bewährt hat. Es ist ein Fach, in dem die Schüler über die traditionellen praktischen Erfahrungen hinaus eine umfassende Skala transferierbarer Fertigkeiten sowohl im Hinblick auf Studierfähigkeit als auch auf Persönlichkeitsbildung lernen können. Diese im Einzelfall hart erarbeitete, neue, hohe Wertigkeit des Faches Kunst hatte wesentliche Rückwirkungen auf den Unterricht in der Mittelstufe. Der Kunstunterricht hatte Zubringerfunktion erhalten für mögliche Kurse in der Oberstufe. Zur Artikulation mit künstlerischen Medien gehört nicht nur die Benutzung des Borstenpinsels, sondern auch die inhaltliche Bewältigung von Anlässen. Dazu ist Arbeit erforderlich, deren Ziel es sein muss, jeden einzelnen Schüler so in die Thematik einzuspannen, dass er sich möglichst selbständig und kompetent äußern kann. Es ist deshalb nur scheinbar progressiv, wenn Schüler z. B. unter dem unterrichtlichen Oberbegriff »Plakate gegen die zerstörte Natur« stereotype, optisch abgegriffene Klischees anbieten, wie die Blechdose im Fluss, den Baum ohne Blätter, das Gänseblümchen im Asphalt. Es müsste hier durchaus intensiver sein, mit kompetenten Fachleuten zusammen dieses Problem zu erörtern, um den Schülern den riesigen Komplex von wirtschaftlichen, soziologischen und ökologischen Komponenten zu vermitteln, die für die Situation der Natur zuständig sind. Solchen Unterricht zu organisieren überfordert aber in der Regel schon den klassischen Organisationsrahmen der Schule, in dem jeder Lehrer seinen Unterricht selber macht. Es gibt Kollegen, die sich an die grundsätzliche und umfassende inhaltliche Information und Bearbeitung selber herantrauen, wenn ich auch die Befürchtung habe, dass sich auf diese Weise in Spezialgebiete allzu leicht unwissenschaftliche Halbwahrheiten und Vereinfachungen einschleichen, weil ein Kunsterzieher hier selbstverständlich Autodidakt sein muss. Dann ist es sicher viel besser, wenn die Schüler auf der Stufe ihrer Möglichkeiten sich selbst Information beschaffen, wenn sie Inhalte bearbeiten, die sie direkt betreffen oder die sie nachvollziehen können. Im Kunstunterricht muss deshalb über längere Strecken auch theoretisch gearbeitet werden. Dann allerdings sind im Kunstunterricht auch ganz andere als die traditionellen Bildlösungen zu erwarten: Tabellen, Protokolle, Referate, Umfragen, Tonbandaufnahmen. Die aber kann man sich nicht an die Wand hängen, sie sind nicht hübsch, nicht dekorativ. Solche Kunst muss auch nicht unbedingt Spaß machen. So genannter Kunstgenuss ist hier kaum möglich.
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Und könnte nicht ein Weg sein, die lähmende Fessel geist- und kulturtötenden Unterhaltungsmaschinen zu sprengen und dem Experiment und der Kreativität mehr Raum zu geben, eine Schule sein, die sich intensiv auf die flimmernde Illusion der Wirklichkeit einstellt, die von mir erwartet, Schüler zu kritischem Umgang mit allen Medien zu bringen, damit aus der gedanklichen Distanz eine souveräne neue Kreativität entstehen kann, und die jungen Leute nicht mit der gewaltigen Verführungsmaschine der modernen Bildindustrie allein lässt. Für Schüler ist der Einfluss der Massenmedien und die damit zusammenhängende Urteilsbeeinflussung durch Statussymbole und Idole von so großer Bedeutung, dass emanzipiertes Verhalten im optischen Bereich nur durch genaue Kenntnis und bewusste Verarbeitung aller Bildmedien, die auf sie Einfluss nehmen, erreichbar sein kann. Es ist deshalb, bei aller akademischen Liebe zum 6B-Stift, nicht nur wichtig, Schülern die Qualität eines lockeren graphischen Strichs, sondern vielmehr das Verständnis von Produktion und Konsumtion digitaler Bildaufzeichnung zu vermitteln, denn mikroelektronische Produktionstechniken von Bildern und deren Verwendbarkeit und Folgen betreffen die Gegenwart der Schüler mehr als eine Zeichnung von Horst Janssen. Das inhaltliche Ergebnis mag in der Regel recht schlicht ausfallen, weil – wie oben schon angemerkt – allein die sachliche Durchdringung der komplexen Einzelbereiche und deren methodische Aufbereitung auf das Niveau von Unterricht für einen Lehrer eine glatte Überforderung darstellt. Dennoch: Die Einsicht nach der Notwendigkeit, den gesamten Bereich der optisch wahrnehmbaren Welt in den Kunstunterricht einzubauen, erzeugt in mir ständige Unruhe und auch den Zweifel an meinen eigenen Fähigkeiten, weil der Berg der inhaltlichen Anforderungen nicht so einfach wegzuschaufeln ist. Hier drängt sich die Vision von der Notwendigkeit einer Art neuen Bauhauses auf, das nicht Kunst und Technik, sondern Kunst und alle modernen Medien koppelt. Sicherlich wären auch Kunstschulen mit einer entsprechenden ästhetischen Früherziehung erforderlich, etwa nach dem Vorbild der Jugendmusikschulen. Ein gelungenes Beispiel für die Verknüpfung außerschulischer und schulischer Arbeit zeigt z. B. das »sense&cyber«-Projekt der Jugendkunstschulen, ein unter dem Gesichtspunkt der Übertragbarkeit ent-
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wickeltes Modell für »Ästhetisches Lernen im Kontext von Kunst mit neuen und alten Medien«. Ich habe zu verdeutlichen versucht, dass das pure Dasein des Faches Kunst allein nicht genügt, es muss mit Inhalten gefüllt werden, dann vermag es Zugänge zu einer viel zu wenig beachteten Welt der Gefühle und Empfindungen zu ebnen und Vertrauen in Fähigkeiten zu wecken, die eine einseitig an Wissenschaft und Realität orientierte Schule nicht mehr anzusprechen vermag. Voraussetzung für einen solchen Weg ist es zunächst einmal, dem Fach eine zeitliche Basis zu schaffen, auf der es seinen Auftrag erfüllen kann. Im Vergleich zu den Vorstellungen der »Studienstufe« von 1972 (vgl. »Empfehlungen zur Arbeit in der gymnasialen Oberstufe gemäß Vereinbarung zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II – Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 7. Juli 1972«, »Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 2.2.77 Er1.MK vom 31.5.78, Arbeit in der gymnasialen Oberstufe, SVBI. S.162«) sind die Wahlmöglichkeiten für ein Unterrichtsfach Kunst in der Vergangenheit immer wieder erheblich eingeschränkt, der Anteil so genannter verpflichtender Kernfächer dagegen ständig vergrößert worden. Man muss befürchten, dass Fächer, die außerhalb des Pflichtkanons in geringerem Maße gewählt werden, als Nicht-Kernfächer wieder zu Fächern geringerer Bedeutung werden. Eine Rückwirkung auch auf den Unterricht in der Mittelstufe wäre damit unvermeidlich. Es besteht die Gefahr, dass Kunstunterricht wieder zum »musischen Kompensationsfach« wird, zum Begabungs-, Entlastungs- und Dekorationsfach.
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Bilden mit Musik Zwischen der Inszenierung ästhetischer Erfahrungssituationen und systematisch-aufbauendem Musiklernen Musik und Bildung Mit Neid schaut die Musikpädagogik auf ihre Nachbardisziplin, die Kunstpädagogik. »Bilden mit Kunst« – das liegt nahe. Schon ihr Name scheint es der Bildenden Kunst leicht zu machen mit der Einfädelung in pädagogische Diskurse. »Bilden mit Musik« – das ist viel weniger selbstverständlich. Lange verstrickte sich die Musikpädagogik in einen fruchtlosen Streit zwischen Vertretern einer »Erziehung durch Musik«, die auf die erzieherischen Wirkungen von Musik setzten, und solchen einer »Erziehung zur Musik«, denen an kulturvermittelnden Maßnahmen gelegen war.1 Doch Bildung lässt sich auch durch die beste Musik nicht bewirken, und Kultur, die Bildung bedeuten könnte, muss vom Einzelnen selbst erschlossen werden, sie lässt sich nicht erziehend vermitteln. Dass die Chancen des Bildungsbegriffes musikpädagogisch wenig genutzt werden, liegt auch am umstrittenen Kunstanspruch von Musik, der ihr erst einen festen Platz im Kanon sichern könnte. Denn auch wenn es allgemein üblich ist, die Musik zu den Künsten zu zählen, so lässt sich doch bezweifeln, ob alle Musik Tonkunst und ob eine solche Auszeichnung überhaupt in jedem Fall anstrebenswert ist. Die Fans von Boygroups, die Musiker eines Mariachi-Ensembles oder die Produzenten von Techno-Nummern verzichten gerne auf das Prädikat »Kunstmusik«, das ihnen in der Regel vorenthalten wird. Solange also in der Musikpädagogik die Vorstellung herrscht, nur die Begegnung mit in einem spezifisch abendländischen Sinne kunstvoller Musik sei bildend und die Bildungsaufgabe müsse daher in der Hinführung zur Kunstmusik bestehen, bleiben populäre Musik und Musik anderer als europäischer Kulturen aus der Unterrichtspraxis weitgehend ausgegrenzt bzw. werden lediglich als Mittel auf dem Weg zu den eigentlich bedeutsamen Werken genutzt. Sobald die Musikpädagogik sich aber für alle Formen von Musik zuständig fühlt, erscheint manchem die Rede von musikalischer Bil-
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dung ungeeignet. Heute, wo das Populäre – vom Rock´n´Roll bis zum jüngsten HipHop-Titel – seinen festen Platz im Musikunterricht gefunden hat, ersetzt deshalb häufig der Lernbegriff das Thema Bildung.2 Das ist ein Gewinn auf der einen, der mit einem Verlust auf der anderen Seite erkauft wurde; doch letzterer ist m. E. vermeidbar. Statt auf den Bildungsbegriff zu verzichten, sollte sich die Musikpädagogik lieber noch einmal dem Kunstbegriff widmen und ihn ästhetisch wenden. Aus »Bilden mit Kunst« wird so »Ästhetische Bildung«.3 Bevor erläutert wird, was das musikpädagogisch heißen kann, soll darauf hingewiesen werden, dass eine andere Option, die dem Schulfach »Kunst« zur Verfügung stand oder steht, um sich Bildungs- und Erziehungsaufträge zu eigen zu machen, im Fach »Musik« wenig Spielraum hatte und hat. Aufklärerische Ansätze, die z. B. den Titel »Visuelle Kommunikation« tragen können, gemäß denen Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit erwerben sollen, Bilder – etwa auch solche aus der Tagespresse oder dem Fernsehen – kritisch zu interpretieren, indem sie die Zeichen »lesen« lernen, statt ihren Wirkungen hilflos ausgeliefert zu sein, mögen im Bereich visueller Wahrnehmung überzeugend sein. Doch in musikalischen Zusammenhängen kann eine vergleichbare Erziehung zur Mündigkeit durch »Lesekompetenz« vielleicht zur Geschmacksbildung angesichts kulturindustrieller Erzeugnisse beitragen: Zur kritischen Orientierung im politischen Leben ist sie weniger hilfreich. Im Folgenden ist vorwiegend von der musikpädagogischen Praxis an Allgemeinbildenden Schulen die Rede, doch für Musikschulen stellen sich die Probleme im Grunde nicht viel anders dar. Zwar sind Sinn- und Legitimationsfragen hier nicht mit Schulpflicht, Fächerkanon, Versetzungsrelevanz und Hochschulreife verbunden, wohl aber beispielsweise mit dem Anspruch auf öffentliche Förderung und Finanzierung. Zwar arbeiten Musikschulen in der Regel vergleichsweise kundenorientiert, doch die Frage nach musikalischer Bildung stellt sich auch hier. Außerdem hat sich das Angebot, das Musikschulen machen, längst deutlich erweitert: Obwohl das Paradigma noch immer der 10-jährige Klavierschüler sein mag, der im Einzelunterricht am Instrument klassische Musikstücke erlernt, wird die Aufgabe der Musikpädagogik an Musikschulen darüber hinaus definiert durch KeyboardGruppenunterricht, Stunden für E-Gitarre, Bandtraining, Kurse für Elementare Musikpädagogik für Kinder und Senioren, Musiktheater-Arbeit usw.
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Noch unzureichend wird dieser Wandel allerdings begleitet von der notwendigen musikpädagogischen Reflexion und Theoriebildung, erst langsam werden Methodikfragen, die technische Übungen im Instrumentalunterricht betreffen, ergänzt durch eine Auseinandersetzung mit den allgemeineren Problemen des Musiklernens in der Lebensspanne. Ästhetische Bildung Die grundsätzliche Frage, der sich die Musikpädagogik – egal in welchem Handlungszusammenhang – stellen muss, lautet: »Wie kann musikalische Praxis (im weitesten Sinne verstanden: als Hören und Machen von Musik, als Sprechen über und Tanzen zu Musik etc.) Bedeutung für Bildungsprozesse erlangen?« Hier wird folgende Antwort vorgeschlagen: als ästhetische Praxis, d. h. als Praxis, in der die Beteiligten ästhetisch wahrnehmen und ästhetisch urteilen. Musikalische Bildung – so der Gedanke – kann stattfinden, wenn Menschen im Umgang mit Musik ästhetische Erfahrungen machen. Musikpädagogisches Handeln sollte deshalb vielfältige Räume für musikalisches Handeln eröffnen, in denen solche ästhetischen Erfahrungen möglich sind, angeregt und unterstützt werden. Mit Hilfe des Konzepts des Ästhetischen kann die Frage nach der Bildungsrelevanz der Musik beantwortet werden, ohne dass auf die Unterscheidung zwischen Kunstmusik und populärer Musik zurückgegriffen werden muss und ohne dass der Streit zwischen »Erziehung durch Musik« und »Erziehung zur Musik« fortgesetzt werden müsste.4 Doch die Antwort »als ästhetische Praxis« ist alles andere als selbstverständlich, sie ist erläuterungsbedürftig, und sie ist umstritten. Sie ist nicht selbstverständlich, weil der Umgang mit Musik auch ein anderer als ein ästhetischer sein kann: Musik kann analysiert werden, indem man z. B. Formteile oder harmonische Verläufe beschreibt; sie kann Gegenstand sozialgeschichtlicher Untersuchungen werden; Musik kann nach bestimmten Regeln – etwa denen des vierstimmigen Satzes unter Vermeidung von Quintparallelen – oder als Stilkopie hergestellt werden; sie kann nach Epochen klassifiziert werden; Rhythmen können nachgeklatscht, Noten abgespielt werden. Das alles wird gerne gemacht – auch im Musikunterricht, und es will zweifellos gelernt sein, doch erst wenn diese musikbezogenen Tätigkeiten Teil ästhetischer Praxis sind, sollte – so lautet die Behauptung – von Bildung die Rede sein.
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Die Antwort ist umstritten. Grundsätzliche Bedenken kommen von Klaus Mollenhauer, der sich skeptisch zur Möglichkeit ästhetischer Bildung geäußert hat.5 Seine Argumente und ihre Diskussion in den 90er Jahren, die die Pädagogik aller künstlerischen Gattungen betrafen, sollen hier nur angedeutet werden: Mollenhauer zweifelt daran, dass ästhetische Erfahrung und Pädagogik miteinander vereinbar sind. Ästhetische Bildung müsse sich wohl beschränken auf ästhetische Alphabetisierung, also die Lesefähigkeit ästhetischer Zeichen, für deren Schulung sie – ihrem Auftrag gemäß – Curricula zu entwerfen habe, denn der eigentliche Moment ästhetischen Erlebens sei zu privat, zu subjektiv, zu sehr aus der Kontinuität aller sonstigen Erfahrungen herausgenommen, um mit dem Projekt von Pädagogik: der Bildung einer handlungskompetenten Persönlichkeit vereinbar zu sein.6 Die Argumente Mollenhauers sind letztlich nicht überzeugend: Schon der Begriff ästhetische Alphabetisierung, den er verwendet, ist irreführend. Man versteht Musik – von der ist hier die Rede, aber für andere Kunstformen dürfte das Gleiche gelten – nicht, wenn man nach Zeichen sucht, deren Bedeutung es zu entziffern gilt. Mollenhauers Begriff ästhetischen Erlebens ist von einer anderen Welt. Und was er als Aufgabe schulischer Pädagogik beschreibt, die Schaffung handlungskompetenter Erwachsener, erscheint zu eng. Aber Mollenhauer macht zweifellos auf Desiderata musikpädagogischer Theoriebildung aufmerksam: Es muss geklärt werden, was Bildung heißen kann, es gilt einen tragfähigen Begriff musikalisch-ästhetischer Erfahrung zu entwickeln, und es bedarf schließlich eines geeigneten Konzepts pädagogischen Handelns. Um mit dem Ersten zu beginnen: Bildung ist nicht in erster Linie der Erwerb von irgendwelchen (musikbezogenen oder anderen) Kenntnissen, von Wissen, bereichsspezifischen Kompetenzen oder technischen Fertigkeiten – obwohl all das dazu gehört. Bildung sollte stattdessen verstanden werden als unabschließbarer Prozess der Erfahrung: als ein riskanter Prozess, in dem Menschen sich immer wieder neu orientieren (orientieren müssen), indem sie – und zwar in Interaktion mit anderen – veränderte Möglichkeiten der Selbstund Weltbeschreibung erwerben. Denn das bedeutet, dass sich ihnen neue Wahrnehmungs-, Empfindungs-, Denk- und Handlungsoptionen eröffnen. Und zwar, denn das ist untrennbar mit dem Bildungsbegriff verknüpft: in Anerkennung des Anderen als Anderen und zur Gestaltung eines besseren Lebens für alle. Bildende Erfahrungen verändern diejenigen, die sie machen;
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das ihnen zugrunde liegende Lernen ist ein Umlernen. Dazu kann Pädagogik durchaus etwas beitragen, auch wenn es letztlich der Einzelne ist, der sich bildet. Und zu ihren Aufgaben gehört auch der Bereich ästhetischer Bildung, denn eine in der beschriebenen Weise verstandene allgemeine Bildung darf nicht auf Kosten ihrer ästhetischen Dimension verkürzt werden. Das ästhetische Weltverhältnis beansprucht im Kontext von Bildung das gleiche Recht wie andere – etwa naturwissenschaftliche – Zugänge zur Welt; und es wird diese nicht bloß ergänzen, sondern immer wieder in Frage stellen.7 Um die so formulierte Bedeutung ästhetischer Bildung zu begründen, muss geklärt werden, was der Ausdruck »ästhetische Erfahrung« eigentlich heißen soll. Die möglichen Einwände gegen diesen Begriff liegen auf der Hand: Es handele sich um ein Konzept aus dem 18. Jahrhundert, das den vielfältigen Erscheinungsformen von Musik nicht gerecht werde – nicht der populären Musik und nicht dem unmittelbaren Spaß, den das Musikmachen bedeuten kann; auch sei der Begriff zu stark an der Musikrezeption orientiert und zur Anwendung in anderen Kulturen als der der abendländisch-europäischen Kunstmusiktradition tauge er nichts, doch selbst dort werde er der Alten und der Neuen Musik nicht gerecht. Um verständlich zu machen, warum es notwendig ist, diese Einwände auszuräumen – und sei dies auch mit einigem theoretischen und argumentativen Aufwand verbunden, sollen zunächst einige Alternativen vorgestellt werden, die zurzeit in der Musikpädagogik diskutiert werden. Musizieren und Lernen In der englischsprachigen Fachdiskussion finden sich seit einigen Jahren vermehrt Vertreter,8 die – u. a. aus den genannten Gründen – Musikpädagogik nicht (mehr) als Ästhetische Bildung verstehen wollen, wie es seit geraumer Zeit beispielsweise in den USA so gut wie selbstverständlich war,9 sondern stattdessen ein Konzept so genannter praxialer Musikerziehung befürworten. Der Grundgedanke lautet: Musikalisches Handeln, insbesondere das Musikmachen, macht Spaß, es dient der Auseinandersetzung mit dem Selbst, nicht zuletzt mit den eigenen Gefühlen, also der Persönlichkeitsbildung, und hat somit einen Wert, der ohne den Ballast ästhetischer Diskurse begründet werden kann. Bei genauerer Betrachtung der Argumentationen zeigt sich allerdings, dass der gegen ein vorwiegend rezeptions- und kunstwerkorientiertes (und damit verkürztes) Konzept musikalisch-ästhetischer
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Erziehung rebellierende Ansatz der Praxialen ohne eine eigene – zumindest versteckte – Ästhetik nicht auskommt.10 Die Musikpädagogik in Deutschland macht in den letzten Jahren insbesondere durch die so genannte Bastian-Studie und vergleichbare Forschungen auf sich aufmerksam.11 Einige Musikpädagogen werden nicht müde, die in verschiedenen Untersuchungen (vermeintlich) entdeckten Transfereffekte des Musikunterrichts auf andere Lernbereiche, nicht zuletzt auf die Förderung sozialer Kompetenzen zu betonen. Die Forschungsergebnisse liefern das Material für wohlmeinendes fachpolitisches Trommeln, das der Bedrohung des Musikunterrichts in Zeiten knapper Haushaltskassen, der Verkürzung von Schulzeiten, des Nützlichkeitsdenkens in der Bildungspolitik und der auf Kernkompetenzen ausgerichteten PISA-Diskussion entgegentreten soll. Transfer-Argumente sind allerdings zur Verfolgung dieser redlichen Absichten, so lauten die Vorbehalte auch aus den eigenen Reihen, nicht sonderlich verlässlich, reicht ihre Überzeugungskraft doch nur bis zur Veröffentlichung der entsprechenden kunstpädagogischen Studie oder dem Nachweis, dass ein erweiterter Sportunterricht vergleichbare Wirkungen entfaltet. Fachdidaktisch bedenklicher ist allerdings der Umstand, dass in der Euphorie des Wirkungsdiskurses die Frage, wie guter Musikunterricht gestaltet sein sollte, in den Hintergrund gedrängt werden könnte, als liege das Bildungsglück allein im bloßen zeitlichen Umfang irgendwie gearteter musikpädagogischer Angebote. Die Schwierigkeiten, ein Konzept musikalischer Bildung oder Erziehung zu entwerfen (und sich dabei für oder gegen die Verwendung ästhetischer Begrifflichkeiten entscheiden zu müssen), können ganz umgangen werden, wenn man sich – weniger aus pädagogischer als aus psychologischer oder neurobiologischer Perspektive – auf Fragen musikalischen Lernens beschränkt. Diese Richtung wird eingeschlagen, wo an konnektionistische Modelle sich anschließende Theorien zum neurobiologischen Aufbau so genannter »musikalischer Repräsentationen« und damit zur Bildung des »Musikverstandes«12 in der Musikpädagogik rezipiert werden. Es geht in diesem Forschungsfeld darum, wie wir musikalisch hören lernen, wie musikalische Verläufe wahrgenommen und Strukturen identifiziert werden. Musiklernen bedeutet im Verständnis einer solchen Theorie, dass musikalische Muster im neuronalen Netzwerk eine Entsprechung erhalten, also in gewissem Sinne »abgespeichert« werden, so dass einerseits eine innere Tonvorstellung sowie
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andererseits ein Wiedererkennen solcher Strukturen zu einem späteren Zeitpunkt möglich sind – in der Sprache der Theorie: Es werden »musikalische Repräsentationen« erworben. Musik zu verstehen bedeutet demnach (zumindest auf dieser Ebene, und nur von der ist die Rede), musikalische Muster wahrnehmen, nämlich identifizieren zu können – beispielsweise bestimmte rhythmische Figuren, tonale Verhältnisse oder periodische Spannungen. Aus empirischen Untersuchungen wird der Schluss gezogen, dass das, was als jeweiliger Stellvertreter dieser musikalischen Muster im Nervensystem vorliegt, zunächst keine abstrakte, etwa begriffsähnliche Form hat, sondern dass Musik zu Beginn von Lernprozessen »figural« repräsentiert sei. Im Falle »figuraler Repräsentationen« stellt die aufgebaute neuronale Struktur gewissermaßen noch eine Wahrnehmungsspur der Musik dar; erst aufbauend auf dieser könnten »formale Repräsentationen« – also abstraktere, symbolische Stellvertreter für musikalische Muster – erworben werden bzw. würden sich irgendwann in einem qualitativen Sprung von selbst einstellen. Daraus folge für die pädagogische Praxis, dass erst z. B. durch das Singen von Liedern Vorstellungen von dur-tonalen Tonhöhenverhältnissen erworben werden müssen, bevor – nachdem sich figurale zu formalen Repräsentationen gewandelt haben – musiktheoretische Begrifflichkeiten oder Symbolsysteme wie die Notenschrift in ihrer Bedeutung begriffen werden könnten.13 Wer sich als Musikpädagoge auf derartige neokonnektionistische Modelle musikalischen Lernens beruft, verspricht sich wissenschaftlich gesicherte Argumente gegen die immer noch verbreitete Unsitte, Schülerinnen und Schüler, die keine musikpraktische Erfahrung mitbringen, viele Schuljahre lang mit Notenwerten, Violinschlüsseln, Halbtonschritten oder Dominantseptakkorden zu belästigen, also mit musiktheoretischen Zusammenhängen, die für die Schüler so unverständlich, im besten Falle faszinierend bleiben müssen wie chinesische Schriftzeichen für jemanden, der sie zwar abmalen soll, dem man aber nie verrät, was sie bedeuten. Dabei lässt sich kaum bezweifeln, dass die Bedeutung des Ausdrucks »Dur-Dreiklang in erster Umkehrung« besser versteht, wer über die Fähigkeit hinaus, dieses Gebilde in Notentexten analysierend zu identifizieren, eine Klangvorstellung damit verbindet, d. h. die Umstände seiner richtigen Anwendung (etwa in der Äußerung »Das ist ein Dur-Sextakkord«) auch bei klingender Musik kennt. Schülern, die lediglich darauf dressiert werden, Dur-Dreiklänge in erster Umkehrung in Partituren zu markieren und ihre Entscheidungen mittels zutreffender Erklärungen der spezifischen Intervallstrukturen zu begründen, wird
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ohne Zweifel eine entscheidende Dimension musikalischer Sachverhalte, nämlich: wie es sich anhört, vorenthalten. Das ist die Einsicht, die unter Bezugnahme auf die genannten musikpsychologischen Forschungen bekräftigt werden kann. Weitaus schwerer lässt sich allerdings die musikdidaktische Konsequenz ableiten, es müssten zuerst Klangvorstellungen vermittelt werden (nämlich der Aufbau »figuraler Repräsentationen« gefördert werden), bevor begriffliche Schemata zu ihrer Benennung eingeführt werden könnten. Denn aus entwicklungspsychologisch ausgerichteten Untersuchungen, die zeigen, dass Kinder schon dur-tonale Melodien singen können, bevor sie bzw. ohne dass sie wissen (im Sinne von erklären können), was eine Dur-Tonleiter ist, folgt nicht die Unterrichtsmaxime, das Sprechen über Musik müsse stets dem Hören und Machen von Musik nachgängig sein. Oftmals ist der umgekehrte Weg erfolgreicher: Die Wahrnehmung differenziert sich in der Anwendung neu erworbener Begriffe. Die Musikpädagogik sollte übrigens misstrauisch bleiben gegenüber »formalen Repräsentationen« von Musik, die – obwohl sie gemäß der zugrunde liegenden Theorie keine sprachlichen, sondern Entsprechungen auf neuronaler Ebene sind – eine auffällige Ähnlichkeit mit Beschreibungen von Musik in den üblichen musiktheoretischen Fachbegriffen haben. Das erweckt nämlich den Eindruck, als sortiere das neuronale Netz das musikalisch Wahrgenommene natürlicherweise so wie derjenige, der Musik mit diesen Begriffen analysiert; die Sprache der Musiktheorie mit ihren Leittönen, Sekundakkorden, Vordersätzen und Nachsätzen scheint also vorsprachliche musikalische Wahrnehmungsstrukturen passgenau abzubilden, wenn sich diese nur im Hören oder Machen von Musik gebildet haben, von der man mit Recht sagen kann, sie strebe einem Grundton zu und weise Umkehrungen von Septakkorden sowie periodische Formen auf. Das Misstrauen beruht auf dem Verdacht, dass derartige musiktheoretische Konzepte nur eine Art darstellen, in der die Musik beschrieben werden kann, dass sie andere Aspekte nicht erfassen und dass unsere Neuronen sich möglicherweise nicht nach den Begriffen richten, die die Musiktheorie in ihrer Geschichte entwickelt hat. Es ist darüber hinaus zu bedenken, dass die betreffende Forschung zum musikalischen Lernen sich vorwiegend Mustern widmet, die der Tradition abendländisch-europäischer Musik entstammen (übliche Taktarten, Kadenzfortschreitungen oder eben die klassische Periodenform). Diese Beschränkung mag forschungspragmatisch sinnvoll sein, doch die Musikpädagogik ist ja auch daran interessiert, wie z. B. Kompositionen Neuer Musik – und damit
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sind schon die 12-tönigen Werke Schönbergs gemeint – wahrgenommen werden und wie ein Zugang zu ihnen eröffnet werden könnte; und dazu trägt eine Theorie wenig bei, die hörendes Verstehen als das Identifizieren klassischer Muster begreift. Noch grundsätzlicher darf man aus musikpädagogischer Perspektive außerdem die Frage stellen, warum Schülerinnen und Schüler überhaupt musiktheoretische Fachterminologie beherrschen lernen sollten. Selbst wenn es stimmt, dass der Erwerb »formaler Repräsentationen« in einem quasi natürlichen Prozess entdeckenden Lernens irgendwann sprunghaft von selbst geschieht, wie das erwähnte neurobiologische Modell des Musiklernens nahe legt, kann man daraus noch lange nicht die Schlussfolgerung ziehen, dieser Weg sei im Unterricht mit dem Aufbau von Klangvorstellungen durch Musikmachen bis zur Einführung von Fachbegriffen zu ihrer Benennung gezielt nachzuschreiten. Es wäre eine eher absurde Position zu fordern, Kinder sollten in ihren Musikstunden Lieder singen, damit sie später den Unterschied zwischen Dur und Moll begreifen. Das beschreibende Modell »vom Aufbau figuraler zum Erwerb formaler Repräsentationen« sollte sich nicht normativ verselbständigen, es beinhaltet noch keine pädagogische Perspektive.14 Nähere Betrachtung verdient ein Konzept »aufbauenden« und kulturerschließenden Musikunterrichts, das sich in jüngerer Zeit unter Berufung auf die genannte musikpsychologische Lernforschung zu etablieren beginnt.15 Im Gegensatz zu einem stark an kognitiven Fähigkeiten, an Analyse und Musikrezeption orientierten Unterricht wird hier die Schulung musikalischer Fähigkeiten durch das Musikmachen favorisiert. Das Fundament allen Musiklernens müsse in der Musikpraxis liegen, der Wissenserwerb müsse von persönlichen Handlungserfahrungen ausgehen. Diese Forderung geht über die Position, musiktheoretisches Wissen solle nur in Verbindung mit und zwar erst im Anschluss an entsprechende Klangvorstellungen vermittelt werden, weil es nur so Bedeutung erlange, noch hinaus. Sie wird einerseits unter Bezugnahme auf den Erfahrungsbegriff, andererseits mit Hilfe des Kompetenzbegriffs begründet. Letztlich – so die Autoren, durchaus in Übereinstimmung mit der hier vertretenen Position – gehe es im Musikunterricht um ästhetische Erfahrung. Der Begriff ästhetischer Erfahrung dürfe aber nicht ausschließlich von der Wahrnehmung her begriffen werden, sondern sei an den Handlungsbegriff anzulehnen. Alle Erfahrung setze mit Handeln ein, erst Handeln konstituiere Erfahrung. Deshalb müsse der Musikunterricht gezielt und systematisch Handlungsangebote schaffen. Die andere Be-
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gründungsschiene setzt auf einen Begriff musikalischer Kompetenz, der (unter Bezugnahme auf die PISA-Studie16) in Analogie zu dem der Lesekompetenz und anderen Basiskompetenzen gewonnen wird. Weil der ästhetische Zugang zur Welt unverzichtbar sei, müsse Kompetenz auch im musikalischen Bereich erworben werden. Dabei gelte es, schrittweise aufbauend verschiedene Teilkompetenzen, die das Singen, das Erzeugen von Rhythmen, das Spielen auf Instrumenten usw. betreffen, zu vermitteln. Und das heißt natürlich, da es hier zunächst um musikpraktische Fähigkeiten geht: die Schülerinnen und Schüler handeln, nämlich musizieren zu lassen. Neben und verbunden mit dem gezielten Üben, Wiederholen und Anwenden der erworbenen musikalischen Fähigkeiten wollen die Autoren Unterrichtsvorhaben, mehr oder weniger umfangreichen musikpraktischen Projekten, einen zentralen Stellenwert einräumen. Auch diese seien so sequentiell anzuordnen, dass ein schrittweiser und systematischer Aufbau von musikalischen Teilkompetenzen gelingen kann. Außerdem finde in Verbindung mit solchen Vorhaben das statt, was die Autoren Kulturerschließung nennen, indem nämlich hörend, beschreibend, analysierend, beurteilend usw. die materiale, historische, funktionale, ästhetische und subjektive Dimension von Musik projektorientiert erschlossen werde. Mit folgenden Problemen auf ganz unterschiedlichen Ebenen sieht sich das Konzept m. E. konfrontiert: •
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Bei der gezielten und schrittweisen Vermittlung musikalischer Teilkompetenzen, wie sie von den Autoren befürwortet wird, werden in der Regel Sozialformen wie Vormachen/Nachmachen im Mittelpunkt stehen, so dass kaum Platz für selbständiges Lernen, geschweige denn für Partizipation und nur wenig Raum zur Differenzierung bleibt. Das Lehrgangsmodell von Unterricht, das hier im Hintergrund wirkt, ist mit einer an Vorhaben bzw. Projekten orientierten musikdidaktischen Konzeption nur schwer vereinbar. Beides ist den Vertretern des Konzepts wichtig, steht aber etwas unverbunden nebeneinander und wird nicht schon dadurch integriert, dass die gelernten Teilkompetenzen in Vorhaben Anwendung finden sollen. Denn welche musikalischen Fähigkeiten zur Realisierung eines Projektes notwendig sind und deshalb erworben und geübt werden müssen, ergibt sich aus keiner Systematik Kompetenz-aufbauender Lehrgänge. Wie Unterrichtsvorhaben sequentiell angeordnet werden, sollte nicht in erster Linie aus der Logik der nächsten Schritte in der Vermitt-
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lung von Teilkompetenzen folgen, sondern vor allem inhaltlich begründet sein. Natürlich hängt der zu erwartende Erfolg von Projekten von Voraussetzungen ab, zu denen auch die Fähigkeiten gehören, die die Schülerinnen und Schüler mitbringen, und es ist nicht empfehlenswert, diese ständig zu über- oder zu unterfordern, doch an der Formulierung von Anforderungen wirken möglichst alle Beteiligten mit – sie ergeben sich nicht allein aus der Planung der Lehrenden. Kein standardisierter Lehrplan kann alle notwendigen Fähigkeiten erfassen, die doch auf ganz unvorhersehbaren Wegen in der Auseinandersetzung mit komplexen Aufgabenstellungen erworben werden. Die Chancen zur Differenzierung, die ein an Vorhaben orientiertes Arbeiten – auch in der Produktion von Musik – bietet, werden leicht verschenkt, wenn gleichzeitig der Zwang zur systematischen Vermittlung von Teilkompetenzen in sorgfältig aufeinander aufbauenden Schritten ein einheitliches und geschlossenes Vorgehen zumindest nahe legt.17 Der Verweis auf die Unverzichtbarkeit eines ästhetischen Weltzuganges kann zwar die Bedeutung ästhetischer Kompetenz begründen, nicht jedoch die Bildungsrelevanz spezifisch musikalischer Teilkompetenzen. Und selbst wenn man gar nicht auf der Notwendigkeit des Musikunterrichts besteht, sondern lediglich auf seine Möglichkeiten verweist: Es bleibt unklar, wie mit musikalischem Lernen, das auf handwerklichtechnische Kompetenzen ausgerichtet ist (denn von dieser Art sind die Teilkompetenzen, die das Konzept aufbauen möchte – egal ob es um die Fähigkeit geht, Melodien nachzusingen, Töne richtig zu intonieren, eine eigene Gesangsstimme gegen eine zweite zu halten, Rhythmen nachzuklatschen oder sich im Takt der Musik zu bewegen), eine ästhetischkünstlerische Dimension erreicht werden kann: Es werden lediglich Voraussetzungen geschaffen. Die Art, in der die Autoren den Begriff »Kulturerschließung« einführen, verhilft noch nicht zum erforderlichen nächsten »Schritt«, denn da werden lediglich Strukturen zur Erfahrung gebracht, historische Bezüge beschrieben, Verwendungsweisen thematisiert, außermusikalische Bedeutungen zugewiesen und individuelle Bezüge zu Musik bewusst gemacht.18 Es stimmt ja, dass es musikpädagogisch sinnvoll ist, vielfältige Gelegenheiten für musikalisches Handeln (im weitesten Sinne) zu schaffen, aber der Praxisbegriff, der dem Konzept »Aufbauenden Musikunterrichts« zugrunde liegt, ist unklar: Einerseits wollen die Autoren jede Form musikbezogenen Handelns mitberücksichtigt wissen (also auch Tanzen,
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Malen zu Musik, Musikkritiken durchleuchten), an anderen Stellen aber wird Musikpraxis gleichgesetzt mit Musikmachen. Die Gesamtargumentation verliert dadurch an Überzeugungskraft. Dass wir Erfahrungen nur handelnd machen können, mag ja richtig sein; nicht wahr ist, dass wir ästhetische Erfahrungen mit Musik nur musizierend machen können. Es besteht zwar Anlass zur Vermutung, dass sich Handlungssituationen, in denen Musik erzeugt wird, unter bestimmten Bedingungen als musikpädagogisch besonders geeignet erweisen, insofern sie die ästhetische Wahrnehmung der unmittelbar oder mittelbar Beteiligten begünstigen, weshalb man einen an der Herstellung musikalischer Produkte orientierten Musikunterricht empfehlen könnte, aber eine solche Empfehlung lässt sich nur didaktisch-methodisch begründen, nicht unter Bezugnahme auf neurobiologische Forschungen oder den Erfahrungsbegriff.19 Ästhetische Praxis in Musik Ästhetische Wahrnehmung darf nicht mit sinnlicher Wahrnehmung gleichgesetzt werden, obwohl sie mit dieser verbunden ist. In der ästhetischen Wahrnehmungssituation sind wir nicht darauf aus, etwas erkennend oder handelnd zu erreichen, sondern wir nehmen uns Zeit für die Gegenwart des ästhetischen Objektes. Die ästhetische Wahrnehmung ist gekennzeichnet durch eine vollzugsorientierte und selbstbezügliche Aufmerksamkeit auf sinnlich Gegebenes. Eine ästhetische Praxis lässt sich verstehen als ein Komplex von Handlungen, der bestimmt ist durch das Interesse an erfüllten Wahrnehmungsvollzügen. Dieser Begriff schließt die Produktion und Rezeption ästhetischer oder künstlerischer Objekte ein; und er umfasst das Urteilen und die Kommunikation über solche Objekte. Ein differenzierter Begriff ästhetischer Praxis lässt sich gewinnen, wenn – wie von Martin Seel vorgeführt – drei Modi ästhetischer Wahrnehmung unterschieden werden, von denen jeweils einer überwiegen und die Praxis bestimmen kann:20 Wenn wir ein Objekt, z. B. ein akustisches Ereignis, einfach so wahrnehmen, wie es uns in seiner sinnlichen Fülle erscheint, ohne über das Hier und Jetzt hinauszugehen, kann man von ästhetischer Kontemplation sprechen. Ob wir uns den unaufhaltsamen Wiederholungen rhythmischer pattern anvertrauen, uns in dem vielschichtigen Klang eines Orchesterstückes verlieren oder dem an- und abschwellenden unverständlichen Stimmengewirr in der HochschulMensa zur Mittagszeit lauschen: Solange wir nicht versuchen, eine Ordnung zu erkennen oder eine Bedeutung zu verstehen, gilt unsere Aufmerksamkeit
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einzig dem Spiel der Erscheinungen unabhängig von jeglichem Sinn. Ästhetisch Kontemplieren heißt absehen von Inhalten, Programmen, der Bedeutung ausdruckshafter Gesten, Stilzitaten usw., heißt sich der Interpretation zu enthalten.21 Von verstehend-imaginativer Wahrnehmung kann man mit Seel sprechen, wenn die Aufmerksamkeit sich auf die Bedeutungen, Symbolgehalte oder den Ausdruck des Wahrgenommenen richtet und die Wahrnehmung von dem Versuch gekennzeichnet ist, das Wahrgenommene zu verstehen. Eine solche Wahrnehmung konstruiert Sinn, sie versucht die kompositorische Gestaltung einer Musik zu verstehen, den Notentext ausdrucksvoll umzusetzen, das Wort-Ton-Verhältnis zu interpretieren, historische Bezüge herzustellen oder Botschaften zu entschlüsseln. Kunstwerke sind ja mehr als bloße Sinnesobjekte, sie sind gleichzeitig Darbietungen. Sie sind nicht nur von, sondern immer auch über die Welt.22 Die Art der Darbietung eröffnet eine Sichtweise der Welt, die nicht anders sagbar, geschweige denn durch eine bloße Inhaltsangabe ersetzbar, ist, sondern an die spezifische Materialgestaltung gebunden bleibt und nur ästhetisch imaginierend wahrgenommen werden kann.23 Die Interpretation ästhetischer Bedeutung, die zur imaginativen Wahrnehmung artistischen Erscheinens gehört, muss sich nicht unbedingt in einem wortsprachlichen Ergebnis niederschlagen. Verstehen muss sich nicht verbal vollziehen: Der ausübende Musiker interpretiert Musik auf seinem Instrument, der Tänzer versteht sie in leiblicher Bewegung. Der atmosphärisch-korresponsive Modus ästhetischer Wahrnehmung hängt eng mit dem persönlichen Lebenskonzept der Wahrnehmenden zusammen. Atmosphärisch-korresponsiv nimmt wahr, wer sein alltägliches Leben ästhetisch gestaltet, indem er zu Hause eine Musik von CD spielt, die seiner momentanen Stimmung Ausdruck verleiht, passend bekleidet die Konzerte besucht, die seinem Lebensgefühl entsprechen, sich die richtigen Klingeltöne für das Handy runterlädt oder Menschen nach ihrem Musikgeschmack beurteilt. Die ästhetischen Objekte dienen in solchen Fällen der Stilisierung des Lebens, dem Ausdruck und der Erzeugung von Lebensmöglichkeiten, ohne dass es dabei schon um Sinndeutung ginge. Der musikalische Geschmack ist im atmosphärisch-korresponsiven Modus nicht nur musikalischer Geschmack. Mehr als nur die Musik selbst wird in dieser Einstellung geliebt oder abgelehnt: nämlich die Lebensform, die sie zum Ausdruck bringt. Wenn Men-
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schen sich ihre ästhetischen Präferenzen mitteilen und darüber streiten, stehen damit auch ihre jeweiligen Vorstellungen vom Leben zur Diskussion.24 Ästhetische Praxen sind unter anderem auch dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen ästhetische Urteile geäußert werden. Dass es vernünftig ist, ästhetisch zu handeln, erweist sich auch dadurch, dass ästhetische Bewertungen begründbar sind. Mit Sätzen wie »Dieses Klavierstück ist schön«, oder »Der Gesang ist ausdrucksstark«, wird manchmal nur der persönliche Geschmack bekundet, es kann sich aber auch um Urteile handeln, die mit einem intersubjektiven Geltungsanspruch auftreten. Einen solchen Anspruch erhebt, wer andere davon zu überzeugen versucht, die Aufnahme eines Musikstückes sei mitreißend. Nicht nur die Wirkung, die die Musik auf ihn gemacht habe, möchte er damit beschreiben (das wäre vor allem eine Frage der Aufrichtigkeit), sondern er behauptet, seine Gesprächspartner sollten sich in ähnlicher Weise vom musikalischen Fluss mitreißen lassen. Nicht nur für ihn sei das Stück von Wert (das würde man ihm auch ohne Gründe glauben wollen), sondern es sei ein aussichtsreicher Kandidat ästhetischer Wertschätzung auch für die anderen. Ästhetische Urteile, die in vielen Fällen Empfehlungen darstellen, können ihre Rechtfertigung erst erfahren, wenn die Angesprochenen sich selbst dem strittigen Gegenstand zuwenden und die Urteilsbegründung gewissermaßen eine Anleitung zur ästhetischen Erfahrung gibt. Diese kann in einer verbalen Interpretation, im Hinweis auf bestimmte Merkmale, in der Empfehlung geeigneter Rezeptionsbedingungen oder in einer musikalischen Demonstration bestehen. In der Auseinandersetzung über divergierende ästhetische Urteile fordere ich andere zur ästhetischen Wahrnehmung auf und leite sie darin an; über die Angemessenheit von Beschreibungen und Interpretationen wird mit Gründen gestritten. Musikpädagogik – so lautet der hier vertretene Gedanke – hat die Aufgabe, Gelegenheiten für ästhetisch-musikalische Praxis zu schaffen, d. h. diese zu initiieren und zu begleiten, bei denen ästhetische Argumentation erforderlich ist, so dass sich ästhetische Kompetenz entwickeln kann; sie muss also gewissermaßen den ästhetischen Streit kultivieren, um so den beteiligten Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten musikalisch-ästhetischer Wahrnehmung und Erfahrung zu eröffnen.
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Pädagogische Praxis Ein handlungstheoretisches Problem, das sich für Lehrende nicht nur im Musikunterricht stellt, besteht darin, dass sich Erfahrungsprozesse selbst nicht pädagogisch bewirken lassen. Erfahrungen sind auch nicht »vermittelbar«, so wie Informationen mitteilbar sind. Wer möchte, dass andere eine bestimmte Art von Erfahrung machen, kann aber immerhin dafür sorgen, dass geeignete Erfahrungssituationen geschaffen werden, was wirkungsvolle Reizkonstellationen und verbale Erläuterungen einschließen mag. Auch wenn wir in Momenten ästhetischer Wahrnehmung, die aller ästhetischen Erfahrung zugrunde liegen, nicht darauf aus sind, etwas handelnd zu erreichen, so werden sich diese Momente doch häufig in Handlungszusammenhängen ereignen, die vom Interesse an diesen Wahrnehmungsvollzügen bestimmt sind. Solche ästhetischen Praxen gilt es pädagogisch zu inszenieren, mit ihnen werden die gewünschten ästhetischen Erfahrungsräume im Musikunterricht (oder fächerübergreifend, oder auch an Musikschulen) eröffnet. Besonders vielversprechend sind Projekte, in denen Musik produziert wird, d. h. in denen gespielt, improvisiert, arrangiert, komponiert, aufgeführt und aufgenommen wird.25 Wichtig ist allerdings, dass sich die Musikproduktion nicht auf das Abspielen von Noten beschränkt, dass die Schülerinnen und Schüler nicht lediglich Regeln anwenden, sondern dass sie sich der ästhetischen Kritik stellen müssen, weil sie aufgefordert sind, ein ästhetisch attraktives Produkt herzustellen – eines, das es lohnt, ästhetisch wahrgenommen und zu diesem Zweck präsentiert zu werden. Musikalische Projekte solcher Art sind in allen Klassenstufen realisierbar: Gruppen erstellen Klangcollagen, die zur Kontemplation einladen, obwohl die verwendeten Alltagsgeräusche korresponsive Bedeutungen transportieren; die Klasse textet und komponiert einen Klassensong, der das »Wir-Gefühl« erzeugt, das er korresponsiv zum Ausdruck bringt; Schülerinnen und Schüler schreiben ein eigenes Musical und führen es auf, indem sie eine literarische Vorlage musikalisch und szenisch interpretieren. In derartigen gemeinsamen Produktionsprozessen bestehen gute Aussichten, dass die Beteiligten ästhetische Erfahrungen machen, dass sie die Welt mit anderen Ohren hören, dass sie sich selbst neu wahrnehmen, vielleicht dass ihr Musikgeschmack und damit sie selbst sich ändern.
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Vorhaben dieser Art können auch durchgeführt werden, ohne dass zuvor und kontinuierlich systematisch aufbauendes Musiklernen stattgefunden hat. In der Arbeit müssen die Fähigkeiten erworben werden, die für eine erfolgreiche Produktion notwendig sind, müssen ggf. Phasen des Übens und Wiederholens ausgekoppelt werden, weil das im Entstehen begriffene Produkt verbessert und entsprechend den eigenen Klangvorstellungen gestaltet werden soll. Natürlich ist es erfreulich und eröffnet besondere Möglichkeiten, wenn die Schülerinnen und Schüler mehrstimmig singen können oder wenn alle ein Instrument spielen oder wenn sie gut tanzen und rhythmisch sicher sind und sauber intonieren und Noten lesen können und mit Musikprogrammen auf dem Computer vertraut sind, aber wenn dies oder das meiste davon nicht der Fall ist, besteht kein Grund zum Verzweifeln. Es ist musikpädagogisch nicht unbedingt erforderlich, zunächst ein flächendeckendes System der Entwicklung musikalischer Teilkompetenzen zu etablieren, es ist nicht dringend notwendig, den Unterricht stets mit Gesangsübungen zu beginnen, alle Schüler zum Chorsingen zu verpflichten, in der Klasse gemeinsam Instrumente erlernen zu lassen, regelmäßig und aufbauend Tanzschritte zu trainieren, jede Stunde mit dem Klatschen von Rhythmen zu starten und einen Computerkurs durchzuführen. Man kann das alles machen, bzw. man kann vieles davon machen, denn für alles dürfte kaum Zeit sein, aber entsprechende Standards und das kontinuierliche Hinaufschreiten von Kompetenzstufen sind für musikalisch-ästhetische Bildung nicht zwingend notwendig. Aber um Kompetenz geht es schon beim Bilden mit Musik, nämlich um den Erwerb ästhetischer Kompetenz. Musikalisch-ästhetische Bildung bedeutet zunehmend in der Lage zu sein, bewusst und absichtsvoll eine ästhetische Einstellung einnehmen, auch Alltägliches und Selbstverständliches ästhetisch wahrnehmen zu können; sie bedeutet zunehmend in der Lage zu sein, selbstbestimmt zwischen verschiedenen ästhetischen Einstellungen zu wechseln: mal kontemplativ vom Sinn absehen, mal korresponsiv einen Bezug auf das eigene Lebenskonzept herstellen, mal interpretierend verstehen können.
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Siehe zu verschiedenen Grundansätzen und Legitimationsstrategien von Musikpädagogik und Musikerziehung Kaiser 1995a Zur Geschichte musikdidaktischer Konzeptionen siehe u. a. Kaiser/Nolte 1989, Gruhn 1993 und Helmholtz 1996 Im Unterschied zu einer Ästhetischen Erziehung, die sich als auditive Wahrnehmungserziehung begreift, bedeutet »ästhetisch« hier mehr als »sinnlich«. Dazu unten mehr. Zu dem im Folgenden vorgestellten Konzept musikalisch-ästhetischer Bildung siehe ausführlicher Rolle 1999. Andere Konsequenzen zieht Kaiser 1995b. Siehe z. B. Mollenhauer 1988 und 1990. U. a. in Auseinandersetzung mit Mollenhauer finden sich Überlegungen zur Möglichkeit ästhetischer Bildung dagegen z. B. bei Schulz 1997. Kritisch zu dieser Argumentation siehe Rolle/Vogt 1995, Kaiser 1995a sowie Rolle 1999, S. 13ff. Die Unverzichtbarkeit eines ästhetischen Zugangs zur Welt begründet Seel folgendermaßen (wenn auch ohne den Bildungsbegriff zu verwenden oder gar pädagogische Konsequenzen daraus abzuleiten): »Das ästhetische Interesse [...] beruht auf dem Verlangen, der Gegenwart des eigenen Daseins wahrnehmend inne zu sein. Für erkennende Wesen aber bedeutet die bewusst erlebte Gegenwart ein Auflodern der Unbestimmtheit in allem, was theoretisch und praktisch bestimmt werden kann [...]. Wir sollten nicht den Geschmack für den Augenblick verlieren. [...] Die Beachtung des Erscheinenden macht erfahrbar, dass die Wirklichkeit reicher ist als alles, was an ihr mit propositionaler Bestimmtheit erkannt werden kann.« (Seel 2000, S. 39ff.) Siehe z. B. Elliot 1995 und 2003 sowie Regelski 2000 Einflussreich war insbesondere Reimer (s. Reimer 2002 sowie die Artikel zu dem ihm gewidmeten Symposium im Journal »Action, Criticism & Theory for Music Education« unter http://mas.siue.edu/ACT). Siehe Panaiotidi 2003 Siehe u. a. Bastian 2001 und die Diskussion in Gembris/Kraemer/Maas (Hg.) 2001 Siehe u. a. Gruhn 1994, 1995 und 1998 Gruhn versäumt leider eine Klärung des in den Neurowissenschaften verbreiteten Begriffes »Repräsentation« und läuft dadurch in Gefahr, in die Irre zu gehen, wenn er auch noch zwei Formen von Stellvertretern für Musik unterscheidet (siehe die Kritik von Flämig 1998 und 2001 sowie Kaiser 2003). Trotzdem wird in den folgenden Interpretationen und Erörterungen versucht, die vorliegende Terminologie zu verwenden – allerdings ohne Festlegung auf neurobiologische Modelle des Musiklernens, sondern eher in der noch unverfänglichen Weise, dass »figurale Repräsentationen« einem impliziten Handlungswissen (Knowing How) und »formale Repräsentationen« einem propositionalen Wissen (Knowing That) entsprechen. Zum Problem, was es bedeutet, sich mit musikpsychologischen Fragestellungen in pädagogischer Perspektive zu beschäftigen, äußert sich Kaiser 1998. Siehe auch ders. 2003 Siehe z. B. Gies/Jank/Nimczik 2001 sowie dies. 2003 Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) 2001 Die Berufung der Autoren auf die National Standards im US-amerikanischen Musikunterricht kann sicher nicht den argumentativen Stellenwert haben, der ihr zugemutet wird. Jede derartige Einteilung in Kompetenzstufen und Grade zunehmender Schwierigkeit ist pragmatisch. Die Vorliebe der Autoren für die Schritt-Metapher und ihre Sehnsucht nach Kontinuität verleitet im Übrigen zu Phantasien über einen sanft voran gleitenden, auch mal versunken verharrenden oder neugierig einiges überspringenden, sich gelegentlich kühn emporschwingenden oder suchend auf der Stelle tretenden Unterricht. Siehe Bähr/Gies/Jank/Nimczik 2003, S. 36. Die viel versprechenden Dimensionen »ästhetisch« und »subjektiv«, in denen sich Kulturerschließung nach Ansicht der Autoren vollziehen kann, bleiben in ihrer Darstellung leider blass. Siehe auch die etwas anders gelagerte Kritik von Flämig 2003.
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20 Siehe Seel 1985, 1991, 1996 und 2000 21 Vom kontemplativen Lauschen unterschieden werden muss das strukturelle Hören, das sich auf die sinnhafte Gestaltung einer Komposition, die Ordnung, die das Material erfahren hat, richtet. 22 Ihr Zeichencharakter ist allerdings ein besonderer. »Was immer ein Kunstwerk darbietet – ob einen tragischen Konflikt, eine Schale mit Äpfeln oder eine Bedingung seiner Möglichkeit –, es artikuliert eine bestimmte Sichtweise dessen, was es uns inhaltlich zeigt.« (Seel 1991, S. 147) 23 Natürlich könnten an dieser Stelle bedeutungs- oder zeichentheoretische Einwände erhoben werden: Abstrakte Malerei, absolute Musik und Architektur haben nicht in gleicher Weise einen Inhalt wie gegenständliche Bilder, Romane oder Opern. Damit der Begriff der imaginativen Wahrnehmung künstlerisch gestalteten Erscheinens auch in Bezug auf nicht-gegenständliche Kunstformen sinnvoll ist, muss der Begriff »Inhalt« weit gefasst werden. Gemeint ist ganz allgemein das, worum es in einem Werk geht. Inhalte von Musikstücken können dann auch so unterschiedliche Dinge sein wie Ideen, Stimmungen, Klangrelationen, polyrhythmische Beziehungen, Kompositionstechniken o. a. Imaginativ versuchen wir zu verstehen, was die Musik, durch die besondere Art, in der sie kompositorisch gestaltet ist, zum Ausdruck bringt. 24 »Korresponsiv schöne Gestalt hat, was Ausdruck einer geteilten oder teilbaren und in dieser Gestalt wirklich gewordenen Konzeption des Lebens ist. Korresponsiv häßliche Gestalt hat, was Ausdruck und Wirklichkeit eines nicht geteilten oder teilbaren (oder geradezu widerwärtigen) Existenzideals ist und sich somit spürbar inkongruent zum eigenen Leben verhält.« (Seel 1991, S. 241) 25 Die Vorteile einer richtig verstandenen Produktionsorientierung verdeutlicht Wallbaum 2000. Der gleiche Autor zeigt aber an anderer Stelle (Wallbaum 1998), dass ästhetische Praxis in Musik sehr wohl auch in eher rezeptionsorientierten Unterrichtsprojekten stattfinden kann, dass selbstverständlich auch Musikhörer ästhetisch wahrnehmen und musikalische Erfahrungen machen können, beispielsweise wenn sie »mit fremden Ohren hören«.
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Renate Dittscheidt-Bartolosch
Schätzen lernen – Kinder und Kunst im Museum Um 1550 verfasste der portugiesische Maler Francisco de Hollanda seine Vier Gespräche über die Malerei.1 Er schildert darin Unterhaltungen mit Michelangelo und Vittoria Colonna in der Kirche von San Silvestro in Rom. Im ersten Gespräch bringt de Hollanda, Michelangelo schmeichelnd, seine Bewunderung für die Malerei der Italiener und für ihr Kunstverständnis zum Ausdruck und beklagt, dass die Portugiesen »die Kunst verachten und sie gering schätzen und beinahe eine Tugend daraus machen, wenig von ihr zu wissen«. Die Meisterschaft der Italiener komme daher, dass sie »von Kind an« vieles »vor dem Auge« haben und »von klein auf gewohnt sind, Dinge zu schauen«. »Ihr habt einzigartige Meister, denen ihr nacheifern könnt, und habt ihre Werke, und Eure Städte sind voll von modernen Bildern, von Gegenständen des Kunstgewerbes und von neuen Dingen, wie sie täglich entdeckt und aufgefunden werden.«2 Michelangelo bestätigt ihn und weist ihn zugleich zurecht, denn nicht die Anschauung und Nachahmung allein, sondern auch (von Gott gegebene) Begabung und geistiger Besitz bilden den Künstler: »Wenn man in Eurem Portugal, Messer Francisco, die Schönheit der Malerei sähe, welche einige Häuser hier in Italien ziert, so würdet ihr sicherlich nicht so amusisch sein, sie nicht zu achten, sondern ihr würdet wünschen, sie zu besitzen. Aber es ist nicht erstaunlich, dass Ihr weder erkennen noch schätzen könnt, was ihr niemals gesehen habt und was ihr nicht besitzt.«3 Das Kunstmuseum als Bildungsort »Schätzen lernen« ist im Sinn einer mehrfachen Wertschätzung gemeint. Da das Sprengel Museum Hannover, in dem ich arbeite, moderne zeitgenössische Kunst zeigt, geht es zuerst um die Wertschätzung der Kunst als Gegenstand ästhetischer Bildung. Ein Kunstmuseum ist ein widersprüchlicher Ort. Auf der einen Seite wirkt es befremdend leer und ausgeräumt, hell und elitär, unverständlich und irritierend. Auf der anderen Seite ist es wohl einer der geeignetsten Orte, um »Bilden mit Kunst« anzuregen. Denn nur hier findet
Renate Dittscheidt-Bartolosch
sich eine derartige Anhäufung von unterschiedlichsten Kunstwerken. Jedes ist in der Regel nur einmal vertreten mit dem Anspruch, als Original zu existieren. Vereinzelt präsentiert, verharren sie in statischer Ruhe. Sie »dauern«, sie lassen eine zeitlich ausgedehnte Anschauung zu, was für Vermittler eine lehrende Zuwendung begünstigt. Aber erst wenn das Museum sich mit Besuchern füllt und der Dialog mit ihnen begonnen wird, präsentieren sich die Kunstwerke im neuen Licht: Konkret und materiell, können sie sinnlich anziehen oder abstoßen, sind Illusion und visionär oder fragwürdig und provokant. Sie können als Inspirationsquelle für die eigenen Gedanken und Assoziationen erlebt werden, als Reservoir vielfältiger Potenziale oder kreativer Verwirrung. Hier zeichnen sich aktuelle wie historische Bewertungen, Weltbilder, Konflikte und Gefühle ab, lassen sich Verbindungen kultureller Symbole ziehen bis in die Gegenwart. Ihre Ansammlung fasziniert, weil Übereinstimmungen oder Diskrepanzen der Inhalte und Formen ins Auge springen und, in ein akustisches Bild übertragen, vielstimmigen Klang oder Dissonanz erzeugen. »Museen sind Orte unserer kollektiven Träume«, schrieb Walter Benjamin. Ein Kunstmuseum kann Kindern ein besonderer Ort sein, wenn es ihnen Kunst eröffnet, in dem es ihnen Teilnahme in diesen Aspekten bietet. Kinder und Kunst Zweitens meine ich die Wertschätzung der Kinder. Sie haben in der Regel noch keine Bewertungskriterien über Kunst ausgebildet. Sie schauen genau, sind aufnahmebereit und neugierig. Sie sagen meist, was sie denken und was sie innerlich bewegt. »Echt krass, die Bilder hier«, so ein Siebenjähriger, der durch die Räume der Klassischen Moderne flitzte. Oder eine Zehnjährige zum Bild Der verlorene Sohn von Max Beckmann, eine Szene, die den deprimierten Sohn umringt von drei verführerischen Frauen zeigt: »Warum haben die ihre Busen rausgequetscht?« Zuvor war dem Bild ein Samtherz zugeordnet worden, weil das Bild mit Liebe zu tun habe. Mit bemerkenswerter Sicherheit treffen Kinder die Kernaussage eines Kunstwerks. Und sie haben Freude, Eigenes zu gestalten. Ich finde es phänomenal, mit welcher Leichtigkeit sie Dinge angehen und sich in ihr Tun hineinversetzen können. Wie sie Neues ausprobieren, ob es ihnen gelingt. Ich bewundere ihr eidetisches Gedächtnis und mimetisches Vermögen. Das, was sie eben gesehen haben, können sie sofort nachvollziehen und zu eigenem Ausdruck umformen. Vorausgesetzt, wir schaffen eine vertrauensvolle Atmosphäre und Situationen, die ihnen Zuwendung, Anregung und Material zum Handeln geben.
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Die Kunstrezeption von Kindern, ihr Aufnahme- und Reflexionsvermögen ist wenig untersucht worden. Constanze Kirchner stellt fest: »Es ist auffallend, dass im Rahmen kunstdidaktischer Theoriediskussion die Vermittlung von Bildender Kunst auch in der Grundschule zwar einhellig gefordert wird, altersspezifische Voraussetzungen jedoch kaum Erwähnung finden. Die didaktische Herleitung der Beschäftigung mit Kunstwerken wird weder konkret an entwicklungsspezifische Bedingungen rückgebunden, noch wird die Frage nach dem Rezeptionsvermögen gestellt.«4 So ist es nicht nur wegen meiner Nähe zur Museumspraxis schwierig, den Vorgang, wie Kinder Kunst erleben und reflektieren können, wissenschaftlich kompetent zu kommentieren. Andererseits habe ich Erfahrungen auf dem Gebiet gesammelt und beobachtet, dass Kinder Kunstwerke so behandeln, wie sie auch andere für sie neue Dinge zu verstehen versuchen. Kinder mögen Bilder. »Bild« kann gleich »Kunstwerk« gesetzt werden, in welcher Ausführung auch immer, ob Zeichnung, Gemälde, Skulptur, Film, Fotografie oder Rauminstallation. Gemeinsames Kriterium ist die künstlerische Darstellung von existentiellen menschlichen Erfahrungen. Kinder brauchen Bilder, die ersten des Bilderbuchs ebenso wie ihre selbst gemalten und die professionell gestalteten von Künstlern. Die Bilder im Museum, sagen sie, sind »schön« wie die Dinge, die sie persönlich schätzen. Sie brauchen Bilder oder Kunstwerke, weil sie spannend, anregend oder rätselhaft sind und sie neugierig machen. Sie wählen »Lieblingsbilder« im Museum, die ihre Lehrerinnen überraschen: Blumenstilleben mit drei Totenköpfen von Ensor oder Der Friedhof von Radziwill ebenso wie Kranker in der Nacht von Ernst Ludwig Kirchner. Kindern kann ein Kunstwerk wohltuender Anlass zur Mitteilung sein. Um angehört zu werden, um zu sagen oder aufzuzeichnen, was sie sehen und verstehen, um eigene Erlebnisse mitzuteilen oder Gefühle zu äußern. Über Kunst zu kommunizieren, stärkt die Vorstellungskraft der Kinder, erweitert ihre reflexive Fähigkeit zur Symbolbildung. Donata Elschenbroich hat im Forschungsprojekt zum »Weltwissen der Siebenjährigen« danach gefragt, welche Bildungsgelegenheiten wir den Heranwachsenden schulden. Der Besuch in einem Kunstmuseum und die Freude der Mitteilung gehören dazu. Siebenjährige sollen »die Spannung und Vorfreude empfunden haben, die von einem unbeschriebenen, unbemalten Blatt ausgehen kann« oder »den blauen Schatten auf einem Gemälde in einer Winterlandschaft entdeckt haben.«5
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Ensor, Blumenstilleben mit drei Totenköpfen
Kunstvermittlung Drittens möchte ich Arbeitsweisen der Kunstvermittlung in den Blick rücken. Um zu fragen, wie wir die eingeforderten Bildungsprozesse im Kunstmuseum einschätzen. Auch wenn die Museumspädagogik sich, wie die Kunstpädagogik in der Schule, der Ästhetischen Bildung verschrieben hat, muss sie noch ganz andere Aufgaben verfolgen im Bedingungsgefüge des Museums. Beispielsweise Besucherzahlen heben oder Veranstaltungen organisieren. Mit schulischen Verfahren kann sie ihre diffusen Bildungsziele nicht verifizieren, etwa über Lernziele oder Leistungsnachweise. Sie will kein affirmatives Lernen von Wissen, von formalen Aspekten oder pure Technikvermittlung. Ihr geht es um eine umfassende Wahrnehmung der Kunstwerke, um deren Widerständigkeit und sinnliche Präsenz, um einen Zuwachs an Urteils- und Entscheidungsfähigkeit. Das Leben der Bilder oder Die Kunst des Sehens, dieser Buchtitel von John Berger ist treffend. Und seine Texte sind nach wie vor vorbildliche Meisterstücke der Kunstrezeption.6 Das wirft auch Fragen auf. Ist es nicht naiv, am Programm der Ästhetischen Bildung festzuhalten mit dem Anspruch nach Selbstbildung, Persönlichkeitsentwicklung, Aufklärung usw., angesichts der politisch wie wirtschaftlich problematischen Veränderungen der Weltlage? Angesichts ihrer medialen Dar-
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stellung wie eine »künstliche Wirklichkeit, die jener des Kultfilms ähnelt«, wie Timothy Ash gerade zum 100. Geburtstag von George Orwell schrieb? Sind nicht die täglich geschauten Bilder, in denen Macht verherrlicht oder Angst aufgebaut wird und durch welche die »Mächtigen und die Medienwelt als virtuelle Realität« ins Wohnzimmer kommen, prägender als ein kurzer Aufenthalt im Kunstmuseum? Können wir von Bildung oder von »Bilden mit Kunst« reden, wenn eine Schulklasse für zwei Stunden das Kunstmuseum besucht oder ein Kind an einer Aktion teilnimmt, und seien die Angebote pädagogisch noch so gut zubereitet? Können Kinder zeitgenössische Kunst verstehen, wenn sie schon Erwachsenen unverständlich scheint? Macht es Sinn, Kindern Kunst nahe zu bringen? Wenn wir das bejahen, was bieten wir dann Kindern im Sprengel Museum? Was erfahren sie von Kunst? Welcher Bildungsbegriff liegt zugrunde? Welche Erfahrungen machen wir? Die Arbeit mit Kindern im Sprengel Museum Die Arbeit mit Kindern im Sprengel Museum blickt auf 24 Jahre Erfahrung zurück. Sie beruht auf einem Konzept, das sich entwickelt hat und erprobt ist. Eine attraktive Raumsituation als Arbeitsbereich kommt dazu: 700 m2 umfasst das offen zugängliche Forum mit kleiner Galerie, Kinderforum, Druckwerkstatt, Seminar- und Pausenraum. Im kindgerecht möblierten Kinderforum können Kinder sich jederzeit aufhalten und betätigen, malen, basteln, lesen und spielen, was und wie sie wollen. Selbst gemalte Bilder dürfen sie dort aufhängen. Regelmäßig werden Kunst-Spiel-Aktionen angeboten. Darunter fassen wir Kurse, Kinderfeste, Projekte mit Künstlern, Ferienprogramme sowie kleine Ausstellungen für Kinder mit originaler Kunstgrafik, wo sie Entsprechendes erkunden und gestalten können. Verbunden mit ästhetischer Praxis behandeln die Kunst-Spiel-Aktionen vielfältige Themen, ausgewählt aus der Kunst, die im Museum ausgestellt ist. Diese ständigen räumlichen und inhaltlichen Angebote schaffen eine aktive, einladende Atmosphäre: »Kinder sind willkommen.«7 Auch, wenn wir um die begrenzte Wirkung unserer Arbeit wissen, es gibt Kinder, die wir seit Jahren kennen, weil sie kontinuierlich an den Programmen teilnehmen. Einige sind inzwischen jugendliche Praktikanten oder studentische Mitarbeiter bei uns. Der zugrunde gelegte Bildungsbegriff orientiert sich an der Theorie der Ästhetischen Bildung und folgt der Erkenntnis von der Nachhaltigkeit aktiver Lern- und Erfahrungsprozesse. Kinder sind die Akteure in den Auseinandersetzungen mit Kunst. Im Mittelpunkt stehen ihre Vorstellungen und Gedanken, im Gespräch über die Kunst ebenso wie in den praktischen Gestaltun-
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gen. Leitmotiv ist, sie in ihrer Wahrnehmung zu fördern und ihnen vielseitige Handlungsformen und Materialerfahrungen im Umgang mit Kunst zu geben. Den Begriff Kunst-Spiel haben wir aus den 80er Jahren beibehalten. Das Spiel sehen wir vereinbar mit künstlerischer oder kultureller Tätigkeit. Beides beruht auf kreativer Fähigkeit. Die gemeinsamen Wurzeln und Verflechtungen des Spielens mit kulturellen Formen hat Johan Huizinga in Homo ludens herausgestellt. Kleine Kinder lernen im Spiel fast alles, sie erproben Zusammenhänge, lernen im Umgang mit Dingen ihre symbolischen Bedeutungen und ästhetische Qualität. Darauf bauen wir und setzen spielerische Methoden ein, damit sie einen eigenen, ihrem Interesse und Entwicklungsstand gerechten Zugang zu den Kunstwerken finden. Es gibt beispielsweise die Geschichte vom kunstbegeisterten Gespenst Pauline, das Fundsachenspiel oder die Entdeckungsreise. Die Kinder erhalten in einer kleinen Gruppe eine »Forscheraufgabe« und wählen ein Kunstwerk als Gegenstand ihrer »Erkundungen« aus. Alleine können sie ihre Fragen und Beobachtungen festhalten, eine Skizze malen oder eine Geschichte, ein Gedicht erfinden. Später erzählen und zeigen sie den anderen, was sie gemacht und herausgefunden haben. Wir beantworten ihre Fragen und ergänzen ihre Erkenntnisse. Die Gespräche behandeln manchmal pragmatische Sachverhalte, manchmal philosophische Fragen, wenn sie über ein Kunstwerk und Thema nachdenken. Dieser subjektive Zugang zur Kunst akzeptiert ihr kindliches Verständnis und baut Motivation und Interesse an Kunst auf.
Kunst-Spiel-Aktion
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Die ästhetische Praxis der Kinder, der Umgang mit adäquatem Material und Werkzeug, vom Farbpigment bis zum fotografischen Bild, sind in dieser Altersstufe zwischen 6 und 13 Jahren integrierter Bestandteil der Kunstrezeption. Wir achten die handwerklich gestaltenden Tätigkeiten der Kinder, die »Kopf, Herz und Hand« verbinden und ihre Kognition und Kreativität gleicherweise herausfordern und fördern. Im Malen, Zeichnen oder anderen Fertigkeiten können sie sich bei uns üben. Auch Nachzeichnen kann ein sinnvoller Aneignungsweg sein. Kinder tun das freiwillig, wie wir beobachten. Bemerkt sei, dass wir keine dümmliche Nachahmung meinen, bei der am Ende kindliche »Klee«-Imitationen oder »Nanas« vorliegen. Die Kunstproduktion selbst schult sich an anderen Werken zur Inspiration, baut auf Zitaten oder Variationen vorgefundener Bilder auf. Drei miteinander verbundene Schritte im Verlauf der Kunstvermittlung zeichnen eine »produktive Kunstrezeption« aus.
»Zeitmaschine«
»Der Kleine Vampir«
Das ist zuerst die assoziative Betrachtung eines Kunstwerks mit eigenen Beobachtungen und Fragen der Kinder und im nächsten Schritt die gemeinsame Interpretation des Wahrgenommenen im strukturierten Gespräch mit einer Museumspädagogin. Antworten können auch über Quellen und andere Auslegungen gesucht werden, z. B. in Katalogen. Mit der ästhetischen Praxis hoffen wir auf einen Transfer und eine Synthese: Die Kinder gestalten selber und finden angeregt vom Kunstwerk ihre eigene Form und Ausdruckweise, um ein angesprochenes Thema darzustellen. In einigen Projekten werden Künstler engagiert, die ihre Kompetenzen aus Kunst, Literatur, Musik, Theater usw. einbringen. In einem der letzten Projekte bauten Kinder und Jugendliche mit dem Bildhauer Franz Burkhardt nach Kurt Schwitters’ »Merz«-Devise das Floß Hundert.Tonnen.de.8 Aus alten
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Fenstern, Türen und Fundstücken zauberten sie eine schwimmende Spielbude. Die Auseinandersetzung mit Kunst ist besonders sinnfällig und produktiv, wenn Künstler und Kinder zusammenarbeiten. Ihre gegenseitigen Beziehungen sind unersetzbar. Die Kinder erleben die unmittelbare Umsetzung einer künstlerischen Idee in eine Realisierung, vom Entwurf über die gemeinsame künstlerische, handwerkliche Gestaltung bis zur Eröffnung und Vorstellung des Ergebnisses. Sie erfahren davon, wie ein Künstler oder eine Künstlerin denkt und arbeitet. »Ein Künstler ist auch nur ein Mensch«, sagte ein Junge zur Taufe des Floßes. Soziales Lernen gelingt wie nebenher in diesen Projekten, deren erfolgreiches Ergebnis nur durch solidarische Zusammenarbeit aller zustande kommt. Kompetenzen der Kunstvermittler Lernen, Verstehen und »sich bilden« verlaufen über gelungene Beziehungen, über Zuwendung, Vertrauen und Akzeptanz. Alle, die bei uns mit Kindern zusammenarbeiten und sie betreuen, tragen dafür Verantwortung. Ihre Fähigkeit, eine vertrauensvolle Kommunikation mit ihnen aufzubauen, ihre pädagogische und soziale Kompetenz sind neben der fachlichen Qualifikation notwendige Voraussetzungen. Ein Beispiel verdeutlicht: Die Kinder erhalten oder nehmen sich freie Zeit während der Aktionen, um innezuhalten, um den anderen zuzuschauen oder zu trödeln, wenn sie es brauchen. Diese scheinbare pädagogische Leere, die nicht mit Lehrinhalt verplante Zeit, ist sinnvoll für individuelle Muße oder gemeinsame Pausen. Spontane Ideen der Kinder können aufgegriffen werden, es gibt Zeit zum Entspannen, zum Vorlesen, für einen Imbiss oder ihren Bewegungsdrang und ihr Spielbedürfnis. Die Balance zwischen fester Struktur und offener Ausgestaltung im Ablauf zu gewährleisten und auszuhalten, fordert von den Erwachsenen Erfahrung, Geduld und Flexibilität. Meisterschaft Um den Bogen zum zitierten Gespräch über die Meisterschaft der Künstler in Italien zu schlagen: Wir sollten es zu schätzen wissen, wenn Kinder ins Museum kommen, um die Kunst, die für alle »Besitz« ist, zu sehen und zu erleben. Ihre Anschauung der Kunstwerke sollten wir mit »Nacheifern« verbinden. Nicht, um am Ende der Einbildung aufgesessen zu sein, Kinder würden damit schon zu Künstlern oder Kunstexperten. Die Intention lautet vielmehr, mit einer produktiven Kunstrezeption dazu beizutragen, ihre persönliche Entwicklung positiv im Sinne einer Ästhetischen Bildung zu fördern.
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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8
Franicisco de Hollanda: Aus den Gesprächen über die Malerei, in: Michelangelo, Lebensberichte, Briefe, Gespräche, Gedichte. Zürich 1996 Ebd., S. 323 ff. Ebd. S. 329 Constanze Kirchner: Kinder und Kunst der Gegenwart. Zur Erfahrung mit zeitgenössischer Kunst in der Grundschule. Seelze, 1999 Donata Elschenbroich: Weltwissen der Siebenjährigen, München 2001 John Berger: Das Leben der Bilder oder Die Kunst des Sehens, Berlin 1995 Vgl. in Sprengel Museum Hannover (Hg.): Kunstspiel. Das Kinderforum im Sprengel Museum Hannover, Hannover 1985 Sprengel Museum Hannover (Hg.): Hundert.Tonnen.de. Dokumentation mit Zeichnungen von Franz Burkhardt und Fotografien vom Projektgeschehen, Hannover 2002 Annett Reckert: Huck Finn trifft Kurt Schwitters, in: Mitteilungsblatt Museumsverband Niedersachsen und Bremen, Nr. 63, S. 51–56, Hannover 2003 Das Projekt wurde in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendheim Limmer durchgeführt und großzügig von der Firma Germerott und anderen Beteiligten gefördert und finanziert.
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[keywords] Transfer Kunst Bildung Arbeit Markt Verwertung
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Chancen und Formen des Transfers künstlerischer Handlungsformen in die Erwerbsarbeit1 Durch den Wandel der Arbeit können sich heute mehr Menschen als früher innerhalb der Arbeit mit ihren ganz persönlichen Fähigkeiten einbringen und finden dort Selbstbestätigung und Anerkennung. Dabei werden sie zugleich auch stärker als Subjekte gefordert. Immer häufiger werden kulturelle und interkulturelle Kompetenzen, Kreativität und soziale Fähigkeiten von den Beschäftigten verlangt. Dies schafft Möglichkeiten für eine interessante und reiche Arbeitserfahrung. Zugleich können diese Kompetenzen nur eingebracht werden, wenn Menschen sich mit der Arbeit identifizieren. Wo in intensivierten Arbeitszusammenhängen zunehmend Persönlichkeitsressourcen gefordert werden, kann sich kulturelle Bildung nicht darauf beschränken, diese Ressourcen und Kompetenzen zu stärken, sondern sie muss zunehmend die Menschen darin unterstützen, ihre Persönlichkeitsressourcen vor dem subtilen und intensiven Zugriff der »entgrenzten Arbeit« zu schützen.2 Als autonome Subjekte müssen sie lernen zu steuern, was sie bis zu welchen Grenzen in die Arbeit einbringen wollen. Dies ist eine der wichtigsten Aufgaben der kulturellen Bildung. Menschen müssen auch lernen, ihre Ambitionen innerhalb der Erwerbsarbeit mit dem Wunsch nach einem lebenswerten Leben außerhalb der Arbeit zu vereinbaren. Der Widerspruch von mehr Selbstverwirklichung in der Arbeit und der Gefahr der Entgrenzung von Arbeit und der Ausbeutung von Persönlichkeitsressourcen muss auch in der Arbeitswelt selbst ausgetragen werden. Darum macht es Sinn, hier nach reflektierten und interessanten Transfermöglichkeiten zu suchen. Manager, im Bereich der Weiterbildung Arbeitende, KünstlerInnen, Beschäftigte und Bürger haben begonnen, künstlerische Handlungsformen in unterschiedliche Ebenen der Erwerbsarbeit einzubringen. Effizienzüberlegungen, didaktisches Kalkül, aber auch die Sehnsucht nach neuen Impulsen für die betriebliche Entwicklung, nach anderen Kriterien für die Gestaltung von Arbeit und Leben finden sich unter den Motiven. Ich gebe im Folgenden einen kleinen Überblick über konkrete Formen, in denen Kunst heute in Erwerbsarbeit integriert wird.
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Kunst in Unternehmen Die Praxis, Kunst zur Darstellung der Bedeutung oder der kulturellen Orientierung des Unternehmens zu nutzen ist so alt wie Handel und Wirtschaft selbst. Nicht nur die Deutsche Bank und große Versicherungen schmücken sich mit zum Teil beachtlichen Sammlungen moderner Kunst. Auch kleine und mittlere Unternehmen sind durchaus Orte, wo Bilder und Plastiken ausgestellt werden oder Konzerte und Filme zur Aufführung kommen. Zahlreiche Firmen organisieren Kunst-Events, Kabarett, Ausstellungen. Sie treten hierbei nicht nur als Sponsoren auf, sondern auch als Partner oder Organisatoren, sie konzipieren und realisieren, stellen Material, Räume und Technik bereit. Künstler als Moderatoren für Innovation und Irritation Der »Artist in Residence«3 ist in größeren Unternehmen keine Seltenheit mehr. Die Aktivitäten reichen von der Produktion von Kunstobjekten im Betrieb über Produktionen, die Materialien, Produkte oder Themen des Unternehmens aufgreifen, bis zur Beteiligung von Künstlern an betrieblichen Prozessen: Das kann die Gestaltung von Räumen sein oder auch ein Beitrag zur Produktentwicklung.
Der Maler Ingo Schulze-Schnabel als »Artist in Residence« bei der Firma Schriever-Schrauben in Lüdenscheid. Foto: Thomas Millutat*
Erwartet wird von den Künstlern ein Impuls, den sie in der Rolle moderner Hofnarren (sie dürfen/können Themen, Konflikte benennen, die sonst tabui-
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siert sind ...) in das Unternehmen einbringen. Sie arbeiten als Moderatoren, Katalysatoren oder als Themendetektoren ... »Zur Zeit wird gemeinsam zwischen der ›techniklastigen‹ MANNESMANN Pilotentwicklung und den Künsten eine Internetseite mit dem Titel ›futurcar‹ aufgebaut. Hier sollen sich technische Aspekte mit künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Aspekten zum Thema ›Auto der Zukunft‹ vereinigen und somit eine wesentlich weitere Sicht auf die Problematik schaffen.« (Schütz: 2000, S. 11) Künstlerische Gestaltung von Produkten und Marketingkonzepten Immer mehr Firmen verkaufen mit ihren Produkten »ein Stück Lebensgefühl«, was bedeutet, dass hier die Ästhetisierung der Produkte, der Werbung und der Marketingstrategien weiterentwickelt wird. In unterschiedlicher Weise kann dies auf den Arbeitsalltag in den Unternehmen zurückwirken oder den Alltag der Kunden prägen. Unternehmen schaffen also selbst Kultur und teilweise auch Kunst. »Unternehmen, die Güter produzieren, sind, wenn sie zugleich Marken kreieren oder Werbung machen, zur Hälfte bereits Kunstproduzenten, die Geschichten erzählen, um Kontexte zu produzieren, in denen ihre Güter Wertzunahmen erfahren. Güter, die zugleich mit Bedeutungen geliefert werden, haben Selektionsvorteile. [...] Natürlich sind Codes dieser unternehmerisch erzeugten Bedeutungswelten nicht identisch mit denen der Kunst- und Literaturwelten, aber funktional äquivalent und von eigener Qualität, so dass wir davon reden können, dass hier eine eigene Kunst- und Literaturgattung entstanden ist.« (Priddat, Birger 2002, in: Pientak et al. 2002, S. 200-203) In einigen Unternehmen bleibt dies eine rein äußerliche, an Spezialisten vergebene Aufgabe. In anderen Unternehmen kann eine Annäherung zwischen Firmenphilosophie, Unternehmenskultur und Ästhetisierung von Produkt und Produktion beobachtet werden.4 Ausgestaltung der Unternehmenskultur Sie kann ein weiteres Feld sein, in dem Kunst integriert wird: •
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in Form von betrieblicher Förderung von Kunstaktivitäten der MitarbeiterInnen (Betriebschöre, Theater- oder Musikabonnements, Firmenkonzerte ...), in der Gestaltung der Räume, in Form von künstlerischen Workshops für die MitarbeiterInnen,
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in der ästhetischen Gestaltung der Unternehmung als Gesamtkonzept, wie dies z. B. in vielen anthroposophisch orientierten Betrieben der Fall ist. Architektur, Produkte, aber auch Aktivitäten des Unternehmens werden dort ästhetisch gestaltet.
Integration künstlerischer Methoden in betriebliche Bildungsangebote Immer mehr im Feld der Weiterbildung Tätige, Unternehmensberater, Managementtrainer nutzen künstlerische Methoden, um ihre Inhalte auf interessante und nachhaltige Weise zu vermitteln. Die Offenheit für solche Methoden ist zwar noch sehr stark abhängig von Alter, Bildungsgrad und der sozialkulturellen Zugehörigkeit der KursteilnehmerInnen, nimmt aber zu. Auch die wachsende Popularität, z. B. von Unternehmenstheatern, zeigt, dass es durchaus möglich ist, eine ganze Belegschaft in ein Theaterprojekt zu integrieren, das eine pädagogische Funktion hat: z. B. Konflikte, die bei der Verschmelzung zweier Unternehmen entstehen, zu thematisieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Ob die Übertragung in die realen Arbeitssituationen funktioniert, hängt davon ab, wie plausibel und verbindlich in der Aufbereitung der Ergebnisse einer solchen Aktion die Übertragung einzelner Handlungselemente in Arbeitssituationen umgesetzt wird. Auch in der betrieblichen Ausbildung werden Schlüsselkompetenzen zunehmend durch künstlerische Ausbildungsabschnitte vermittelt (z. B. DM-Drogeriemarktkette, Stahlwerke Bremen, Bayer ...). Die beiden folgenden Formen des Kunsttransfers zeichnen sich dadurch aus, dass hier nicht die Kunst in den Kontext von Erwerbsarbeit hineingeholt wird, sondern dass sich Akteure aus Unternehmen auf neue Handlungsfelder einlassen und zu gleichberechtigten Formen der Zusammenarbeit mit Künstlern und Bürgern kommen wollen: »Community Involvement« Zuerst in England, dann auch auf dem Kontinent, wurden Modelle entwickelt, in denen Manager und Führungskräfte für einige Zeit in gemeinnützigen oder kulturellen Einrichtungen arbeiten (bei vollem Gehalt) und dort ihr Know-how zur Verfügung stellen. Die Unternehmen versprechen sich davon einen Gewinn in Sachen Personalentwicklung. Die Führungskräfte lernen ganz anders strukturierte Bereiche und Problemlagen kennen, sie trainieren ihre sozialen, kommunikativen und kreativen Fähigkeiten. Umgekehrt kön-
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nen die gemeinnützigen oder kulturellen Einrichtungen das Know-how der Manager für ihre Organisation nutzen (vgl. Hammerbacher: 2000). Es bleibt zu kritisieren, dass dies nur für Führungskräfte gelten soll. Kunstaktionen, die Lebens- und Arbeitswelt verbinden und gestalten Geht man davon aus, dass Künstler bestimmen können, was ihr Gegenstand und ihr Material sein soll, so ist es nur konsequent, zu behaupten, dass auch soziale Prozesse Kunst sein können. Joseph Beuys hat dies bereits auf den Begriff der »sozialen Plastik« gebracht. (Beuys: 1997) Soziale Prozesse, z. B. Kommunikationsprozesse, als mögliches »Material« künstlerischer Gestaltung zu erkennen, ist auch bei der Entwicklung von Kunstformen im Internet wichtig gewesen.5 Damit schließen aktuelle Entwicklungen der Avantgardekunst an sozial engagierte Kunstformen der sechziger Jahre an: »Während man in einer ersten Phase, in den sechziger, siebziger Jahren noch vielfach versuchte, über aufklärerische Bewußtmachungsstrategien die Gesellschaft zu verändern, stellen sich die aktivistischen Kunstpraktiken der achtziger und neunziger Jahre jenseits metaphorischer Andeutungen unmittelbar dem ständig wachsenden politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsbedarf. Strategisch schlägt [die Künstlergruppe, G. S.] WochenKlausur aus der kulturellen Valenz von Kunst Wirkungskapital für die Verbesserung sozialer Lebensbedingungen. Ohne ideologische Fixierungen und ohne moralisierenden Übereifer will die Gruppe kleine, modellhafte Beiträge zu gesellschaftlichen Fragestellungen erarbeiten. Zu Kunst werden diese prozeßhaften Interventionen durch ihre räumliche und argumentative Verortung im Kunstkontext.« (Kurt, 1998, S. 87) Die hier geschilderte Künstlergruppe WochenKlausur integriert in ihr künstlerisches Handeln zum Beispiel die Gründung eines Unternehmens und eine klare ethische Zielsetzung: »In der jüngsten Intervention plant die WochenKlausur die Gründung eines Kleinunternehmens. Eine Agentur, die als Schnittstelle zwischen Produktdesignern, Verarbeitungsexperten und potentiellen Kunden die Produktion von Recyklaten koordiniert und ermöglicht. [...] Einmal mehr unternimmt die Gruppe damit den Versuch, Utopie und Realität modellhaft in nachhaltigen Lösungsvorschlägen zu verknüpfen.« (Kurt, 1998, S. 87)
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Wenn es richtig ist, dass künstlerisches Handeln einen Rahmen schafft, in dem (selbst-)reflexives Handeln mit den als zum Kunstprozess zugehörig definierten »Materialien«, Strukturen, sozialen Beziehungen entsteht, könnten solche Projekte wie ein Brennglas auf soziale Strukturen, z. B. den Schnittpunkt von Arbeiten und Leben, gerichtet werden. Innerhalb dieser künstlerischen Prozesse könnten die beteiligten Menschen Autonomie und Selbstverständigung entwickeln. In Bezug auf die Gestaltung individueller Lebensführung beschreiben Brater u. a. diese Möglichkeit folgendermaßen: »Wie bei der Entstehung eines Bildes kann auch bei der Gestaltung des eigenen Lebenslaufs ein Moment eintreten, in dem dessen Eigengesetzlichkeit deutlich wird, in dem aus dem anschauenden Denken über diese Biographie hinaus erkannt wird, wo es weitergehen, was hinzukommen muß, wie die Elemente miteinander in Beziehung zu setzen sind. Diese gestalterische Haltung dem eigenen Leben gegenüber ist ›experimentell‹ im Sinne der beschriebenen Verbindung von Handeln und Erkennen. Die Eigendynamik des Lebenslaufs ist genauso wenig voll kontrollierbar wie die des entstehenden Bildes. Man führt mit seinem eigenen Lebenslauf eine Art Dialog, in dem die ›ungewollten‹, ungeplanten Ereignisse immer wieder Anlaß zu neuen Gestaltungs- und Steigerungsbemühungen und zu Versuchen geben, die eigene Identität durch Interpretation jener Ereignisse weiter auszugestalten.« (Brater u. a., 1989, S. 167) Wo Kunstprojekte etwas bescheidener das Ziel einer realen Formveränderung umsetzen, indem zum Beispiel ein Stadtteil wirklich gestaltet, eine Arbeitsumgebung tatsächlich verändert, Netzwerke und Strukturen wirklich erzeugt werden, kann künstlerisches Handeln Folgen haben, die wirksam bleiben und positive soziale Effekte haben, selbst wenn das Brennglas der Aktion nicht mehr vorhanden ist. Modellhafte Kunstaktionen zwischen Arbeit und Leben – Beispiel Südwestfalen Im Rahmen unseres Projektes wollten wir mit Menschen in der Region Südwestfalen in dieser Richtung weiterdenken. In Kooperation mit Personen aus den örtlichen Unternehmen, mit KünstlerInnen, BürgerInnen, SchülerInnen und Vertretern der Kommunen wurden Kunstaktionen initiiert, die einen bleibenden Nutzen für den Lebensalltag vor Ort haben sollten. Professionelles handwerkliches, künstlerisches, organisatorisches Können sollten zusammenfließen mit den Ideen von Beschäftigten, BürgerInnen und Jugendlichen.
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Die Bildhauerin Silke Krah im Sägewerk Heinz Sting in Nephten-Salchendorf Foto: Thomas Millutat
Mit der Beteiligung von Unternehmen an Kunstaktionen sind in Südwestfalen erste positive Erfahrungen gemacht worden: Künstlerinnen haben im Unternehmen gearbeitet. Sie haben mit den Materialien der Betriebe Kunstobjekte geschaffen (z. B. eine Holzskulptur in einem Sägewerk). In einigen Fällen mit Beteiligung von Beschäftigten oder Schülern. In anderen Betrieben wurden gemeinsam Plastiken erstellt, die jetzt im öffentlichen Raum stehen. Verschiedene Kunstevents wurden in den Räumen und mit dem technischen Können der Beschäftigten organisiert. Im Rahmen der Kunstaktion »Quo Vadis?« stand beispielsweise eine Fertigungshalle der Firma Krupp VDM in Altena vier Wochen lang für Proben zur Verfügung. Die Trennung zwischen den Akteuren der Kunstaktion und dem Betrieb wurde immer wieder aufgehoben. Diverse technische Probleme konnten nur mit dem Know-how und durch das Engagement der Mitarbeiter gelöst werden. Die Resonanz bei den Beschäftigten war ausgesprochen positiv. 600 Karten für die Aufführung des mehrstündigen Multimediaevents wurden verkauft, über 400 davon gingen an die Belegschaft und deren Angehörige. Über 120 KünstlerInnen waren involviert, die fast alle direkt aus der Region kamen (Tanzgruppen, Chöre, ein Jugendorchester, Lichtkünstler etc.). Was entstanden ist, war nicht nur ein »multimediales Kunstevent im industriellen Raum« sondern auch eine Form der Selbstverständigung des Unter-
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nehmens, der Stadt und der Region, die ein wenig ungläubig und staunend ihre Talente in einem neuen Rahmen wahrgenommen hat. Auch wenn diese Aktion noch im Rahmen eines vorführbaren und dann auch abgeschlossenen Events stattfand, sind weiterreichende Wirkungen, Kontakte, Erfahrungen und Kooperationen entstanden. Sie könnten im günstigsten Fall alle Beteiligten auf die Gestaltbarkeit von Lebens- und Arbeitsformen hinweisen.
Rappergruppe bei Proben des Quo Vadis?-Projektes in der Produktionshalle von Krupp VDM in Altona. Foto: Thomas Mullutat
Künstlerische Methoden in Bildungs- und Lernprozessen Künstlerische Methoden, so die These, sind besonders geeignet, um fünf Foren von Lernerfahrungen zu stärken: 1. Künstlerisches Handeln als ästhetisches Handelns stärkt die Zuwendung zur Realität
Der ästhetische Zugang öffnet die Wahrnehmung für die Besonderheiten von Objekten. Sie öffnet phantasievolle Sichtweisen, weil sie eindeutige Zwecke zunächst ausschließt. Sie erfordert und fördert den respektvollen Umgang mit dem Gegenüber. Das Einlassen auf einen künstlerisch ästhetischen Prozess bedeutet darüber hinaus, in einen eigenen Handlungsrahmen einzutreten, in dem besondere (künstlerisch ästhetische) Kriterien und Regeln gelten.
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Damit wird eine Schwelle überschritten, die gerade Menschen mit hohen und perfektionistischen Selbstansprüchen verunsichert (»Hilfe, ich bin doch kein Maler ...«), andererseits konnten wir immer wieder beobachten, dass diese TeilnehmerInnen, sobald sie sich eingelassen hatten, die spielerischen Möglichkeiten und Freiheiten besonders genossen.6 Eine ästhetische Lernerfahrung erzeugt eine starke immanente Motivation. Hier entsteht eine prozesshafte, sich selbst verstärkende Dynamik die, wenn sie nicht gelingt, natürlich auch eine frustrierende Wirkung haben kann ... 2. Künstlerisches Handeln als Modell für kreative Prozesse
Ein künstlerischer Prozess folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten und durchläuft verschiedene Phasen. Er führt systematisch an bestimmte Krisen und deren Bewältigung heran, die typisch für alle kreativen Prozesse sind: • • • • • • • • • • • •
Ideenentwicklung entlang von Anregungen aus der eigenen Erfahrung oder der Umwelt, Auseinandersetzung mit: verschiedenen Gestaltungsoptionen, technischen Möglichkeiten, den eigenen, bzw. den verfügbaren handwerklichen Möglichkeiten, der Natur (des Materials, des Gegenstandes), den eigenen Gestaltungsschritten, -formen, -ergebnissen, -ideen, dem, was andere zu diesem Thema, mit diesem Material gestaltet haben (Referenz), dem Form-Inhalt-Problem, der Differenz zwischen Plan und Realisation, den anderen Mitgliedern eines Produktionsteams (z. B. beim Theater, in der Musik), möglichen antizipierten und realen Rezipienten
Hier geht es nicht nur um die kunstimmanenten Regeln und Kompetenzen, sondern um zahlreiche Fähigkeiten, die grundsätzlich bei der Realisation kreativer Projekte wichtig sind. Die Erfahrung der gesamten Dynamik künstlerischer Produktionen ist paradigmatisch für Produktionsprozesse im Allgemeinen, für die Auseinandersetzung von Menschen in Gruppen bei dem Versuch, ein Ziel zu definieren und zu erreichen. Das hier entstehende erfahrungsgeleitete Lernen wirkt besonders nachhaltig und ist meines Erachtens besonders gut geeignet, die genannten komplexen Lerninhalte zu vermitteln.
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3. Künstlerisches Handeln ist Auseinandersetzung mit Emotionen
Die künstlerische Auseinandersetzung mit Idee und Material hat, zumindest in unserer Kultur, einen engen Bezug zu den Emotionen derjenigen, die künstlerisch arbeiten, wie auch derjenigen, die Kunst rezipieren. Künstlerische Symbole codieren Gedanken und Emotionen. Sie sind häufig als einzige Kommunikationsform in der Lage, Unbewusstes und »Unsagbares« auszudrücken. Im therapeutischen Bereich wird künstlerisches Arbeiten als Methode genutzt, solche Gedanken und Emotionen auszudrücken und damit verhandelbar zu machen, eventuell neu miteinander zu verknüpfen. Diese Tatsache führt immer wieder zu der Annahme, Kunst und künstlerisches Arbeiten sei ein besonders ganzheitliches, ein unmittelbares Tun. Zu einer künstlerischen Erfahrung wird der Ausdruck von Emotionalität jedoch nur, wenn er in eine Form der Distanzierung und damit in einem Reflexionsprozess eingebunden wird, das heißt, wenn die primäre Unmittelbarkeit von Regungen verfremdet, in eine Distanz gebracht wird. In diesem Potenzial liegen große Chancen für die reflektierende Weiterentwicklung von Personen und Gruppen, aber auch die Herausforderung mit den entstehenden Emotionen verantwortungsvoll umzugehen. 4. Künstlerisches Handeln vermittelt differenzierte Deutungsfähigkeiten
Kunst (Rezeption wie Produktion) ist ein Codierungs- und Decodierungsprozess, der auf einer ausgefeilten Skala von hermeneutischen Kompetenzen (Kommunikationsfähigkeit, Kunstverständnis) funktioniert. Hier wird deutlich, dass es sich um sehr komplexe, sehr vermittelte, sehr beziehungsreiche Tätigkeiten handelt. Genau darum kann die Auseinandersetzung mit Kunst und künstlerischen Methoden Kompetenzen fördern, die zur Decodierung von Sinn in einer hochkomplexen, historisch verfassten, interkulturellen gesellschaftlichen Realität notwendig sind. Künstlerische Codierungs- und Decodierungsprozesse erfordern zum einen Wissen und Erfahrung mit dem selbstreferenziellen System Kunst (vgl. Bourdieu), aber ich behaupte, dass solche hermeneutischen Erfahrungen auch übertragbare Kompetenzen stärken. z. B.: • •
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Fähigkeiten, Referenzsysteme (z. B. Stilrichtungen, historische Bezüge, Anspielungen, Ironie ...) zu erkennen, nach immanenten Regeln zu fragen,
Chancen und Formen des Transfers künstlerischer Handlungsformen in die Erwerbsarbeit
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unterschiedliche Standpunkte bei der Codierung/Decodierung zu beachten, interkulturelle Fähigkeiten, die das Eingebundensein künstlerischer Ausdrucksformen in kulturelle und historische Kontexte erkennen. Fähigkeiten, in unterschiedlicher Weise zu übersetzen, unterschiedliche »Schlüssel und Zugangsweisen« zu einem Phänomen erproben: sinnlicher, emotionaler, historischer, inhaltlicher, ästhetischer Zugang ...
5. Künstlerisches Handeln forciert eine (selbst-)reflexive Haltung und schafft gute Voraussetzungen für Aufklärung und Kritik
Künstlerisches Handeln ist reflexives Handeln: in Bezug auf ihren Gegenstand, die Themen, die Formen und Methoden, in Bezug auf die Rolle des Kunstschaffenden selbst wie auf die Gesellschaft. Kunst schafft einen neuen Standpunkt und neue Einsichten, sie nähert an, aber sie distanziert auch. Sie ist prinzipiell aktiv, um Standpunkte und Blickwinkel bewusst zu machen, Unausgesprochenes sichtbar, Tabus und Grenzen erkennbar zu machen. Dieser reflexive und subversive Charakter der Kunst ist ein wichtiger Motor für aufklärerische Prozesse und Erfahrungen und ständiges Störmoment für Versuche sie zu instrumentalisieren. Denn das Entstehen von Kunst lässt sich kaum verhindern! Ausblick Befragt man KünstlerInnen und Unternehmer und Beschäftigte, ob sie künstlerische/s Handeln, Interventionen oder Aktionen im Betrieb für sinnvoll halten, so teilt sich diese Gruppe sehr schnell in diejenigen, die hier Erfahrungen gemacht haben und diejenigen, denen solche Erfahrungen fehlen. In der Gruppe derer, die theoretisch über Chancen des Transfers nachdenken, überwiegt Skepsis, aber beinahe alle, die praktische Erfahrungen gemacht haben, möchten auf diesem Weg weitergehen. Die von uns befragten KünstlerInnen, die konkret mit und in Unternehmen gearbeitet haben, waren überrascht von der Freiheit und Kooperationsbereitschaft, die sie genossen. Sie beschreiben es als besonders interessante Chance, in einem gesellschaftlichen Bereich aktiv zu werden, der ihnen sonst nicht zugänglich ist. Sie sind interessiert, hier sowohl Anregungen als auch relevante Fragestellungen vorzufinden. Die Kunstaktionen in den Unternehmen,
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wenn sie denn als künstlerische Prozesse definiert und anerkannt waren, boten stets die Freiheit des »besonderen künstlerischen Raumes«.7 Innerhalb dieses Raumes waren auch unbequeme oder subversive »Aussagen« möglich, ja sogar erwünscht. Wird der künstlerische Impuls im Unternehmen gewollt, werden auch die notwendigen Freiräume geschaffen. Die Integration oder auch die Neutralisierung der künstlerischen Impulse geschieht meines Erachtens häufig indirekt: durch die Rahmenbedingungen. Werden Strukturen so weit geöffnet, dass neue Ideen oder Kritik in die Organisationsentwicklung aufgenommen werden? Oder bleibt die künstlerische Intervention ein vereinzeltes Ereignis, das lediglich in der persönlichen Erfahrung der einzelnen TeilnehmerInnen bzw. in einer einmaligen öffentlichen Darstellung Form annimmt? Die Form und Qualität des Transfers, der als eigener Lern- und Handlungsbereich ausgebaut werden müsste, entscheidet über die Wirksamkeit und die Wirkrichtung künstlerischer Impulse. Es gibt bereits einzelne UnternehmensberaterInnen und OrganisationsentwicklerInnen, die mit KünstlerInnen kooperieren. Zahlreiche Weiterbildungsansätze verwenden künstlerische Methoden. Dies geschieht jedoch immer noch vereinzelt und eher unsystematisch. Der Einsatz künstlerischer Potenziale kann erst dann sein ganzes Potenzial entfalten, wenn Unternehmen bereit sind, ihre Unternehmenskultur, ihre Unternehmensethik mit den Beschäftigten partnerschaftlich zu entwickeln. Nur dann kann ein Rahmen entstehen, in dem sich die Potenziale des Künstlerischen entfalten können, in denen Mitarbeiter sich ernsthaft aufgefordert fühlen können, kreatives, reflexives Denken einzubringen. Der Philosoph Wolfgang Welsch empfiehlt zur Lösung der komplexen Gegenwartsfragen eine Denkform und eine Praxis, die jenseits von theoretischen Gewissheiten und dogmatischen Festlegungen pragmatische Lösungen sucht. Er reagiert mit seinem Konzept der »transversalen Vernunft« auf die veränderten Realitäten im Lebens- und Arbeitsalltag der Menschen und kommt zu dem Schluss, dass ein verantwortungsvolles angemessenes Handeln in komplexen Strukturen nicht mehr auf der fiktiven Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft aufbauen kann. Er setzt dagegen sein Konzept der transversalen Vernunft, die er folgendermaßen charakterisiert: »Transversale Vernunft ist – wie praktische Vernunft auch – involviert, sie operiert inmitten einer Vielheit von Ansprüchen, beachtet Unterschiede, und sie findet sich zu Seitenblicken und Übergängen genötigt und ist zu ihnen
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Chancen und Formen des Transfers künstlerischer Handlungsformen in die Erwerbsarbeit
bereit. Sie weiß, dass angrenzend andere Möglichkeiten bestehen, und sie drängt nicht auf deren Elimination, sondern ist bemüht, sie zu erforschen. Nur alternativenwach kann sie das Richtige finden. Sie hat das Umfeld im Blick, ist auf Reibungen und Einsprüche aufmerksam, ist gegen Unterdrückungen und Ausschlüsse allergisch und für das Unbestimmte und Unfassliche offen. Sie hat ihre Nagelprobe dort, wo es gilt, sich im Unübersichtlichen zu bewegen und ohne sichere Regel das Richtige treffen zu können.« (Welsch, 1996, S. 789f.) Teil dieser Form der Vernunft ist konsequent das ästhetische Handeln als besondere Form der Hinwendung zur Wirklichkeit: »Transversale Vernunft nimmt – gemeinsam mit praktischer Vernunft – auch Züge ästhetischer Vernünftigkeit an. Sensibilität wird zu einer Elementarbedingung in einer Welt der Pluralität. Aufmerksamkeit für das Detail, Wachsamkeit gegenüber vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die Zuwendung zum Unscheinbaren sowie Flexibilität und Spontaneität werden wichtig. [...] zudem muß man in der Lage sein, den ›springenden Punkt‹ der jeweiligen Komplexe zu gewahren; schließlich gilt es, in prekären Situationen voller Konflikte und Unordentlichkeit das Treffliche zu finden. Mit alledem kommen ästhetische Komponenten von Vernunft ins Spiel.« (Welsch, 1996, S. 796) Künstlerisches Handeln selbst, wie ich es zu Beginn beschrieben habe, kann ein Modell für die Anwendung dieser »transversalen Vernunft« sein. Diese Handlungsform will nicht künstlerische Rationalität auf die Rationalität in Unternehmen übertragen, sondern eine Form schaffen, die, ähnlich wie das Freiheit schaffende Arrangement künstlerischen Handelns, Menschen in die Lage versetzt, zwischen unterschiedlichen Anforderungsstrukturen, Systemlogiken, Grenzen und Bedürfnissen das »Treffliche« zu finden.
Anmerkungen * 1
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Die Rechte aller drei in den Text aufgenommenen Fotos liegen beim IBK. Der hier vorliegende Text ist ein berarbeiteter Auszug aus meinem Text »Künstlerisches Handeln, ein Impuls für die neue Arbeitsrealität«, zuerst erschienen in: Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft/Institut für Bildung und Kultur (Hg.): Kunst.Kultur. Arbeit – Perspektiven eines neuen Transfers, Essen, 2003, S. 220-241 Vgl. dazu Sieben, Gerda, Kultur als Moderator des Wandels. Wandel der Arbeitsgesellschaft – Herausforderung für die kulturelle Bildung, Essen 2003, S. 73-101 Vgl. Siemens: KunstWerk Nürnberg Artist in Residence Sommer 2001
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Vgl. Ansätze bei IKEA, Montblanc, VW … »Die Kunstaktion ist eine interaktive Projektform: Gestaltung (Kunst) findet auf mehreren Ebenen statt: in der Konzeption und Visualisierung der Idee und in der Gestaltung der interaktiven Struktur. Es wird nicht nur aktiv rezipiert, sondern die Kommunikation selbst unterliegt einer künstlerischen Gestaltung: Sie hat in der Kunstaktion einen gestalteten Platz. Je nachdem, wie offen die Aktion angelegt ist, kann Gestaltung nur in einem sehr eng definierten Segment stattfinden (dem Puzzle ein Steinchen hinzufügen) oder sogar die Regeln verändern, nach denen Gestaltungsbeiträge in die Aktion integriert werden. Dies bedeutet, kommunikationstheoretisch gesprochen, nicht mehr nur aus der Perspektive des Senders zu gestalten, wie dies in der bildenden Kunst lange üblich war, sondern sich im Herstellen eines (Bild-) Arrangements bereits auf eine mögliche Rezeption und Reaktion (!) von Empfängern zu beziehen.« (Sieben, 1998) Vgl. Bericht über die Kreativwoche bei den Stahlwerken Bremen, in: Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft/Institut für Bildung und Kultur, (Hg.): Kunst.Kultur.Arbeit – Perspektiven eines neuen Transfers, Klartext Verlag Essen, 2003 Die Auswertung der Gespräche den Künstlerinnen und Unternehmerinnen aus den Kunstaktionen in Südwestfalen bestätigte diese Einschätzung ebenso wie die Kunstaktion der KünstlerInnen Katrin Böhm und Stefan Saffer bei BMW.
Literatur Bourdieu, Pierre: Elemente einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 159-201 Brater, Michael; Büchele, Ute; Funke, Erhard; Herz, Gerhard: Künstlerisch handeln, Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 1989 Gerhards, Jürgen (Hg.): Soziologie der Kunst, Opladen 1997 Glißmann, Wilfried: Ökonomisierung der »Ressource Ich« – Die Instrumentalisierung des Denkens in der neuen Arbeitsorganisation, in: Nickel, Gerd; Trittin, Wolfgang (Hg.): Denkanstöße, IG Metaller in der IBM, Düsseldorf, Mai 2000 Hammerbacher, Ruth: Zeitspenden, in: IBK und IFK (Hg): Arbeitspapier im Projekt Kultur und Arbeit, Bonn 2000 Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne. Postmoderne. Zweite Moderne, München 1999 Kurt, Hildegard: WochenKlausur Künstlerische Intervention zur Zukunft der Arbeit, in: ZUKÜNFTE Nr. 25, Berlin 1998 Pientak, Eda; Timmerberg, Vera: Arbeitskultur in neuen Dienstleistungsunternehmen, in: Pientak, Eda; Sieben, Gerda; Timmerberg, Vera (Hg.): Neue Dienstleistungen und Kultur, Lohmar, Köln 2002, S. 95-154 Röbke, Thomas: Kunst und Arbeit. Künstler zwischen Autonomie und sozialer Unsicherheit, Essen: Klartextverlag 2000 Sieben, Gerda; Völker, Karin: Arbeitswelt und regionale Lebenswelt künstlerisch verknüpfen, in: Institut für Kulturpolitik der kulturpolitischen Gesellschaft/Institut für Bildung und Kultur (Hg.): Kunst.Kultur.Arbeit – Perspektiven eines neuen Transfers, Essen: Klartext Verlag 2003 Dies.: Die Künste im Interkulturellen Prozess, in: Institut für Bildung und Kultur (Hg.), Gemeinsam Erleben, Remscheid 1995, S. 17-48 Dies.: Kunst@ktionen, Ästhetische Projekte im Netz, in: CD-ROM Kunst@ktion, Institut für Bildung und Kultur, 1998 Siemens, KunstWerk Nürnberg: Artist in Residence Sommer 2001, Ausschreibung, München 2000 Schmücker, Reinold: Was ist Kunst? Eine Grundlegung, München 1998 Schütz, Walter, in: busimess to business. 12 Stellungnahmen zu Kunst und Wirtschaft, Mannesmann Pilotentwicklung, München und Artcircolo, München, Katrin Böhm, Stefan Saffer (Hg.), London 2000 Welsch, Wolfgang: Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996
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Dienst und Leistung Personalentwicklung für »creative industries« They just don’t get it, do they? Have they totally forgotten, what it’s like to be passionate about something, to feel alive for the first time? Life isn’t about paying rent. It’s about living and being true to yourself. I don’t think the world owes me a living. But I owe it to the world to live. I can’t believe they never wanted to quit their job and do something crazy. Like sing the blues in the subway. How can they live without exploring that part of themselves? When did it die? When they are going to realize that this is the only chance any of us get’s? Enter the 1997/98 pernod liquid art award program for wall art, photographie and fashion, $ 10.000 grant each
category. Don’t compromise your spirit! (Werbeanzeige »You’ll never be an artist«, Pernod, 1997) In den Steuererklärungen für die Jahre 1994 – 1998 wurden laufend Verluste aus Ihrer Tätigkeit als Künstlerin geltend gemacht. Das Finanzamt hat zu überprüfen, ob diese Verluste weiterhin steuerlich anerkannt werden können, oder ob eine steuerlich unbeachtliche Tätigkeit aus dem Bereich der Lebensführung (sog. Liebhaberei) vorliegt. (Finanzverwaltung NRW, Schreiben vom 01. 08. 1999)
Schnaps ist Schnaps und Kunst ist Kunst Absinth, die gefährliche Muse längst vergangener Künstlergenerationen, die verlässlich half, trübe Aussichten und ökonomische Tristesse stundenweise zu vernebeln, darf vielleicht als entfernte Verwandte des mit dem oben zitierten Text beworbenen neuzeitlichen Getränks betrachtet werden. Ganz und gar nicht neuzeitlich, sondern ein verstaubtes Rollenklischee ist das hier beschworene Künstlerbild: realitätsfern, romantizistisch, essentialistisch – und naiv in der Annahme, man könne sich von einem Weltunternehmen mit einem $ 10.000-Scheck einkaufen lassen, ohne Kompromisse zu machen.
Andrea Knobloch
Die Verwertung künstlerischer Kompetenzen und Leistungen auf der unternehmerischen Präsentationsoberfläche wird hier einmal mehr als eine für beide Seiten in gleicher Weise beglückende Angelegenheit vorgeführt. Der wenig romantische Steueralltag setzt dagegen klare Prioritäten: Als Künstler/innen Anerkennung finden jene, die den Hauptteil ihrer Einnahmen aus künstlerischer Tätigkeit erzielen. Wer hier wem welche Dienste leistet, spielt dabei kaum eine Rolle, Hauptsache die Kohle stimmt. Ansonsten bleibt es bei der Liebhaberei: steuerlich unbeachtlich und per definitionem außerhalb jeglicher Verwertungszusammenhänge, also eine echte Alternative? Oder landen wir dann doch wieder beim Schnapsfabrikanten, nehmen aber den Scheck nicht mit? Kreativ wirtschaften Kulturpolitische Impulse gehen in Deutschland mittlerweile ohnehin vom Wirtschaftsressort aus. Verstanden als öffentliche Fürsorge und Beitrag zur Konsolidierung des gebeutelten Staatshaushalts entwickelt der Wirtschaftsund nunmehr gleichzeitig Arbeitsminister erzieherische Maßnahmen, um beratungsresistentes Klientel auf den richtigen, fiskalpolitisch kostenneutralen Weg zu führen: Künstler/innen, von denen auch Politiker/innen zu wissen meinen, sie seien mehrheitlich eher eigen als artig, werden mit Hilfe maßgeschneiderter Programme aus dem libertinären freiberuflichen Dasein heraus und an unternehmerische Denk- und Organisationsmodelle herangeführt. Unangenehme Gewohnheiten, wie das permanente Nachfragen nach staatlicher Unterstützung und der fortwährende Verbrauch öffentlicher Gelder, können so in Eigeninitiative, Flexibilität und Leistungsbereitschaft umgeformt werden. »Do it« titelt die Gründer-Initiative der Stadtsparkasse Düsseldorf.1 Sicher nicht unabsichtlich angelehnt an den fatalistischen Positivismus des fast gleich lautenden Nike-Slogans.2 »Ein Unternehmen bauen ist so kreativ wie ein Bild malen oder ein Buch schreiben.« Dieses Zitat des Gründers und Chefs von Nike, Phil Knight, ist der Broschüre Tipps zur Existenzgründung für Künstler und Publizisten3 vorangestellt, die vom deutschen Bundeswirtschaftsministerium im Jahr 2001 herausgegeben wurde. Was Künstler/innen hierzulande eh schon immer können mussten – sich trotz eines kontraproduktiven Steuer- und Sozialversicherungssystems auf dem exklusiven Kunstmarkt behaupten – wird ihnen nun in einem erweiterten Aktionsfeld unter neuen Vorzeichen einmal mehr beigebracht. Das Schatzkästlein Kunst – als beigestellter Zierat vielseitig verwendbar, ob es sich nun um Kochkunst, Gartenkunst, Lebenskunst oder eben die »Kunst der Selbständig-
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keit«4 handelt – wird durch das Zauberwort »Dienstleistung« von Kulturpolitik treibenden Wirtschaftspolitiker/innen sowie Vertreter/innen der Privatwirtschaft für eine kommerzielle Realisierung innerhalb der so genannten Kulturwirtschaft bzw. den »Creative Industries« erschlossen. Ausverkauf Das bereits 1994 verabschiedete und nach Abschluss der Verhandlungen der Mitgliedsstaaten der WTO spätestens im Jahr 2005 zu ratifizierende General Agreement on Trade in Services (GATS) wird diese Entwicklung weiter verschärfen: Der Kulturbereich ist hier den selben Deregulierungsbemühungen ausgesetzt, wie bisher noch staatlicher Regulierung und damit auch demokratischer Kontrolle unterliegende Basisdienstleistungen (Gesundheit, Bildung, Wasserversorgung etc.).5 Eine staatliche Förderung von Kulturinstitutionen wie Museen und Bibliotheken könnte künftig durch die WTO als eine Beeinträchtigung der Handelsfreiheit interpretiert und in der Folge mit Sanktionen belegt werden.6 Der ungehinderte Zugriff privater Investoren auf kulturelle Leistungen, die fortan ausschließlich nach kommerziellen Gesichtspunkten bereitgestellt würden, wäre nicht mehr abzuwenden. Eine Stellungnahme des deutschen Kulturrats7 beklagt insbesondere mögliche Einschränkungen des Urheber- und Leistungsschutzrechts durch das GATS im Hinblick auf eine daraus folgende Behinderung der weiteren Entwicklung der Kulturwirtschaft. Und das noch bevor negative Auswirkungen im Bereich der öffentlich finanzierten kulturellen Institutionen befürchtet werden. Auch die innerdeutsche Politik sitzt zwischen zwei Stühlen: Der Anteil der dienstleistungsgeprägten Kulturwirtschaft am deutschen Bruttoinlandsprodukt nimmt ständig zu. Die Wachstumschancen werden durchweg positiv prognostiziert, und vorhandene Potentiale sind noch lange nicht ausgeschöpft. Bundesdeutsche Sparpolitik wird vor allem auch auf Kosten des kulturellen Sektors ausgetragen, was Privatisierungsbestrebungen weiter vorantreibt. Es besteht allerdings auch ein Konsens mit den europäischen Nachbarn, dass die noch vorhandene »kulturelle Vielfalt« in ganz Europa weiterhin schützenswert und der Kultur-, Bildungs- und Gesundheitsbereich von der Deregulierungspolitik der WTO auszunehmen sei.8
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Selbstverständlich selbstständig Wie schaut sie konkret aus, die wirtschaftspolitische Konstruktion des/der Künstler-Unternehmer/in? Exemplarisch sei hier StartArt – die Gründungsoffensive für Kunst und Kulturwirtschaft in NRW 9 zitiert. Diese bereits im November 2000 unter dem Motto »Kulturwirtschaft, Kreativität und kaufmännisches Können« ins Leben gerufene Initiative des Ministeriums für Wirtschaft, Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung (GIB)10 wird als offener Wettbewerb organisiert. Die Gewinner/innen erhalten 5.000 Euro Preisgeld und können darüber hinaus bis zu 50.000 Euro zur Realisierung ihrer Konzepte abrufen. Allerdings erst nach einer erneuten intensiven Überprüfung des vorgelegten Businessplans auf seine Realisierungswahrscheinlichkeit, um sicherzustellen, dass es nicht doch ein paar ausschließlich am Künstlerischen interessierte Experimentator/innen, Amateur/innen, Bastler/innen bis in die letzte Runde geschafft haben. Angesprochen sind in erster Linie Absolvent/innen der Kunstakademien, Kunsthochschulen und Fachhochschulen mit Schwerpunkt Gestaltung sowie Student/innen aller Fachrichtungen mit kunst- bzw. kulturwissenschaftlichem Bezug, die wirtschaftlich (noch) nicht erfolgreich sind, aber zu teuer ausgebildet wurden, als dass man sie weiterhin öffentlich subventionieren wollte. Die Entwicklung im Laufe der bisher drei Wettbewerbsrunden zeigt allerdings eine Verlagerung des Schwerpunkts bei den Altersgruppen von den 26bis 35-jährigen im ersten Ausrichtungsjahr hin zu der Gruppe der über 45jährigen in der letzten Wettbewerbsrunde: zu alt für einen festen Job, aber alt genug für den Chefsessel. Die Ultima Ratio einer ratlosen Arbeitsmarktpolitik heißt Arbeitslosigkeit durch Selbständigkeit ersetzen. Wobei in Bezug auf den Kulturbereich zwischen Individualkünstler/innen, die sich auf die Suche nach einer für den Lebensunterhalt ausreichenden Marktakzeptanz begeben, und kulturwirtschaftlich orientierten Neu-Unternehmer/innen nicht weiter unterschieden wird. Beide Gruppen werden mit den selben Rezepten traktiert. Erfolgreiche Akteur/innen der Kunst und Kulturwirtschaft sind laut Anforderungsprofil der StartArt-Offensive kreativ in der Entwicklung von Unternehmenskonzepten und teamorientierten Arbeitsmethoden, sie sind hoch qualifiziert und flexibel, und sie bündeln spartenübergreifend Kompetenzen aus Kunst, Organisation und Marketing im Rahmen intelligenter Dienstleistungs- und Produktionskonzepte. Allein 50 % aller Wettbewerbsteilnehmer/innen entdeckten im Dienstleistungsbereich ihre Erfolg verspre-
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chende Nische, mehr als die Hälfte der eingereichten Unternehmensideen adressierte als Kunden wiederum Unternehmen. Leistungskurse Auf dem Weg zum eigenen Betrieb bietet die GIB den zukünftigen KünstlerUnternehmer/innen qualifizierte Beratung an. Ziel der Gesprächsführung ist es, »komplexe, prozessual und offen formulierte Geschäftsideen auf ein Kerngeschäft zu reduzieren« (GIB), das am Markt aussichtsreich und praktikabel umgesetzt werden kann. Dazu gehört konsequentes Denken in Marketing-Kategorien, eine klare Produktdefinition (Nutzendefinition), die Ausrichtung auf Märkte und Zielgruppen sowie die Prüfung der Geschäftsidee auf Optionen, die wirtschaftliche Tragfähigkeit herstellen können (Marktanpassung). Ein speziell an Künstler/innen adressierter Beratungsmarkt hat sich parallel zur allgemeinen Gründer-Euphorie entwickelt. Nachfrageorientiertes Produzieren und kundengerechte Selbstdarstellung sind in jedem Fall der Schlüssel zum Erfolg: Nach allgemeiner und insbesondere der Auffassung des Wirtschaftsministers realisiert sich Kunst als solche schließlich erst im Augenblick ihres Verkaufs. Weiterbildungs- und ProfessionalisierungsInitiativen für Künstler/innen bieten zu Preisen ab 140 Euro für ein achtstündiges Seminar11 bis zu 8.720 Euro für einen 4-semestrigen Universitätslehrgang mit dem Abschluss Master of Advanced Studies (art economy)12 ein breites Spektrum. Angebote wie Vom Kunstwerk zum Produkt, Wege zu mehr Öffentlichkeit – Wie komme ich in die Presse? oder Malerkittel/Nadelstreif: Künstler, Banker, Sponsoren wollen helfen, vermeintliche Hemmschwellen gegenüber unternehmerischem Denken im künstlerischen Alltag abzubauen. Methoden aus der innerbetrieblichen Personalentwicklung werden auf die Bedürfnisse von Künstler-Unternehmer/innen übertragen. Denn diese plagen sich mit einem zusätzlichen Handicap: Sie sollten nicht nur den oben zitierten Anforderungsprofilen nachkommen können, sondern bestenfalls als exotische Randerscheinungen die tägliche Langeweile aufpeppen, um Imagetransfer auch auf der zwischenmenschlichen Ebene zu sichern.13 Was unternehmen wir? Die hohe Konzentration der Neugründungen auf einen Dienstleistungsbereich, der wiederum Unternehmen als Kunden ansprechen will, zeigt einen spezialisierten Bedarf an. Dieser Bedarf nach ganzheitlicher Darstellung des Unternehmens nach innen (Mitarbeiter/innen-Bindung) und einer intelligenten Unternehmenskultur nach außen sowie der Konstruktion von kultigen
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Markenumgebungen für das aus der Export Production Zone zum Point of Sale heimgekehrte Produkt mündet in einen gesteigerten Bedarf nach künstlerischer Kompetenz.14 Künstler/innen zugeschriebene Potentiale wie Nonkonformismus, Lust am Experiment, Originalität, Beweglichkeit und Risikofreude lassen sich eben doch nicht ohne weiteres auf Manager/innen übertragen (wiewohl fleißig daran gearbeitet wird: siehe Phil Knight).15 Sie haben immer noch die weniger »kreativen« Skills wie Rationalität, Effizienz und Übersicht in die neue Partnerschaft einzubringen.16 Die Idee der Kulturwirtschaft basiert auf diesem kleinen Unterschied: Imagetransfer durch die Nutzung des »Labels« Kunst bei gleichzeitiger Fortbildung der Künstler-Unternehmer/innen zu kompatiblen Verhandlungspartner/innen, die die Sprache ihrer Kunden zumindest verstehen, aber darauf achten, ihren eigenen Status als die »Anderen« nicht nur nicht zu verleugnen, sondern – als zusätzlichen Kundenservice – auch »authentisch« zu performen. Innovativ in Essen (go for it!) Der in Kulturwirtschaft umgewandelte Kulturbereich entwickelt einerseits steigende marktwirtschaftliche Relevanz, andererseits wird er systemkonform instrumentalisierbar: Von Wirtschaft und Politik ohne größere Meinungsverschiedenheiten gemeinsam skizzierte Verwertungsschemata von Kunst und Kultur stecken den Rahmen ab, in dem sich Kultur als Standortfaktor hochrechnen lässt. Wie das auf allen Ebenen funktioniert, beschreibt nicht zuletzt die Essener Erklärung,17 Ergebnis des internationalen Fachkongresses Kulturwirtschaft in Europa (Essen 1999), ausgerichtet von den für Wirtschaft und Kultur verantwortlichen Ministerien in Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt. Kulturwirtschaft gewinnt als eigenständiges Wirtschaftsfeld ständig an Bedeutung, u. a. deswegen, weil ihre »Güter und Dienstleistungen kaum substituierbar sind« und zudem in der Herstellung außerordentlich personalintensiv. Kulturwirtschaft ist »zukunftsorientiert, kreativ und innovativ«, und »in Zeiten der Globalisierung schärft sie […] das eigenständige Profil von Regionen und verbessert damit auch die Rahmenbedingungen der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung.« »Sie schützt Kulturlandschaften vor den negativen Einflüssen eines nivellierenden Massenkonsums« und »stärkt […] die urbanen Zentren europäischer Städte«, die sie lebendiger und sicherer« macht.18 Das problemlösende Potential kultureller Aktivität hat sich also mittlerweile weit herumgesprochen. Ob Stadt, Region oder Unternehmen, für alles und für alle gilt: Wenn nix mehr hilft, dann hilft Kultur! Unter Beibehaltung des der Konstruktion Kulturwirtschaft inne-
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wohnenden schizophrenen Zielkonflikts – das Prestige des Labels Kultur leitet sich immer noch ab aus seiner strikten Entgegensetzung zum Mainstream, soll aber massenkompatibel vermarktet werden – wird an der Ersetzung kultureller Institute durch rentabel und effizient Identität, Sicherheit und Zukunft produzierende Kultur-Unternehmungen gearbeitet. »Go create«19 ist also doch gleich Go GATS«? Und was nun? Mein Vorschlag: Widerstand durch Liebhaberei! (Januar 2003)
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Do it! Mut zur eigenen Existenz. das Magazin des Startcenter Düsseldorf, Stadtsparkasse Düsseldorf/Eon Hg. http://www.start-center.de »Just do it!« Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie der Bundesrepublik Deutschland (Funktionsnachfolger ab Ende 2002: Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit der Bundesrepublik Deutschland) (Hg.): Wirtschaftspolitik für Kunst und Kultur. Tipps zur Existenzgründung für Künstler und Publizisten, Berlin 2001; http://www.bmwi.de Siehe Anmerkung 3. »What are services? Services are associated with everything we need and everything we elect governments to do. Broadly defined, a service is a product of human activity aimed to satisfy a human need which does not constitute a tangible commodity.« Scott Sinclair für das Canadian Centre for Policy Alternatives; http://www.policyalternatives.ca/publications/gatssummary.html Brixen/Bressanone Erklärung zur kulturellen Vielfalt und GATS der Europäischen Regionalminister für Kultur und Bildung einstimmig (bei 2 Enthaltungen) verabschiedet in Brixen/ Bressanone, den 18. Oktober 2002, http://www.are-regions-europe.org/COMMUN/A214a1.bhtml#Brixen Wahl, Peter: Dienstleistungen im Fadenkreuz neoliberaler Globalisierung. Die GATS-Verhandlungen der WTO, als pdf-download: http://www.attac-netzwerk.de/wto/gatswahl.pdf Stellungnahme des Deutschen Kulturrats zu den GATS 2000 Verhandlungen der WTO über bestimmte audiovisuelle Dienstleistungen und über Kulturdienstleistungen; http://www.kulturrat.de/aktuell/stellungnahmen/gats.htm StartArt, Projektträger: Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen (Funktionsnachfolger ab Ende 2002: Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen), Referat II B 3/ Kulturwirtschaft, Haroldstraße 4, D-40213 Düsseldorf, Tel.: +49 (0)211 837-2465 Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung mbH; http://www.gib.nrw.de Aus: Kunst. Bildung. Kultur. Professionalisierung – Management – Weiterbildung für Kunst-, und Kulturschaffende und Kulturinteressierte, KulturOfen NRW e.V.; http://www.kulturofen.com Universitätslehrgang Art and Economy, Veranstalter: Universität für Angewandte Kunst Wien. Voraussetzungen: Abgeschlossenes Studium. Zielsetzung, Inhalte: Der Lehrgang soll mittelfristig zu einem neuen Berufsbild führen, der/dem »Nahtstellenmanager/in« zwischen Kreativität, Ästhetik und betrieblichen Erfordernissen im Kulturbereich. Es sind folgende Module
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zu absolvieren: Management, Marketing und Selbstorganisation. Dauer: 4 Semester, in Modulen. Abschluss: Master of Advanced Studies (art economy) MAS, beantragt beim BMBWK. Kosten: ATS 30.000,-, EUR 2.180,--/Semester. Adresse und weitere Information: Universität für Angewandte Kunst, »art&economySekretariat« • Fr. Dipl.-Ing. (FH) Silke Petsch • A-1010 Wien • Oskar-Kokoschka-Platz 2 Tel. (+43/1) 711 33-20 41 • Fax. (+43/1) 711 33-20 49 [email protected] • Internet: http://www.uni-ak.ac.at/arteconomy »Ich freue mich immer auf die Besuche [der Künstler], die als ›bunte Vögel‹ viel Neues und Spannendes nicht nur in unsere Arbeit einbringen.« (Walter Schütz, Mannesmann Pilotentwicklung, in: Mannesmann Pilotentwicklung/Articolo/Kathrin Böhm & Stefan Saffer, mottomix (Hg.): Business to Business, 12 Stellungnahmen zu Kunst und Wirtschaft, München 2000). Siehe dazu: Motive für Kunst in Unternehmen, in: Unternehmen nutzen Kunst, Torsten Blanke Hg., Klett Cotta, Stuttgart 2002, S. 53ff. Auch Künstler bemühen sich um den Schulterschluss: »Sind wir Künstler und Bankiers uns nicht sehr ähnlich? Wechsler, Geldvermehrer, Goldmacher, schillernde Spekulanten des Scheins, Scharlatane gar. Verführer durch das Versprechen verwunderlicher Vermehrung. Beide malen wir an Bildern von glücklicher Zeit. Wir sind die Zauberer des Scheins. Die Schöpfer und Verwalter der verbindlichen Werte unserer Zeit.« (Thomas Huber, Künstler, in: Bundesverband deutscher Galerien (Hg).: Galerien in Deutschland. Schnittstelle Kunst + Markt, NCC Cultur Concept GmbH, Köln 2000). Siehe dazu: Nicolai, Alexander: Die Fäden zieht der Schöpferische. Warum gute Unternehmer auch Künstler sind, in: Grosz, Andreas; Delhaes, Daniel (Hg.): Die Kultur AG. Neue Allianzen zwischen Wirtschaft und Kultur, München/Wien: Hanser 1999, S. 67ff. Essener Erklärung: 10 Leitsätze zur Kulturwirtschaft in Europa, in: Kulturwirtschaft im Netz der Branchen. 4. Kulturwirtschaftsbericht NRW, Arbeitsgemeinschaft Kulturwirtschaft NRW im Auftrag der Ministeriums für Wirtschaft und Mittelstand, Energie und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, Dortmund/Witten/Bonn im November 2001, S. 7f. Alle Zitate aus: Essener Erklärung, s. vorangehende Anmerkung. Slogan: Sony
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Ästhetisch-künstlerische Bildung als Dienstleistung Einige Erfahrungen, Anmerkungen und Hinweise zum Dienstleistungsbegriff im pädagogischen Bereich, zu Qualitätssicherung und zur Evaluation von Bildungsprozessen In meinem kurzen Vortrag möchte ich am Beispiel der Entwicklung des KLAX das Thema »Ästhetische künstlerische Bildung als Dienstleistung« näher beleuchten. KLAX hat sich in den letzten 10 Jahren von einer kleinen Malschule zum Träger von 20 Kindertageseinrichtungen und einer Schule entwickelt. Eines der Ziele dieser Entwicklung war sicherlich, ästhetische Bildung aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nische herauszuholen, die Malschulen mit einem Nachmittagsprogramm wohl sind, und das Angebot künstlerischer Bildung einer größeren Anzahl von Kindern und Familien zugänglich zu machen. Schließlich, Kerngedanke einer Dienstleistung, hat sich bei den Kursen ein Bedarf nach Kunst gezeigt, der in neuen Angebotsformen gestillt werden wollte. Ich will dabei zeigen, dass das Einbringen von ästhetischer Bildung in Schule und Kindergarten kein schmückendes Beiwerk ist, sondern aus grundsätzlichen pädagogischen Überlegungen konzeptionell Sinn macht. Mit dem Begriff Dienstleistung sind aber auch Ansprüche verbunden: Als Dienstleistung muss sich ästhetische Bildung die Frage nach einer gesicherten Qualität gefallen lassen. In einem Bereich wie der Kunst, wo es selten um abrechenbare Ergebnisse geht, ist das sicherlich ein schwieriger Anspruch. Ich will zeigen, wie sich KLAX dem Problem der Qualitätssicherung im künstlerischen Bereich gestellt hat, indem im Interesse der zu bildenden Kinder verbindliche Planungsgrundlagen festgelegt wurden.
Michael Fink
Den Abschluss des Vortrages können kontroverse Gedanken über Chancen und Grenzen des Dienstleistungsgedankens im künstlerischen Bereich bilden – etwa die Frage: Werden damit erst unerfüllbare Erwartungen bei geldgebenden Kommunen und Eltern geweckt? Künstlerische Bildung versus Dienstleistung? Wie es sich mittlerweile für jeden Vortrag gehört, möchte ich mit einer kurzen »Themenformulierungs-Kritik« beginnen. Schließlich ist es das, was man beim Vorbereiten am längsten tut: Ich habe im Vorfeld des Vortrages lange über den Titel meines Beitrags nachgedacht: Künstlerische Bildung als Dienstleistung? Ist Bildung nicht immer schon per Definition eine Dienstleistung gewesen? Ist etwa künstlerisch-ästhetische Bildung nur deswegen nicht selbstverständlich eine Dienstleistung, weil das Künstlerische zur Bildung dazu kommt? Tatsächlich scheint da schon ein Körnchen Wahrheit oder Sinn hervorzuschimmern: In wenigen Bildungsbereichen ist der Gedanke, eine nachgefragte und wertvolle Dienstleistung zu erbringen, so fern wie in dem unsrigen. Bedeutet vielleicht auch, dass der Gedanke besonders schwer in den Bereich zu bringen ist. Oder? Von der Freizeiteinrichtung und dem Versorgungsbetrieb zum Dienstleistungsunternehmen – einige Worte über KLAX KLAX ist heute nicht nur Träger einer Malschule, sondern eine gemeinnützige GmbH, aktiv als Träger von Kindertagesstätten, der Malschule sowie einer Schule. Eine Vielfalt von Freizeitaktivitäten für Kinder und Familien werden angeboten, u. a. auch Feriencamps und Jugendaustausch, Familienreisen und Elternbildung. Mittlerweile entstehen die ersten betriebnahen Kindertagesstätten des KLAX in Kooperation mit Unternehmen (Beispiel Ikea), die offenbar gerade besonders wegen des künstlerisch-kreativen Konzepts an uns herangetreten sind. KLAX beschäftigt rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, betreut ca. 1.500 Kinder mit Ganztagsangeboten in den Kindertagesstätten und der Schule und bietet in der Malschule rund 500 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine zusätzliche Vielzahl von Angeboten in künstlerischem Bereich, die anderen Angebote nicht eingerechnet. KLAX hat eine Größenordnung erreicht, die der eines mittelständischen Betriebes entspricht. KLAX versteht sich heute als Dienstleistungsunternehmen im pädagogischen Bereich, das zum überwiegenden Teil im Auftrag der öffentlichen Hand arbeitet.
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Das war nicht immer so. Angefangen haben wir Anfang der Neunzigerjahre im Osten Berlins als normale »Malschule« mit Kursprogramm am Nachmittag, zwischen anspruchsvoller Förderung von kunstbegabten Kindern nach einem sich entwickelnden Konzept und den üblichen Nachmittags-Problemen jeder Freizeiteinrichtung: Luft raus nach Schule. Im Ostteil der Stadt, dass muss man dazu erklären, gab es nach der Wende einen echten Kunstpädagogik-Boom, wohl weil in der DDR-Pädagogik alles so gleichmacherisch durchstrukturiert war und Kunst genau das Gegenbild bedient: Kinder, die Riesen-Freiraum haben, die sich dreckig machen dürfen, die ihre Bilder rauslassen statt die der Erwachsenen übernehmen. Unsere Einrichtung wuchs schnell im Kursangebot, aber schon bald ergab sich bei den Eltern das Interesse, »mehr« KLAX für ihr Kind zu bekommen. Warum dem Kind im Malkurs Ausgleich für unbefriedigend enge Pädagogik im Kindergarten verschaffen, warum nicht lieber das Prinzip der Malschule zum Prinzip des Kindergartens machen? Und das erste »Produkt« entstand als Dienstleistung auf Nachfrage der Eltern, vulgo Kunden: Kindergärten mit künstlerischem Konzept. Mit Atelier, mit Künstlerin, die das Atelier betreut. Die im Atelier Dinge tut, die dann auf das Leben des Kindergartens ausstrahlen sollten. Auf dass dieser zum Kunst-Kindergarten werde. Kunst trifft Bildungseinrichtung und verändert sie Was passiert, wenn die Art Bildung, wie sie in Kinderkunstschulen passiert, auf die Bildungsvorstellungen einer Schule oder eines Kindergartens trifft? Aus diesem Einbringen eines Fremdkörpers (Künstler) in den Kita-Organismus hat sich eine wechselseitige Befruchtung ergeben. Die Sprache der Kunst, aber auch die Sinnlichkeit und Offenheit eines künstlerischästhetischen Zugriffs haben die Arbeit der anderen Pädagogen in den Kindergärten beeinflusst und zum Nachmachen angeregt. Andersherum hat auch die Begegnung mit der Kindergarten-Pädagogik unsere kunstpädagogischen Ideen erweitert. Es hat sich aus der Begegnung zweier Welten etwas Neues ergeben: ein pädagogisches Konzept, das die Grundlagen aus Erfahrungen mit künstlerischem Arbeiten hat und auf andere Bereiche überträgt. Heißt im Kindergarten: Wenn man im Atelier herausgefunden hat, wie man Kreativität optimal fördern kann, und dann mit diesem Wissen einen ganzen Kindergarten umbaut, entsteht ein Kreativ-Kindergarten, in dem nicht nur
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beim Malen, sondern auch bei Musik, Bewegung, bei allen Lernprozessen und Freispielphasen ein großer kreativer Freiraum entsteht. Weil der Kindergarten einen allgemeinen Bildungsauftrag hat, bedeutet das aber andererseits auch eine Veränderung in der Wahrnehmung ihres Tuns bei den Kunstpädagogen im Atelier: Sie merken, dass sie nicht nur einen netten Nebenaspekt fördern, wie es vielleicht der Nachmittagsmalkurs als Ausgleich für die Härte des schulischen Büffelns tut, sondern mit ihrer künstlerischen Zugriffsweise elementare Lernprozesse bei den Kindern in Gang setzen. Beim Malen, Bauen und Gestalten, so merken wir immer wieder, wird eben nicht nur die Fähigkeit des Selbstausdrucks und des Auslebens von Kreativität bei den Kindern gefördert. Es werden von Anfang an wichtige Materialerfahrungen gemacht, im Atelier beginnen Kinder mit dem Abstraktionsprozess des Darstellens von Erlebtem, was beim ersten Kritzelbild beginnt und zum Erlernen von Schrift führt. Es muss kaum erwähnt werden, dass sich die Schatztruhe »Kunst« auch dann für uns als ergiebig erwiesen hat, als wir auf Nachfrage der Eltern begonnen haben, eine Grundschule in eigener Trägerschaft zu entwickeln. Vieles von dem, was die traditionelle Grundschule an Handlungsorientierung vermissen lässt, ergibt sich bei unserem künstlerischen Zugriff fast von selbst: Wenn der Kunstraum nicht ein Nebenraum der Schule ist, in dem zwei Stunden pro Woche Ausgleich ermöglicht wird, sondern im Zentrum des Schulinteresses und der Projektarbeit steht. Wie wir zum Dienstleistungsgedanken gelangten Was aber hat eine solche pädagogische Veränderung mit Dienstleistung zu tun? Der Begriff und die Auseinandersetzung damit kam nicht ohne Not zu uns. Was war die Not? Veränderungsschritte wie das Übernehmen von Kindergärten durch Malschulen und das fröhliche Vermengen von Konzepten vollziehen sich keineswegs problemfrei und fehlerlos. Spätestens beim zweiten und dritten KLAX-Kindergarten zeigte sich nach großer Anfangseuphorie, dass sich bei diesem Projekt »dienstleistungsmäßig« Grenzen auftaten. Es ist für die Erzieherinnen in den aus öffentlicher Trägerschaft übernommenen Kindergärten schwerer als erwartet, sich mit dem Konzept vertieft anzufreunden. Spätestens, wenn es an die Grenzen der eigenen beruflichen Möglichkeiten geht. Viele unter uns Kunstpädagogen selbstverständliche Auffassungen kol-
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lidieren mit ebenso begründbaren Grundauffassungen der Mitarbeiter des Kindergartens oder den erlernten Arbeitsweisen unserer Lehrer. Auch wenn selten neue Arbeitsweisen offen abgelehnt wurden, steckte der Teufel oft genug im Detail, und aus Frust über Misserfolge machte manch einer wieder dort weiter, wo er bei der Übernahme des Kindergartens durch KLAX aufgehört hatte. Und da gibt es ein echtes, klassisches Dienstleistungsproblem, ohne dass man anfangs weiß, dass es eines ist: Der Kunde ist enttäuscht. Pädagogischen Einrichtungen kann schnell eine positive Ausstrahlung zukommen, die besser als manche gut konzipierte Werbung wirkt: Das sind doch die ganz Guten und Kreativen! Wenn ein solcher Anspruch nicht erfüllt wird, dann ist der Frust der Eltern riesengroß. Zu recht: Was wir zu verkaufen vorgaben, steckte nicht immer in der Verpackung drin. Wer auf seinen Postern freie, selbstbestimmte Kinder beim Schmieren mit Mischfarbe abbildet, darf nicht in der pädagogischen Arbeit gängeln und auf Verschmutzungsfreiheit drängen. Der Dienstleistungsgedanke und das Qualitätsmanagement »Eltern heißen die Menschen, die mit der pädagogischen Arbeit an ihrem Kind zufrieden sind. Sind sie es nicht, heißen sie Kunden!« Dieses Bonmot unterstreicht vielleicht den Hintergrund, wie wir dazu kamen, uns als Dienstleister zu sehen. Natürlich ist das aber nur die Oberfläche: Tatsächlich ist nicht die pädagogische Arbeit ursächlich, originär daran schuld, dass die Eltern unzufrieden sind. Bei unserem wachsenden Unternehmen war es besonders deutlich, was für andere größere Bildungseinrichtungen ebenso gilt: Die Steuerung versagt. Pädagogen können nicht optimal arbeiten, weil der Gesamtorganismus, also die Einrichtung oder das Unternehmen nicht funktioniert. So gesehen fand die Auseinandersetzung mit dem Dienstleistungsbegriff für uns auf zwei Ebenen statt: Einmal mussten wir lernen, die Eltern oder die Kinder als Kunden wahrzunehmen, also als Menschen, die mit Erwartungen an uns herantreten, die Klarheit in unseren Leistungen erwarten, die möglicherweise für neue, noch nicht entwickelte Angebote offen sind und bereit sind, diese zu bezahlen. Andererseits mussten wir lernen, die der pädagogischen Arbeit zugrunde liegenden Stützprozesse zu untersuchen, um herauszufinden, wie man sie opti-
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mal strukturieren kann. Wie kommt man gleichermaßen effektiv wie schnell an hochwertiges, unseren Ansprüchen gemäßes Kreativmaterial? Kann man die pädagogische Arbeit des Kursleiters oder der Erzieherin damit verbessern, dass ihr Aufgaben weggenommen werden, die jemand anders besser erledigen kann (Werbung, Eltern anrufen, Briefe verschicken, Pinsel kaufen)? Vor allem aber: Wie kann man die pädagogischen Absichten, Visionen und Ziele, die uns zur Gründung unserer Einrichtungen motiviert haben, so verständlich und verbindlich formulieren, dass jeder unserer pädagogischen Mitarbeiter weiß, was von ihm erwartet wird? Dass jeder ein Teil dieser gemeinsamen Leitidee werden kann und seine Gedanken mit einbringt? Das Ergebnis dieses Nachdenkens, Qualitätsmanagementsystem genannt, soll es ermöglichen, gleichermaßen effektiv zu wirtschaften wie den eigenen Anspruch optimal in die Praxis umzusetzen. Das ist das Wichtigste beim Thema »Bildung und Dienstleistung«. Verbindlichkeit: Konzepte absichern Ich will nun noch einige Einblicke zum bereits benannten Aspekt einfließen lassen, nämlich der Frage, wie man durch Qualitätsmanagement und das Ernstnehmen des Dienstleistungsgedankens die Durchführung des eigenen Konzeptes verbindlich absichert. Einmal, weil der andere Aspekt eher in den Bereich der Betriebswirtschaft abdriftet, deren Akteure da sicher mehr zu bieten haben als ich. Andererseits, weil ich denke, dass es trotz allem »Überlebenskampf« von Jugendkunstschulen und anderen Kindereinrichtungen nicht darum gehen kann, sein eigenes Ziel, seine Vision, bei der Frage nach der finanziellen Absicherung zu vergessen. Wohl aber darum, die Stärken des eigenen Tuns zu sichern, auszubauen und auf neue Felder zu übertragen ... Es muss Ziel sein, eine inhaltliche Vision mit allen Mitwirkenden teilen zu können, sonst wird das Angebot inhaltlich beliebig, und die Akteure fühlen sich nicht mehr eingebunden, weil sie nicht mitreden können. Erster Schritt ist immer das Verabreden eines gemeinsamen Ziels, hier in Form eines Leitbildes, einer Vision, wiedergegeben. Pädagogische Arbeit evaluieren: Vorgaben machen Ein Leitbild ist wichtig, aber noch lange nicht alles. Auch ohne die Verschriftlichung dürften sich die Mitwirkenden bei einer gemeinsamen Unterneh-
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mung über die Ausrichtung im Großen und Ganzen einig sein. Wichtiger ist es, verbindliche Vorgaben zu verabreden, in welcher Weise die Vision umgesetzt werden soll, welche Form von Praxis also dem Konzept genügt und welche Vorhaben eher nicht vereinbar sind. Hierfür hat es sich bei unseren Einrichtungen als entscheidend erwiesen, ein Pädagogisches Handbuch zu erstellen, in dem alle wesentlichen Vorgaben erfasst sind, die die Ausgestaltung der pädagogischen Arbeit betreffen. Hier ein Einblick in das Handbuch, am Beispiel des Buches über den Kindergarten – in ganz ähnlicher Form aber auch für Malschule und Schule gültig: Standard für den »Bildungsbereich Atelier/Malen, Gestalten, Formen« aus dem KLAX-Handbuch für Kindergärten mit Überprüfungsfragen zur Selbstevaluation Im KLAX-Konzept kommt ästhetischer Bildung besondere Bedeutung zu. Viele Kinder besuchen KLAXKindergärten, weil die Atelierarbeit ihren Bedürfnissen entgegenkommt, viel zu malen und zu gestalten. Weil sie über bildnerisches Gestalten ihre Erkenntnisprozesse über die Welt vorantreiben, weil sie sich auf bildnerischen Ausdruck und Kommunikation über Bilder verstehen. Die Pädagogen müssen im Atelier zwei fast entgegengesetzte Gedanken miteinander verknüpfen: Zum einen muss der prozesshafte Charakter des Arbeitens im Atelier Raum finden werden, es darf also nicht auf fertige Kunstwerke hingedrängelt werden. Kinder müssen im Atelier jederzeit Raum haben, ungezielte Spiele mit Farbe, Ton und vielerlei Materialien zu spielen, ohne damit ein Bild oder ein Objekt als Ergebnis erreichen zu wollen. Andererseits müssen Kinder bei ihrer Suche nach ihnen gemäßen bildnerischen Ausdrucksformen gefördert werden. Kindergartenkinder entwickeln oft hohen Ehrgeiz in Bezug auf ihre künstlerischen Erzeugnisse. Wenn sie ein Stolz erzeugendes Bild herstellen wollen, muss ihnen die PädagogIn alle Unterstützung geben, die sie dafür benötigen. Sie muss sie in die Lage versetzen, ihr Werk zu Ende bringen zu können. Und sie muss dem fertigen Werk durch Ausstellen und Besprechen die Achtung zukommen lassen, die das Kind braucht. Um diese Zielsetzungen zu vereinen, ist von der PädagogIn zweierlei zu leisten: Einmal muss sie eine sehr individuelle Einzelbetreuung jedes Kindes in künstlerischen Vorhaben ermöglichen. Sie muss durch sprachliche und bildnerische Kommunikation viel über das Wollen und Denken des Kindes erfahren und zu sensibler Beratung und Ermunterung fähig sein, wenn das Kind solches braucht. Sie muss andererseits Zurückhaltung üben können, wenn das Kind seine eigene Bildwelt in Ruhe aufbauen will. Zum anderen muss die PädagogIn immer wieder mit künstlerischen Angeboten an die Kinder herantreten. Inhalt solcher Angebote kann sein: Einführen einer neuen künstlerischen Technik, Kennen lernen eines neuen Materials, Arbeiten zu speziellen Themenstellungen, die durch entsprechende erzählerische, musikalische oder bildnerische Präsentationen eingeführt und begleitet werden.
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Bei der Auswahl von Themen und Techniken, die den Kindern vermittelt werden, ist ein hoher qualitativer Anspruch anzusetzen. Künstlerische Techniken, die auch von »echten« Künstlern genutzt wurden, haben Vorzug vor kurzzeitigen »Moden« wie diversen Hobby-Techniken (z. B. Window-Colour) etc. Wenn die Kinder erprobte künstlerische Techniken kennen lernen, erfahren sie ein Stück unserer Kultur. Und solche Techniken haben in aller Regel den Vorteil, vielfältige Handlungsmöglichkeiten zuzulassen, was für schablonenartige Hobby-Techniken selten zutrifft. Dieser hohe Anspruch schlägt sich auch in der Wahl von Materialien und Medien sowie dem Umgang damit nieder. Durch eine intensive Vorbereitung gewährleistet die PädagogIn, dass sie bei der Einführung neuer Techniken und Materialien fachgerecht vorgeht. Obwohl die PädagogIn den Kindern den sachgerechten Umgang mit Materialien vermittelt, um diese in ihrer Suche nach adäquaten Ausdrucksmöglichkeiten zu fördern, lässt sie die Kinder gewähren, wenn sie Dinge nicht bestimmungsgemäß verwenden und Themen abwandeln. Sie lebt den Kindern vor, wie es richtig geht, besteht aber nicht darauf, dass sie ihr sofort nacheifern. Überprüfungsfragen Bieten die Pädagogen den Kindern Freiraum für selbstgewählte künstlerische Vorhaben aller Art? Bieten die Pädagogen den Kindern eine intensive Beratung bei ihren künstlerischen Anliegen an? Vermitteln die PädagogInnen regelmäßig künstlerische Techniken im Bereich Malen und Zeichnen? (Großflächiges Malen mit Temperafarbe, Aquarelltechnik, Ausprobieren verschiedener Stifte und Kreisen, Ausprobieren verschiedener Malwerkzeuge) Vermitteln die PädagogInnen regelmäßig künstlerische Techniken im Bereich Plastik? (Umgang mit Ton, mit Gips, einfache Bildhauertechniken mit Speckstein) Vermitteln die PädagogInnen regelmäßig künstlerische Techniken im Drucken? (Monotypie, Linolschnitt und Holzschnitt, Materialdruck) Vermitteln die PädagogInnen regelmäßig künstlerische Techniken im Objektbau? (Hämmern, Sägen und Verbinden von Holz, Stein, Naturmaterialien aller Art, Leder, verschiedene Plastik-, Schrottmaterialien, Hasendraht ...) Vermitteln die PädagogInnen regelmäßig künstlerische Techniken in der Collage? (Ausschneiden und Kleben von Papier, Kaschieren mit Papier und Kleister ...) Sind künstlerische Themen selbstverständlicher Bestandteil der Projektarbeit und des Alltagslebens im Kindergarten? Werden die Kinder regelmäßig in altersgerechter Weise mit herausragenden Ergebnissen der zeitgenössischen und überlieferten Kunst bekannt gemacht? Bereiten sich die Pädagogen durch Erwerb theoretischer Kenntnisse sach- und fachgerecht vor? Erproben sie selbst Techniken und Materialverwendung, um sie den Kindern glaubwürdig weitervermitteln zu können? Fördern die Pädagogen durch Geschichten, Erzählanlässe, Musik und Filme etc. die Ideenbildung der
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Kinder und schaffen eine angenehme Atmosphäre im Atelier? Regen die Pädagogen durch gezieltes Verbalisieren und Nachfragen die Kinder an, ihre gemalten Empfindungen und Erfahrungen auszudrücken? Wird in Abschlussrunden eine gemeinsame Betrachtung entstandener Werke ermöglicht? Werden die entstandenen Arbeiten wertgeschätzt und regelmäßig im Kindergarten ausgestellt?
Aufzeichnung: Monatsplanungsbogen
Möglicherweise ist es auch Ihre Reaktion, die unsere Mitarbeiter erst einmal schockiert hat: So viele Vorschriften, so viele Details, wo bleibt der pädagogische Freiraum? Dem kann man nur entgegnen, man sollte einmal bei einer x-beliebigen Kindereinrichtung versuchen, die unabänderlichen ungeschriebenen Regeln zu erfassen. Und dann überprüfen, welche sich »so ergeben haben« und welche wirklich sinnvolle pädagogische Ziele verfolgen. Aus Sicht einer dort arbeitenden Mitarbeiterin wird gewiss eine Menge zusammenkommen. Noch mehr allerdings aus Sicht der Kinder, die sich in einem solchen Rahmen bewegen müssen. Hier sind es größtenteils Regeln, die vielleicht die pädagogische Freiheit des Erwachsenen beschränken, dies aber, um Kindern einen Freiraum zu ermöglichen. Ich sage noch dazu, dass eine nicht wegzuleugnende Abwehr der Pädagogen am Anfang nach einiger Zeit völlig verschwunden ist, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass alle diese »Vorschriften« abänderbar sind, vorausgesetzt, man bringt überzeugende Argumente. Qualitätsmanagement ermöglicht nämlich eine gezielte Einbeziehung aller Beteiligten, weil es die Richtlinien und Vorgaben der Arbeit offen legt und diskursfähig macht. Evaluieren und Verbesserungen planen Entscheidend ist nicht, dass man alles richtig macht, sondern dass man seine Arbeit daraufhin überprüft, an welchen Stellen sie verbesserungswürdig ist. Praktisch vollzieht sich das bei uns in jährlichen Ritualen, in der Selbstevaluation, bei der jedes Team die Überprüfungsfragen zur pädagogischen Arbeit durcharbeitet und Antworten in eine Abfrage-Datenbank eingibt. Schnell erhält man eine Übersicht, in welchen Bereichen offenbar Stärken und wo Schwächen vorliegen. Im Sinne des Dienstleistungsgedankens ist es nur folgerichtig, dass diese Einschätzungen verglichen werden mit den Einschätzungen der Eltern wie der älteren Kursteilnehmer, die in Befragungen ermittelt
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werden. Gerade der Vergleich der internen und der externen Einschätzung ist hochinteressant. All diese Einschätzungen führen dazu, dass man nun verabreden kann, in welchen Bereichen Verbesserungsmaßnahmen im kommenden Jahr sinnvoll wären. Sind sowohl Eltern wie auch Mitarbeiter mit der Situation im Keramik-Atelier unzufrieden, ist es an der Zeit, Veränderungsschritte zu beraten. Im Mittelpunkt der Dienstleistung: das Kind Letzten Endes wäre der Dienstleistungsgedanke falsch verstanden oder in die Irre führend, wenn neben aller Effizienz und Kundenfreundlichkeit der Hauptakteur vergessen würde: das Kind. Pädagogen neigen oft genug dazu, ihre Arbeit auf den Wettstreit zwischen eigenen Visionen und Vorlieben und andererseits den Erwartungen und Wahrnehmungen der Eltern einzupegeln. Da erscheint es fast erschreckend banal, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es jedes einzelne Kind sein muss, welches die hohe Qualität haben will, die ihm versprochen wurde – das Kind, dem die Dienstleistung erbracht wird, etwas lernen zu können oder einen vergnüglichen Nachmittag zu haben. Im Zuge einer Lernauffassung, die den individuellen Lernweg in den Vordergrund des Interesses stellt, haben wir als Planungsgrundlage für unsere pädagogische Arbeit individuelle Methoden wie die Beobachtung und Befragung von Kindern, wie die Dokumentation des Lernfortschritts festgelegt. Viele Elemente finden sich in der Beobachtung der Reggio-Pädagogik wie der in jüngster Zeit in Schweden verbreiteten Portfolio-Methode wieder. Zentrales Element ist für uns das Führen von Entwicklungsbüchern, in denen die Geschehnisse, Entwicklungen, Erwartungen und Planungen jedes Kindes festgehalten und dokumentiert werden, um immer wieder auf diesen Erfahrungsschatz zurückgreifen zu können. Keinesfalls handelt es sich um Kinderakten, sondern um ein gemeinsames Planungs- und Erinnerungsbuch für alle am Erziehungsprozess Beteiligten. Weniger umfangreich als die Bücher, die für die Kindergartenkinder geführt werden, sind unsere Kursbücher für die Malschule, von denen ich hier einen Formularsatz im Entwurfsstadium vorstelle:
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Ausblick, Genzen, Erwartungskritik Einige grundlegende Punkte möchte ich zum Schluss noch einmal herausstreichen. 1. Der Begriff »Dienstleistung« und »Unternehmen« weckt immer auch die Vorstellung, man könne auf ganz neuen Feldern das erreichen, was Jugendkunstschulen meist vergönnt ist: genug Geld verdienen. Da ist sicher prinzipiell auch viel möglich, und auch wir haben gute Erfahrungen mit MaleventGestaltungen für Konzerne oder Künstler-Kinder-Geburtstags-Service. Es ändert nichts daran, dass so etwas nur Zubrot bleiben kann und im seltensten Fall geeignet ist, um hochwertige Bildungsarbeit zu leisten. Insofern ist es wohl unumgänglich, in Fragen der wirtschaftlichen Absicherung den Königsweg zu gehen und zu versuchen, die eigentliche Bildungsarbeit der Einrichtung so zu verbessern und die Qualität nachweisbarer zu machen, dass sich das Angebot durch seine Qualität trägt. Ich glaube, dass es von der Übernahme einer solchen Verbindlichkeit der Pädagogik abhängt, ob Jugendkunstschulen ernst genommen und weiter unterstützt werden oder als nettes, aber notfalls einsparbares Freizeitangebot wegfallen. Auch Jugendkunstschulen müssen sich in Evaluationen bewähren und zeigen, wo ihre Qualitäten tatsächlich liegen. 2. Wie bereits erwähnt, aber wichtig: Dass Bildungseinrichtungen wie Malschulen oder auch Kindergärten sich rechnen müssen, ist klar, und der Zusammenhang mit der Zufriedenheit der zahlenden Kunden ist ebenso wichtig. Trotzdem kann Dienstleistung und Kundenorientierung nicht bedeuten, dass die Wünsche der Eltern, gleich wie naiv und befangen sie bisweilen sind, zum Ausgangspunkt der pädagogischen Arbeit werden. Leicht gesagt, gerät aber schnell in Vergessenheit. Wahre Kundenorientierung bedeutet nach unserer Auffassung auch, pädagogische inhaltliche Positionen zu erarbeiten, die für Kunden nicht sofort einsehbar sind, und diese den Eltern im Sinne einer guten Kundenarbeit gezielt, überzeugend und professionell zu vermitteln, indem man sie ein Stück weiterbildet. Und im Mittelpunkt: das Kind.
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[keywords] Kunst Medien Bildung Kommunikation Darstellung
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Medienkunst statt Medienkompetenz? 1. Differenzen Der Titel lässt auf einen Gegensatz, sogar auf einen Widerspruch schließen. Medienkunst und Medienkompetenz scheinen nicht zusammenzupassen. Mehr noch, Medienkunst soll Medienkompetenz ersetzen – eventuell sogar im Rahmen eines erzieherischen Programms im Sinne eines ›Bilden mit Kunst‹. Obwohl das alles durchaus plausibel klingt, fragt man sich doch, ob dieses Gegensatzpaar nicht an der Medienrealität, in der wir leben, vorbei geht. So stellt sich die Frage, woraus dieser Antagonismus resultiert. Hierbei sind zwei Argumentationslinien zu verfolgen. Eine Linie entspringt in der Freiheit der Autonomie, z. B. der Kunst, der die instrumentellen Fertigkeiten, die Erfordernisse des Kompetenzerwerbs gegenübergestellt sind. Die Freiheit der Autonomie dominiert über das ›Reich der Notwendigkeiten‹. Kompetenzerfordernisse stehen in einer instrumentellen Abhängigkeit von der freien Kunst. Sie haben ihr als Fähigkeiten zu dienen, ansonsten aber keinen eigenen höheren Wert.1 Dies gilt selbst dann, wenn sie als Befähigung begriffen werden – ohne Idee, ohne künstlerischen Genius hat man ›nur‹ Talent. Eine analoge Entwicklung ist im Bildungsbereich zu beobachten. In deren Verlauf entwickeln sich Bildung und Ausbildung auseinander. Mit der Autonomie des Subjekts wird auch dessen Selbsteinfügung (Sozialisation) in die Gesellschaft notwendig.2 Traditionelle Orientierungen geben keine vollständige Orientierungssicherheit mehr, wenn man ›auf sich‹ gestellt ist. Jetzt ist jeder – mit fortschreitender Emanzipation auch jede – darauf angewiesen, sich selbst ein Bild, einen Eindruck von der Welt zu machen. Dies gilt zunächst für das so genannte Bildungsbürgertum, das den gesellschaftlichen Übergang von der Standes- zur Industriegesellschaft trägt,3 multipliziert sich aber, unterstützt durch das Medium des Buchdrucks,4 als Ideal einer Sozialisation durch Bildung in allen Schichten.
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Mit der Entwicklung der Industriegesellschaft und der funktionalen Differenzierung der Sozialstruktur wird zugleich Professionalisierung zum neuen Erfordernis. Statt umfassender Selbstbildung (›Allgemeinbildung‹) ist ein spezialisierter, berufsbezogener Erwerb von fachlichen Fertigkeiten gefragt, mehr noch, ein breit wirkendes professionelles Bildungssystem, das bei der Sozialisation nicht mehr nur Erziehungsfunktionen zum autonomen Mitglied der Gesellschaft übernimmt, sondern auch Selektionsfunktionen bei der Auswahl von leistungsfähigen Arbeitskräften.5 Neben die Perspektive der Bildung ist jetzt eine der ›Ausbildung‹ (und zunehmend der ›Weiterbildung‹) getreten. Sie beruht vor allem auf spezialisierter Kompetenzvermittlung, die an ökonomischen Verwertungsinteressen ausgerichtet ist. Die zweite Argumentationslinie geht von der Trennung von ars und techné aus. Ursprünglich war die Technik, wie das Handwerk und die Künste der ›poiesis‹, dem kunstfertigen ›Machen‹ zugeordnet.6 Künstlerische Darstellung und künstlerische Kompetenz waren eng verbunden. In der Renaissance zeichnet sich hier eine Trennung ab, die sich mit der Entwicklung spezialisierter Handlungsbereiche ausweitet. Im Zuge der Industrialisierung prägen sich entlang dieser Trennungslinie zwei kulturelle Orientierungen aus. Die eine beschreibt geistige Sachverhalte. Zu ihr gehört die Kunst, verstanden als Idee und Entwurf. Die andere Kultur bezieht sich auf praktische und kausale Zusammenhänge, wie etwa die Technik oder technische Mittel, die als instrumentell und materiell gelten. C. P. Snow hat 1959 diese beiden Kulturen dargestellt und einem jeweils entgegengesetzten geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Diskurs zugeordnet. Beide Argumentationslinien laufen dort zusammen, wo die vergeistigte Kunst der autonomen Selbstbildung im Sinne einer Selbstvervollkommnung des Subjekts (sowohl des Künstlers als auch der Betrachters der Kunst) dient. Die gegenständliche Technik ist hingegen den Verwertungsinteressen der Industriegesellschaft unterworfen und basiert auf notwendigen, aber instrumentellen Fach-Kompetenzen, die in einer selektiven Ausbildung erworben werden. Kunst ist freie Expression, Technik ist instrumentelle Kompetenz. Die entsprechenden Bildungsperspektiven erscheinen unvereinbar. Diese Sichtweise ist so nicht mehr aufrechtzuerhalten – zumindest nicht in der komplexen gesellschaftlichen Lage, in der wir leben, und deren Ausprägung viel mit dem Aufkommen und der Verbreitung neuer Medien zu tun
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hat. Zunächst ist aber zu thematisieren, was Kunst als Teilsystem einer solchen Gesellschaft charakterisiert, um zu überlegen, in welcher Weise Kunst im Umgang mit neuen Medien für die Kompetenzentwicklung fruchtbar sein könnte. Kunst Von Michelangelo, dem bedeutenden Renaissance-Künstler, wird kolportiert, er habe auf die Frage, wie er denn diese wunderschönen Statuen aus Marmor bilde, geantwortet: Das sei nicht weiter schwierig, man nehme einen Marmorblock und schlage nur all das weg, was nicht zur Figur gehöre. Soweit so einfach. In dieser Anekdote steckt aber bereits viel von dem, was die Frage beantwortet, warum Kunst auch heute, in der funktional differenzierten Gesellschaft, eine eigenständige Funktion hat. Die kleine Geschichte verweist auf den besonderen Wirklichkeitszugang der Kunst und ihre spezifische Art und Weise diesen Zugang zu erlangen und zu kommunizieren. Zunächst löst sich Kunst bei ihrer Ausdifferenzierung als gesellschaftlicher Teilbereich aus der Indienstnahme durch Religion und Politik.7 Die Werke der Kunst, die Artefakte, beziehen sich immer weniger auf die Evokation des Heiligen oder die Symbolisierung der Macht. Stattdessen sind »normale« Menschen und alltägliche Handlungen in realistischer Manier zu sehen, die nicht mehr mit »abwertenden« stilistischen Mitteln dargestellt werden.8 Kunst gelingt im Prozess dieser Selbstbestimmung aber weit mehr, nämlich das Kunststück, nicht nur jegliche Inhalte in künstlerischer Manier wiederzugeben und dadurch ideal von den anderen Kommunikationen abzuheben, sondern die Formwahl – das Kunsthafte – zum Anlass für gesellschaftliche Kommunikation zu machen. Damit thematisiert Kunst anhand der künstlerischen Form die Wahrnehmung selbst. Ihre Grundlagen, ihre Entfaltung und ihre Veränderung werden zum Gegenstand der Kommunikation.9 Um es noch deutlicher zu sagen: Die Kommunikation der Kunst behandelt Wahrnehmung nicht systematisch unter Kriterien einer wahren Erkenntnis dessen, was Wahrnehmung ist, so wie die Wahrnehmungspsychologie. Kunst führt Wahrnehmung ›vor die Sinne‹ und macht sie in ihren kommunizierbaren Darstellungen wahrnehmbar. Die Darstellungen einer derart autonomen Kunst verweisen jedoch nicht auf etwas Transzendentes, das »hinter« oder »außerhalb« der Wirklichkeit liegt und dessen Wesen sich nur im Glauben erschließt wie die Religion. Kunst
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holt im Artefakt das Transzendente in eine konstruierte Wirklichkeit herüber. Mit dem Kunstwerk etabliert sich eine eigene Wirklichkeit innerhalb der »gesellschaftlichen« Wirklichkeit. Die Kommunikation dieses Wahrnehmungsübergangs ist nicht beliebig, wenn auch bisweilen spielerisch im Erproben und Verwerfen von Formen und Mitteln. Künstlerische Kommunikation unterliegt eigenen Formgesetzen, die es für Außenstehende scheinbar einfach machen, sich beim Kommunizieren über Kunst nur an Formalia, z. B. Duktus, Komposition, Durchführung zu orientieren. Eine solche Orientierung verbleibt aber an der Oberfläche der künstlerischen Darstellung, sie verharrt gleichsam bei den Regeln und Mitteln der künstlerischen Kommunikation. Ein Artefakt ist jedoch erst dann als Kunstwerk ›gelungen‹, wenn es in der Kommunikation über seine formale Qualitäten hinausweist und eine imaginäre Wirklichkeit herstellt, die die gewohnte Wirklichkeit als andere Seite ihrer Form erscheinen lässt. Die imaginäre Welt des Kunstwerks weist nicht einfach nur auf Fremdes oder die Unterscheidung von gegebener Wirklichkeit und gemachter Wirklichkeit hin. Sie betont vielmehr den Herstellungsprozess der Unterscheidung selbst. Dabei kann sich die Kunst anderer Realitätsunterscheidungen bedienen, etwa der Differenzen Wahrheit/Traum, Ernsthaftigkeit/Spiel oder – z. B. im »Readymade« – der Differenz von Profanität/Kunst. Sie kann aber auch die Beobachtenden zur Selbstbeobachtung ins Werk versetzen, in dem Künstler z. B. Perspektiven oder ›Fußpunkte‹ bezüglich ihrer Beobachtungsmöglichkeiten kalkulieren (so im Werk Filippo Brunelleschis10). Im Ergebnis erlangt die künstlerische Darstellung damit einen beträchtlichen sinnhaften Bewegungsspielraum. Kunst kann gleichzeitig Überraschung und Wiedererkennen auslösen. Die serielle Verwendung eines alltäglichen Motivs (etwa in den Arbeiten Andy Warhols) bewirkt beispielsweise zugleich ein Wiederentdecken und erzeugt im endlosen Selbstzitat eine Kommunikationssituation der Unwirklichkeit. Wahrnehmungsmöglichkeiten werden zum Bezugspunkt der Reflexion über das Wahrgenommene. Kunstwerke können auf diese Weise als minimale Irritationen im alltäglichen Wahrnehmungszusammenhang in Erscheinung treten, die gewohnte Erwartungen in ihrer Bedeutung geringfügig ›verschieben‹. Beispielhaft hierfür sind die Arbeiten von Sophie Calle, die Wahrnehmungsirritationen etwa dadurch hervorhebt, dass sie ihr alltägliches Leben durch einen Privatdetektiv ›beschatten‹ lässt und gleichzeitig ihre Vermutungen und Gefühle in dieser
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Situation der Beobachtung beobachtet. Im Artefakt entsteht das Abbild einer protokollierten Existenz, deren Alltäglichkeit sich durch den Auftrag zur Zweitfassung der eigenen Wirklichkeit von der Selbstverständlichkeit eben dieser Wirklichkeit abhebt. Kunst verändert in der Kommunikation von Artefakten die gesellschaftliche Wirklichkeit, indem sie mit Verweis auf imaginäre Wirklichkeiten etwas anderes als die alltägliche Realität zeigt. In der künstlerischen Kommunikation öffnet sich der Sinnhorizont im Hinblick auf einen anderen, nichtvernünftigen Weltzugang. Ein Darstellungsvorgang, der ironisch, kritisch oder affirmativ erscheinen kann, aber immer in der spezifischen, erdachten Ordnung der künstlerischen Form zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise werden Innovationen der Wahrnehmung und der Darstellung, etwa neue Perspektiven, neue Einblicke und Abstraktionen sichtbar.11 Das bedeutet zugleich, je unabhängiger und individueller der Künstler selbst ist, desto genialischer sein künstlerischer Einfall, desto künstlerischer seine Kunst.12 Es entsteht aber auch eine spezialisierte Wahrnehmung und Kommunikation von Kunst, die sich an Stilsicherheit und einem generellen Bezug auf Geschmacksurteile, d. h. an einer ästhetischen Kommunikation orientiert.13 Sowohl nach innen (Selbstreferenz), im Hinblick auf die Entwicklung und den Einsatz von Gestaltungsmitteln und Sujets, als auch nach außen (Fremdreferenz), durch die Ästhetisierung gesellschaftlicher Kommunikation, weist Kunst einen Bezug zu einer nur hier möglichen Ordnung des Möglichen auf.14 Kunst schafft und vermittelt eine Zäsur in der Wirklichkeit. Die Funktion der Kunst liegt demzufolge nicht in ihren Zwecken begründet, nicht in einer idealistischen Mimesis der Welt oder kritischen Reflexion der Gesellschaft, sondern darin, dass sie im ästhetischen Experiment »Welt in der Welt« darstellbar macht. Mit Luhmann gesprochen operiert Kunst im Rahmen einer selbst erzeugten Paradoxie – sie erzeugt »die Beobachtbarkeit des Unbeobachtbaren«.15 Das, und nur das, macht sie unterscheidbar von den anderen Teilsystemen der Gesellschaft und deren Kommunikationen. Medien Medienbedingte Veränderungen der Kommunikation betreffen alle Bereiche der sozialen Realität. Besonders die Verbreitung so genannter neuer, computergestützter Medien hat eine Erweiterung von Darstellungsmöglichkeiten
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nach sich gezogen. Diese Medien operieren zugleich unspezifisch und komplex.16 Durch ihren Einsatz kann jede Form der Information vermittelt und bearbeitet werden, sofern sie digitalisiert ist. Die formale Darstellung wird damit von analogen Rahmenbedingungen und Einschränkungen unabhängig. Bearbeitungstiefe und Rekombinationsmöglichkeiten der Information nehmen aber so weit zu, dass nicht mehr alle möglichen Darstellungsmodi in gegebener Zeit zu realisieren sind. Erweiterungen der Darstellungsmöglichkeiten betreffen immer auch die Kommunikation der Kunst. Die Komplexitätssteigerung der formalen Darstellungsmittel führt allerdings zunächst dazu, die Mittel selbst für die veränderte Wahrnehmung zu halten. In diesem Sinne wurde eine ›Medien-Kunst‹ oder gar ›Computer-Kunst‹ entworfen, wobei die Bezeichnungen darauf hindeuten, dass vor allem die Mittel der Beobachtung im Sinne von »special effects« beobachtet und beschrieben werden. So ist zu fragen, warum man hervorheben sollte, dass Kunst mit Medien operiert. Ist das nicht selbstverständlich? Anders gesagt, die Wahl der Mittel ist zunächst ein selbstreferentielles Problem der künstlerischen Darstellung, nicht ihrer fremdreferentiellen Kommunikation (entsprechend lösen Digitalisierungsmöglichkeiten von Bildern Irritationen bei der Ausbildung von Künstlern aus17). Niemand käme wohl auf die Idee bei Malerei von ›PinselKunst‹ zu sprechen. Von größerer Bedeutung ist es hingegen, das Augenmerk auf die Wirklichkeitsveränderungen zu lenken, die sich durch die Kommunikation mittels computergestützter Medien einstellen. So tritt mit der Erweiterung medialer gesellschaftlicher Kommunikation eine umfassende Virtualisierung gesellschaftlicher Wirklichkeit ein. Sie ist die eigentliche Herausforderung der gesellschaftlichen Wirklichkeitsbeschreibung und vor allem des gesellschaftlichen Teilsystems Kunst, das die Wahrnehmung von Wirklichkeit kommuniziert.18 Computerbasierte Medien realisieren Descartes’ Traum von einer formalisierten mathematischen Weltbeschreibung und einer Re-Konstruktion der Welt auf Basis dieser Beschreibung in Algorithmen. Sie erfassen als numerische Regeln den Zufallsentwurf der Welt. Algorithmen sind aber nicht nur formale Abbildungen, sondern Codes, die sich in kommunizierbare Weltmodelle zurückübersetzen lassen.
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Erforderte die Übersetzung aufgrund der Komplexität der Differentialgleichungen früher noch zu viel Zeit, so sind Computer inzwischen in der Lage dieses Zeitfenster zu schließen, indem sie pro Zeiteinheit eine sehr große Zahl von sehr einfachen Rechenoperationen durchführen.19 Damit wird die Rückübersetzung numerisierter Weltbeschreibungen kommunizierbar, d. h. gesellschaftlich wirksam. Die immense Steigerung der Rechenleistung computerbasierter Medien führt daher zu einer immer tiefer gehenden Konstruktions- und Rekonstruktionsmöglichkeit der in Algorithmen aufgelösten (digitalisierten) Weltbeschreibung. Durch den Einsatz computerbasierter Medien für die Kommunikation wird die Welt virtualisiert, und das heißt nichts anderes als »ver-möglicht«.20 Mit hoher Geschwindigkeit wird die Welt in den allgemeinen digitalen Code übersetzt und algorithmisch so rekombiniert, dass audiovisuelle Wirklichkeitsbilder entstehen. Da es sich hierbei aber nicht nur um Rückprojektionen der Wirklichkeit, sondern um konstruktiv realisierte Wirklichkeitsentwürfe handelt, entstehen aus formalen Weltbeschreibungen Möglichkeitsräume von Wirklichkeiten. Virtualisierung der Weltbeobachtung und der Kommunikation über die Welt in synthetischen Weltbildern erschweren jedoch die Unterscheidung von »realer« und »imaginärer« Realität. Das betrifft besonderes die Kommunikation von Kunst, die in der künstlerischen Darstellung einen fremdreferentiellen Verweis auf ›die Wirklichkeit‹ der Welt, sozusagen als »Außenseite« der künstlerischen Form, mit sich führt. Wenn in der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation bereits die Wahrnehmungsübergänge zwischen imaginären und wirklichen Wirklichkeiten zum Thema werden, dann gerät die auf solche Differenzen spezialisierte künstlerische Darstellung unter Rechtfertigungsdruck. Ironisch könnte man davon sprechen, dass mit der Virtualisierung der Kommunikation die gesellschaftliche Kommunikation selbst ›künstlerischer‹ geworden ist. Wirklichkeitskompetenz Selbst wenn man den Standpunkt einer Trennung von Kunst und Kompetenz vertritt, kann im Zuge der geschilderten Entwicklung keine Rede davon sein, dass Medienkunst Medienkompetenz ersetzt. Medienkunst, wie sie sich im Zusammenhang mit digitalen Medien entwickelt hat, ist eine in die Form von Artefakten gegossene Medienkompetenz zum ›Wirklichkeitsmodelling‹.
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Bereits auf dieser selbstreferentiellen Ebene einer Kunst, die die Form ihrer Darstellung nach außen wendet, also im Sinne der Möglichkeiten von Kunst wenig künstlerisch ist,21 konvergieren die Gegensätze in der Darstellung der Wirklichkeit. Infolge der Wirklichkeitsirritation auf der Ebene der gesellschaftlichen Kommunikation, von der alle Teilsysteme, Gruppen und Personen betroffen sind, geht diese Konvergenz aber tiefer. Sie betrifft neben den Formen auch die Semantiken. Diese rufen Wirklichkeit nicht mehr als Gegebenes und faktisch zu Beobachtendes ins Bewusstsein, sondern stellen sie als Schnittpunkt individueller und kollektiver Konstruktionen dar. Wir sehen eine Welt, die wir konstruieren können, weil wir kommunizieren, dass wir eine Welt konstruieren können. Damit scheint sich ein Differenzierungswandel der Gesellschaftsstruktur von einer funktionalen zu einer informationellen Gesellschaft anzudeuten, in der soziale Zugehörigkeiten aufgrund von Informationen über die jeweils gültigen Wirklichkeitskontexte unterschieden werden.22 Für die Kommunikation dieser Gesellschaft bedeutet das ein ständiges Kreuzen von Wahrnehmungsschwellen zwischen imaginären Detailentwürfen und jeweils gültigen Detailwelt(sicht)en. Der Soziologe Gerhard Schulze (2003) skizziert dies als Handeln in einem gesellschaftlichen Wirklichkeitshorizont, in dem sich das Gewohnte und das Ungewohnte überlagern. Hieraus resultieren die Suche nach Stabilität, Unverständnis und Irritation über die Geltung sozialer Erwartungsstrukturen, aber auch Anforderungen an die Gestaltung von Sinnkontexten und die Selbstgestaltung der eigenen Identität. Dies ist kein romantischer Prozess der Selbstvergewisserung, sondern eine schmerzliche Erfahrung ungewisser Selbst-Experimente, die im Umfeld anderer Identitätsexperimente und im Schatten überindividueller Institutionen stattfinden, die sich nur langsam verändern. Ergebnis ist eine bifokale Orientierung auf strukturierte Kompetenzen sowie auf Umgestaltungsoptionen und Veränderungsprozesse. Ihren Konvergenzpunkt hat diese Orientierung im Umgang mit Ordnungen, die reale und imaginäre Komponenten vereinen. Ein Umgang, der in einer medial kommunizierenden Gesellschaft sowohl global als auch in Form individueller Kompetenzzumutung in Erscheinung tritt. Die Kommunikationstypik der Kunst kopiert sich auf diese Weise in die gesellschaftliche Kommunikation hinein. Man bemerkt das daran, dass alles Kunst zu sein scheint und die Abgrenzungen zwischen Kunst, Werbung,
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Design unscharf23 werden, aber auch daran, dass andere Kommunikationssysteme die Wirklichkeitsmittel der Kunst in Dienst nehmen. Etwa die Bildung, indem ›Bilden mit Kunst‹, nicht etwa ›künstlerische Bildung‹ oder ›Ausbildung zur Kunst‹ vorgeschlagen und betrieben wird. Eine solche Entwicklung kann man bedauern und versuchen die Grenze zwischen Kunst und Kompetenz wieder zu schärfen – etwa um die Freiheit der Kunst zu retten – man wird dann aber an gesellschaftlichen Realitäten vorbei argumentieren. Es ist zudem nicht ausgemacht, dass Kunst im veränderten gesellschaftlichen Kommunikationsprozess bedeutungslos wird.24 Bislang werden künstlerische Weltperspektiven und Darstellungsmittel in anderen Kontexten unter Zweckorientierungen eingesetzt. Die Kommunikation der Kunst wird adaptiert, Kunst als Kunst, d. h. frei von anderen Zweckverwendungen, bleibt davon unberührt. Sicher ist jedoch, dass bei der Kommunikation im veränderten Wirklichkeitshorizont der Gesellschaft eine Annäherung von Kunst und Kompetenz geboten ist, um das Kreuzen von Wahrnehmungsgrenzen zu bewältigen. Anders ist es auch kaum möglich sich an der kommunikativen Weltkonstruktion mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen. Ja, die Kunst selbst ist ohne Medienkompetenz als Kommunikation, das meint, als Teil der gesellschaftlichen Kommunikation, nicht mehr denkbar. Diese Konsequenzen betreffen vielleicht in noch ausgeprägterem Maße die Bildung. Eine Medienkompetenz, die Potentiale der neuen Medien als Mittel und Teil von Wirklichkeitskonstruktionen verfügbar machen soll, kann nicht mehr in einer formierten Ausbildung vermittelt werden. Angemessene Medienkompetenz, die zur Ausformung einer eigenen Wirklichkeitsposition befähigt, muss eine kreative Kompetenz sein. ›Kreativ‹ ist sie in der individuellen Adaption gebotener Konstruktionsmöglichkeiten, im Übertragen von Handlungsanleitungen, Mitteln und Materialien in ungewöhnliche Sinnkontexte, die der Bildung eigener Wahrnehmungsgrenzen zwischen den Wirklichkeiten dienen. Hieraus leiten sich konkrete Anforderungen an eine künstlerische Bildung zur Medienkompetenz ab. Zu unterstützen sind: • • •
Erfahrungsbildung im Erkennen virtueller Wirklichkeiten. Erprobung der Konstruktion virtueller Wirklichkeiten. Vermittlung virtueller und aktueller Wirklichkeiten zueinander.
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• •
Beobachtung und Beschreibung der individuellen Wünsche und Vorgehensweisen beim Kreuzen von Wirklichkeitsgrenzen. Erfahrungsbildung zur Selbstbeobachtung und -beschreibung der eigenen Orientierungs- und Handlungsidentität im Kontext medialer Kommunikation.
In diesem Sinne ist Medienkompetenz eine künstlerische Beobachtung und Beschreibung der Welt im Kontinuum der Medien, oder mehr noch: die künstlerische Beobachtung mit einem selbstgeschaffenen Medium. In einer medial kommunizierenden Gesellschaft mit Potential zur Selbst-Vermöglichung ist dies eine grundlegende Wirklichkeitskompetenz.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24
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Vgl. etwa Winckelmann, 1764, S. 3 Luhmann, 1989, S. 163f. Lepsius, 1993, S. 304 Thiedeke, 2000, S. 12f. Luhmann, 1998, S. 977f. V. Weizäcker, 1992, S. 437 Luhmann, 1995, S. 220f. Vgl. zur »Stiltrennung« Auerbach, 19715 Luhmann, 1995, S. 227 Siehe Beltrame, 1973, S. 417ff. Luhmann, 1989, S. 201 d’Alembert, 1967, S. 379 Saisselin, 1965, S. 64f. Luhmann, 1995, S. 236 Ebd., S. 241 Vgl. Schelhove, 1997; Thiedeke, 1997, S. 52ff. Reck, 2001, S. 22ff. Thiedeke, 1997, S. 92ff.; 1999, S. 32f. Flusser, 1998, S. 207f. Thiedeke, 2001b, S. 21ff. Claus, 1991, S. 46 Thiedeke, 1999, S. 35f. auch Reck, 2001, S. 27 Thiedeke, 2001a, S. 94f.
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Literatur Auerbach, Erich: Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Kultur, Bern/ München 19715 Beltrame, Renzo: Gil esperimenti prospettici del Brunelleschi, in: Rendiconti della Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, Serie VIII, Nr. 28, 1973, S. 417-468 Claus, Jürgen: Elektronisches Gestalten in Kunst und Design, Reinbek 1991 d'Alembert, Jean Le Rond (1753): Dialogue entre la poésie et la philosophie, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. IV, Genf (Neudruck), 1967 Flusser, Vilém: Medienkultur, hg. v. Stefan Bollmann, Frankfurt/M. 1998 Lepsius, M. Rainer: Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders.: Demokratie in Deutschland. Göttingen, 1993, S. 303-314 Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt/M. 1989 Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995 Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Halbband. Frankfurt/M. 1998 Reck, Hans Ulrich: Zwischen Bild und Medium. Zur Ausbildung der Künstler in der Epoche der Techno-Ästhetik, in: Peter Weibel (Hg.): Vom Tafelbild zum globalen Datenraum. Neue Möglichkeiten der Bildproduktion und bildgebender Verfahren, OstfildernRuit 2001, S. 17-50. Saisselin, Remy G.: Taste in Eigtennth Century France: Critical Reflections on the Origins of Aesthetics, or Apology for Amateurs, Syracuse, N.Y. 1965 Schelhowe, Heidi: Das Medium aus der Maschine. Zur Metamorphose des Computers, Frankfurt/M. 1997 Schulze, Gerhard: Die Beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?, München 2003 Snow, Charles P. (1959): The Two Cultures and the Scientific Revolution, London u. a. (Neuauflage 1993) Thiedeke, Udo: Medien, Kommunikation und Komplexität. Vorstudien zur Informationsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden 1997 Ders.: Der Schein des Seins. Mediale Kommunikation und informationelle Differenzierung der Gesellschaft, in: Medien Journal, 39/1, 1999, S. 29-40 Ders.: Bildung im Cyberspace eine Einleitung, in: ders. (Hg.): Bildung im Cyberspace. Vom Grafik-Design zum künstlerischen Arbeiten in Netzen, Entwicklung und Erprobung eines Weiterbildungskonzeptes. Projektband 1, Opladen/Wiesbaden 2000, S. 9-26 Ders.: Wird Kunst ubiquitär? Anmerkungen zur gesellschaftlichen Funktion von Kunst im Kontext neuer Medien und Medienkompetenz, in: Peter Weibel (Hg.): Vom Tafelbild zum globalen Datenraum, a. a. O., S. 85-99 (2001a) Ders.: Fakten, Fakten, Fakten. Was ist und wozu brauchen wir Virtualität?, in: DIE Zeitschrift, III/ 2001, S. 21-24 (2001b) V. Weizäcker, Carl Friedrich: Zeit und Wissen, München/Wien 1992 Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764
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Bilden im Neuen Medium: mit Kunst1 Fangen wir – der Dramaturgie wegen – von hinten an: Kunst war nur ein Ersatz für das Internet. Dieser Satz ist eine Provokation. Ohne Zweifel. Ich lasse sie hier zunächst unkommentiert als eine Art Prolog stehen. Sie stammt von Vuk Cosic, studierter Archäologe und – und das sei, so sagt er, gar nicht weit davon entfernt – Netzkünstler.2 Neue Medien bilden Bei Einführung neuer Medien gibt es in der Regel eine Phase, in der diese zunächst wie die jeweils alten, bekannten behandelt werden. Das war nicht anders bei der Photographie, die zunächst mit der Malerei konkurrierte, oder dem Kino, das anfangs – den Gewohnheiten der Rezipienten, aber auch Produzenten entsprechend – als so etwas Ähnliches wie Theater wahrgenommen wurde (noch heute haben wir einen Vorhang vor der Kinoleinwand). Erst allmählich wird das Neue des jeweils neuen Mediums entdeckt (oder erfunden), weil die Nutzung des neuen als altes Medium den einen oder anderen Stolperstein beinhalten kann, weil z. B. die HTML-„Seite“ auf dem Bildschirm im Querformat dargestellt wird, während sie doch produzierend als Schreibmaschinendenken kompatibles DIN-A4-Hochformat gedacht wurde, oder weil z. B. das World-Wide-Web eben doch keine Bibliothek ist, da ihm nämlich sowohl Bibliothekare als auch ein Katalog (eine Ordnung des Ganzen) fehlen usw. Erst allmählich werden die neuen Möglichkeiten experimentierend erkundet und erst allmählich bilden sich so spezifisch neue Ästhetiken des neuen Mediums, spezifisch neue Darstellungsweisen und Darstellungsmöglichkeiten heraus. Während der Phase der Assimilation, d. h. der Umgangsform mit Neuem, die dieses Neue als ein Vorkommen von etwas Bekanntem behandelt (z. B. ein Kleinkind, das alles, was vier Beine hat und sich bewegt, in die Kategorie „Wau-Wau“ einsortiert), treten Fehler auf. „Bedienungsfehler“ könnte man sagen: Eine Kuh kann man nicht zum Apportieren eines Stöckchens überreden. Die Maus taugt nicht wirklich zum Bildermalen.
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Solche „Bedienungsfehler“ sind jedoch Notwendigkeiten, wenn sich an die Phase der Assimilation eine Phase der Akkomodation – abstrakt: die Form des Umgangs eines Systems mit Neuem, der zu systeminternen Zustandveränderungen (Aufbau neuer Kategorien, die z. B. die Unterscheidung von Hunden und Kühen ermöglichen) führt – anschließen soll. Aus Fehlern kann man lernen. Erst wenn erkannt wird, dass der „Wau-Wau“ beizeiten „Muh“ macht, kann deutlich werden, dass nicht alles, was vier Beine hat, in dieser Kategorie gut aufgehoben ist. Was hier vielleicht allzu polemisch formuliert ist, darf durchaus als Kritik an der Form der so genannten „Auseinandersetzung mit Neuen Medien“ im Feld der Kunstpädagogik aufgefasst werden. Seit etwa 10 Jahren heißen die „Neuen Medien“ nun „Neue Medien“. Seit etwas kürzerer Zeit ist auch in kunstpädagogischen Kontexten davon die Rede. Aber nur selten ist zu erfahren, was gegenüber den folglich „Alten Medien“, also jenen, die bereits vor 10 Jahre in Betrieb waren, das spezifisch Neue ist (oder vor 10 Jahren war). 1993 kann als das Geburtsjahr des World-Wide-Web gelten. 1990 wurde das HyperTextTransferProtocoll (HTTP) von Tim Berners-Lee entwickelt. 1992 wurde der Code weltweit freigegeben. Im April 1993 wurde der erste („userfriendly“) WWW-Browser, NCSA Mosaic 1.0, vorgestellt. Und fortan klickten sich die ersten Pioniere durch das damals neue – und nebenbei: damals mit lediglich 200 Servern weltweit noch sehr überschaubare – Medium WorldWide-Web. Das interessiert viele Kunstpädagogen nicht. Und das muss es auch nicht unbedingt. Es interessiert aber auch viele Kunstpädagogen nicht, die sich – so meinen sie – „mit den Neuen Medien auseinandersetzen“. Sie benutzen das angeblich „Neue Medium“ als „Neues Werkzeug“ zum Bildermachen. Dass an diesem „Neuen Gerät“ zur Bildproduktion außerdem das Internet hängt – und sei es nur potentiell –, wird weitgehend vernachlässigt, jedenfalls nicht oder nur äußerst selten zum Gegenstand ästhetischer oder künstlerischer Auseinandersetzung. Neues Medium, Singular Um einer fachspezifischen Auseinandersetzung mit „Neuen Medien“ näher zu rücken, schlage ich zunächst ein Gedankenexperiment vor. Wir sollten versuchen, „Medium“ im Singular zu denken. Die Plural-Benutzung, wie wir sie aus überschwänglichen Medienkompetenz-Euphorien der späten 1990er Jahre, aber auch aus einigen Ecken der Medienpädagogik kennen, scheint
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mir überaus verharmlosend. Die Rede von „den Medien“ legt nämlich nahe, dass hier von etwas Äußerlichem die Rede ist. Von etwas, von dem man sich auch fernhalten könnte, das man einfach nicht anschaltet zum Beispiel. Oder das man für eine optimale Entwicklung und zur Vermeidung von Spätfolgen maximal eine Stunde täglich und dies am besten in Begleitung der Eltern anschaltet usw. Und die Rede von „den Medien“ legt nahe, dass es um etwas ginge, das dazu tendiert oder zumindest die Gefahr birgt, zu verfälschen, und dass es also um etwas ginge, das – zumindest theoretisch – auch wegzudenken wäre und dann das, was ansonsten in Gefahr stünde, verfälscht zu werden, unverfälscht und unmittelbar zu haben wäre. „Medium“ im Singular hingegen ist nicht als ein „Gerät“ zu verstehen, das man nutzen kann oder auch nicht, das man an- und auch ausschalten kann, das man eben auch nicht hereinholen könnte in die Kunstschule oder den Kunstunterricht. „Medium“ im Singular wäre – wie in physikalischen oder chemischen Kontexten – als „Träger“ oder „Stoff“ zu verstehen, in dem sich bestimmte Vorgänge abspielen: Luft als Träger von Schallwellen zum Beispiel in der Akustik, oder, in der Chemie, das „Medium“ als der Stoff, in dem bestimmte chemische Prozesse ablaufen. Ich denke diesen – pädagogisch relevanten – Medienbegriff etwa in der Weise, wie wir sagen, Fische leben im „Medium“ Wasser. – Mit dem Unterschied selbstverständlich, dass „Medium“ im pädagogischen Kontext als Träger und Stoff nicht chemischer oder physikalischer, sondern psychischer und sozialer Vorgänge zu verstehen ist. Trotz dieser Umdefinition des Medienbegriffs (oder ist es nur eine genauere Definition?) kann durchaus sinnvoll von einem, etwa 10 Jahre alten „Neuen Medium“ die Rede sein. Man könnte es „WWW“ nennen, dabei jedoch mehr meinen als eine Abkürzung für ein medientechnologisches Großgerät: Weltweit-Werden. Das World-Wide-Web (genauer: das Internet) ist nur eines unter mehreren Phänomenen des weltweit-werdenden technologischen, kommunikativen, ökonomischen, kulturellen, sozialen, politischen „Mediums“, das mit dem Begriff „Globalisierung“ zu fassen gesucht wird. – Wenn auch wohl ein im engeren Sinne Grund legendes. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass auch Weltweit-Werden als „WWW“ abgekürzt werden kann. Jacques Derrida will auch in der deutschen Übersetzung seiner »L’Université sans condition« bei dem französischen Wort für globalization bleiben: mondialisation. Er fügt jedoch in der deutschen Übersetzung zumeist als genauere nachträgliche Bestimmung an: Weltweit-Werden. Er
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schreibt, er behalte das französische Wort bei, weil er den Bezug auf eine Welt [monde, world, mundus] aufrechterhalten will, die »weder der Kosmos, noch der Globus, noch das Universum ist.«3 Er will sich beziehen auf eine Welt, die sich – auch etymologisch4 – herleitet von und bezogen ist auf „Mensch“. Derrida versteht dieses Weltweit-Werden immer auch als eine Form von „Humanisierung“. Allerdings einer, die über den damit zumeist assoziierten konservativen und humanistischen Begriff hinausgeht und mit nichts Geringerem verbunden ist, als »den Begriff des Menschen neu zu denken, die Figur der Menschheit und Menschlichkeit im allgemeinen ...«5 Dieses „WWW“, das Weltweit-Werden und das es in mehrfacher Weise als eine Art gerätetechnischer Grund bedingende World-Wide-Web, das zusammen könnte man ein „Neues Medium“ nennen, ein „Neues Medium“ psychischer und sozialer Prozesse. Das Andere Dieses „Neue Medium“ wird – soweit wir das jetzt absehen können – so etwas wie der Plural dessen sein, was wir gewohnt sind, als „das Ganze“ zu denken. Jedenfalls, wenn wir versuchen, die medientechnologische Infrastruktur als kommunikatives und damit auch kommunionales Mittel zu begreifen und das „Neue Medium“ als multikulturell-pluralistische, postkolonial-heterogene, divers-demokratische „Weltgesellschaft“ zu denken. Damit haben wir dann ein Problem. Wir haben das Problem, dass „das Ganze“ nicht im Plural gedacht werden kann. Es gibt kein Außen, kein Anderes zum Ganzen, nichts, wozu man es in Beziehung setzen kann. Wir können es uns nicht vorstellen. Und darum tendieren wir dazu, es als „alten Bekannten“ zu betrachten. Z. B. zu meinen, mit der Nutzung von Pixelverschiebeprogrammen hätte sich die „Auseinandersetzung mit Neuen Medien“ erschöpft. Wir hatten eine Zeit lang versucht, uns das „Neue Ganze“ als global village vorzustellen, wir dachten mit Walter Benjamin im Hinterkopf an radikale Basisdemokratie, weil ja nun jeder ein Sender sein kann, jeder „drin“ sein kann, die Wege kurz sind und sich jeder mit jedem im gemeinsamen Dorf irgendwie bestens verstehen könne ... wenn nur ein bisschen „interkulturelle Kompetenz“ und eben jene, mittlerweile sagenhafte „Medienkompetenz“ erworben würde. Inzwischen hat sich das als „Glomantisierung“ herausgestellt, als romantische Illusion, dass die Vernetzung die Welt kleiner, gerechter und besser macht.6 Eine pädagogische Auseinandersetzung mit dem „Neuen Medium“ kann darum nicht auf die Definition „neuer Schlüsselkompetenzen“ be-
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schränkt bleiben, wenn dabei „Medienkompetenz“ auf das Erlernen von Gebrauchsanweisungen für fremde Geräte reduziert wird und – analog – „interkulturelle Kompetenz“ auf das Erlernen von Gebrauchsanweisungen für fremde Länder oder fremde Menschen. Die mit dem Weltweit-Werden unausweichlich verbundene kulturelle Heterogenität muss, wenn dieses Weltweit-Werden – darauf besteht Derrida – als Prozess einer (neuen) „Humanisierung“ verstanden wird, gegebenenfalls als radikale Unterschiedlichkeit gedacht werden. Und das heißt, der Andere muss als Anderer genommen werden und der Andere muss als Anderer ernst genommen werden. Das Andere ist anders, qua Definition: Das Neue ist unbekannt. Um dem gerecht zu werden, muss man zunächst einmal erkunden, wen oder was man vor sich hat, auf eigene Gefahr, die Lage einschätzen, auch einmal riskieren, nicht zu wissen, u. U. peinlich zu sein oder blöde. Es braucht Einfühlungsvermögen, Aufgeschlossenheit, Bereitschaft zum Lernen. Und das heißt, man muss in der Lage sein, ständig Wahrnehmungsperspektiven zu ändern, die eigenen Sicht- und Verhaltensweisen zu hinterfragen, zu relativieren, sie mit den Augen des Anderen zu sehen, eigene und fremde Vorurteile und Voreinstellungen in ihren Abhängigkeiten zur Kenntnis nehmen und vor allem: zunächst einmal schlicht hinnehmen zu können. Und schlicht hinnehmen zu können, dass dem eigenen Verständnis Grenzen gesetzt sind.7 Genau das kann man lernen in der Auseinandersetzung mit Kunst. Kunst im Neuen Medium Es geht nicht darum, ob die Kunst-Pädagogik nun auch die „Neuen Medien“ in den Unterricht oder in die Kunstschule holen will oder holen kann. Andersherum: Sie ist schon drin. Sie ist längst schon drin im „Neuen Medium“. Und sie wurde überhaupt nicht gefragt. Sie ist schon drin. Und beginnt es zu spüren mancherorts. An der HBK Braunschweig z. B. ist sie gerade geschlossen worden. In den Schulen wird laut darüber nachgedacht, ob Kunst-Pädagogik nicht im nachmittäglichen AG-Bereich der neuen Ganztagsschule, parallel zur Aerobic- oder Skat-AG, auch ganz gut aufgehoben wäre. Und das nicht nur, weil der Vormittag den „richtigen“ Schulfächern vorbehalten bleiben soll, d. h. jenen, die international standardisierbar, global vergleichbar sind, sondern auch, weil Globalisierung konsequenterweise die weitere Säkularisierung der Kulturen zur Folge hat und ebenso konsequenterweise alle kulturspezifischen Besonderheiten zugunsten des objektiv Rationalen oder in ökonomische Verwertbarkeit Über-
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führbaren ausklammern muss. Das allerdings sind die eher schlichten Reaktionen auf die Herausforderungen, die das „Neue Medium“ mit sich bringt. Es gibt andere Beispiele für Auseinandersetzungen mit dem „Neuen Medium“. Darunter auch solche, die als fachspezifisch für die Kunst-Pädagogik gelten können. Die Documenta11 könnte eines sein. Als Gesamtkonzept sowieso. Aber auch, wenn man aus der Abfolge von fünf so genannten „Plattformen“ in Form von Diskussionen, Konferenzen, Workshops, Büchern, Film- und Video-Programmen über insgesamt 18 Monate an verschiedenen Orten – Wien, NeuDehli, Berlin, Santa Lucia, Lagos, Kassel – nur eine, nämlich die Plattform_5: Ausstellung herauszieht, wird klar, dass es hier um eine Auseinandersetzung mit dem Weltweit-Werden geht. Eine fachspezifische Auseinandersetzung könnte man sogar sagen, wenn man nicht versucht, dieser Inszenierung mit einem an der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts orientierten Kunstverständnis zu begegnen. »In der Documenta11 reicht das übliche Kunstverständnis hinten und vorne nicht«, schreibt Franz Billmayer, »Um zu verstehen, worum es jeweils geht, muss man viel lesen und viel außerkünstlerisches Wissen aktivieren.«8 Mangelnde Besucherfreundlichkeit wurde der Konzeption u. a. darum vorgeworfen. Aber ist das ein Manko? War das ein Versehen, eine Nachlässigkeit? In das Konzept mangelnder Besucherfreundlichkeit passen auch die spärlichen Beschriftungen der einzelnen Arbeiten, die vielleicht absichtlich nicht viel dazu beitragen, die Arbeiten besser zu verstehen, sondern den Besuchern ganz deutlich vor Augen führen, dass sie viel zu wenig wissen. Auch die schiere Menge der zeitbasierten Arbeiten, gekoppelt mit den in der Regel nicht bekannten Anfangszeiten, und vielleicht am offensichtlichsten die Innenarchitektur der Binding-Brauerei als kaum überschaubares Labyrinth9 aus white cubes geben dem Besucher das Gefühl von einerseits Nichtwissen und andererseits durch akute Zeitnot vermitteltem Entscheidungsdruck.10
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Noch einmal: Ist diese „mangelnde Besucherfreundlichkeit“ ein Manko? War das ein Versehen, eine Nachlässigkeit? Ist das nicht vielleicht einfach nur ein – möglicherweise besonders prägnantes – Abbild? beyond interfaces Als andere, auf die kommunikationstechnologische Infrastruktur fokussierende Auseinandersetzung mit dem „Neuen Medium“ kann die so genannte net.art gelten. Ich verstehe sie als eine Art Konzeptkunst. Vielleicht begebe ich mich damit auf Glatteis, auf eigene Gefahr ... Vielleicht schätze ich die Lage falsch ein, vielleicht bilde ich mir nur ein zu wissen, ich riskiere u. U. peinlich zu sein oder blöde ... Aber könnte es sein, dass der unscheinbare und in den Weiten des WWW recht gut verborgene Beitrag zur nettime mailinglist – überschrieben mit »alexei shulgin on Mon, 17 Mar 97 23:28 MET« – so etwas wie das Manifest der net.art ist? Der Autor schreibt unter dem subject »Net.Art – the origin«, er meint, es sei an der Zeit, den Ursprung des Begriffs net.art zu beleuchten. Eigentlich sei es ein readymade: Der schon anfangs erwähnte „Archäologe“ Vuc Cosic hätte im Dezember 1995 eine Nachricht – »sent via anonymous mailer« – bekommen, die aber aufgrund von Software-Inkompatibilitäten als »practically unreadable ascii abracadabra« bei ihm ankam. Das einzige Fragment, das irgendeinen Sinn zu machen schien, sah so aus: [...] J8~g#|\;Net. Art{-^s1 [...] Cosic sei sehr verblüfft und erregt gewesen: »the net itself gave him a name for activity he was involved in!« Einige Zeit später schickte er die Nachricht weiter an Igor Markovic, der sie korrekt dekodieren konnte. Der dekodierte Text mutete wie ein kontroverses und vages Manifest an, in dem der Autor die traditionellen Kunstinstitutionen aller möglichen Sünden beschuldigte und die Freiheit der Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit des Künstlers im Internet erklärte. Der Teil des Textes, aus dem merkwürdige Fragment stamme, lautete »All this becomes possible only with emergence of the Net. Art as a notion becomes obsolete ... etc.« »(quotation by memory)« stellt der Autor dem Zitat noch voran. Der Text selbst sei nicht weiter interessant, der Begriff jedoch, den er indirekt ins Leben gerufen habe, sei bereits in Gebrauch gewesen ...
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Ist das Kunst? Oder nur eine »weird story« wie Alexei Shulgin selbst schreibt? Ist das ein Manifest? Kann ich ihm trauen? Irre ich? Ist Alexei Shulgin möglicherweise selbst Netzkünstler? Und wenn? Weiß ich genug? Kann es sein, dass es durch Software-Inkompatibilitäten zu solcherlei Kodierungs-Zufällen kommen kann? Kann ich die Entscheidung treffen? Bin ich wenigstens auf der richtigen Fährte? Der vorletzte Absatz, genauer gesagt, das wiederholte Lesen des vorletzten Absatzes nach einiger Inkubationszeit war für mich ein Ereignis, das ich geneigt bin als Moment ästhetischer Erfahrung zu umschreiben: »Sorry about future net.art historians – we don't have the manifesto any more. It was lost with other precious data after tragic crash of Igor's hard disk last summer.«11 »... lost ... after tragic crash of Igor’s hard disk last summer.« – Verloren, weg, ... man kann nur noch davon erzählen. Ob die Erzählungen stimmen, kann keiner mehr nachvollziehen. Wäre es nicht denkbar, ja eher wahrscheinlich, dass Igor Markovic den dekodierten Text an Vuc Cosic geschickt hat und der folglich eine Kopie davon haben müsste? Und hätte er nicht den Text in die Gemeinde der Netzkünstler gestreut? Oder ist auch seine hard disk tragischerweise zeitgleich mit Igors gecrasht? Oder hat dieser es ihm gar nur am Telefon erzählt? Vorstellbar? Zweifel ... Kunst war nur ein Ersatz für das Internet Man muss zweifeln. Zweifeln können. Man muss seine Wahrnehmungsperspektiven ständig ändern können, die eigenen Sicht- und Verhaltensweisen hinterfragen und relativieren können. Und man muss zunächst einmal schlicht hinnehmen können, dass dem eigenen Verständnis Grenzen gesetzt sind. Das kann man üben. Z. B. in der rezipierenden Auseinandersetzung mit Kunst. Ebenso, aber mit umgekehrten Vorzeichen, in der produzierenden Auseinandersetzung, zumindest wenn man seine Bilder anderen zeigen will. In diesem Sinn habe ich zu Beginn Vuc Cosic zitiert: »Kunst war nur ein Ersatz für das Internet.« Kunst ist gewissermaßen das Trainingslager für die Aporien, die Weglosigkeiten, die diversen und pluralen Möglichkeiten der Symbolisierung und Mediatisierung, vor die uns unsere kommunikativen und kommunionalen Mittel und Mittler – „Medien“ genannt – stellen.
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Es gibt für die Symbolisierungen und Mediatisierungen im „Neuen Medium“, im Weltweit-Werden, keine schon vorher beherrschte oder beherrschbare Methode, keine Gebrauchsanweisung und keine Anleitung. Das heißt aber nicht, dass deswegen absolute Ratlosigkeit ausbrechen müsste, und auch nicht, dass es keine Methode geben könnte, dass man keine erfinden kann. In der Auseinandersetzung mit Kunst kann man lernen, Methoden zu erfinden: Methoden, die zeigen können, dass sich ein Weg finden lässt, auch wenn man nicht ans Ziel kommt.12 Ausgehend von der Kunst, von einzelnen, singulären Werken, Prozessen, Konzeptionen kann man Rezeptions- wie Produktionsmethoden üben: viele unterschiedliche Methoden in vielen und vielfältigen Materialien. Viele unterschiedliche Methoden, das heißt Malen, Schreiben, Komponieren, Programmieren, Kartographieren, Experimentieren, ... in vielen vielfältigen Materialien: in Farben, Worten, Noten, Zahlen, ... und – unter anderem – so genannten „Neuen Medien“. Kunst war nur Ersatz für das Internet? –»Das ist natürlich ein Witz. Ich kenne nur wenige Menschen, die das, was Künstler in der Vergangenheit getan haben, so hoch einschätzen.«13
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Der folgende Text entspricht nicht im Wortlaut dem auf der Tagung bilden mit kunst gehaltenen Vortrag. Hier wird auf einige Aspekte des Vortrags fokussiert und diese weiter ausgeführt. Andere Aspekte des Vortrags, insbesondere jene, die sich enger mit der Dokumentation des Modellprojekts sense&cyber befassen, sind an einem anderen Ort weiter ausgearbeitet. Beide Texte haben auch Überschneidungen. Vgl. Meyer, Torsten: Kunstpädagogik im Neuen Medium, in: Lemke, Claudia et al. (Hg.): sense & cyber. Kunst, Medien, Pädagogik, Bielefeld: transcript 2003, S. 241–264 Cosic, Vuc; Baumgärtel, Tilman: Kunst war nur ein Ersatz für das Internet. Interview mit Vuc Cosic, in: Telepolis, Magazin der Netzkultur, 1997 (http://www.telepolis.de/deutsch/special/ku/6157/1.html) Derrida, Jacques: Die unbedingte Universität, Frankfurt/M: Suhrkamp 2001, 11 Welt: Ahd. »weralt« ist eine alte Zusammensetzung aus dem germ. Wort für »Mann, Mensch« und einer idg. Wurzel mit der Bedeutung »Menschheit, Zeit« (Drosdodowski, Günther: Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Mannheim/Leipzig/ Wien/Zürich: Dudenverlag, 2. Aufl. 1989). Derrida, a. a. O., 19 Vgl. Was Zeitgenossen wissen müssen. Von A bis Z, in: Du, Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 739, 2003, 40 Vgl. Böckelmann, Frank: Kompetenz, interkulturelle, in: Du, Die Zeitschrift der Kultur, Nr. 739, 2003, 54 Billmayer, Franz: »... Veränderungen, Übergänge, Umbrüche ...«. Überlegungen zur Documenta11 in Kassel, in: BDK-Mitteilungen, 4/2002, S. 14–15, 15 Abbildungen: Screenshots aus einem Video zu Dokumentation der Documenta11_Plattform5, Torsten Meyer 2002 Vgl. ebd. http://www.nettime.org/Lists-Archives/nettime-l-9703/msg00094.html (20.11.2003) Vgl. dazu Pazzini, Karl-Josef: Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte, in: Thesis. Tatort Kunsterziehung, Nr. 2, 2000, S. 8–17 Cosic, a. a. O.
Stephan Münte-Goussar
Hypermediales Ethnographieren1 sense&cyber Herzlichen Dank an die Moderation für die einleitenden Worte. Danke auch für die kurze biographische Verortung meiner Person und die Bestimmung meiner Funktion im Rahmen des Modellprojektes sense&cyber. Gleichwohl spreche ich heute nicht allein von diesem Ort aus. Ich spreche vielmehr im Namen anderer. Ich spreche hier stellvertretend für eine Gruppe von Menschen an der Universität Hamburg. Eine Gruppe von Menschen, die die Aktivitäten der vier Kunstschulen – von denen wir gerade gehört haben2 – in den letzten nun fast drei Jahren begleitet hat – wissenschaftlich begleitet, wie man so sagt. Begleitung ist hier recht wörtlich zu nehmen, denn es war nicht unsere Aufgabe, Ideen, Konzepte oder gar Unterrichtseinheiten zu entwerfen, die dann von den Kunstschulen umgesetzt würden. Vielmehr haben die Kunstschulen ihre Ansätze, Fragestellungen und ihre experimentelle Praxis selbst entwickelt. Wir standen dabei interessiert, zum Teil unterstützend und beratend, mal wohlwollend, mal kritisch nachfragend zur Seite – oder besser: Wir standen am Rande. Auf jeden Fall kamen wir von außen, von woanders her, als Fremde. Letztlich bestand unsere Aufgabe darin, diese vielfältige, verworrene, heterogene soziale Praxis – nämlich an unterschiedlichen Orten, unter jeweils unterschiedlichen Rahmenbedingungen, ausgehend von unterschiedlichen Vorstellungen, Glaubensätzen und Erfahrungen – in einem abschließenden, zusammenfassenden Bericht zu dokumentieren. Von dieser Erzählung, diesem Bericht,3 von der Art der Begleitung, möchte ich kurz berichten. Damit berühre ich die Frage, welche Analyse- und Darstellungsmethoden ästhetisch-künstlerischen Bildungsprozessen angemessen sind.
Stephan Münte-Goussar
Krise der Repräsentation Wir haben im Verlaufe des Projektes ein Verfahren entwickelt, welches im Nachhinein guten Gewissens als Hypermediale Ethnographie bezeichnet werden kann. Zunächst zur Ethnographie. In den aktuellen Debatten zur Ethnographie stößt man schnell auf etwas, was als Krise der (ethnographischen) Repräsentation bezeichnet wird.4 Bernhard Waldenfels schreibt dazu: »Es ist wohl nicht abwegig zu vermuten, dass Darstellungsfragen den Kern der ethnographischen Repräsentationskrisen ausmachen.«5 Versteht man den Begriff der Krise hier im Sinne einer reflexiven Sorge, einer Problematisierung, dann teilt die Ethnographie diese Sorge um die Darstellbarkeit mit der Kunst seit der Moderne. Das Problem selber – und eben nur das Problem, nicht unbedingt die Bearbeitungsmöglichkeit – teilt sie mit allen anderen Wissenschaften. Kunst Eine kurze Anmerkung zur Kunst: Sie alle kennen dieses Bild. Die berühmte Pfeife, die – wie Kinder sagen würden – in echt gar keine ist. Sie wurde 1929 von René Magritte gemalt. 1966 malte er sie zum wiederholten Mal. Im selben Jahr las er das Buch Die Ordnung der Dinge,6 machte ein paar Anmerkungen zu den hier benutzten Begriffen der Ähnlichkeit und der Gleichartigkeit und schickte diese zusammen mit einer Reproduktionen eben dieses Bildes an den Autor des Buches: an Michel Foucault. Dieser wiederum reagierte unter anderem mit folgendem Text, den ich Ihnen nun trotz meiner knapp bemessenen Zeit lang und breit vorlesen möchte: »Alles ist fest gefügt in diesem Schulraum: eine Tafel ›zeigt‹ eine Zeichnung, welche die Form einer Pfeife ›zeigt‹; und ein von einem beflissenen Lehrer geschriebener Text ›zeigt‹, daß es sich eben um eine Pfeife handelt. Der Zeigefinger des Lehrers, wiewohl man ihn nicht sieht, herrscht überall, ebenso wie seine Stimme, die gerade dabei ist, ganz deutlich
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zu artikulieren: ›Dies ist eine Pfeife.‹ Von der Tafel zum Bild, vom Bild zum Text, vom Text zur Stimme führt, zeigt, fixiert, markiert, diktiert ein allgemeiner Zeigefinger ein System von Verweisungen und versucht, einen einzigen Raum zu stabilisieren. Aber warum habe ich noch die Stimme des Lehrers eingeführt? Sie wollte gerade sagen ›Dies ist eine Pfeife‹, als sie noch einmal ansetzen mußte und stotterte: ›Dies ist keine Pfeife, sondern die Zeichnung einer Pfeife – dies ist keine Pfeife, sondern ein Satz, der sagt, daß das eine Pfeife ist – der Satz ›Dies ist keine Pfeife‹ ist keine Pfeife – im Satz ›Dies ist keine Pfeife‹ ist dies keine Pfeife: diese Tafel, dieser geschriebene Satz, diese Zeichnung einer Pfeife, all dies ist keine Pfeife.‹ Die Negationen häufen sich, die Stimme wird unsicher und erstickt beinahe; der verwirrte Lehrer senkt den ausgestreckten Zeigefinger, kehrt seinen Rücken der Tafel zu, schaut auf die Schüler, die sich vor Lachen biegen, und merkt nicht, daß sie so lachen, weil über der Tafel und über dem seine Verneinungen stammelnden Lehrer ein Rauch aufgestiegen ist, der allmählich Gestalt annimmt und jetzt ganz genau und zweifelsfrei eine Pfeife nachzeichnet. ›Das ist eine Pfeife, das ist eine Pfeife!‹ schreien die Schüler, die mit den Füßen stampfen, während der Lehrer immer leiser, aber immer noch mit derselben Hartnäckigkeit, und ohne daß noch jemand zuhört, murmelt: ›Und dennoch ist dies keine Pfeife!‹ Er hat nicht unrecht: denn diese Pfeife, die so sichtbar über der Szene schwebt, als wäre sie die Sache, auf die sich die Tafelzeichnung bezieht und in deren Namen der Text zurecht sagen kann, daß die Zeichnung nicht wirklich eine Pfeife ist, auch diese Zeichnung ist nur eine Zeichnung und keineswegs eine Pfeife. [...]«7 Worauf Magritte und auch Foucault zunächst aufmerksam machen, ist die Differenz zwischen Präsenz und Repräsentation; darauf, dass das Bild – der Malerei – stets von seinem Vor-Bild getrennt ist, dass das Verhältnis der Dinge zu den Bildern und jenes zwischen den Worten und den Dingen kein unmittelbares ist. Die Pfeife ist eben keine Pfeife – oder können Sie sie stopfen? – wie Magritte fragt. Damit schwindet aber auch die Gewissheit bezüglich des Originals. Es löst sich quasi in Rauch auf, aus dem es entstanden ist. Denn auch die große Pfeife über der Szene ist keineswegs eine Pfeife. Man möchte sagen, der Referent – oder auch die Realität – auf die sich das Bild und der Text berufen, ist selbst nur eine Darstellung. Vielleicht wäre es insofern auch besser, anstatt von Re-Präsentation nur von Präsentation zu sprechen. Das Re- suggeriert, dass es da einen Ursprung gäbe, etwas Authentisches, das einmal da war, was gerade abwesend ist und
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nun zurückgeholt, wieder(ge)holt werden könne. Das Original aber – so könnte man Magrittes Bild lesen – verliert sich in einer unendlich zurückzuverfolgenden Kette von Wiederholungen. Ethno-Graphieren Zurück zu unserem Interesse an der Ethnographie. Bernhard Waldenfels unterscheidet in seinem Kommentar zur Krise der ethnographischen Repräsentation Repräsentation nach den verschiedenen Wortbedeutungen im Sinne von Vorstellung, Vergegenwärtigung und – und darauf kommt es an – Darstellung und schließlich Stellvertretung. Was auf dem Spiel steht, ist auch hier – so wie bei der Pfeife – die Frage, ob man Welt, die Realität – in diesem Falle – schreibend abbilden, ob man Wirklichkeit erfassen kann – oder ob nicht die Rede vom »Abbilden« und »Erfassen« auch nur Darstellungs- und Konstruktionsmodi unter anderen sind. Ob nicht jede Repräsentation der Wirklichkeit diese weit weniger darstellt, sondern allererst herstellt. Ob nicht jede Darstellung auf ein Medium angewiesen ist, das wirklicher ist als die Wirklichkeit, welche es darzustellen vorgibt. Und ob nicht speziell die wissenschaftliche Beschreibung und Deutung eines Gegenstandes dessen Objektivierung voraussetzt, also einen Konstruktionsakt, der dieses Objekt allererst macht. Die Objektkonstruktion ist dann besonders prekär, wenn es sich bei dem Objekt nicht etwa um eine Pfeife, sondern um interagierende Menschen handelt. Die Ethnographen haben hierfür eine prägnante Formulierung: Sie sprechen vom othering – also dem Machen der anderen. Dieses othering muss man verstehen als soziale Praxis – die des Ethnographen nämlich. Das Problem ist hier, dass die Menschen, über deren Handlungen und an derer statt die Wissenschaft spricht, eingerückt in die Position von Subjekten für sich selbst sprechen können. Das meint, dass – würde man die anderen vernehmen anstatt stellvertretend für diese zu sprechen – jeweils andere Bedeutungsschichten der repräsentierten Praxis zu Sprache kämen – aufgrund des jeweils spezifischen biographischen Ortes, der spezifischen sozialen Position, der spezifischen Funktion der Akteure im untersuchten Praxis-Feld, von denen aus dieses durch die Akteure zur Sprache gebracht wird. Nicht selten bringt die Wissenschaft diese Stimmen zum Verstummen und hält einen akademischen Monolog.
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Auch der Begriff des Feldes ist im Übrigen schon ein Konstruktionsakt, ein Akt des Grenzziehens und ein Verteilen von Zutrittsberechtigungen seitens der Wissenschaftler. Nicht zuletzt aufgrund Ihres spezifischen Gegenstandes – nämlich der BeSchreibung der kulturell Fremden, oder auch der fremden Kulturen – und vielleicht nicht zuletzt aufgrund ihrer Verwobenheit mit der Geschichte des Kolonialismus gibt es in der Ethnographie eine traditionsreiche Debatte um die Probleme der Repräsentation – und auch verschiedene Strategien, diese Probleme zu behandeln oder auch nur, sie als Problem anzuerkennen. Vielleicht muss man hier eine erläuternde Fußnote einfügen: Wir verstehen Ethnographie als ein Verfahren, als ein methodisches Vorgehen. Nicht als ein Ding, eine Wissenschaft, sondern eben als eine Tätigkeit, als ein Schreiben im weiten Wortsinne. Deshalb wäre es wohl besser, anstatt von der Ethnographie vom Ethnographieren zu sprechen. Es gibt einen anhaltenden Streit darum, wem die Ethnographie gehört – der Kultur-Anthropologie, der Ethnologie, seit neuestem möglicherweise den cultural studies oder den science studies. Auch in den Erziehungswissenschaften wird inzwischen von pädagogischer Ethnographie gesprochen. Warum nicht also auch von kunst- oder vielleicht besser: kulturpädagogischer Ethnographie sprechen. Wir verstehen die Ethnographie in jedem Fall als etwas, was quer zu allen Fachdisziplinen liegt. Das Ethno- verweist nur noch auf die Geschichte der Ethnographie. An die Stelle der fremden Kulturen, die untersucht werden, ist seit langem auch die eigene Kultur getreten. Der Bezug auf Ethnographie wird in erster Linie zur Markierung jener Aufmerksamkeit gegenüber den Problemen mit der Darstellbarkeit. Ein Projekt-Bericht, der sich bemüht, bestimmte soziale, hier kunstpädagogische, Praktiken und handlungsleitende Dispositionen der Akteure zu analysieren, zu interpretieren und gültige Aussage über diese zu treffen, muss eine ebensolche Aufmerksamkeit an den Tag legen. Dies sowohl in Bezug auf die Dokumente, auf die sich bezogen wird – denn diese sind selber nur Darstellungen einer bestimmten Praxis –, als auch in Bezug auf die eigenen Darstellungspraktiken der von anderen dargestellten Praxis. Die Daten, die Dokumente, auf die man sich im Rahmen einer empirischen Untersuchung bezieht – etwa eine Aussage in einem Interview oder eine be-
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stimmte beobachtete Handlung – haben nicht an sich Bedeutung, verbergen nicht in ihrem Inneren einen tieferen Sinn, den man nur enthüllen muss, ihnen kommt Bedeutung und Sinn vielmehr allein aufgrund der Position zu, die sie innerhalb einer bestimmten Figuration, innerhalb einer bestimmten Konstellation, im Verhältnis zu anderen Dokumenten aktual einnehmen. Der Akt der Repräsentation der Praxis der Anderen – in unserem Fall die der Kunstschulmacher/innen – besteht in dem Herstellen solcher Konstellationen. Er ist selber eine soziale Praxis, die nicht einfach wieder zurückholt, was die anderen gemacht haben, sondern die dieses Machen erst macht. Repräsentationen sind soziale Tatsachen, wie Paul Rabinow sagt. Es kommt auf dieses Tun an. Es ist von der repräsentierten Praxis nicht zu trennen. Es schreibt sich vielmehr machtvoll mit in diese ein. Hypermediales Graphieren Wir haben einen Bericht verfasst in dem Eingeständnis, dass es nicht darum gehen kann, die Wirklichkeit richtig abzubilden, denn das ist unmöglich. Wissenschaft ist stets Fiktion. Auch PISA sei nur eine große und gelungene Inszenierung, wie uns Jürgen Oelkers in seinem Vortrag wissen ließ.8 Wir haben unser wissenschaftliches Handeln so inszeniert, dass es als Handeln erkennbar bleibt. Wir haben uns bemüht, deutlich zu machen, dass es insbesondere um dieses eigene wissenschaftliche Tun geht, um ein Verhalten – nicht zuletzt den anderen gegenüber. Der Zusatz »Hypermedial« verweist auf eine andere Art des Schreibens, auf ein Experiment mit dem Schreiben. Dieses geht von einem multimedialen Verständnis von Text aus. Damit stellen wir uns in eine relativ weit zurückreichende Tradition und Auseinandersetzung innerhalb der Ethnographie: Alan Howard hat bereits 1988 in einem grundlegenden Artikel die »revolutionären« neumedialen Möglichkeiten für das ethnologische Schreiben in großer Weitsicht erkannt und in die Diskussion eingebracht – noch bevor überhaupt die technischen Möglichkeiten zur Umsetzung seiner Ideen und Konzepte etabliert waren.9 Die Möglichkeiten einer nicht-linearen, hypertextuellen Schreibweise, die dem Leser verschiedene Interpretationsalternativen und unterschiedliche Pfade durch verschiedene Material-Formate offeriert, ist in der Ethnographie inzwischen breit diskutiert worden;10 auch die damit zusammenhängende Tendenz, nicht mehr in gewohntem Maße zwischen Daten-Analyse und -Präsentation zu unterscheiden.11
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Hypermediales Ethnographieren
In dieser Debatte werden Neue Medien oft als Möglichkeit angepriesen, differenziertere, umfänglichere, wirklichkeitsgetreuere Darstellungsweisen zu finden, als dies in einer herkömmlichen Monographie möglich ist; aber eben auch als Möglichkeit, alternative Lesarten und Interpretationen koexistieren zu lassen – womit einer eindeutigen, richtigen Auslegung gegebener Daten eine Absage erteilt wird. Den Akt der Daten-Analyse und -(Re-)Präsentation als soziale, wissenschaftliche Tat-Sache kenntlich zu machen, damit die Krise der Repräsentation selber – wenn auch nur als Ahnung – zur Darstellung zu bringen, wurde – soweit wir sehen – noch nirgends versucht. Die von uns gewählte Darstellungsweise unternimmt zumindest den Versuch. Dies dadurch, dass sie die Analyse-Kriterien, die Kategorisierung und die Anordnung des untersuchten Materials zum einen vervielfältigt, darüber hinaus zum anderen den Umschlag von der einen zur anderen Ordnung sichtbar und damit interpretatorische Eingriffe transparent macht und drittens dadurch, dass sie den Akteuren der untersuchten Praxis selbst die Möglichkeit bietet, eigene Ordnungen herzustellen. Archiv Dem geschriebenen Text, dem Projektbericht, ist ein multimediales MaterialArchiv in Form einer DVD-ROM beigefügt.12 In dieser Material-Datenbank finden sich verschiedene während der Projektlaufzeit gesammelte Dokumente: insbesondere mit Video aufgezeichnete Interviewmitschnitte, beobachtende Videosequenzen, Bilder, Schülerarbeiten und schließlich Texte verschiedener Sorte: Zwischenberichte, Presseerklärungen, Selbstverständnisse, theoretische Abhandlungen, Resümees. Das hypermediale Archiv offeriert das Material in unterschiedlichen Ordnungen. Zum Beispiel: Die Interviewmitschnitte wurden in kleine Fragmente zerlegt, die vom Leser nach verschiedenen vorgegebenen Kriterien angeordnet werden können. Dieses Filmmaterial ist mit den verschiedenen Texten aus den Projekten verknüpft, die ihrerseits in verschiedene Einheiten zerteilt sind und nach verschiedenen, z. T. den gleichen, z. T. spezifischen Ordnungen unterschieden werden können. Als weitere Ebene sind Praxisbeobachtungen eingearbeitet, die ihrerseits sortiert werden können usw. Neben diesen übereinander liegenden Ebenen, die gewissermaßen durch darauf senkrecht stehende Ordnungskriterien durchzogen und zusammengehalten werden, sind zudem gewundene Pfade durch das Material, durch ausgewählte Teile des Materials, gelegt, als ein aufeinander aufbauender Argu-
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mentationsgang in Form eines Filmessays. Der geschriebene, gedruckte Text legt einen weiteren Pfad durch das Material. Der Text verweist auf Materialfragmente, welche im multimedialen Archiv zu finden sind – in einer klassischen Fußnote. Letztlich sind alle Materialfragmente von einem assoziativen Netzwerk überzogen. Geschriebener Text und multimediales Archiv bilden somit eine Einheit. Sie bilden einen multimedialen Text. Die verschiedenen Ordnungen mitsamt dem System von Verweisen sind strukturierte, interpretierende, kommentierende Lesarten des Materials. Docu-Verser Das Archiv ermöglicht es, das Material jederzeit umschichten, neue Kombinationen, andere Kontexte hervorrufen – die Dinge in einem anderen Licht erscheinen zu lassen, d. h. zwischen den verschiedenen Ordnungen hin- und herzuwechseln. Die einzelnen Dokumente erscheinen stets in unterschiedlichen Konstellationen. Diese verschiedenen Ansichten verweisen aufeinander, bespiegeln, kommentieren, korrigieren sich gegenseitig. Keine Lesart ist für sich allein gültig. Der Umschlag von der einen zur anderen Ordnung wird darüber hinaus visualisiert. Kleine Repräsentanten der verschiedenen Materialfragmente bewegen sich beim Wechsel tatsächlich über den Monitor und gruppieren sich entsprechend neu. Diejenigen Dokumente, die eben noch die Rahmung der anderen ausmachten, rücken an andere Positionen, verdichten sich zu anderen Einheiten, Mengen und Serien. Sie bilden im wahrsten Sinn des Wortes jeweils andere Konfigurationen. Diese Konfigurationen werden somit nicht nur untereinander relativiert, es wird zudem ihre Herstellung kenntlich gemacht.
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Die Gesamtheit dieser Unterordnungen von Ordnungen, dieses Umsortierens von Sortierungen, dieses Bildens von Serien von Serien, dieser Deund Rekontextualisierung von Dokumenten stellt die Interpretation dar. Die interpretatorische Arbeit besteht dabei in erster Linie in der Herstellung von verschiedenen, umwendbaren Relationen. Graphieren online Das Material lag ursprünglich und liegt auch weiterhin auf einem DatenbankServer. Es stand und steht also an den Orten des Geschehens online zur Verfügung: sowohl in der Kunstschule miraculum in Aurich wie im Kunstwerk in Hannover, in der Kunstschule Koppelschleuse in Meppen und bei Klex in Oldenburg – als auch in Hamburg. Die Online-Datenbank bot prinzipiell allen am Projekt Beteiligten die Möglichkeit, sich kontinuierlich in den Prozess der Interpretation einzuschreiben, sich direkt am Graphieren zu beteiligen: zum einen durch das Erstellen von interpretierenden Texten, Anmerkungen und Kommentaren, insbesondere aber durch das Herstellen von eigenen Konstellationen: Die Kunstschulmacher/-innen wählten aus einer Fülle an Material das jeweils als relevant erachtete aus. In einem gemeinsamen, teilweise kontroversen, teilweise gegenseitig befruchtenden Aushandlungsprozess wurde das so vor verschiedenen Hintergründen ausgewählte Material auf den Umfang der in der Publikation vorliegenden Datenbank reduziert. Aus dieser Auswahl wurde wiederum eine je eigene Auswahl getroffen. Es wurden eigene Kategorien, Wertigkeiten, Zusammenhänge hergestellt. Neben den Ordnungen aus Hamburg finden sich im Materialarchiv die Ordnungen miraculum, KunstWerk, Koppelschleuse und Klex. Schließlich Wir haben uns also bemüht, nicht einen fixen Metastandpunkt einzunehmen, eine eindeutige, alternativlose, richtige Lesart der Wirklichkeit vorzulegen. Was bleibt, ist nicht eine oder die Geschichte des Projekts, sondern eine Sammlung von Geschichten: große und kleine Erzählungen, die aus je unterschiedlichen Perspektiven und mit je unterschiedlichem Ausgang berichten, reflektieren, Schlüsse ziehen, Ideen entwickeln und neue Perspektiven eröffnen: praktisch, theoretisch, wissenschaftlich, pädagogisch, mit Blick aus Aurich, Hannover, Meppen, Oldenburg und aus Hamburg.
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Mit anderen Worten: Wir haben uns bemüht, eben nicht einen Schulraum fest zu fügen, der eine Tafel »zeigt«, die eine Zeichnung »zeigt«, welche die Form einer Pfeife »zeigt«. Wir haben keinen allgemeinen Zeigefinger erhoben, der führt, fixiert, markiert, diktiert und versucht, ein System von Verweisungen in einem einzigen Raum zu stabilisieren. Wir haben ganz im Gegenteil versucht, diesen Raum ins Wanken zu bringen, in Bewegung zu versetzen, das System der Verweisungen zu vervielfältigen – und das notwendige temporäre Fixieren als eben solchen Akt kenntlich zu machen.
Anmerkungen 1
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Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag. Der Vortrag wurde zeitgleich zu einem Beitrag entworfen, der an anderer Stelle bereits veröffentlicht ist. Von daher ergeben sich an manchen Stellen Überschneidungen. Vgl. Münte-Goussar, Stephan: Hypermediale Ethnographie, in: Lemke, Claudia; Meyer, Torsten; Münte-Goussar, Stephan; Pazzini, Karl-Josef (Hg.): sense& cyber. Kunst, Medien, Pädagogik, Bielefeld: transcipt 2003, S. 76ff. Vgl. die Beiträge in diesem Band, unter den Keywords Kunst/schulen – Medienzeitalter – Schnittstellen – sense | cyber, S. 297–338 Bei diesem Bericht handelt es sich um die in Anmerkung 1 genannte Veröffentlichung. Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 Waldenfels, Bernhard: Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, S. 123 (Studien zur Phänomenologie des Fremden 4) Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971 Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife, München/Wien: Hanser 1997, S. 22f. Vgl. Beitrag in diesem Band, S. 93ff. Vgl. Howard, Alan: Hypermedia and the Future of Ethnography, in: Cultural Anthropology, vol. 3, no. 3, August 1988, S. 304–315 Vgl. zusammenfassend Dicks, Bella u. a.: Hypermedia and Ethnography: Reflections on the Construction of a Research Approach, Sociological Research Online, vol. 3, no. 3, 1998, http://www.socresonline.org.uk/3/3/3.html, 15.12.2003 Vgl. Coffey, Amanda u. a.: Qualitative Data Analysis: Technologies and Representations, Sociological Research Online, vol. 1, no. 1, 1996, http://www.socresonline.org.uk/1/1/4.html, 15.12.2003 Das Darstellungsproblem dieses Beitrages besteht im Folgenden darin, dass der Vortrag, auf dem der Beitrag basiert, eben jenes dynamische Material-Archiv vorgeführt hat. Dies ist in einem Text – auch trotz der beigefügten Bilder – nur schwer möglich. Der Text beschränkt sich somit darauf, kurze Anmerkungen und Hinweise zu geben, die erst im Kontext mit dem angesprochenen Material-Archiv ihre volle Bedeutung erhalten. Vgl. Anmerkung 1.
[keywords] Kunst/schulen Medienzeitalter Schnittstellen sense | cyber
Rainer Strauß
Netzwerk miraculum Wie man anhand unseres Signets erahnen kann, verstehen wir unsere Einrichtung als ein zusammengesetztes Ganzes. Mit einer bunten Hand, die auf einen handlungsorientierten Lernort verweist, mit einem pädagogischen Konzept, in dem das »Be-Greifen« mit allen Sinnen im Mittelpunkt steht, und mit dem Buchstaben @ als Zeichen für den Einsatz der Neuen Medien. Wir sehen das miraculum als kleinen Teil im großen Netz der kulturellen Bildung, in Niedersachsen, in der Region Ostfriesland, in unserer Stadt. Der Netzwerkgedanke steht im Zentrum des Auricher Projektbeitrags zu sense&cyber. Das Konzept miraculum
ist Ausgangspunkt unseres Vorhabens und bildet die Grundlage für die Beteiligung am Modellprojekt sense&cyber, mit dem die Institution zum 1.1.2000, fast zeitgleich mit dem Projektstart, in städtische Trägerschaft übernommen wird. Die Kunstschule erscheint hier als Träger eines kulturellen Gesamtkonzeptes unter dem Motto: »lernen und gestalten mit allen Sinnen« mit einer angeschlossenen Ideenwerkstatt für Multiplikatoren und dem MachMitMuseum als Erlebnisort für interaktive Ausstellungen. Mit diesem Konzept übernimmt die Stadt die Kunstschule vom Landkreis, wo sie bisher als Anhängsel der Musikschule arbeitet. Die Stadt baut das Museum aus, richtet die Kunstschule neu ein und schafft drei Stellen (BAT 5 bis 4). Der Landkreis garantiert einen Zuschussanteil, und nach Ablauf von zwei Jahren soll noch einmal neu beraten werden, mit der Option, wenn das Konzept nicht tragen sollte, alles wieder an den Landkreis zurückgeben zu können.
Rainer Strauß
Das ist unsere Ausgangsposition. Die Neuen Medien stehen also nicht direkt im Vordergrund. Ihr Einsatz soll vielmehr die Umsetzung des Gesamtkonzeptes nachhaltig unterstützen. Die Neuen Medien sollen das Profil schärfen und die Etablierung der Gesamteinrichtung vorantreiben. – Als internes Netzwerk
sieht sich die Kunstschule als Träger, Ideengeber, Motor und Herz des Gesamtsystems. Was eine Kunstschule macht, setze ich als bekannt voraus. Hier gibt es aber zusätzlich noch ein themenorientiertes Angebot, mit dem man inhaltlich die jeweils kommenden Ausstellungen im MachMitMuseum vorbereitet. Das so genannte Kursprojekt läuft über einen Zeitraum von zehn Monaten und wird für 6-10jährige Kinder angeboten. Die Ideenwerkstatt bietet Fortbildungsmöglichkeiten für Multiplikatoren. Im Mittelpunkt steht das Ästhetische Lernen als Methode zur Förderung von Kreativität und Sensibilisierung der Wahrnehmung. Das MachMitMuseum arbeitet nach dem Prinzip des »hands on!« (»Anfassen ist ausdrücklich erwünscht!«), handlungsorientiertes Lernen mit allen Sinnen ist hier zentrales Ziel wie auch Methode. Es werden Ausstellungen für Kinder gemacht, die zum Ausprobieren und Experimentieren einladen, die Einsichten und Erkenntnisse vermitteln – auf ungewöhnliche Art. Ein Ausstellungs-
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thema wird nicht präsentiert, sondern inszeniert, ausdrücklich mit Kindern, wobei Erfahrungen, Objekte und Ideen aus dem vorangegangenen Kursprojekt der Kunstschule einbezogen werden. Alle Teile stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander.
– Im kommunalen Netz
verschiedener Einrichtungen und Interessen versteht sich das miraculum als kompetenter Partner im kommunalen Bildungszusammenhang und Entwickler neuer Kooperationsformen. So zum Beispiel mit der Firma Enercon, dem größten Windmühlenhersteller in Deutschland, deren Ausbildungswerkstatt für Elektronik jedes Jahr eine Installation für das MachMitMuseum entwickelt. Oder mit dem Kreiskrankenhaus, wo über die Aktion Gesund mit Kunst seit drei Jahren Bilder von Kindern und Jugendlichen gemalt und verkauft werden. Oder mit dem Regionalen Pädagogischen Zentrum für die Lehrerfortbildung. Oder mit den Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule, für die sich durch den Bau der Installationen im MachMitMuseum ein abwechslungsreiches Arbeitsfeld mit großen technischen Herausforderungen entwickelt hat. Oder mit dem Medienzentrum, der Stadtbücherei, dem Historischen Museum, der Musikschule, dem Jugendzentrum ... Das Konzept bietet viele und immer wieder neu zu knüpfende Knotenpunkte.
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Rainer Strauß
– Im regionalen Netz
gilt es, diese Knotenpunkte und Beziehungen zukünftig zu entwickeln und auszuweiten: zum Beispiel durch die Einbeziehung von Schulen im Vorfeld eines Museumsbesuchs oder bei der Planung von Zusatzangeboten in der Kunstschule als Ergänzung zur Ausstellung im MachMitMuseum, oder durch Praktika im miraculum in der Ausbildung von Sozialpädagogen in der Fachhochschule für Sozialpädagogik Emden oder bei der Erzieherausbildung oder durch Jahrespraktika der Berufsbildenden Schulen. Soweit das Konzept und die Ausgangsposition. Noch mal das Ganze visuell verstärkt und topografisch: miraculum als Teil eines größeren Ganzen: in Niedersachsen, in Ostfriesland, in Aurich, einer Verwaltungsstadt mit 40.000 Einwohnern, einem Schulzentrum, wenig Industrie, aber viel Platz drum herum für Landwirtschaft, mit frischem Wind für neue Energien und freiem Blick zum Horizont ... mit einer erstaunlich hohen Zahl von sechs Kunstschulen, lässt man mal Oldenburg und Papenburg weg. Und Aurich in der Mitte ... und mittendrin Kunstschule und MachMitMuseum, direkt in der Fußgängerzone, mit den Schulen, dem Jugendzentrum, der Stadtbücherei und anderen Kulturorten drum herum. Ein großes Feld für kreative Netzwerkgedanken ... Integration der Neuen Medien
Und jetzt kommen endlich auch die Neuen Medien ins Spiel ... Das heißt, sie waren schon im Spiel seit 1997. Aus einem Zeitungsprojekt mit Kindern entstand das Jugendmagazin Ventil, dank der Neuen Medien in Form eines Rechners und entsprechenden Text-, Grafik- und Bildbearbeitungsprogrammen. Ein Magazin für (Zitat): »alle post- und präpubertäre[n] Lebensformen«
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Netzwerk miraculum
mit 24 Seiten Inhalt, das komplett am Rechner hergestellt wird, mit zehn bis zwölf Jugendlichen in wöchentlichen Redaktionssitzungen. Medienkompetenz durch Selbermachen, gefördert aus Mitteln des Landes Niedersachsen. Das letzte Heft erschien im Februar 2001, aber die 14-20-Jährigen wollten weitermachen. Dazu später mehr ... Ein anderes Beispiel für die Integration der Neuen Medien ist die Homepage der Kunstschule, ebenfalls von Jugendlichen gemacht. Hier das interaktive Kunstschul-Haus von August 2000, bei dem man von außen in die Räume steigen kann und sehen kann, was läuft .. Zum Beispiel im neu ausgestatteten Medienraum ... wo Jugendliche den Umgang mit dem Animationsprogramm Flash üben und kleine Trickfilme herstellen ... Entwicklungen und Erweiterungen im Einsatz der Neuen Medien ergeben sich in Aurich aus der kunstpädagogischen Praxis heraus, aus inhaltlichen Zusammenhängen. Die Strukturerweiterung bietet weitere Möglichkeiten zur Integration der Neuen Medien. Im Zusammenwirken von Kunstschule und MachMit Museum ergeben sich ganz neue Felder für ihren multimedialen Einsatz und bei der Vermittlung von Medienkompetenz. Das Labyrinth des Daidalos
Unter diesem Titel führt die Kunstschule miraculum in Kooperation mit dem MedienMobil des NLI in den Sommerferien 2002 ein Videoprojekt mit 8-12-jährigen Kindern durch. Diese lernen dabei die Möglichkeiten einer Filmproduktion unter fast professionellen Bedingungen kennen und können erfahren, wie das Filmemachen im Einzelnen funktioniert. Der reflektierte Einblick in die »Medienwelt« soll es den Kindern beispielhaft ermöglichen, mit dem Medium Video/Film auch im eigenen Interesse umzugehen und es kritisch hinterfragen zu können.
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Die Kinder können an den fünf Tagen vieles selber machen und mit traditionellen wie mit digitalen Medien arbeiten, wobei sie sich als Maler, Techniker oder Schauspieler verschiedenen Arbeitsbereichen selbst zuordnen. Am Ende können alle den fertig geschnittenen Videofilm mit nach Hause nehmen. Dieser kleine Film sowie weiteres Bild- und Textmaterial wird später in einem weiteren Projekt bei der Produktion der gleichnamigen interaktiven CD-ROM verwendet. Zwei junge Mitarbeiter der Kunstschule sind daran maßgeblich beteiligt: Georg Schwitters, der sein Freiwilliges Soziales Jahr – Kultur – bei uns ableistet, und Klaus Bremers, langjähriger Kunstschüler, Projektpartner und Netzmeister der miraculum-Homepage. Beide bilden sich bei den »sense&cyber-Projektpartnern« an der Uni-Hamburg fort, lernen den Umgang mit Autorenprogrammen kennen und bauen im Multi MediaStudio der Kunstschule eine eigene CD-ROM, mit der man das Thema der aktuellen Ausstellung Im Labyrinth der Sinne im MachMit Museum multimedial und interaktiv miterleben kann. Ein weiteres Beispiel für das Netzwerkdenken in Aurich ist die Entwicklung von Portalen im Internet, dem »Netz der Netze«: Ausgangspunkt für dieses Vorhaben ist das vorhin schon erwähnte Jugendmagazin Ventil, das im Februar 2001 eingestellt werden muss. Die jungen Leute wollen aber einfach weitermachen – und das Internet bietet sich als Neues Medium geradezu an. Ein halbes Jahr später geht das Internetportal aktivator.net unter dem Motto: »nutze das netz« ans Netz, in der Gestalt einer regionalen Plattform für Jugendkultur, mit einem Magazin, einem Homepagebaukasten und vielen anderen virtuellen Möglichkeiten zur Kommunikation.
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Leider mit einer nur sehr mäßigen Resonanz bei den jugendlichen Nutzern. Es passiert so gut wie nichts. Auch die Schulen, die wir anschreiben und um Mithilfe bitten, ziehen nicht mit. Man sucht nach Ursachen und findet sie in der NichtKommunizierbarkeit des Ganzen. Es ist zu groß. Ein neues Konzept wird entwickelt, mit neuen Jugendlichen, neuen Ideen und neuen Möglichkeiten – aber kleiner, bezogen auf die Kommune und auf das, was auch leistbar ist: Frysum, die virtuelle Stadt, geht 2002 ins Netz, mit ähnlichen Inhalten, aber anderen Strukturen, besser zu handhaben, schneller zu aktualisieren. Frysum hat neben Chat und Forum vier Bereiche, in denen man sich eine Wohnung nehmen kann: im Untergrund, im Wattenmeer, in der Lindenstraße und im Crown Palace Hotel. Es gibt eine Job-Vermittlung, ein Magazin und einen Veranstaltungskalender. Frysum hält sich besser, nachzusehen unter: www. frysum.de Der nächste Schritt in dieser Richtung geht noch weiter zurück und fängt bei den Schulen an. Wenn wir eine Plattform für Kinder bauen wollen, dürfen wir die Grundschulen nicht außen vor lassen, sondern sollten sie von Beginn an integrieren. Gemeinsam mit den zwölf Auricher Grundschulen (hier einige Lehrer bei einer Fortbildung in der Kunstschule) entwickeln wir das Kindernetz als eine Plattform für Kommunikation, Präsentation und Information kinderrelevanter Inhalte, die sowohl schulische wie außerschulische Interessen vernetzen kann. Das Kindernetz-Aurich wird erst einmal durch die Computer-AGs der einzelnen Schulen getragen (hier die AG der Lambertischule auf der Weser-Ems-Ausstellung, wo die Kunstschule als Repräsentant der Stadt verschiedene Projekte vorstellt) ... Später soll das Kindernetz auch eine Online-Kinderzeitung, ein Forum und einen Homepagebaukasten bekom-
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Rainer Strauß
men, sowie Freizeit-, Kultur- und Sportangebote verlinken können. Wir lassen wir uns Zeit damit. Die Strukturen sollen sich langsam entwickeln und mit den beteiligten Schulen kommuniziert werden. Das Netz muss mit den Schulen wachsen, mit den Kindern und mit den beteiligten Institutionen. Und damit komme ich zum Schluss und wieder zurück zum Ausgangspunkt: Resümee und Ausblick
Die Neuen Medien haben das Netzwerk miraculum stabilisiert und gleichzeitig auch verändert. An die Stelle der Ideenwerkstatt, die durchaus erfolgreich gestartet war, aber bis zur Klärung der personellen Situation von uns erst einmal wieder eingestellt wurde, ist das Kindernetz getreten, als handhabbarer und langsam zu entwickelnder dritter Baustein im Netzwerk miraculum. Kunstschule und MachMitMuseum arbeiten bereits sehr erfolgreich miteinander in einem Konzept inszenierter Räume für Bildungsprozesse. Die interaktiven Ausstellungen werden in der ganzen Region Ostfriesland mit steigender Tendenz angenommen: 2001: Wir machen BLAU, eine Ausstellung zur Lieblingsfarbe der Deutschen, sahen immerhin schon 10.000 Besucher. 2002: Sonne, Mond & Sterne, zum Thema Weltraum und Planeten, erlebte über 16.000 Besucher, von Juni bis Oktober 2003 an das Überseemuseum in Bremen ausgeliehen. 2003: Im Labyrinth der Sinne, der aktuellen Ausstellung, waren bis jetzt 8.000 Besucher, alle Vormittagstermine für Schulklassen sind bereits ausgebucht, und bis zum Ende rechnen wir mit mehr als 20.000 Besuchern.
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Netzwerk miraculum
Aktuell wird in der Kunstschule schon die nächste Ausstellung für 2004 zum Thema Kommunikation und Medien vorbereitet mit dem Titel Vom Höhlenmensch ins Internet. Weitere Informationen unter: www.miraculum-aurich.de Mit dem Kindernetz www.kindernetz-aurich.de versuchen wir nun auch das Internet als inszenierten Raum für Bildungsprozesse zu integrieren. Natürlich wird es in der kommenden Ausstellung eine wesentliche Rolle spielen. Ob das Gesamtkonzept miraculum langfristig hält, muss sie Zukunft zeigen. Die Stadt steht jedenfalls zu ihrer Einrichtung. Es scheint also zu funktionieren. Das Netzwerk ist stabil in seinem Kern und baut sich weiter aus, mit beweglichen Beziehungen der Einzelteile zueinander, in unserer Region, in unserer Stadt, intern, als kultureller Bildungsbauplatz. Das miraculum ist auf dem Weg – und wir sind guten Mutes.
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Anne Möllers, Britta Schiebenhöfer
Sehreise über das Mehr Versuch einer Legende am Rande einer verwischten Karte Ging es in Aurich unter dem Stichwort Netzwerk Kunstschule eher um die Schaffung neuer Außenverbindungen mit Hilfe der Neuen Medien, war die Blickrichtung in Hannover ganz auf das Innere der Kunstschule gerichtet. Wir, die Kunstpädagoginnen der Kunstschule KunstWerk, haben eine eigene CD produziert, auf der wir unsere Arbeit und unser Projekt darstellen. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, ob sich die Medienwerkstatt als gleich geordnetes Angebot im Rahmen der Atelierarbeit in unsere Methode integrieren würde. In diesem Rahmen haben wir die Aneignungs-, Gestaltungs- und Produktionsprozesse der Kinder und Jugendlichen beobachtet und dokumentiert. Diese Daten waren das Ausgangsmaterial für einen kunstpädagogisch reflektierten Erlebnisbericht, den wir auf CD abgebildet haben. Für die Darstellung haben wir bewusst ein für uns neues Medium gewählt. Es ging uns nicht nur um die Erweiterung der eigenen Medienkompetenz, sondern es sollte ein wesentlicher Teil unserer Methode auch auf uns selbst Anwendung finden. Wir haben uns selbst eine Aufgabe gestellt und die dazu notwendigen Qualifikationen im Prozess erworben. Auf der CD berichten wir über diese Lernprozesse und die verschiedenen Phasen der Gestaltung. Das Projekt hat uns auf vielen Ebenen in eine intensive und sehr persönliche Auseinandersetzung mit unserer Arbeit versetzt.
Anne Möllers, Britta Schiebenhöfer
Drei Jahre lang haben wir eine Sehreise unternommen und unsere Arbeit in der Kunstschule beobachtet, besehen, befühlt, beleuchtet, belauscht, beäugt, beschnuppert, besprochen, befragt, bezweifelt, belächelt, bemängelt, begriffen, beschützt, befürwortet, bekräftigt, benannt, bezeichnet, beschrieben, bebildert, bewundert, und in allem bewahrt. Als sehr schwierig erwies sich die mediale Erfassung der komplexen Wirklichkeit des Werkstattgeschehens. Eine Beschreibung konnte das Geschehen und die Zusammenhänge nicht ausreichend wiedergeben. Auch die Bilder transportierten nur einen kleinen Ausschnitt. Gerade dieser empfundene Mangel war der stärkste Antrieb auf der Suche nach immer neuen Annäherungsweisen und Datenquellen. Das immer genauere Hinsehen brachte unsere anfängliche Gewissheit zum Verschwinden. Das Sammeln führte über das Verlieren zum langen Suchen und schließlich zum Finden. Der Blick erweiterte sich auf unsere Rolle der Lehrenden und die Bedeutung der Lernumgebung.
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Sehreise über das Mehr. Versuch einer Legende am Rande einer verwischten Karte
Mit der Metapher der Reise haben wir ein Bild gefunden, das uns eine zusammenhängende Darstellung des komplexen Geschehens in einer Collage ermöglicht. Für die Gestaltung war uns wichtig, dass die entscheidenden Kennzeichen unserer Methode wie Simultaneitäten, Bewegung, Assoziation und Zufall erfahrbar gemacht werden. Auf der CD wird die Methode nicht beschrieben, sondern eher simuliert. Der Aufbau der CD präsentiert dem Betrachter die Inhalte in ähnlicher Weise, wie sie bei der Arbeit nach der Werkstattmethode auftauchen, und mutet ihm bewusst vielleicht ungewohnte Erfahrungen im Zusammenhang mit Lehrsituationen zu wie z. B.: Flexibilität, Ergebnisoffenheit, Improvisationstalent, Forscherperspektive und nicht zuletzt Chaos-Management. Er muss seine Orientierung auf verschiedenen Ebenen immer neu leisten und durch eigene Assoziationsleistungen neue Wege suchen. Die CD versucht ein vielschichtiges Bild des Chaosmos Kunstschule zu geben. Die Sehreise ist eine andere Art der Dokumentation von Projekterfahrungen. Unsere individuellen Beispiele sind keine Muster, die unverwechselbaren Geschichten keine Rezepte, die ausgewählten Impulse sind keine Anleitungen, und das konkrete Geschehen ist nicht verallgemeinerbar. Die Übertragbarkeit leistet jeder Betrachter selbst, indem er über den Einblick in unsere subjektive Haltung Reibungsfläche für die Auseinandersetzung mit der eigenen kunstpädagogischen Arbeit gewinnt. Die erste Ebene der Assoziation haben Sie schon vor Augen. Hier haben wir etwa 600 Bilder, Töne und Fundstücke aus dem Projekt in einem wabernden Strom organisiert. Jeweils 100 davon sind in zufälliger Auswahl zu sehen.
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Anne Möllers, Britta Schiebenhöfer
Damit möchten wir die Aufmerksamkeit auf die Dynamik und Beweglichkeit schöpferischen und assoziativen Denkens lenken. Zwischen Kenntlichkeit und Ahnung, flüchtigem Begreifen und Wieder-Verschwinden muss sich der Betrachter für etwas genauer interessieren und über eine Aktivität (hier den Klick) ein Bild zum Stehen bringen. Im Erkunden entstehen Eindrücke, Empfindungen, manches verliert sich wieder oder kehrt in veränderter Umgebung zurück. Manches steht in Verbindung mit anderen Ebenen der CD. Verlassen kann man diese Ebene nur über angebotene Links und gerät jeweils mitten hinein in eine andere Ebene ohne Anfang und Ende. Über ein Textbild kommt man auf die Metaebene. Hier sind im Wesentlichen Texte zu finden, die Phasen des Projektes beschreiben und Prozesse, Phänomene und Hintergründe der konkreten Praxis beleuchten. Dabei unterscheiden wir Texte auf vergilbtem Grund, die im Projektverlauf verfasst wurden, und Texte auf hellem Grund, die zum Abschluss des Projektes formuliert wurden. Die schrittweise Annäherung an die CD-Produktion haben wir für die Gestaltung dieser Ebene bildlich umgesetzt, indem das angestrebte Ergebnis einer Scheibe mit Loch zunächst als gefertigtes Objekt aus Tesafilmstreifen in Erscheinung tritt. Aufgeteilt in 72 Kreissegmente stellt es Links zu Texten her. Nach dem Anklicken verwandelt sich dieses Teilstück in ein CD-Segment. Das erlaubt dem Nutzer einen Überblick über das, was er bereits gelesen bzw. gesehen hat. Beweist er genügend Ausdauer, hat er am Ende eine vollständige CD vor Augen. Im rechten Fenster wechseln Bilder, die teilweise auch Links sind. Unten erscheint ein Textlaufband, das aus sämtlichen auf der CD verwendeten Texten satzweise zufällig zitiert. Wird auf einen dieser Sätze geklickt, kommt man auf die Unterebene des Text/Farbtransformators.
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Sehreise über das Mehr. Versuch einer Legende am Rande einer verwischten Karte
Auf der rechten Seite ist das gesamte Textdokument abgebildet, aus dem der gewählte Satz stammt. Im linken Fenster wird der Text in Farbblöcke umgeschrieben. Jedem Buchstaben ist eine Farbe zugeordnet, die je nach Wortlänge in der Helligkeit variiert. Zwei Schreibweisen wechseln nach dem Zufallsprinzip. Der Betrachter hat die Möglichkeit, einen eigenen Text einzufügen und umschreiben zu lassen. Ein Klick in das Textlaufband wiederholt den Schreibvorgang, ein Klick auf eine beliebige Stelle des Hintergrundes führt zurück zur Metaebene. Über das Auge auf der Metaebene eröffnet sich der Sehweg. Dort haben sich von Beginn der CDRezeption an Mittelausschnitte aller bis dahin angeklickten Großbilder angesammelt. Am Anfang der Reise ist der Screen fast leer. Dieser persönliche Sehweg ermöglicht, jeden Schnipsel als Rückfahrkarte zu benutzen und durch Klick an die Stelle zurück zu kehren. Da man aber kaum erkennen kann, aus welchem Bild der Ausschnitt stammt, bleibt auch der Rückweg ein unwägbares Abenteuer. Die Bildelemente lassen sich verschieben und neu anordnen. Zur Rückkehr auf die Metaebene genügt ein Klick an jeder beliebigen Stelle des Hintergrundes, oder man verlässt den Sehweg über den Link eines einzelnen Bildes. Über die Navigationskugel rechts oben kommt man über den Reißverschluss auf die Assoziationsebene und über einen Klick auf die linke Hälfte zur Reiseebene.
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Anne Möllers, Britta Schiebenhöfer
Auf der Reiseebene wird in der Metapher des Reisens aus vier Perspektiven über Phänomene der Kunstschularbeit berichtet. Die vier Blickwinkel laufen als Worte mit Linkfunktion von oben nach unten durch das Bild (Reisende, die Lernenden, auf gelbem Grund, Landschaft im Sinne der Lernumgebung auf grünem Grund, Unterwegs auf rotem Grund meint den kreativen Prozess und Reisebegleiter auf blauem Grund betrifft die Kunstpädagogen). Innerhalb jeder Perspektive sind die Reisegeschichten nach zehn Themenbereichen sortiert. Sie laufen von links nach rechts horizontal als Wortlinks durch das Bild und erlauben jederzeit den Wechsel. Das Großbildfenster erzählt Geschichten aus der Praxis, dort muss man weiterblättern, um dahinter liegende Teile zu sehen. Das linke überlappende Fenster ergänzt diese Erzählung um wechselnde Bilder. Das rechte freistehende Fenster ermöglicht den Wechsel zu weiteren Geschichten im Feld Reisebegleiter und Unterwegs. Über den Escape-Button links oben kann die Reise jederzeit unterbrochen werden. Gute Reise!
Die CD ist über die Kunstschule KunstWerk e. V., Hildesheimer Str. 111a, 30173 Hannover, Tel: 0511-88 8849 oder Fax: 0511-88 87 19 • [email protected] oder den Landesverband der Kunstschulen in Niedersachsen, Arnswaldtstr. 28, 30159 Hannover, Tel: 0511-414776 oder Fax: 0511-417156 • [email protected] zu beziehen.
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Burkhard Sievers
Abstract: bilden mit kunst Mimetischer Schnitt Die Beteiligung der Meppener Kunstschule am Modellprojekt sense&cyber erstreckte sich nach der Vorbereitungsphase über zwei Projekte, Zauberhafte Kunst und Kinderkunst, zu je zwei Teilen, die sich jeweils über ein Halbjahr erstreckten: Zauberhafte Kunst I+II und Kinderkunst I+II Die Meppener Kunstschule untersuchte innerhalb des Projektes auf der Grundlage der Konzeption meines Vorgängers Holger Lund, angeregt durch den Surrealismus, der mittels künstlerischen Werkes und Prozesses die Transformation von Wirklichkeit thematisierte, den mimetischen Schnitt künstlerischer Produktion (mimetisch: nachahmende Darstellung der Natur im Bereich der Kunst). Durch »zaubern« und »verzaubern« sollten die Kinder die verschiedenen Qualitäten von Wirklichkeit zwischen Ding und seiner Darstellung, zwischen Medialität und Virtualität erfahren (Verfremdung, blaues Küken). Im Meppener Ansatz mit der These »Medienkompetenz durch Kunst« wurde außerdem nach einer kindgerechten Adäquatheit in Umgang, Darstellung und Ausdruck mit den digitalen Medien gefragt. Das Meppener Teilprojekt Zauberhafte Kunst beschäftigte sich in der ersten Hälfte also im Wesentlichen mit sense. Bezogen auf die Praxis bedeutete dies eine Reflexion der sinnlichen Wahrnehmung von Medialität, aber auch dessen, was das Wort sinnvoll in der Kunst bedeuten kann. Während sich der erste Teil von Zauberhafte Kunst also im Wesentlichen mit analogen Medien beschäftigte, setzten sich der zweite Teil von Zauberhafte Kunst sowie das Projekt Kinderkunst mit den digitalen Medien auseinander. Dafür gab es zwei Gründe: Zum einen sollten sich die Kinder Verfahren wie Collage und Verfremdung zunächst mit ihnen bekannten Medien nähern, zum anderen stand die Medienwerkstatt im benachbarten Jugend- und Kulturgästehaus zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur Verfügung. Die kindorientierte Darstellungsweise bei großen Künstlern – wie zum Beispiel Picasso, der einmal resümierte, er habe ein Leben gebraucht, um so zu malen wie die Kinder –
Burkhard Sievers
aber auch kindgerechte Vermittlungsmöglichkeiten von Kunst und Medien waren Aspekte, die im Mittelpunkt von Kinderkunst standen. Die so genannten neuen Medien wurden dabei als ein Experimentierfeld in das Repertoire künstlerischer Methoden aufgenommen. Innerhalb der Kurse wurde ein vergleichendes Nebeneinander einer möglichst großen Vielfalt klassischer und neuer, analoger und digitaler Medien angestrebt. Dabei galt es zu untersuchen, inwieweit ästhetische und mediale Kompetenzen für den Umgang mit den neuen Medien förderlich sein können, welche Wechselwirkungen entstehen und welche Erweiterungen des Ausdruckspotentials durch die neuen Medien erschlossen werden können. Meppen nahm unter den beteiligten Kunstschulen in Bezug auf zwei Merkmale eine besondere Rolle innerhalb des Modellprojekts sense&cyber ein. Zum einen arbeitet die Kunstschule hauptsächlich mit Kindern aus dem Grundund Vorschulbereich, während sich die übrigen Kunstschulen eher auf die Arbeit mit Jugendlichen konzentrierten. Zum anderen wurde in Meppen der Versuch unternommen, das vorhandene Lehrpersonal in der Anwendung der neuen Medien zu schulen, statt mit Fachleuten aus dem Medienbereich zu arbeiten. Die anfänglichen Bedenken der Dozentinnen in Bezug auf das Alter der Projektteilnehmer bestätigten sich nicht. Zwar gilt es hier zu bedenken, dass die Schüler häufig erste Erfahrungen im Umgang mit Maus und Bildschirm sammeln müssen, jedoch ermöglichen durch Symbole betonte Arbeitsoberflächen einen schnellen Einstieg in den Umgang mit Paint- und Bildbearbeitungsprogrammen. Auch die Arbeit mit digitalen Fotokameras ist mit Kindern durchaus möglich. Um den Anschluss an Inhalte der Kurse herzustellen, wurden häufig analoge Schülerarbeiten digital fotografiert und auf den Computer exportiert, um dort digital weiterverarbeitet zu werden. Dabei stand der Vergleich zwischen klassischem Gestalten anhand analoger Medien und den Möglichkeiten der Gestaltung am Computer im Mittelpunkt reflektierender Gespräche mit den Kindern. Ein Beispiel für das analog-digitale Crossover ist das Vorgehen in einem Kurs, der sich aufbauend auf surrealistische Verfahren der Verfremdung und Transformation von Gegenständen widmete:
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Abstract: bilden mit kunst
Schülerinnen des 3. bis 5. Schuljahres wählten zunächst die Methode des Verpackens eines Gegenstandes, wie hier ein Bügeleisen, den sie danach mit verschiedenen Materialien wie Farbe, Draht, Stoff, Wolle und Abfallmaterialien zu einem neuen Objekt gestalteten. So entstand aus dem Bügeleisen zunächst eine Maus. Anschließend wurde das Objekt mittels einer Digitalkamera fotografiert und die digitale Reproduktion am Computer weiterverfremdet. Im Programm Photoshop wurde collagiert, verzerrt und bemalt. In einem reflektierenden Gespräch verglichen die Schüler zwischen den jeweiligen analogen und digitalen Verfahren sowie den daraus entstandenen Ergebnissen. Seit der Beteiligung der Kunstschule im Meppener Kunstkreis e. V. am Modellprojekt Ästhetisches Lernen orientiert sich die Kunstschule in Theorie und Praxis an der Reggiopädagogik, die das experimentelle, prozessorientierte Arbeiten postuliert. Das Gestalten am Computer als Neuem Medium sollte als eine mögliche kreative Arbeitsform in das Repertoire der bereits zur Verfügung stehenden klassischen Medien aufgenommen werden. Das Projekt sense&cyber hat unsere Kunstschule in vielerlei Hinsicht weitergebracht. Am Anfang des Projektes stand die Erwartung, sich mit den Neuen Medien neue Herangehensweisen an die Kunst zu erschließen. Da die Dozentinnen zum größten Teil kaum Erfahrungen in der Arbeit mit neuen Medien mitbrachten, mischte sich unter die Neugier in Bezug auf die Möglichkeiten auch eine nicht unwesentliche Portion Skepsis. Die Qualifizierungsphase nahm dementsprechend viel Zeit in Anspruch, und an ihrem Ende stand die Erkenntnis, dass für Programmangebote mit Jugendlichen Fachdozenten in das Team der Kunst-
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Burkhard Sievers
schuldozentinnen aufgenommen werden müssen. In Bezug auf die Arbeit mit Kindern im Grund- und Vorschulalter ließen sich jedoch relativ schnell Erfolge erzielen. Wenn sich auch herausstellte, dass die Arbeitssituation in der Medienwerkstatt sich von der in den Ateliers der Kunstschule wesentlich unterschied. Die Erwartung, mit den Neuen Medien die Zielgruppe der Jugendlichen zu erschließen, hat sich nur teilweise erfüllt. Zwar konnten zwei Video-Projekte der Kunstschule, die sich speziell an Jugendliche richteten, realisiert werden, doch hielt sich der Zulauf bei den Jugendangeboten insgesamt im Rahmen. Allerdings ergaben sich im Laufe des Projektes einige noch bestehende Kooperationen mit Schulen, die die Kunstschule für Projekte im Bereich Kunst und Neue Medien mit Jugendlichen als Partner hinzuzogen. Dies war nicht zuletzt auf die Öffentlichkeitswirksamkeit des Projektes sense&cyber zurückzuführen. Vorbehalten bei den Eltern jüngerer Kinder gegenüber der Arbeit mit dem Computer wurde damit begegnet, dass bei den jeweiligen Abschlusspräsentationen der Projekte die Medienwerkstatt integriert wurde, um den Kindern die Möglichkeit zu geben, ihnen ihre kreative Arbeit am Computer zu erklären. Besonders in der Projektarbeit mit Jugendlichen zeigte sich der hohe Zeitbedarf für die Einarbeitung in die Technik und das experimentelle Gestalten mit dem Medium Computer. Da bei den Schülern der Bedarf bestand, sich von einer zeitlichen Bindung zu trennen, wurde den Schülern die Möglichkeit gegeben, die Medienwerkstatt ohne zeitliche Begrenzung zu nutzen. Die Neuen Medien sind heute als gleichwertiges Medium in das Repertoire der klassischen Medien aufgenommen worden und kommen im Kunstschulbetrieb regelmäßig zum Einsatz. Dabei gibt es sowohl Kurse, die sich ausschließlich der Arbeit mit neuen Medien widmen, als auch solche, in denen die Neuen Medien nur eine Nebenrolle spielen. Aus der Absicht des Vergleiches zwischen klassischen und Neuen Medien hat sich quasi ein Prinzip entwickelt, das der Kunstschularbeit die mediale Vielfalt zugrunde legt.
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Deliane Rohlfs
animato [lat.-ital.] lebhaft, belebt, beseelt Hintergrund Digitale Medien beinhalten ein enormes Kreativpotenzial, wenn die fachliche, technische und finanzielle Infrastruktur gegeben ist. Die großzügige Unterstützung der EWE AG, eines lokal ansässigen Energiekonzerns, in Kombination mit der Landes- und Bundesförderung ermöglichte der Oldenburger Kunstschule einen hervorragenden Start in die digitale Gestaltungswelt mit den beiden Akzenten Spezialisierung und Kooperation. Ein neuer, sehr gut ausgestatteter Medienraum und die Ateliers boten Künstlern und Medienspezialisten den notwendigen Raum für eine intensive Zusammenarbeit in und am Projekt animato mit dem Schwerpunkt der 2D- und 3D-Animation. Im Mittelpunkt stand die Entwicklung von interdisziplinären Arbeitsmethoden zwischen den Bereichen Kunst und Medien. Die Entscheidung für die sehr spezialisierte Ausrichtung fiel vor dem Erfahrungshintergrund, den die Kunstschule bisher mit der Konzeption und Organisation von SYNCHRON, dem deutsch-niederländischen Musikclipwettbewerb gemacht hatte (www.synchron-info.net). Hier zeigte sich, dass bei den Einsendungen verstärkt Produktionen eingereicht wurden, die eine Kombination von Zeichnung, Malerei, Film und Animation aufzeigten. Ein Trend bei den sehr anspruchsvollen Wettbewerbsbeiträgen der jungen Erwachsenen und die Geburtsstunde des Projektes animato. Die Kunstschule hat von Anfang an Jugendliche und junge Erwachsene mit diesem Konzept angesprochen. Es ist ihr erklärtes Ziel, neben dem tradierten Kinderbereich ein Angebot für Jugendliche und junge Erwachsene aufzubauen und anzubieten. Dabei positioniert sich die Oldenburger Kunstschule für junge Menschen in ihrem Aufgabenprofil an der Schnittstelle zwischen Schule und Berufsausbildung, sowohl im angewandten wie im freien Bereich, also den gestaltenden Ausbildungsberufen, den Fachhochschulen oder den Kunstakademien.
Deliane Rohlfs
Bei der Akzeptanz der Kunstschulangebote durch junge Erwachsene spielt für sie der Aspekt der Berufsvorbereitung eine wesentliche Rolle, und zwar für alle Bereiche der Kunst. Hierbei nehmen die Medien immer mehr an Bedeutung zu. Die Kunstschule setzte in der Anwendung auf anspruchsvolle Software wie Cinema 4D, Premiere und Flash, die von vornherein auf eine spätere Berufsbezogenheit abgestimmt war. Es handelt sich dabei um Standardsoftware, die in Werbeagenturen, Multimediafirmen, Fach- und Hochschulen verwendet wird. Wir sind davon ausgegangen, dass junge Leute mit dem Erlernen dieser professionellen Software eine klare Verwertbarkeit dieser Zusatzqualifikation für spätere Berufstätigkeit erlangen. Vor diesem Hintergrund sind junge Leute für das Projekt animato mit seinem maßgeschneiderten Konzept gezielt angeworben worden. Die Teilnehmenden, die bewusst die Kunstschule besuchten und das Projekt animato mitgestalteten, stellten ungefähr ein Drittel der Zielgruppe. Die anderen Teilnehmenden waren Schüler aus den 11. und 12. Klassen dreier Oldenburger Gymnasien, die mit ihren Kunstlehrern den Kunstunterricht in die Kunstschule verlagerten. Die Zusammenarbeit Schule/Kunstschule war so also ebenfalls ein Bestandteil des Projektes. animato (lat.-ital.) lebhaft, belebt, beseelt. Ein Projektname, der treffender nicht sein konnte. Belebt wurde das Projekt durch ein sehr großes heterogenes Team aus Künstlern, Medienspezialisten und Pädagogen mit durchschnittlich sieben Personen. Insgesamt waren über drei Jahre vierzehn Dozenten und Lehrer an dem Projekt beteiligt. Dazu kamen an die 120 Teilnehmende zwischen 17 und 25 Jahren. Viele Arbeitsweisen, Charaktere und Meinungen trafen aufeinander und prägten die gemeinsame Projektarbeit, die wiederum von eindeutigen Positionen und Konfliktlinien durchzogen war. Alles in allem war das Projekt für die Kunstschule Neuland, das es zu erforschen galt. Bei der Technik standen anfangs 2D- und 3D-Animationen im Mittelpunkt. Im Projektverlauf wurden sie zusehends durch digitalen Filmschnitt und Fotografie ergänzt, auch damit die umfangreiche Technikvermittlung an hemmender Dominanz verlor. Die Kunstschule betrat mit ihren hohen Ansprüchen methodisches Neuland, und es waren oftmals die schwierigsten Situationen, eine angemessene und praktikable Balance zu finden. Denn im
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animato [lat.-ital.] lebhaft, belebt, beseelt
Projekt animato basierte das künstlerische Forschen auf der interdisziplinären Arbeitsweise zwischen der klassisch künstlerischen Arbeit und dem experimentellen Umgang mit den neuen Medien. Insgesamt hat das Projekt die Kunstschule in ihrer institutionellen Entwicklung nachhaltig geprägt. Nach außen sichtbar durch die Einführung eines neuen Logos.
Positionen und Konfliktlinien Während des gesamten Projektzeitraums kristallisierten sich drei große Konfliktfelder heraus: die Verbindung von Kunst und Technik, der Faktor Zeit und die Zusammenarbeit Kunstschule – Schule. Kunst und Technik Diese produktive Verbindung wurde dadurch erschwert, dass zum einen die Spezialisten, hier Künstler, Informatiker und Mediendesigner, ein gemeinsames, ihnen bis dahin kaum bekanntes interdisziplinäres Arbeitsfeld, das der Kunst und der Medien, mit Inhalten und Methoden füllen mussten und zum anderen ihnen in diesem interdisziplinären Arbeitsbereich aber auch der Erfahrungshintergrund fehlte. Das Kennen lernen der individuellen Arbeitsweisen und das Erarbeiten gemeinsamer Schnittstellen war ein notwendiger Prozess, der während des Projektes erfolgte und entsprechende methodische Entwicklungsprozesse nach sich zog. Ein gemeinsames Erfahrungspotenzial musste erarbeitet und gesichert werden, auf dessen Basis aufgebaut wurde. Dieser Prozess strotzte vor Sprödigkeit und verlangte allen Beteiligten ein hohes Maß an Selbstdisziplin, die Bereitschaft zur Reflexion und zur kooperativen Zusammenarbeit ab. Oftmals trat vor einer fruchtbaren Phase der Kooperation beider Spezialistengruppierungen erst einmal die Wahrung fachlicher Besitzstände, gepaart mit diversen Formen der Durchsetzung eigener Wertvorstellungen, auf. Dass sich daraus ab und an eine durchaus klischeehaft gezogene Grenze zwischen Kunst und Technik entwickelte, blieb nicht aus. Dennoch verflüchtigte sie sich im Laufe der drei Jahre, genauso wie sich ein Kernteam bildete, das wiederholt an Einzelprojekten arbeitete und auf gemeinsame Erfahrungen aufbaute.
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Deliane Rohlfs
Es brauchte auch einfach Zeit, Zeit zum Kennen lernen der unterschiedlichen Ansätze, Zeit für gemeinsame Erfahrungen und Einsichten in die verschiedenen Arbeitsweisen, um daraus erfahrungsbezogene Methoden zu entwickeln, die sich von den anfänglichen Konzeptansätzen weg entwickelten. »Der Fehler liegt in der falschen Umgangsweise. Es wurde versucht, etwas aus der realen Natur im Rechner nachzubilden. Es gibt meines Erachtens viel mehr Möglichkeiten, mit diesem Programm [cinema 4D] künstlerisch zu arbeiten, als nur Dinge nachzubauen oder durch die künstliche Welt hindurchzugehen.« (Peer Holthuizen, Bildender Künstler) Aber gerade für die Mediengestalter lag anfangs in der Vermittlung des perfekten Nachbaus der selbstformulierte Anspruch an ihre Arbeit im Projekt, letztendlich auch geprägt durch das Berufsethos. Die Konfliktlinie Zeit »Einen Text zu schreiben ist nicht das Gleiche, wie eine 3D-Animation zu erstellen. Weil Lehrer keine Kenntnisse in den digitalen Techniken aufweisen, packen sie zu viele Erwartungen, Inhalte und Ansprüche in diese Projekte [...] Ich habe mir angesichts der Fehleinschätzung der Lehrer – was den Aufwand und die technischen Möglichkeiten betrifft – oft gewünscht, dass ein Lehrer sich im Vorfeld ausreichend informiert – was nie geschehen ist. In Zukunft sollte man Wert darauf legen, im Rahmen einer Einführung den Lehrern zu verdeutlichen, wie zeit- und arbeitsintensiv gewisse Arbeitsprozesse sein können wie z. B. Videoschnitt. Deshalb herrschte gerade bei den Lehrern eine latente Unzufriedenheit. Der hohe Zeitaufwand und die ihrer Meinung nach spärlichen Zwischenergebnisse passten nicht zu der laienhaften Auffassung, gerade mit den neuen Medien extrem schnell arbeiten zu können. Eben diese Fehleinschätzung von Technik und Zeit hat in der Klasse dazu geführt, dass einige Schüler frustriert waren, da im Vorfeld anspruchsvolle Planungen und Ideen mit dem hohen zeitlichen Aufwand kollidierten.« (Thiemo Eddiks, Mediengestalter) Richtet man den Fokus auf die beiden Teilnehmergruppen, ergibt sich ein weiteres Bild zum Thema Zeit. Wie schon eingangs erwähnt, arbeitete die Kunstschule mit zwei Zielgruppen. Zum einen mit jungen Leuten, die in ihrer Freizeit die Kunstschule nachmittags, abends oder am Wochenende besuchten, und zum anderen mit Schülern, die innerhalb ihres Kunstunterrichtes in der Kunstschule arbeiteten. Beide Gruppen verfügten durchschnittlich über sehr unterschiedliche Zeitbudgets und Motivationen für animato (außerschulisch ca. 120 Stunden und schulisch ca. 30 Stunden pro Halbjahr).
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Da die Schule grundsätzlich nicht mehr als drei Schulstunden wöchentlich und ein Gymnasium sogar nur vierzehntägig an dem Projekt teilnehmen konnte und wollte, war es erklärtes Ziel der Kunstschule, die Schüler dazu zu animieren, auch an den kostenlosen Wochenendangeboten teilzunehmen. Die Kunstschüler zahlten dagegen einen monatlichen Beitrag in Höhe von 40 Euro. Uns interessierte die Frage, warum die Schüler nur zu so einem geringen Prozentsatz, die – wohlgemerkt unentgeltlichen – Qualifizierungsangebote im Bereich hochwertiger Softwarevermittlung angenommen haben. Haben Sie die ergänzenden Angebote der Kunstschule wie das offene Medienatelier, die basics oder das Atelier Intensiv besucht?
35%
65%
ja nein
Dazu auch einige Schülerstatements aus einer Umfrage der Kunstschule: • • • • • •
»Zeitmangel«, »Zeitmangel durch private Veranstaltungen«, »Zusätzlicher Besuch war für das Projekt nicht notwendig«, »Liegen an Tagen, an denen ich nicht kann«, »Sport, Freizeitaktivitäten, Arbeit«, »Kein Interesse an Arbeit am PC«.
Interessanterweise stimmen diese Schüleraussagen überein mit den Ergebnissen einer Studie der Volkshochschulen aus dem Jahr 2001 zu Weiterbildungsnachfragen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Die Studie besagt, dass die Weiterbildungsnachfrage, insbesondere bei Jugendlichen/Schülern insgesamt relativ gering ist. Die Gründe werden im Freizeitverhalten ausgemacht, in den Einstellungen zum Lernen und in der
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Zukunftsorientierung. Die Jugendlichen wollen demnach etwas erleben, Spaß haben, Events besuchen. In ihrer Freizeit wird viel gejobbt, um sich bestimmte Konsumstandards zu erfüllen (vgl. H. Kröpke-Erbach, C. Zinn, J. Spiker: Gewinnung und Qualifizierung von nebenberuflichen pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Weiterbildung mit jungen Erwachsenen, Ergebnisse, Konzepte Empfehlungen, Volkshochschule Dortmund, Kulturbetrieb Dortmund, 2001). Anders sieht es in der Recherche bei den jungen Erwachsenen aus: Befinden sie sich in der Berufsausbildung oder in einem Berufsfindungsprozess, wird die Notwendigkeit der Fortbildung sofort erkannt und nachgefragt. Die Aussagen der Untersuchung des Volkshochschulverbandes spiegelten sich in der Teilnehmerstruktur und ihrer Bereitschaft, Zeit und Geld zu investieren, bei unserem Projekt sehr stark wieder. Die am freien Markt angeworbenen Teilnehmer befanden sich durchweg in der Berufsausbildung oder (Neu-)Orientierung. Sie waren im Gegensatz zu den Schülern bereit, sehr viel Zeit und auch Geld zu investieren. Trotz des geldwerten Vorteils der Schüler, denn sie brauchten nichts für die animatoAngebote zu zahlen, nahmen diese die ergänzenden, qualifizierenden, außerschulischen Angebote innerhalb des Projektes kaum wahr. Mit einer Ausnahme: der Leistungskurs Kunst! Die Zusammenarbeit der Institutionen Kunstschule und Schule Die Zusammenarbeit Kunstschule/Schule war seitens der Zielgruppe der jungen Erwachsenen eine weitere Komponente unseres Projektes. Parallel dazu wurden Kooperationsformen zwischen beiden Institutionen erprobt. Dabei zeichneten sich ganz klassische Konflikte zwischen den Institutionen ab. »Die größten Differenzen entstanden meiner Meinung nach bei der Frage nach dem Verständnis und der Auffassung von Kunst.« (Peer Holthuizen, Bildender Künstler) Dabei sieht er den Schwerpunkt des schulischen Kunstunterrichtes stark im Bereich der Kunstbetrachtung und der Kunstgeschichte, weniger in der Förderung des experimentellen und praktischen, nicht standardisierten Arbeitens oder gar der Besprechung von aktueller Kunst. Aus seiner Sicht würde praktisches künstlerisches Arbeiten sowieso den schulischen Rahmen um ein Vielfaches sprengen. »[…] Ich muss den Schülern ja Unterrichtsstoff beibringen, der in den Rahmenrichtlinien festgelegt ist […]« (Ortrud Reuter-Kaminski, Lehrerin, IGS HeleneLange-Schule)
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Die Vorbereitung auf das Abitur und die Benotung beeinflussten ebenso die Zusammenarbeit: »Ich unterwerfe mich da eher der Schulorganisation […] in realistischer Weise muss ich ja die Dinge bewerten. Das ist ein Grund, warum ich sage – im Kunstunterricht macht ihr keine Kunst. Kunst ist nicht bewertbar in dem Sinne, wie es in der Schule sein muss, sondern ich gebe die Aufgabe, auch wenn sie noch so offen ist, und bewerte die Ergebnisse. […] Ich trenne Kunstunterricht und Kunst ganz stark. […]« (Karsten Friedrichs-Tuchenhagen, Lehrer, Gymnasium Liebfrauenschule) Positionen: querdenken und querhandeln! Was charakterisiert das Projekt animato im Hinblick auf die Verbindung von Kunst und Medien? Welche Methoden wurden entwickelt und erfolgreich angewendet? Wenig abbilden – viel querdenken! Es wurden so wenig inhaltliche, thematische Vorgaben gemacht wie möglich, wobei die bildnerische Formgebung impulsgebend war. Mit diesem Prozess einher ging die Förderung von Abstraktionen im Denken und Gestalten! Denn gerade die Verbindung von Kunst und Technik und hier die Anwendung der Software beinhaltete oftmals die Falle des (zeitintensiven) perfekten Abbildens. Die Kunst der perfekten Technik führte, wie bereits geschildert, anfänglich zu großen Konflikten im gesamten Team. Kunst und Medien wurden dann oftmals zur Kunst der perfekten Technik und blieben daran kleben. Gerade der interdisziplinäre Gebrauch von Kunst und Medien eröffnet anregende Gestaltungs- und Bildfindungsprozesse. Das interdisziplinäre Handeln setzt die Kunst als Kommunikationsmittel intensiver ein, bzw. wird dadurch erst die Stärke dieser Arbeitsweise sichtbar, so z. B. am direktesten zu beobachten bei interaktiven Installationen. Gerade der Einsatz elektronischer Medien befördert neue Denk- und Gestaltungsweisen im Hinblick auf eine angestrebte Kommunikation mit Dritten.
Eike Mosler: »Stuhl«
Henrike Binder: »Formstudie«
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Die Inszenierung einer ästhetischen Kommunikation »Für uns ist die Arbeit abgeschlossen, wenn die Datei gespeichert ist. Die weiteren Schritte wie angemessene, fantasievolle Präsentationen, die die digitale Arbeit um ein Vielfaches qualitativ steigert, wie in der Ausstellung gesehen – das habe ich von Peer gelernt.« (Thomas Robbers, Grafikdesigner)
Philipp Schwarzer: »Hirn & Herz«
Manfred Fitzner: »Stühle«
Jonathan Strengler: »Collage3«, »Church«
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Ein weiterer entscheidender Faktor, der die Kombination von Kunst und Medien in ihrer produktiven Ergänzung forcierte, war die methodische Einbindung eines öffentlichen Kommunikationsprozesses durch die Ergebnisse mit einem Publikum in Form einer Ausstellung. Diese Kommunikationsform forderte geradezu die interdisziplinäre Arbeitsweise heraus und eröffnete allen Beteiligten, sowohl Produzenten wie Rezipienten, den Mehrwert. Und zwar den Mehrwert an Kommunikationsmitteln, die durch interdisziplinäre Arbeitsweisen verstärkt Abstraktionen im Denken und Handeln beim Produzenten wie auch den Rezipienten erzeugen. Dabei prägen nicht nur interaktive Formen nachhaltig den Aus- und Eindruck. In der Verknüpfung des Produktionsprozesses mit einer geplanten Präsentation liegen die Stärken des Interdisziplinären zwischen Kunst und Medien und steigern die digitale Arbeit im Ausdruck um ein Vielfaches. Wie wird was mit zukünftigen Betrachtern kommuniziert? Hier liegt ein wesentliches Potenzial in der Kombination von Kunst und Medien: Die Kommunikationsebene mit dem Betrachter fordert heraus! Alle anderen Medien geben nur Ausschnitte der gesamten Arbeit wieder, wie z. B. die Postkarte oder eine CD. Erst die Präsentation der Arbeiten in einer Ausstellung für ein Publikum forderten die Vielfalt der Ausdrucksweisen heraus. Interessanterweise war der Abstraktionsgrad der Arbeiten nur bei den hauseigenen Arbeiten zu finden und kaum oder gar nicht bei den Ergebnissen der Schulprojekte.
animato [lat.-ital.] lebhaft, belebt, beseelt
Perspektiven Inwieweit sich dieser lohnenswerte Ansatz auch nach Beendigung der modellhaften Finanzierung in der Kunstschule institutionalisieren lässt, hängt davon ab, ob und wie die Einrichtung es schafft, den Wert und den Nutzen dieser Arbeit mit Kunst und Medien herauszustellen und zahlenden Kunden zu vermitteln. Die Zusammenarbeit Kunstschule/Schule wird dagegen in der durchgeführten Form sehr kritisch betrachtet. Die Kunstschule ist und bleibt eine außerschulische Einrichtung mit hoher Flexibilität und Innovationskraft, die sich nicht ohne bleibende konzeptionelle Schäden in das enge Gefüge einer staatlichen Schule pressen lässt. Die formalen und inhaltlichen Konflikte sind geschildert worden. Dennoch zeichnet sich, gerade auch vor den vielfältigen Erfahrungen des Modellprojektes, eine sehr produktive ergänzende Form einer zukünftigen Zusammenarbeit ab. Die Kunstschule bleibt in diesem Modell, was sie ist: ein außerschulischer Erfahrungs- und Lernort, an dem Künstler und Spezialisten arbeiten und der ergänzend zum herkömmlichen Kunstunterricht für motivierte, talentierte und engagierte Schüler dort ansetzt, wo die Schule ihre Grenzen hat: in der wertfreien Auseinandersetzung mit Kunst durch Künstler. Entscheidend: Diese Zusammenarbeit ist Teil des offiziellen Kunstunterrichtes der Gymnasien! Es ist ein staatlich akzeptierter, profilierter und zensurfreier Praxisbaustein im Portfolio der Kunstleistungskurse und der jeweiligen Gymnasien, die sich damit einen künstlerischen Schwerpunkt geben. Kooperation heißt in diesem Fall aber auch eine unbedingt notwendige politische Akzeptanz dieses zukunftsfähigen Verhältnisses, das sich dadurch öffentlich legitimiert. Es ist Zeit zum Querdenken und -handeln!
An dem Projekt haben mitgearbeitet: Thiemo Eddiks, Karsten Friedrichs-Tuchenhagen, Kai Gärtner, Lutz Harders, Peter Hanson, Peer Holthuizen, Mathias Kroll, Ralf Lau, Veronika Pögel, Ortrud Reuter-Kaminski, Thomas Robbers, Deliane Rohlfs, Siegfried Schlierf, Henning Schmuck.
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sense&cyber Eine Bilanz in einzelnen Aspekten Am Anfang Als das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur 1999 an den Landesverband der Kunstschulen herantrat und ihm vorschlug, ein Projekt mit Kunstschulen im Rahmen des BLK-Programms »Kulturelle Bildung im Medienzeitalter« zu beantragen, konzipierte der Verband im Kontext von Kunst, Medien und Kunstschulen das Projekt sense&cyber. Ein Auszug aus dem Antragstext lautet: »Den »In-Begriffen« »Medienkompetenz«, »Ästhetische Kompetenz« und »Kreativität« liegen eine gemeinsame Bewertung und Erwartungshaltung zu Grunde: Oft werden diese Begriffe als Schlüsselqualifikationen für die Bewältigung der Zukunft verstanden. Im Modellkontext sollen diese hypothetischen Erwartungshaltungen sowie das Wechselspiel und die Balance zwischen materiell-sinnlicher und virtueller Welt untersucht und im Rahmen einer Konzept- und Angebotsentwicklung konkretisiert werden.«
In der Absicht Ästhetische Bildung wird im Kunstschulkontext, zunächst einmal jenseits von Kunst, als Wahrnehmungsfähigkeit beschrieben, die mit der Sensibilisierung der Sinne einhergeht und die gleichermaßen alle in der Anschauung liegenden Lernvorgänge, in realen wie virtuellen Räumen, einschließt. Kunstschulen beziehen sich im Weiteren in ihrer Arbeit auf die Erkenntniskraft sinnlicher, also der an Medien gebundenen, Erfahrungen im Sinne eines »Etwas-für-wahr-nehmen« und des Verstehens als »Be-Greifen«. Da Wirklichkeit von jedem Einzelnen subjektiv konstruiert wird, entsprechend seinem Hintergrund an Erlebtem, Erkenntnissen, Assoziationen, Befindlichkeiten usw., steht in der ästhetischen Bildung in den Kunstschulen zudem die individuelle Persönlichkeit mit ihrem Interesse im Mittelpunkt. Schnittstellen und Relationen von Kunst, Medien, Pädagogik beschreiben die tägliche Kunstschulpraxis. Mit der Integration der so genannten neuen Me-
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dien zu den bereits in den Kunstschulen verwendeten standen in dem Projekt sense&cyber Fragen nach dem Einfluss dieser neuen Technologien auf pädagogische und künstlerische, aber auch auf strukturelle Konzepte, Inhalte und Methoden an. Auf den Erfahrungen der Kunstschulen in der Arbeit mit den klassischen künstlerischen Medien aufbauend, sollten diese ebenso Projektbestandteil sein wie die ›neuen‹ Medien, da es ihrem Verhältnis als künstlerische Produktions- und Kommunikationsmittel nachzuspüren und die Bedingtheiten von ästhetischer Kompetenz und Medienkompetenz zu erkunden galt. Zwar wurde davon ausgegangen, dass es für den Umgang mit Medien, alten wie neuen, technischer Kenntnisse bedarf, die Befähigung zu einer anwendungsbetonten zweck- und zielorientierten Nutzung war aber nicht mit dem Projekt intendiert. Stattdessen sollte die Förderung einer offenen, assoziativen und unkonventionellen Herangehensweise sowie einer kritischen wie kreativen Auseinandersetzung und Reflexion im Vordergrund stehen. In diesen Bildungskontext hineinwirken sollte die ›Kunst‹, selbst ein Medium, als Möglichkeitsraum an Materialien, Methoden und Werten. Vor diesem Hintergrund haben sich die beteiligten Kunstschulen in Aurich, Hannover, Meppen und Oldenburg mit Partnerinstitutionen und in Kooperation mit ErziehungswissenschaftlerInnen der Universität Hamburg auf den Weg einer ästhetischen KUNSTschulpraxis im so genannten Medienzeitalter gemacht, um Methoden der kulturellen Bildung im Kontext der ›neuen‹ Medien zu erproben.
Der Titel Indem der Titel sense&cyber Erfahrungen des ästhetischen Erlebens denen der virtuellen Wirklichkeit gegenüberzustellen scheint, spiegelt er zwar das zunächst im Antrag beschriebene Vorhaben wider, gleichzeitig steht er aber auch stellvertretend für das Arbeitsfeld der Kunstschulen. Denn in der Regel finden unter Einbeziehung aller Medien in den experimentellen Lernsituationen und Erfahrungsräumen der Kunstschulen werk- und handlungsorientierte Lehr- und Lernprozesse mit Kunst als methodischem Ansatz, als Forschungs-, Kommunikations- und damit Bildungsinstrument statt. Auf der Grundlage der Expertise für das BLK-Programm »Kulturelle Bildung im Medienzeitalter« war im sense&cyber-Projekt außerdem die Überprüfung der Klischees von Zuschreibungen und Eigenschaften der ›alten‹ Medien wie sinnlich, unmittelbar, authentisch ... und der ›neuen‹ Medien, etwa kalt, technisch, genormt ... inbegriffen. Diesbezüglich haben sich im Verlauf des
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Projektes in den praktischen wie theoretischen Auseinandersetzungen entgegen eindeutiger Definitionen immer wieder die komplexen medialen Verschränkungen zwischen ›senses‹ und ›cyber‹ offenbart.
Auf dem Weg In den vier beteiligten Kunstschulen wurden zunächst, zum Teil unter Berücksichtigung jeweiliger orts- und konzeptspezifischer Bedingungen, individuelle Ansätze und Fragestellungen für die Auseinandersetzungen mit den neuen Technologien in Theorie und ästhetisch-künstlerischer Praxis entwickelt. Die Wahl des Verbandes auf diese Kunstschulen fiel aufgrund unterschiedlicher Kriterien, sei es, dass die Kunstschule KunstWerk in Hannover bereits auf erste Erfahrungen im Umgang mit den neuen Technologien, z. B. durch das Projekt »Netspace«, blicken konnte. Die Kunstschule KLEX in Oldenburg verfügte über eine entsprechende institutionelle Größe, die ein Fortführen der im Projekt erworbenen Kenntnisse im Kunstschulalltag gewährleisten konnte. Außerdem hat sie die Teilnahme am Projekt genutzt, die Zielgruppe der Jugendlichen durch das Angebot mit ›neuen‹ Medien zu erschließen und Formen wie Inhalte von Kooperationen mit allgemeinbildenden Schulen zu erproben. In Aurich arbeitete miraculum bereits nach einem vernetzenden Konzept der Institution Kunstschule, in das die kommunikativen Möglichkeiten der ›neuen‹ Medien integriert wurden. Und in der Meppener Kunstschule sollten Erfahrungen und Erkenntnisse aus einem vorangegangenen Modellprojekt zur ästhetischen Frühförderung nun in der Anwendung der neuen Technologien überprüft werden. Zur erfolgreichen Durchführung des Projektes wurde eine Struktur der Organisation und Verantwortlichkeiten zwischen dem Bund, dem Land Niedersachsen, dem Zentrum für Kulturforschung, dem Landesverband, den Kunstschulen, dem Niedersächsischen Landesinstitut für Schulentwicklung und Bildung (NLI) und weiterer Projektpartner, dem Team der wissenschaftlichen Begleitung und dem Bundesverband der Jugendkunstschulen und kulturpädagogischen Einrichtungen (bjke) geschaffen. Dadurch konnten entsprechend dem Antragskonzept sense&cyber der Ablauf der Einzelprojekte in den Kunstschulen und deren konzeptionelle Kontinuität sichergestellt, aber auch der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis in
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den regelmäßigen und zum Teil öffentlichen Modell- und Fachforen sowie die regelmäßigen Visitationen vor Ort gewährleistet werden. Angesichts des experimentellen Charakters des sense&cyber-Projektes waren im Projektzeitraum die Entwicklungen in der Einbeziehung der ›neuen‹ Medien in die Praxis für die Kunstschulen nur selten vorhersehbar. In Meppen, Hannover, Aurich und Oldenburg ist oft nach dem Prinzip des ›learning by doing‹ gearbeitet worden, und erst im Währenddessen haben sich durch Selbstbeobachtung und Selbstreflexion Chancen und Grenzen eröffnet, die wiederum Anstöße für neue und situative Konzeptveränderungen ergaben. Die im sense&cyber-Projekt von April 2000 bis März 2003 an den vier Kunstschulen gemachten Erfahrungen sind Grundlage der folgenden Auswahl an Aussagen über die Bedingungen, Möglichkeiten und Perspektiven im Umgang mit den so genannten neuen Medien: Kunst und Technik oder Relationen von ›alten‹ und ›neuen‹ Medien als künstlerische Produktionsmittel oder Medien und Medium Mit Farbe und Leinwand und auch noch mit der Fotokamera vermeint man leicht ein ›Kunstwerk‹ herstellen zu können. Dagegen bringt ein vor einem stehender Computer zunächst einmal andere Konnotationen mit sich, die eher einen funktionalen Gebrauch nahe zu legen scheinen als künstlerische Fragestellungen aufkommen lassen. So begleitete die Beteiligten im Verlauf des Projektes die Frage, wie sich eigentlich in der ästhetisch-pädagogischen Praxis mit ›neuen‹ Medien das Künstlerische gegenüber dem Technischen behaupten kann. Software-Programme, beispielsweise zur Bildbe/-verarbeitung und Animation, stellen in der Regel nicht nur bestimmte Funktionen und Werkzeuge bereit, sondern bieten auch stereotype künstliche Formen und Gestaltungsstile an. Es scheint nahe zu liegen, sich zunächst durch die Übertragung geläufiger Inhalte und Formen von einem Medium in das andere, etwa durch eine digitale Weiterverarbeitung oder Andersformulierung analoger Inputs und Ergebnisse, z. B. mit den Verfahren der Verfremdung, Collage und Montage, an eine neue Technik heranzutasten. Eigentliche Intention des Projektes war es aber nicht, etwas Bekanntes mit neuen Mitteln zu verwirklichen, sondern das ›neue‹ Medium auch neu zu denken. D. h. das eigentlich Neue an den ›neuen‹ Medien sollte die inhaltliche Auseinandersetzung oder Frage bedingen und darüber zur Gestaltung, Form und Aussage führen. Anderenfalls würden die Ergebnisse im Dekorativen verbleiben. Das
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bedeutet aber auch, dass erst in Kenntnis der Leistungsfähigkeiten und der Bedeutungsebenen der ›neuen‹ Medien neue inhaltliche und formale Kontexte erschlossen werden können. So macht gerade ein Medienwechsel (alt/neu) eine Differenzierung in Medium als Mittel und Medium als Gegenstand notwendig. Wird etwa eine Beziehung so weit auseinander liegender Gattungen wie Performance und Video mittels ›neuer‹ Medien gesucht, setzt diese Verknüpfung ein Überdenken bzw. Neudenken des Aussagengehaltes in dem jeweils einen und anderen Medium voraus. Da die so genannten neuen Medien nicht nur als Gestaltungs- und Präsentationswerkzeuge genutzt werden, sondern auch die Möglichkeiten der Information und Kommunikation erweitern, schließt Medienkompetenz demnach nicht nur den Gebrauch und die sachgerechte Bedienung der Mittel als Material und Handwerkszeug ein, sondern auch das Verstehen des Gehalts und der Aussage der Bilder in ihren jeweiligen Kontexten und Bezügen. Daher können sich interdisziplinäre (z. B. Schauspiel und Film) und multimediale (z. B. Legetechnik und Film) Annäherungen an ›alte‹ und ›neue‹ Techniken anbieten, um über das ›Selbermachen‹ die Entstehung und Bedeutungsvielfalt von Bildern zu durch›schauen‹ und verstehen zu lernen. In dieser Hinsicht war es während des Projektes immer wieder wichtig, in der Auseinandersetzung mit den ›neuen‹ Medien die künstlerischen Methoden und Strategien des Aufbrechens gewohnter Wahrnehmungsmuster, des kritischen Hinterfragens, des Dekonstruierens der medialen Anschauungsund Deutungsmuster jenseits der technischen Anwendungsorientierung und einer gestalterischen und eher genormten Konstruktion bewusst zu machen, um damit gleichzeitig auch auf die Gefahr eines affirmativen Ästhetisierens, die den neuen Technologien immanent scheint, aufmerksam zu machen. Kunst und Pädagogik In dem Versuch, die Rolle des Lehrens und Lernens im Umgang mit den neuen Technologien zu definieren, standen die PädagogInnen vor der Herausforderung des Erwerbs zusätzlicher Qualifikationen. Aber welche pädagogischen, künstlerischen, technischen Kompetenzen, Inhalte, Methoden ... sind seitens der Lehrenden zu entwickeln? Die Kunstschulen untersuchten auch, welche Fähigkeiten sich Kinder und Jugendliche aneignen müssen, damit sie das Ästhetische, die jeweilige Qualität und Bedeutung elektronisch
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erzeugter Bildprodukte erkennen und selbst gestalterisch tätig werden können. Gezeigt hat sich, dass die Beziehung zwischen Kind und Computer im Verhältnis zur Arbeit mit anderen Medien und Materialien eine geschlossenere ist. Deutlich wurde auch, und das nicht nur in den Kooperationsprojekten mit der Schule, dass die Arbeit mit den ›neuen‹ Medien veränderte pädagogische Aufgaben des Navigierens und flexiblen, offenen Austauschs zwischen SchülerInnen und DozentInnen erfordert. Die pädagogische Arbeit mit ›neuen‹ Medien zeichnet sich eher durch Fragen stellen, begleiten, unterstützen in der selbstgesteuerten Arbeit, Anregung zur Reflexion, gemeinsames Entwickeln ... aus. Auch eine spielerische und nicht vorbelastete Herangehensweise, in der TeilnehmerInnen wie DozentInnen gleichermaßen ›ExpertInnen‹ sind, kann für beide Seiten erfolgreich sein. Herausgestellt hat sich allerdings, dass die Verwendung komplexer Software eine Zusammenarbeit mit MedienspezialistInnen notwendig macht bzw. hierfür eingehende technische Kenntnisse der DozentInnen unumgänglich sind. Eine personelle Trennung zwischen PädagogIn, TechnikerIn und KünstlerIn mit jeweiliger Aufgabenverteilung und deren teamorientiertes Zusammenspiel ist daher eine Möglichkeit der technischen und situativen Komplexität zu begegnen. Institution Kunstschule Mit dem Projekt sense&cyber wurde auch die Kunstschule als Ort kultureller Bildung im so genannten Medienzeitalter hinterfragt. Durch die zunehmende Sicherheit in der Arbeit mit den ›neuen‹ Medien in dem Projekt stellten sich insbesondere für die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen Fragen dazu, wie sich die Kunstschule mit einer arbeitsmarktvorbereitenden Ausbildung, z. B. in der Nutzung der ›neuen‹ Medien für angewandte Berufe, wie etwa Grafik-Design, profilieren kann. Aber ist die Angewandtheit dieser Ausrichtung der Intention und Haltung von Kunst nicht vielmehr entgegengesetzt, da sie weniger auf Reflexion oder emanzipatorischen Gehalt aufbaut, sondern bekannte Wahrnehmungsmuster bedient? Das Interesse dieser Altersgruppe hinsichtlich eines anwendungsorientierten berufsbiografischen Bezugs des Kunstschulbesuchs ist verständlich. Nur: Inwieweit hat die Kunstschule diesem Interesse zu entsprechen? Hat Kunstschule nicht eher das Beziehungsgefüge zwischen Idee, Kontext, Medium, Aussage, Rezipient ... jenseits von Verwertungsaspekten zu thematisieren? Gerade für die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollten künstlerische Intentionen und Fragen nicht verdrängt werden. In jedem Fall muss sich die
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Institution Kunstschule mit einer Angebotsausrichtung auf die Professionalisierung gestalterischer Fähigkeiten der Folgen für Struktur, Aufgaben, Angebot ... bewusst sein, die möglicherweise ihr bisheriges ästhetisch-künstlerisches Bildungskonzept und Profil verändert. Paradigmenwechsel Die Metapher des ›Iconic Turn‹ beschreibt einen Paradigmenwechsel, demzufolge die Allgegenwart der bildgebenden Verfahren in Information und Kommunikation die bisherige Vorherrschaft von Text und Schrift ablöst. Diesem Bedeutungswandel von Text/Sprache zum Bild kann ein weiterer hinzugefügt werden, der ebenfalls Konsequenzen für die pädagogische und künstlerische Arbeit in den Kunstschulen haben wird. Im Unterschied zu den klassischen künstlerischen Medien entsteht das ›Bild‹ mit den ›neuen‹ Medien durch die Maschine und wird weniger durch den Menschen erzeugt, der in dieser Beziehung vom Macher zum Ideenfinder und Operateur wird. Darüber hinaus folgt daraus, dass an Stelle des traditionellen Künstler- und Werkbegriffs, parallel zur zeitgenössischen Kunstentwicklung in den letzten zehn Jahren, die Festlegungen zwischen Künstler, Werk und Betrachter respektive Nutzer zugunsten partizipativer Kommunikationsformen und Handlungen aufgelöst werden. So setzt vor allem auch die digitale Medienkunst interaktive und kommunikative Potenziale frei. Für die Kunstschulen bedeutet das, dass sie in den Auseinandersetzungen mit den ›neuen‹ Medien auch mit neuen Formen des Werk-, Künstler- und Betrachterbegriffs konfrontiert werden. Analyse und Darstellung der Prozesse Mit der Analyse und Darstellung der Prozesse ist die wissenschaftliche Begleitung gewissermaßen zu einem Projekt im Projekt geworden, die allen Beteiligten und darüber hinaus Interessierten von sense&cyber immer wieder Gelegenheit zum internen bzw. externen theoretischen Diskurs gegeben hat. Das wissenschaftliche Team beteiligte sich an der Konzeption des Projektes, konzipierend auch mit inhaltlichen Beiträgen an den Modell- und Fachforen und durch regelmäßig stattgefundene Besuche der Projekte. Da nicht davon ausgegangen wurde, dass es objektive Kriterien zur Messung des Erfolgs und der Effektivität des Vorgehens in den einzelnen Projekten gab, wurde zur Beobachtung des Geschehens an den Kunstschulen die qualitative Forschungsmethode der »dichten Beschreibung« (Clifford Geertz) an-
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gewandt. Das Projekt zeigte die Schwierigkeit, eine Methode der Analyse und Darstellung von künstlerischen Bildungsprozessen zu finden, die neben den Ergebnissen auch die Ereignisse in den Projekten, also den sich im Persönlichen des Individuums abzeichnenden Bildungswirkungen, gerecht wird. Der ethnographische Zugang der wissenschaftlichen Begleitung basierte auf der Annahme, dass eine lineare Beschreibung vermeintlicher Fakten der Komplexität der Geschehnisse an den Kunstschulen nicht gerecht werden kann und bevorzugte daher Methoden der Collage und Montage der während der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Materialien, die die Projektentwicklungen in den Ergebnissen und Erfahrungen widerspiegeln. So ist ein Bericht unter dem Titel sense&cyber. Kunst, Medien, Pädagogik entstanden, der den über drei Jahre an vier Kunstschulen in Niedersachsen durchgeführten Modellversuch sense&cyber dokumentiert und der insbesondere auf der DVDROM die unterschiedlichen Sichten der jeweiligen Beteiligten vor dem Nutzer ausbreitet.
Ein Fazit Trotz der nicht immer ganz konfliktfreien Begegnungen (Aufgabendefinition, Sprache, Interessen) zwischen Kunstschulen und wissenschaftlicher Begleitung, in denen sich die in der Sache liegende methodische Unterschiedlichkeit von »Forschen« und »Finden« offenbarte, ist beiden Partnern der Spagat zwischen Theorie und Praxis gelungen. Dadurch, dass im Rahmen der Einzelprojekte immer auch auf eine konkrete Ausrichtung und Praktikabilität geachtet wurde, konnten und können die Kunstschulen in Zukunft für ihre unmittelbare Arbeit profitieren. Der Mehrwert für die am Projekt beteiligten Kunstschulen ist offensichtlich, denn sie haben für ihre jeweilige Einrichtung eine Basis für ein erweitertes Angebotsund Methodenspektrum gelegt. Sie haben für sich wie für andere Kunstschulen durch die Hinzunahme von Computertechnik, diversen Bildgestaltungs- und Animationsprogrammen, Video und Internet bisher weitgehend unbekannte inhaltliche wie pädagogische Felder und deren unterschiedliche angrenzende Schnittflächen zu Kunst, Kommunikation und Kooperation in Netzwerken, zu strukturellen Veränderungen, berufsorientierter Ausrichtung und neuen Zielgruppen betreten und in wesentlichen Aspekten auch erobert. Es ist zu einer jeweiligen Profilierung der einzelnen Kunstschulen gekommen: miraculum in Aurich hat nicht nur sein Angebotsspektrum erweitert, sondern die Integration der ›neuen‹ Medien hat interne Transferleistungen
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der einzelnen Netzwerkbestandteile (Kunstschule – Multimediawerkstatt – MachMitMuseum – Schule) befördert. Die Kunstschule KLEX hat ihr Profil insofern geschärft, als sie sich für ein neues Logo und eine erweiterte Ausrichtung für »Kunst Medien Perspektiven« entschieden hat sowie wesentliche organisatorische, inhaltliche und methodische Bedingungen in der Kooperation mit der Schule erschließen konnte. KunstWerk in Hannover ist es gelungen, noch stärker als zuvor sich der interpersonellen und methodischen Bestandteile des Prozessgeschehens in der Kunstschule bewusst zu werden und hierfür eine Darstellungsform zu finden. Die Kunstschule in Meppen konnte die Erfahrungen aus dem vorangegangenen Modellprojekt zur ästhetischen Frühförderung in Beziehung zu den Neuen Medien vertiefen und erweitern. Die im Projektzeitraum entwickelten Konzepte und Angebote einer ästhetisch-künstlerischen Bildungsarbeit mit ›neuen‹ Medien wurden zudem im Hinblick auf ihre Integration in andere Orte und Felder des Bildungsbereichs (Schule), des Kulturbereichs (Museum) und des Medienbereichs (Rundfunk) umgesetzt. Aus Verbandssicht lässt sich daher konstatieren, dass die beteiligten Kunstschulen, zumindest für ihre Einrichtung, eine Basis für ein erweitertes Angebots- und Methodenspektrum gelegt haben. Die Kunstschulen miraculum, KLEX, KunstWerk und die Kunstschule im Meppener Kunstkreis sind ein beträchtliches Stück des Weges vorangekommen, auf dem sie, vorbildhaft auch für andere Einrichtungen in der kulturellen Bildung, Wesentliches in der künstlerisch-pädagogischen Auseinandersetzung mit den ›neuen‹ Medien antizipiert haben. Von entscheidender Bedeutung für die Kunstschulen war hierbei die Mitwirkung an einem Modellprojekt, in dessen Rahmen die vier Kunstschulen die Gelegenheit und die finanzielle Förderung erhielten, sich über einen längeren Zeitraum verbindlich mit einer Thematik auseinanderzusetzen.
Eine Aussicht Mit dem Projekt sense&cyber ist nicht zum letzten Mal den Fragen nach den Bedingungen, Möglichkeiten und Perspektiven im Umgang mit den so genannten neuen Medien in der ästhetisch-künstlerischen Praxis nachgegangen worden.
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Ein Transfer der Projekterfahrungen war zwar von vornherein im Projekt angedacht gewesen, hat aber nicht die Arbeit bestimmt. Insofern bleibt die Verstetigung eine notwendige Herausforderung des Verbandes für die Zukunft, indem auch andere Kunstschulen zu praktischen Auseinandersetzungen mit den ›neuen‹ Medien animiert werden. D. h., die Weiterführung und Integration der Projekterfahrungen sollen im Sinne von Anregung und Orientierung in den kontinuierlichen Kunstschulalltag der teilnehmenden wie auch der nicht am Projekt beteiligten Kunstschulen unterstützt werden. Vor dem Hintergrund der Medialisierung vieler Lebensbereiche, die mit einer Dominanz des Bildes gegenüber der Sprache einhergeht und möglicherweise zu einem noch nicht absehbaren Bedeutungswandel und vielleicht auch -zuwachs der ästhetisch-künstlerischen Bildung führt, werden im Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen insofern auch weiterhin die Möglichkeiten des künstlerischen Umgangs mit den so genannten neuen Medien in der Kunstschulpraxis offen und kritisch zu befragen und zu fördern sein.
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[keywords] Bildungen Personen Institutionen Subjekte Orte Namen Biografien
Bazon Brock, Prof. Dr. phil. Seit 1981 Prof. für Ästhetik/Gestaltungtheorie an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal. Studium der Germanistik, Philosophie, Kunstgeschichte und Politikwissenschaften in Hamburg, Frankfurt und Zürich; Dramaturgieausbildung am Landestheater Darmstadt. Heutiger Arbeitsschwerpunkt: Neuronale Ästhetik, Imaging Sciences. Mitglied der ForscherFamilie bildende Wissenschaften. Moderation der TV-Serie Bilderstreit auf 3sat. Zahlreiche Veröffentlichungen und Aktionen. Aktuelle Veröffentlichung: Der Barbar als Kulturheld, 2002. Siehe auch http://www.bazonbrock.de Renate Dittscheidt-Bartolosch Kunstpädagogin, Kunstwissenschaftlerin M. A. Seit 1982 Museumspädagogin am Sprengel Museum Hannover. 1991–97 Vorsitzende des Bundesverbandes Museumspädagogik. Mitarbeit am Aufbau eines zweijährigen Lehrgangs Museumskommunikation. Dozenten- und Lehrtätigkeiten u. a. an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel, Fachbereich Museum, und an der Universität Hannover im Fachbereich Erziehungswissenschaft. Sabine Fett, Dr. phil. *1959, seit 2001 Geschäftsführerin des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen e. V. Konzeption und Organisation des Kongresses bilden mit kunst, Juni 2003. Banklehre und Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie und Volkskunde an der CAU Kiel. 1993 Promotion. Wissenschaftliches Volontariat in der Neuen Galerie der Staatlichen Museen Kassel. Nach 1995 Ausstellungs- und Publikationstätigkeit zu zeitgenössischen Positionen der Kunst und des Kunsthandwerks, u. a. im Staatlichen Museum Schwerin. Seit 2001 Veröffentlichungen zu Kunstschulen und ihres Arbeitskontextes und Leitung des Modellprojektes sense&cyber (bis 2003) im Rahmen des BLK-Programms Kulturelle Bildung im Medienzeitalter. Michael Fink *1967, ausgebildeter Kunstlehrer. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Leiter von künstlerischen Workshops für Kinder und Erwachsene seit 1998 für KLAX gGmbh, Berlin tätig, zunächst als Werkstattleiter und Kursleiter der KLAX-Malschule. Inzwischen betreut er als Leiter des Referats Pädagogik das pädagogische Konzept von KLAX, einem Träger von 22 Kindergärten, Malschule und einer Grundschule, und ist für die Qualitätssicherung mitverantwortlich. Mehrere Veröffentlichungen zu kunstpädagogischen Themen und zur Qualitätssicherung im pädagogischen Bereich, u. a. »Zauberschwert und Computerschrott. Über das Arbeiten mit Kindern in der Bauwerkstatt«; »Pädagogische Prozesse im Kindergarten planen, steuern, sichern«, beide Beltz-Verlag. Narciss Göbbel, Dr. phil. *1946, Referent für Kulturplanung und kulturelle Stadtentwicklung beim Bremer Senator für Inneres, Kultur und Sport. 1966–72 Studium der Soziologie in Bochum, Göttingen, Münster. 1973–1986 Hochschullehrer für Medienwissenschaften an der Universität Bremen. 1986/87 Leitung einer Bildungsstätte in NRW. 1987–91 Leitung von Bundesmodellversuchen im Bereich Kulturpädagogik. Seit 1990 Vorsitzender des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen e. V. und der KLEX Kunstschule Oldenburg. Seit 1980 Vorsitzender des Fußballfanprojektes beim SV Werder Bremen. Lebt in Worpswede.
AutorInnen
Clemens Höxter Seit 1981 Unterricht der Fächer Kunst und Geschichte am Gymnasium Westerstede (Oberstudienrat). 1972–80 Studium der Pädagogik, Philosophie, Kunst, Politik und Geschichte an den Universitäten Düsseldorf und Oldenburg. In den vergangenen Jahren Teilnahme mit Schülern unterschiedlicher Altersstufen an verschiedenen Ausstellungsprojekten im Landesmuseum Oldenburg und im Kunstverein Westerstede. Seit 1991 Leitung und Betreuung theaterpädagogischer Projekte an der Schule. Referent zahlreicher Lehrerfortbildungen zum Kunstunterricht im Sekundarbereich II für das Niedersächsische Lehrerfortbildungs-Institut und für die Bezirksregierungen Hannover und Weser-Ems. Zurzeit 1. Vorsitzender im geschäftsführenden Bundesvorstand des BDK (Bund Deutscher Kunsterzieher). Helga Kämpf-Jansen, Prof. Dr. Seit 1993 Hochschullehrerin an der Universität Paderborn, davor seit 1969 Dozentin am Institut für Kunstpädagogik an der Universität Gießen. Zehn Jahre Mitherausgeberin der Zeitschrift »Kunst und Unterricht«. Zehn Jahre Leitung des Hessischen Projektes Kunst im Strafvollzug. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. »Ästhetische Forschung – Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft«, Salon-Verlag 2002. S. a. http://hrz.uni-paderborn.de/ gleichstellungsbeauftragte/frauenforschung/kaempf-jansen.html Andrea Knobloch Künstlerin, lebt und arbeitet in Düsseldorf. Studium an der HfBK Hamburg und der Kunstakademie Düsseldorf, Meisterschülerin. U. a. Förderpreis des Landes NRW, Arbeitsstipendium des Kunstfonds e. V., div. Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen. Seit 1998 »infection manifesto«, Zeitschrift, Archiv und Veranstaltungen zu Kunst und Öffentlichkeit. Seit 2002 zusammen mit Markus Ambach Bearbeitung des Themenfeldes Kunst im stadtgesellschaftlichen Kontext im Rahmen des Projekts stadtraum.org. (http:// www.stadtraum.org) Michael Lingner, Prof. Seit 1986 Lehrauftrag für Kunst- und Designgeschichte an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (FB Gestaltung). 1987–93 Lehrauftrag für Theorie und Praxis des Bildnerischen Gestaltens am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg. Seit 1978 nach dem Studium der Kunst, Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte Arbeit als Künstler/Theoretiker in Hamburg. 1990–93 Vorstandsmitglied im Hamburger Kunstverein. 1991–96 Herausgeber der Reihe »Kunst Aktuell« in der Zeitschrift »Kunst und Unterricht«. 1993–98 Project Tutor an der Jan van Eyck Akademie, Maastricht. 1994–2000 Professor des DFG-Graduierten Kollegs Ästhetische Bildung an der Universität Hamburg. Seit 1974 Ausstellungsbeteiligungen als Künstler u. a.: Jahresausstellungen des Deutschen Künstlerbundes in Mainz, Dortmund, Frankfurt; documenta VI, Kassel; Kunstverein Hamburg; Neuer Berliner Kunstverein; Kunsthalle Nürnberg; Deichtorhalle Hamburg. Kunsttheoretische Publikationen zu folgenden Künstlerinnen (u. a.): Siah Armajani, Jörg Brombacher, Bernhard Cella, Clegg & Guttman, Michael Dörner, Jean Dubuffet, Adolf Hölzel, On Kawara, Joseph Kosuth, Clementia Labin, Michaela Müller, Sabine Müller-Rehlich, Maria Nordman, Mario Ohno, Rainer Oldendorf, Jörg Rode, Günther Rost, Josef Schwaiger, Barbara + Gabriele SchmidtHeins, Fritz Seitz, Bernhard Striebel, Kai Sudeck, Haim Steinbach, Philip Otto Runge,
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Richard Wagner, Franz Erhard Walther. Jüngste Publikation: »qualitätssteigerung durch eigenverantwortung. demokratisierung statt ökonomisierung des kunstsystems«, in: transfer. kunst wirtschaft wissenschaft, hg. von k. heid/r. john, baden-baden 2003. S. a. http://www.ask23.de/raumk23/personen/mili1.html Pierangelo Maset, Prof. Dr. *1954, seit 2001 Professor für Kunst und ihre Didaktik im Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg. Studium der Kunst und Visuellen Kommunikation, Philosophie, Anglistik und Soziologie in Kassel, Göttingen und Berlin. Seit Ende der siebziger Jahre Ausstellungen, Lesungen und Performances in verschiedenen europäischen Ländern, Mitbegründer des HYDE-Kartells in Berlin. In den 80er Jahren Tonträger-Veröffentlichungen, Kurzfilme und Videos. Zahlreiche Fachpublikationen im Bereich Ästhetische Bildung und Ästhetik seit Ende der achtziger Jahre. Dissertation »Ästhetische Bildung der Differenz – Kunst und Pädagogik im technischen Zeitalter«, Stuttgart 1995. Lehraufträge am Christ Church College in Canterbury, an der Bauhaus-Universität Weimar, der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz und der Kunsthochschule Kassel. Gründung von artMediation, Webzine für Kunstvermittlung, gemeinsam mit Ulrich Schötker. Torsten Meyer, Dr. phil. *1965, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für ästhetische Erziehung der Universität Hamburg, Leitung des MultiMedia-Studios. Studium der Kunst, Soziologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft an den Universitäten Lüneburg und Hamburg. Regelmäßige Publikationen zu Themen im Bereich „Neue Medien“ und Kunstpädagogik, darunter die Dissertation »Interfaces, Medien, Bildung. Paradigmen einer pädagogischen Medientheorie«, Bielefeld 2002. 2000–03 Koordination der wissenschaftlichen Begleitung des Modellprojektes sense&cyber. S. a. http://mms.uni-hamburg.de/meyer Dorothea Minderop Seit November 2002 Referentin im Niedersächsischen Kultusministerium (Referat: Schulische Qualitätsentwicklung, Fortbildung und Beratung), Hannover. 1966–96 Ausbildung zur Regierungsinspektorin und entsprechende Tätigkeit bei der Bezirksregierung Düsseldorf. Studium an der Universität zu Köln (Volkswirschaft/Germanistik/Berufspädagogik). Unterrichtliche Tätigkeit an einer Berufsbildenden Schule in Köln (Deutsch, Literatur, Kommunikation, Kunstgeschichte, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft). 1996–1998 Pädagogische Mitarbeiterin im Schulministerium Nordrhein-Westfalen. Bis 2000 Projektleiterin bei der Bertelsmann Stiftung. Anne Möllers Seit 1991 Leitung, Projektentwicklung und kontinuierliche Lehrtätigkeit in der Kunstschule KunstWerk e. V., ab 1996 unter Einbezug der Neuen Medien. Lehramtsstudium für die Primarstufe in dem Fach Deutsch und dem Lernbereich Gestaltung an der PH Rheinland, 1984 Zweite Staatsprüfung in Münster. Bis 1986 Konzeption und Durchführung von Fördermaßnahmen an einer Brennpunkt-Grundschule in Münster. 1987–89 medienpädagogische Arbeit im Kinder- und Jugendfilmbereich in Hannover. Bis 1991 Ergänzungsstudium und Erste Staatsprüfung für das Lehramt Grund- und Hauptschule für das Fach Kunst an der
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AutorInnen
Universität Hannover. Bewusste Entscheidung gegen den Schuldienst für eine ungesicherte, aber freie Tätigkeit in der außerschulischen Kulturarbeit. Konzeption und Leitung des Projektes Missing Link – CD/Creative Dates – CU0/Creative Updates im Modellprojekt sense&cyber. Carmen Mörsch, Prof. Dr. *1968, Künstlerin und Kunstvermittlerin. Seit November 2003 Juniorprofessur für materielle Kultur und ihre Didaktik im FB Sprach- und Kulturwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg. Neben partizipatorischen Kunstprojekten und Ausstellungen seit 1995 Arbeit in Projekten der Kulturellen Jugend- und Erwachsenenbildung mit Schwerpunkt auf der Vermittlung und Nutzung von Gegenwartskunst. 1999 Gründungsmitglied von Kunstcoop© (www.kunstcoop.de), einer Gruppe von sieben Künstlerinnen, die in den Jahren 2001 und 2002 das Ausstellungsprogramm der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst Berlin mit Kunstvermittlung begleitete. 2000–02 künstlerische Leiterin des vom bmb+f geförderten Projektes KunstKur, einer Serie partizipatorisch angelegter Kunstprojekte in Lohmen/Mecklenburg. 2002 Gründung zusammen mit anderen KollegInnen des Vereins Ressource:Kunst e.V. (www.ressourcekunst.org), der sich der Erforschung und Darstellung der Potenziale von Kunst für Prozesse des Lernens und der Bildung widmet. Promoviert am Kolleg Kulturwissenschaftliche Geschlechterstudien der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg zum Thema »KünstlerInnen machen Kunstvermittlung: Beschreibung eines Zwischenraums«. S. a. http://www.kunstkooperationen.de/subjekt.htm Richard Münchmeier, Prof. Dr. *1944, seit 1995 Professor für Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin; wissenschaftliche Leitung der 12. und 13. Shell-Jugendstudie (»Jugend ´97« und »Jugend 2000«). Mitglied des Deutschen Bundesjugendkuratoriums (wiss. Beirat der Bundesregierung im Bereich Jugendpolitik). Studium der Soziologie, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Promotion im Fach Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. Habilitation für das Fach Sozial- und Jugendpädagogik an der Universität-Gesamthochschule Kassel. 1981–93 wissenschaftlicher Leiter der Abteilung Jugend- und Jugendhilfeforschung am Deutschen Jugendinstitut München; Forschungsarbeiten zu den Bereichen Politische Jugendbildung, Jugendarbeit, Jugend im sozialen Wandel, Jugendhilfe. 1993–95 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Leipzig; wissenschaftlicher Leiter der Leipziger Längsschnittstudie (Übergangsprobleme Jugendlicher). Publikationen (Auswahl): Zugänge zur Geschichte der Sozialarbeit, München 1981; Immer diese Jugend. Ein zeitgeschichtliches Mosaik von 1945 bis heute (Hrsg.), 1985; Wozu Jugendarbeit? (zus. mit L. Böhnisch), 1987; Pädagogik des Jugendraums (zus. mit L. Böhnisch), 1992; Dokumentation und Evaluation des Aktionsprogramms gegen Aggression und Gewaltbereitschaft, AgAG (zus. mit I. Bohn), 1996; 12. ShellJugendstudie, Jugend ´97 (zus. mit A. Fischer); 13. Shell-Jugendstudie Jugend 2000; Geschichte der Sozialen Arbeit (zus. mit Sabine Hering), 2000; Handbuch der Jugendsozialarbeit (zus. mit Paul Fülbier), 2001.
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AutorInnen
Stephan Münte-Goussar *1971, seit 2003 Arbeit an der Dissertation mit dem Arbeitstitel: »Lebens-/Kunst/Führung«. Freiberufliche Nebentätigkeit als MultiMedia- und Kindertheater-Produzent. Mitarbeiter am MultiMedia-Studio und Lehrbeauftragter im Institut für ästhetische Bildung am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft; Diplomarbeit mit dem Titel: »Selbst-Sein. Zur Gouvernementalität der humanen und autonomen Schule«. 2001–03 wissenschaftliche Begleitung von sense&cyber, Projekt des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen e. V. Siehe auch http://mms.uni-hamburg.de/muente/ Jürgen Oelkers, Prof. Dr. *1947, seit 1999 o. Prof. für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. 1979–87 Prof. für Allgemeine Pädagogik an der Universität Lüneburg und 1987–99 an der Universität Bern. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Bildung, Geschichte der Pädagogik (18. und 19. Jahrhundert), Demokratie und Erziehung. Akademische Tätigkeiten/Mitgliedschaften u. a.: seit 1991 Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (SGBF) und Mitglied der British Society for the Philosophy of Education sowie Herausgeber der Schriftenreihe »Explorationen. Studien zur Erziehungswissenschaft« der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung (30 Bände bis 2001). Seit 1986 Mitherausgeber der Zeitschrift für Pädagogik, 1990–92 Führung der Redaktion. Seit 1990, erneut 1993 Mitglied im Editorial Board der »Studies in Philosophy of Education«. Seit 1993 Mitglied der HumboldtGesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung, seit 1994 Mitglied der Deutschen ComeniusGesellschaft. Mitglied des wissenschaftlichen Beirates des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Berlin) (1997), Gutachter für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und den Schweizerischen Nationalfonds. Publikationen u. a.: Pädagogische Ethik, 1992; Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte (3. Aufl. 1996); Hrsg. zs. m. Heinz Rhyn, Dewey and European Education – General Problems and Case Studies, 2000; Einführung in die Theorie der Erziehung, 2001/ Hrsg. Futures of Education, 2001. Karl-Josef Pazzini, Prof. Dr. phil. *1950, Professur für »Erziehungswissenschaft. Didaktik der Bildenden Kunst«, Universität Hamburg. Zur Zeit Geschäftsführender Direktor des Instituts für ästhetische Erziehung. Sprecher der Sozietät Bildende Kunst, Mitglied von FuL (Forschungs- und Le[ ]rstelle. Kunst, Pädagogik, Psychoanalyse). Wissenschaftliche Begleitforschung des Modellversuchs sense& cyber des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen e. V. Mitglied des ELCH (eLearning Consortium Hamburg). Kommission zur Strukturierung der Bildung des Analytikers in der Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (AFP), Mitglied des Institut des Hautes Études en Psychanalyse. Wissenschaftlicher Beirat des Lacan-Archivs-Bregenz, Wissenschaftlicher Beirat des RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse. Studium: Philosophie, Theologie, Erziehungswissenschaft, Mathematik, Kunstpädagogik. Psychoanalytiker. Neuere Publikationen: J. Derrida: Als ob ich tot wäre. Übersetzung und Kommentierung eines Interviews mit J. D., 2000; Unschuldskomödien. Museum & Psychoanalyse 1 (2. Auflage: 2000); Kontaktabzug. Me-
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AutorInnen
dien im Prozeß der Bildung, 2001; Die Toten bilden. Museum & Psychoanalyse 2, 2003. S. a. http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de/Pazzini/index.html Alexander Piecha, Dr. Seit 1999 Arbeit als Art Director in der freien Wirtschaft und Lehraufträge für Philosophie und Digitales Gestalten an den Universitäten Bremen, Oldenburg, Osnabrück und Vechta. Studium der Kunst/Kunstpädagogik, Mathematik und Philosophie in Osnabrück. 1999 Promotion im Fach Philosophie mit einer Arbeit zum Thema »Die Begründbarkeit ästhetischer Werturteile«. Tätig als Künstler und Betreiber eines nonkommerziellen Internetforums für Kunst und Philosophie, s. a. http://www.apiecha.de Ulrich Puritz, Prof. Künstler und Essayist, lebt in Greifswald und Berlin. Professor für Theorie und Praxis der Bildenden Kunst am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald. Schwerpunkte: interdisziplinäre Kunstpraxis, transmediale Blickarbeit, kontextuelle Projekte in Außenund Innenräumen. S. a. http://www.uni-greifswald.de/~kunst/lehrende_html/puritz.html und www.eye-kju.de Deliane Rohlfs *1958, seit 1990 Geschäftsführerin der Oldenburger Kunstschule KLEX und seit 2002 Leiterin des Fachbereichs Medien (Projektentwicklung und -organisation). Ausbildung zur Kunstund Sonderschullehrerin. Veröffentlichung zum Thema »Männliche und weibliche Rollendarstellung im Bilderbuch«. 1984 Ausstellung eigener Arbeiten in der werkstatt&galerie in Oldenburg. Seit 1984 im Bereich außerschulischer Kinder- und Jugendarbeit tätig. Gründung des Vereins Jugendkunstschule »Klecks« e. V. 1986–88 stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Jugendkunstschulen Niedersachsen (LJKE). 1991–93 Lehrauftrag an der Uni Oldenburg zur Didaktik in der außerschulischen Praxis. Beisitzerin im Vorstand des Landesverbandes der Kunstschulen in Niedersachsen e. V. und seit 2000 Mitglied der Versammlung der Niedersächsischen Landesmedienanstalt (NLM), Ausschuss Bürgermedien. 2000–03 Idee, Konzept und Koordination der Projektbeiträge der Kunstschule KLEX zum Modellprojekt sense&cyber. Christian Rolle, Prof. Dr. phil. *1961, nach fünf Jahren Tätigkeit als Musik- und Philosophielehrer am Gymnasium sowie mehreren Lehraufträgen in Hamburg und Essen seit 2002 Professur für Musikpädagogik und -didaktik an der Hochschule des Saarlandes für Musik und Theater, Saarbrücken. Studium der Musik, Philosophie und Erziehungswissenschaft in Hamburg. Teilnehmer am Kontaktstudiengang Popularmusik der Musikhochschule an der Alster. Arbeit über viele Jahre als Pianist, Komponist und Korrepetitor an Hamburger Theatern und Schauspielschulen. Als Stipendiat im Graduierten Kolleg Ästhetische Bildung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften; 1998 Promotion mit einer Dissertation zum Thema »Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse« bei dem Musikpädagogen Hermann-Josef Kaiser, ausgezeichnet mit dem Wilhelm-FlitnerPreis der Universität Hamburg.
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AutorInnen
Britta Schiebenhöfer 1987 Gründung und Leitung der Kunstschule KunstWerk e. V. in Hannover. Seitdem kontinuierlicher Auf- und Ausbau der Kunstschule. Ab 1996 Entwicklung und Durchführung von Computer- und Internetprojekten. 1975 Praktikum in einer Werbeagentur in Bremen zur Studienvorbereitung. Bis 1979 Studium Graphik-Design an der Fachhochschule für Kunst und Design in Hannover. Bis 1981 Tätigkeit in einer Werbeagentur in Hannover. Bis 1983 freiberufliche Graphik-Designerin. 1983 bis 1987 Studium der Kulturpädagogik an der Universität Hildesheim. Konzeption und Leitung des Projektes Missing Link – CD/Creative Dates – CU/Creative Updates im Modellprojekt sense&cyber. Hanne Seitz, Prof. Dr. phil. *1952, seit 1994 Professorin an der Fachhochschule Potsdam. Lehrschwerpunkte: Ästhetische Praxis/Ästhetische Bildung. Freiberufliche Tätigkeit im Kunst- und Kulturbereich, in der Aus- und Fortbildung pädagogischer und künstlerischer Fachkräfte. Mitarbeiterin am Institut für Kunstpädagogik der Universität Frankfurt a. M. Studium der Erziehungswissenschaften, Psychologie, Kunstpädagogik in Frankfurt und Marburg. Promotion in Kunstpädagogik. Zahlreiche Publikationen, u. a. Troubled Bodies. Performing the Body as an Imperfect, in: Charles Garoian/Yvonne Gaudelius (ed.): Performative Sites: Intersecting Art, Technology and the Body. Routledge. New York/London, 2003. Preußen – gegengelesen oder Wo der Traum der Vernunft seine Ungeheuer gebiert, in: Kunst und Unterricht, Zeitschrift für Kunstpädagogik, Heft 223/224, 2003. Der Betrachter als Akteur. Zur Theatralisierung der Künste, in: Peez, Georg/Heidi Richter/Jutta Ströter-Bender (Hg.) Kind – Kunst – Kunstpädagogik. Beiträge zur ästhetischen Erziehung, 2004. Gerda Sieben Erziehungswissenschaftlerin mit kulturwissenschaftlichem und sozialwissenschaftlichem Schwerpunkt. Seit 1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin, seit 1998 wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Bildung und Kultur e. V. in Remscheid. Burkhard Sievers *1971, seit Dezember 2001 Leitung der Kunstschule im Meppener Kunstkreis und Koordination der Zusammenarbeit von Meppener Kunstkreis, Ausstellungszentrum Archäologie, Stadt Meppen, Jugend- und Kulturgästehaus und Stichting van Gogh & Drenthe im Kulturnetzwerk Koppelschleuse Meppen. Lehramtsstudium und Kulturpädagogik an der Universität Hildesheim. Nach Tätigkeiten in den Bereichen Museumspädagogik, Veranstaltungsmanagement und Ausstellungskonzeption zunächst Mitarbeit im Bereich Veranstaltungslogistik der Expo 2000. Anschließend Aufbau des Jugend- und Kulturgästehauses Koppelschleuse Meppen für das Deutsche Jugendherbergswerk. Planung und Realisierung von Kunstschul-Projektbeiträgen im Rahmen des Modellprojektes sense&cyber. Rainer Strauß *1949, seit Januar 2000 Leiter des miraculum, Kunstschule und des MachMitMuseum der Stadt Aurich. 1968–72 Studium Grafikdesign und 1973–78 der Kunstpädagogik in Berlin. 1984 Umzug nach Ostfriesland. Seit 1986 Leiter der Abteilung Kunst & Co an der Musik-
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und Kunstschule des Landkreises Aurich. 2000–03 Leiter des Projektes Netzwerk miraculum im Modellprojekt sense&cyber. Eva Sturm, Mag. art, Dr. phil. Seit Herbst 1999 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Ästhetische Erziehung, Bildende Kunst, Universität Hamburg. Im SoSe 03 Gastprofessur am Institut für Kunst im Kontext an der UdK Berlin. Studium der Kunstpädagogik und Germanistik in Salzburg, Linz und Wien. 1991 Ausbildung zur Museumspädagogin. 1996 Erziehungswissenschaftliche Dissertation in Hamburg. 1985–99 freiberufliche Kunstvermittlerin in Theorie und Praxis, seit 1991 Lehrtätigkeit im Bereich Museumskommunikation. 1998–99 Erwin-Schrödinger-Stipendiatin in New York. Zahlreiche Veröffentlichungen. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte: künstlerische Kunstvermittlung; künstlerisch-publikumsintegrative Projekte. S. a. http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de/sturm/sturm. html Udo Thiedeke, Dr. phil. Künstler, seit 1986 Mitbegründer und Leiter der künstlerisch-wissenschaftlichen Projektgruppe ArtBit. Seit 1999 Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Universität Mainz. 1996 Promotion nach Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Universität Heidelberg. 1990–96 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Instituten für Soziologie der Universitäten Heidelberg und Mainz. 1992–1993 Dozent für Medientheorie und Medienkunst an der freien Kunstschule Rhein-Neckar in Mannheim. 1997–2001 Forschungsprojektleiter und Beauftragter für die Forschungsentwicklung in den Bereichen Medien und kulturelle Bildung am DIE in Frankfurt am Main. Kunstprojekte (Auswahl): ArtBit – Computer in der Kunst im Computer 1989; Digi-Net – Digi-Target 1993; MaschinenAtem seit 1995. Bibliographie (Auswahl): Medien, Kommunikation und Komplexität. Vorstudien zur Informationsgesellschaft, Opladen/Wiesbaden, 1997; (Hrsg.) Virtuelle Gruppen. Charakteristika und Problemdimensionen, Opladen/Wiesbaden, 2000, 2003 2. Aufl.; Wird Kunst ubiquitär? Anmerkungen zur gesellschaftlichen Funktion von Kunst im Kontext neuer Medien und Medienkompetenz, in: Peter Weibel (Hrsg.), Vom Tafelbild zum globalen Datenraum, Ostfildern-Ruit, 2001, S. 85–99. S. a. http://www.artbit.de/kuenstler/ udothiedeke/vitaactiva/veroeffentlichungen/veroeffentlichungen.html
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Fernsehen und kulturelles
Erläuterungen zu Lacans
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Volksrepublik China
März 2004, ca. 150 Seiten,
März 2004, 576 Seiten,
kart., ca. 15,80 €,
kart., 27,80 €,
ISBN: 3-89942-214-7
ISBN: 3-89942-208-2
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amerikanischen Boxfilms
April 2004, ca. 170 Seiten,
Februar 2004, 416 Seiten,
kart., ca. 18,80 €,
kart., 26,80 €,
ISBN: 3-89942-183-3
ISBN: 3-89942-191-4
Marijana Erstic,
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Das Netz und die Virtuelle
Tanja Schwan (Hg.)
Realität
Avantgarde – Medien –
Zur Selbstprogrammierung der
Performativität
Gesellschaft durch die
Inszenierungs- und
universelle Maschine
Wahrnehmungsmuster zu
Februar 2004, 328 Seiten,
Beginn des 20. Jahrhunderts
kart., zahlr. Abb., 27,80 €,
April 2004, ca. 250 Seiten,
ISBN: 3-89942-176-0
kart., ca. 26,80 €,
Kerstin Kratochwill,
ISBN: 3-89942-182-5
Almut Steinlein (Hg.) Hans-Joachim Lenger
Kino der Lüge
Marx zufolge
Februar 2004, 196 Seiten,
Die unmögliche Revolution
kart., 23,80 €,
März 2004, ca. 400 Seiten,
ISBN: 3-89942-180-9
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Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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Isabel Maurer Queipo,
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pädagogischen Medientheorie
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2002, 266 Seiten,
Februar 2004, 172 Seiten,
kart., zahlr. SW-Abb., inkl.
kart., 20,80 €,
Begleit-CD-ROM, 26,80 €,
ISBN: 3-89942-181-7
ISBN: 3-89942-110-8
Claudia Lemke, Torsten Meyer,
Werner Friedrichs,
Stephan Münte-Goussar,
Olaf Sanders (Hg.)
Karl-Josef Pazzini,
Bildung / Transformation
Landesverband der
Kulturelle und gesellschaftliche
Kunstschulen
Umbrüche aus bildungs-
Niedersachsen (Hg.)
theoretischer Perspektive
sense&cyber
2002, 252 Seiten,
Kunst, Medien, Pädagogik
kart., 24,80 €, ISBN: 3-933127-94-7
2003, 332 Seiten, kart., zahlr. Abb., inkl. Begleit-DVD, 23,80 €, ISBN: 3-89942-156-6
Thomas Höhne Pädagogik der Wissensgesellschaft 2003, 326 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-119-1
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de